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www.thieme.de 153 SPORTPHYSIO FOCUS Sportphysio 4/14 Foto: Tina Steinauer 153 Schulterinstabilität Einführung – Schulterinstabilität: Eine unsichere Angelegenheit für Patienten und Sportphysiotherapeuten?! 160 Vertiefung und Praxis – Handballspieler mit ventraler Schulterinstabilität 168 Refresherfragen Schulterinstabilität: Eine unsichere Angelegenheit für Patienten und Sportphysiotherapeuten?! BALANCEAKT: Traumata in Kontaktsportarten oder ständige exzessive Wurf- und Schlagbewegungen kön- nen die Strukturen der Schulter schnell überlasten. Die Folge ist ein instabiles Schultergelenk. Klinische Mus- ter und die „fünf P’s“ helfen, dass die Gratwanderung zwischen Mobilität und Stabilität gelingt. Martin Ophey Heruntergeladen von: IP-Proxy Thieme IP Account, Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt.

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153 Schulterinstabilität Einführung – Schulterinstabilität: Eine unsichere Angelegenheit für Patienten und Sportphysiotherapeuten?!

160 Vertiefung und Praxis – Handballspieler mit ventraler Schulterinstabilität168 Refresherfragen

Schulterinstabilität: Eine unsichere Angelegenheit für Patienten und Sportphysiotherapeuten?!Balanceakt: Traumata in Kontaktsportarten oder ständige exzessive Wurf- und Schlagbewegungen kön-nen die Strukturen der Schulter schnell überlasten. Die Folge ist ein instabiles Schultergelenk. Klinische Mus-ter und die „fünf P’s“ helfen, dass die Gratwanderung zwischen Mobilität und Stabilität gelingt. Martin Ophey

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aktuelle situationInstabilitäten des Schultergelenks kommen häufig vor. In den Not-aufnahmen von Krankenhäusern sind Schultergelenkluxationen die am häufigsten vorkommende Luxationsart [32]. Ihre Inzidenz liegt bei 14,7 pro 100.000 [6]. Allerdings sind Verrenkungen nur eine Form der Instabilitäten. Subluxationen und milde Instabilitä-ten, Störungen am anderen Ende des Instabilitätsspektrums, kom-men vermutlich noch viel häufiger vor – und bleiben meist uner-kannt.

epidemiologieExakte Angaben zur Anzahl von Subluxationen und milden Insta-bilitäten zu finden, ist schwierig. Zum Thema Luxationen gibt es dagegen relativ viele Publikationen. Man unterscheidet zwischen Erst- und Rezidivluxationen.

ErstluxationenIm zweiten und sechsten Lebensjahrzehnt kommen Luxationen gehäuft vor [28]. Bei den Jüngeren aufgrund von sportlichen Ak-tivtäten und bei den Älteren möglicherweise aufgrund von zu-nehmenden Fallinzidenten. Gemeinsam ist beiden Gruppen, dass in 95 Prozent der Fälle ein Trauma die Luxation verursacht [11]. Nichttraumatische Luxationen machen also nur einen klei-nen Prozentsatz aus und werden meistens durch kleinere Ver-letzungen bei gleichzeitiger Schwäche der kapsuloligamentären Strukturen und/oder koordinativen Problemen der stabilisieren-den Muskulatur hervorgerufen. Die häufigste Instabilitäts- bezie-hungsweise Luxationsrichtung ist anterior. Deshalb verwenden englischsprachige Autoren häufig die Abkürzung APAS (acute pri-mary anterior shoulderdislocation).

RezidivluxationenAb der zweiten Luxation spricht man von einer rezidivierenden oder habituellen Luxation. Bei jüngeren Patienten ist das Risiko

einer erneuten Luxation hoch – wenn nicht operativ eingegriffen wird [11]. Bei den unter 20-Jährigen beträgt es 72 bis 95 Prozent. Bei den 20- bis 30-Jährigen nimmt das Rezidivrisiko mit 70 bis 80 Prozent bereits ab, und bei den über 50-Jährigen beträgt es nur noch 14 bis 22 Prozent. Eine patientenzentrierte Analyse des Rezi-divrisikos entscheidet über die OP-Indikation. Neben einem nied-rigen Lebensalter sprechen Kontakt-, Wurf- oder Schlagsportar-ten (Abduktion-Außenrotation plus Geschwindigkeit) und Über-kopftätigkeiten während der Arbeit für eine OP [4] (Abb. 1). Ist bei einem Patienten mit Zustand nach Luxation und Reposition das Risiko einer erneuten Luxation stark erhöht, stellt sich für Sport-physiotherapeuten bereits beim Erstkontakt eine zentrale Frage:

:: Wie groß sind die Erfolgsaussichten

einer konservativen Reha?

Die Devise lautet hier: Im Zweifelsfall lieber frühzeitig einen or-thopädischen Chirurgen kontaktieren.

anatomie, Biomechanik und therapietippsDer gesunden Schulter gelingt ein wahrer Balanceakt zwischen Mobilität und Stabilität. Die kleine Kontaktfläche von nur 20 Pro-zent zwischen Cavitas glenoidalis und Caput humeri und der großzügige Spielraum der Gelenkkapsel ermöglichen die Mobi-lität. Die Qualität der passiven, aktiven und neuralen Subsysteme entscheidet über die Stabilität [24, 25] (Abb. 2).

Passive StabilisatorenEndgradige Abduktion-Außenrotationen spannen die kapsulo-ligamentären Strukturen. Von Bedeutung sind hier die unter-schiedlichen ventralen interkapsulären Ligg. glenohumeralia su-perius, mediale und inferius. Kleine Abduktionswinkel spannen eher die obere und mittlere Kapsel mit dem superioren und me-dialen Ligament, höhere Abduktionswinkel eher die untere Kap-

Start

Wind-up(vorbereitende Handlung)

Early Cocking(frühe Vorspannung)

Late Cocking(späte Vorspannung)

Acceleration(Beschleunigung)

Deceleration(Bremsung)

linke Handlöst sich

linker FüßBodenkontakt

rechtes Schultergelenkmaximale Außenrotation

Ballloslassen

Ende

abb. 1 Wurfphasen am Beispiel Baseball (Bewegungsablauf des Pitchers)

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sel und das inferiore Ligament. Vor allem das untere Band ver-hindert in Abduktionswinkeln über 45 Grad exzessive Translatio-nen des Humeruskopfes nach anterior, inferior und posterior [11]. Dies ist möglich, weil das inferiore Ligament mit seinem anteri-oren und posterioren Anteil den Humeruskopf wie eine Schlinge umfasst. Das Labrum verhindert als abstehender Rand die über-mäßige Translation des Humeruskopfes nach anterior.

Die dorsale Schulterkapsel ist deutlich dünner als die ventra-le und bietet Halt nach posterior zum Beispiel bei Stützaktivitäten mit etwa 90 Grad Flexion [26]. Posteriore Instabilitäten kommen seltener vor, werden aber leider zu oft übersehen.

Aktive StabilisatorenDie aktive Stabilität in der oberen Extremität entsteht durch ein komplexes Zusammenspiel zwischen den Muskeln der unteren Extremität, dem Rumpf und der oberen Extremität. Will man die sportliche Leistung entwickeln, steht die effiziente Kraftüber-tragung von zentral nach peripher im Mittelpunkt [27]. Ein ad-äquates Reha-Programm zur Schulterrehabilitation berücksichtigt dies. Bewährt hat sich die Einteilung nach Jobe [16].

Pivoters: Skapulafixatoren. Das orchesterartige Zusammenspiel dieser zentralen Muskeln sorgt für eine gute Ausrichtung der Ca-vitas glenoidalis gegen den Humeruskopf. Dabei sind das Kraft-Längen-Verhältnis der gelenkstabilisierenden Muskulatur und die kapsuloligamentäre Spannung optimal. Dysfunktionelle Mobili-täts-, Koordinations- und Kraftdefizite in dieser Muskulatur sind sehr gut belegt [7, 17]. Bei Sportlern stellt man häufig einen hy-pertonen M. pectoralis minor und eine schwache Pars ascendens des M. trapezius fest. Hat der Patient eine Instabilität, lässt sich der untere Trapezius beispielsweise mit Sitting Press-ups in der geschlossenen Kette sehr gut aktivieren (Abb. 3).

Protectors: Rotatorenmanschette und M. biceps. Sie zentrieren und kaudalisieren den Humeruskopf synergistisch sehr gut in der Gelenkpfanne. Dabei fällt das „Kräftepaar“ aus einerseits M. subs-capularis und andererseits M. infraspinatus und M. teres minor auf. Sie bilden gemeinsam eine Schlinge um den Humeruskopf. Ihre gemeinsame Kontraktion zentriert den Kopf und spannt die Kapsel. Ein sehr effektives und sicheres Training der Außenrotati-on zeigt Abb. 4 [3, 10]. Je nach Befund erfordert der M. biceps bra-chii Aufmerksamkeit. Vor allem das Caput longum kann die Ge-lenkstabilität entscheidend beeinflussen. Ermüdet es, kann der Humeruskopf während Wurfbewegungen verstärkt translatieren. Außerdem verhindert der M. biceps eine Kranialisation des Hu-meruskopfes und beugt so einem Impingement vor [14].

Positioners: M. supraspinatus und M. deltoideus. Sie spielen vor allem bei der Flexion, Abduktion und Extension im Schultergelenk eine Rolle. Zu viel Aktivität im M. deltoideus und zu wenig Akti-vität in den Protectors kann Impingementbeschwerden verursa-chen oder aufrechterhalten.

Propellors: M. latissimus dorsi, M. pectoralis major und M. tri-ceps brachii. Sie sorgen primär für Bewegung. Bei Fehlfunktionen der anderen Muskelgruppen können die Propellors aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit durchaus das Schultergelenk destabilisieren. M. teres minor

Sehne desM. biceps brachii,Caput longum

Acromion

Bursasubacromialis

M. supra-spinatus

M. infraspinatus

Cavitas glenoidalis

Labrum glenoidale

M. infraspinatus

Margo lateralisscapulae

M. subscapularis

Capsula articularis M. subscapularis

Proc.coracoideus

Bursa subtendineam. subscapularis

Lig. coraco-acromiale

Recessus axillaris

Fornix humeri

abb. 2 Cavitas glenoidalis (rechts) mit durchtrennter Rotatoren-manschette. Kurz vor ihrem Ansatz am Humeruskopf strahlen die Muskeln der Rotatorenmanschette mit ihren Ansatzsehnen in die Gelenkkapsel ein und pressen den Humeruskopf manschettenar-tig in die Gelenkpfanne.

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abb. 3 Press-upabb. 4 Training der Außenrotatoren mit Unterstützung

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Führen Sportler viele Schlag- oder Wurfbewegungen aus, arbeiten sie in der Endphase der Reha wieder Richtung Plyometrie (Abb. 5).

Der Einteilung nach Jobe fehlten zunächst die Muskeln der un-teren Extremität und des Rumpfes, die man später ergänzte und im Sinne des Modelles Preparators nennt [1] (Tab. 1, Tab. 2).

Neurale EinflüsseKapsel, Ligamente und Labrum sind sehr gut innerviert. Ihr Binde-gewebe enthält außerordentlich viele Propriosensoren und freie Nervenendigungen [9, 31]. Die passiven Strukturen können des-halb selbst zu Schmerzquellen werden und über den Reflexweg die Protectors und sogar Pivoters inhibieren [8]. Dies hat wesent-liche Konsequenzen für die Dosierung der Trainingstherapie als zentrale Reha-Maßnahme für Patienten mit Instabilität. Länger bestehende Schmerzsyndrome des Schultergelenks können auf

▀ taBelle 1

Aktive stabilisatoren des schultergelenks: Muskelgruppen

Synergisten Muskeln

Pivoters Skapulafixatoren

Protectors Rotatorenmanschette

Positioners M. supraspinatus und M. deltoideus

Propellors M. pectoralis major, M. latissimus dorsi und M. triceps brachii

Preparators Muskeln der unteren Extremität und des Rumpfes

modifiziert nach Jobe [16]

▀ taBelle 2

Aktive stabilisatoren des schultergelenks: übungen

Pivoters Protectors Positioners Propellors Preparators

▬ Press-up ▬ Elbow in the Pocket ▬ Wall Push-ups ▬ Bent-over Barbell/

Dumbbell row ▬ Reversed Flys

▬ Belly Press ▬ Dynamic Hug ▬ Außenrotation ▬ Innenrotation ▬ Abduktion 0–180 Grad

(Skapulaebene)

▬ Front Raise ▬ Scaption Raise ▬ Lateral Raise ▬ Front Press ▬ Military Press ▬ Neck Press

▬ Bench Press ▬ Flys ▬ Peckdeck ▬ Push-ups ▬ Pull-over ▬ Lat Pull-down ▬ Triceps Extension

▬ Calf Raises ▬ Squat ▬ Squatlunge ▬ Lunge ▬ Barbell Rotation ▬ Back Extension ▬ Russian Twist

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abb. 5 Transfersystem obere Extremität zur Vorbereitung auf das Werfen: schrittweises Ändern des Krafttrainings mit zunehmendem Gewicht und abnehmender Wiederholungsanzahl in ein Training mit abnehmendem Gewicht und zunehmender Geschwindigkeit

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Rückenmarkebene sekundäre Hyperalgesien verursachen und so-gar zu zentralen Sensibilisierungen führen [9].

:: Therapeutisch unberücksichtigte neurale Einflüsse

können die Instabilitätssymptomatik aufrechterhalten.

DiagnostikIn der Sportphysiotherapie ist die Anamnese das wesentlichste diagnostische Instrument. Anschließend helfen die gezielt ausge-wählten körperlichen Tests, die aus der Anamnese resultierenden Hypothesen zu bestätigen oder zu verwerfen. Ein adäquater diag-nostischer Prozess beantwortet diese grundlegenden Fragen:

▬ Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine ernsthafte Pa-thologie besteht und ein weiteres sportphysiotherapeutisches Vorgehen kontraindiziert ist?

▬ Was verursacht die Beschwerden? Sind diese Ursachen sport-physiotherapeutisch beeinflussbar?

▬ Welche Faktoren unterhalten möglicherweise die Beschwer-den? Lassen sie sich sportphysiotherapeutisch modifizieren?

Für die Beantwortung dieser Fragen sind klinische Muster hilfreich.

klinische MusterDas Kardinalsymptom bei Patienten mit Instabilität sind natürlich (Sub-)Luxationen in der Vorgeschichte oder zumindest ein Unsi-cherheitsgefühl bei speziellen Haltungen und Bewegungen [30]. Oft ist das Kardinalsymptom mit dem Symptom Schmerz verbun-den, der meist sekundär als Folge der Instabilität entsteht. Eine gereizte Rotatorenmanschette oder lange Bizepssehne (subakro-miales Impingement), die vordere Gelenkkapsel oder auch hinte-re Kapsel (dorsales Impingement) können die Schmerzen verursa-chen [19]. In der Anamnese sind Patienten und Physiotherapeuten verständlicherweise meist schmerzorientiert.

:: Gerade bei Patienten mit möglicher Instabilität

ist es jedoch wichtig, gezielt nach Subluxationen

und Unsicherheitsgefühlen zu fragen.

Ein Set aus Zeichen, Symptomen, dem Entstehungsmechanismus sowie dem Verlauf und den Patientenmerkmalen bildet ein klini-sches Muster. Es ermöglicht Sportphysiotherapeuten, gezielt den diagnostischen Prozess zu durchlaufen [13]. TUBS, AIOS, AMBRI und FI sind die Abkürzungen für die häufigsten Instabilitätsmus-ter des Schultergelenks (Tab. 3). Mehrere Konzepte und Modelle nutzen sie [15, 18, 21].

TUBS: TraumaTypische Traumen sind die blockierte Wurfbewegung beim Hand-ball oder ein Fall auf den horizontal abduzierten Arm beim Skifah-ren oder Fußball. Die plötzliche, große Krafteinwirkung translatiert den Humeruskopf nach anterior, wo der ventrokaudale kapsuloli-gamentäre Komplex ihn bremsen muss. Kleinere Traumata über-dehnen nur die passiven Strukturen. Normalerweise vernarben die

verletzten Strukturen während der anschließenden Wundheilung gut. Größeren traumatischen Kräften halten die passiven Struktu-ren jedoch nicht stand. Kapsel-, Ligament- und Labrumrisse sind die Folge. Bei über 80 Prozent der Patienten mit Luxation nach anterior reißt das ventrokaudale Labrum. Die Bankart-Läsion verringert die passive Stabilität deutlich, verschlechtert die Wundheilung und er-höht die Rezidivrate bei jungen Sportlern. Jüngere Luxationspatien-ten werden deshalb eher operativ stabilisiert (Bankart-Repair).

Bei älteren Luxationspatienten können neben der klassischen Bankart-Verletzung auch andere Begleitverletzungen auftreten wie Hill-Sachs-Läsionen, Glenoid- oder Tuberculum-majus-Frak-turen und N.-axillaris-Läsionen [29]. Die relativ häufige Verlet-zung der Kapsel und des unteren Ligamentes am Humerus (HAGL-Läsion; Humerus Avulsion of the Glenohumeral Ligament) wird oft übersehen. Sie kann an Rezidivluxationen beteiligt sein [22]. Entscheidend ist es, schon in der frühen Phase Abweichungen von der normalen Wundheilung oder spontane Rezidivluxationen zu erkennen und einen orthopädischen Chirurgen zu kontaktieren.

AIOS: Ständige MikrotraumenBei Wurfsportlern findet man regelmäßig diese abgeschwächte Form des TUBS-Musters. Dabei entwickeln die Sportler die Insta-

▀ taBelle 3

Abkürzungen der klinischen Muster instabiler schultergelenke

TUBS

Traumatic Etiology traumatische Ursache

Undirectional Instability unidirektionale Instabilität

Bankart Lesion Bankart-Läsion

Surgery Operation (Labrumrekonstruktion)

AIOS

Acquired erworbene

Instability (of the) Instabilität (der)

overstressed überlasteten

Shoulder Schulter

AMBRI

Atraumatic Etiology untraumatische Ursache

Multidirectional Instability multidirektionale Instabilität

Bilateral bilateral

Rehabilitation konservatives Management

Inferior Capsular Shift Kapselstraffung (Operation)

FI

Functional funktionelle

Instability Instabilität

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bilitäts- und Schmerzsymptomatik im Schultergelenk langsam [5]. Repetierende Überkopfbewegungen wie der Service beim Tennis, Werfen beim Handball oder Baseball führen zu bindegewebigen Anpassungen. Man beobachtet bei Wurfsportlern deshalb häu-fig eine vermehrte Außenrotation und verminderte Innenrotati-on. Bis zu einem gewissen Maß handelt es sich um eine gezielte sportartspezifische Anpassung, die aber natürlich gleichzeitig ein Schwachpunkt mit anschließender Instabilitäts- und Schmerzsym-ptomatik sein kann. Auch veränderte Wurftechniken, Trainingsfor-men, -umfänge und -intensitäten können Symptome im Schulter-gelenk hervorrufen und ebenso fehlende Regeneration oder ganz andere Beschwerden beispielsweise in der LWS- oder Hüftregion.

Untersuchung: Mit dem Apprehension-, Relocation- und Release-Test [12, 23] oder dem Anterior-Drawer-Test [1] lässt sich die mil-de anteriore Instabilität am ehesten feststellen (Abb. 6). Aber auch unterhaltende Faktoren wie Bewegungseinschränkungen, Koordi-nations- und Kraftdefizite in der übrigen kinetischen Kette sind zu identifizieren.

Reha: Zu Beginn der Behandlung gibt es einen therapeutischen Knackpunkt: Der Sportler lernt, seine sportlichen Aktivitäten an-zupassen. Fehlt dieser Lernprozess, erhält er seine Beschwerden aufrecht. Das macht die Therapie von Patienten mit Instabilität interessant. Die Rückgewinnung der sportlichen Leistung erfor-dert zwar Training, vorher sollte jedoch ein Sportphysiotherapeut eventuelle Bewegungseinschränkungen wie das Innen- und Au-ßenrotationsdefizit behandeln.

AMBRI: Insuffizientes BindegewebeBei diesem Patienten gibt es kein eindeutig traumatisches Mo-ment für die Beschwerden. Meist besteht eine generelle Laxität. Das Bindegewebe ist allgemein dehnfähiger. Verschiedene Gelen-ke und Richtungen sind betroffen. Die gesteigerte Dehnfähigkeit zeigt sich im Schultergelenk natürlich vor allem bei der Innen-

und Außenrotation – und auch im nicht symptomatischen Schul-tergelenk. Man spricht auch von einer multidirektionellen Insta-bilität. Kurz gesagt: Die passive Stabilität ist mäßig, die aktiven und neuralen Systeme müssen die Gelenkstabilität realisieren. Störungen in diesen Systemen entstehen auch ohne makrosko-pisches Trauma zum Beispiel durch erneute Wiederbelastungen. Nach der Sommerpause, am Anfang der Saison beobachtet man diese Instabilitätsproblematik häufig bei Wurfsportlern. Erneute Wiederbelastungen mit relativ rasch ansteigenden Trainingsum-fängen und -intensitäten verursachen die Beschwerden.

Untersuchung: Mit dem Load-and-Shift-Test und Sulcus Sign un-tersucht man das symptomatische und das nicht symptomatische Schultergelenk (Abb. 7, Abb. 8). Auch der Apprehension-Test kann bei diesen Patienten bilateral positiv sein [12, 15, 23].

abb. 6 Apprehension-Test abb. 7 Load-and-Shift-Test

abb. 8 Sulcus Sign

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Reha: Adäquate Reha-Maßnahmen verbessern Stabilität und Leis-tung. Notfalls kann später die Kapsel operativ gerafft werden.

FI: Muskuläre UngleichgewichteDie Instabilität ist „nur“ funktionell bedingt. Vor allem musku-läre Kompensationsmechanismen verursachen die Beschwerden des FI-Musters und erhalten sie aufrecht [15, 20]. Bei den ande-ren Mustern TUBS und AMBR ist das passiv stabilisierende Sys-tem problematisch, was sich dann auch funktionell in bestimm-ten Haltungen und Bewegungen äußert. Patienten mit FI-Muster inhibieren kompensatorisch die Protectors, um mit den Propel-lors das Gelenk zu stabilisieren. Dabei kann zum Beispiel der M. pectoralis major aufgrund seines Muskelquerschnitts und Verlau-fes eine glenohumerale Subluxation provozieren. Dies geht meist mit einer schwachen Rumpfmuskulatur (Preparators) einher [15].

Untersuchung: Ziel ist es, die maladaptiven Kompensationsme-chanismen zu entdecken. Der Apprehension-Test schließt eine strukturelle Instabilität aus. Motorische Kontrolltests wie der Dy-namic-Rotary-Stability-Test und der Belly-Press-Test sind zwar wissenschaftlich nicht ausreichend validiert, haben sich aber in der Praxis bewährt (Abb. 9, Abb. 10). Alternative valide Tests feh-len. Die Tests prüfen, ob der Humeruskopf übermäßig translatiert, ob der M. pectoralis major zu stark aktiviert ist, und kontrollieren die Bewegungsqualität. Beurteilung und Interpretation beruhen weitestgehend auf klinischer Erfahrung. Aus beiden Tests lassen sich sehr gut propriozeptive Übungen ableiten.

Reha: Diese Instabilitätspatienten erhalten ein konsequentes kon-servatives Reha-Programm und trainieren die komplette kineti-sche Kette.

:: Bei manchen Patienten sind mehrere

Instabilitätsmuster diagnostizierbar.

Fazit: Mehr sicherheit für Patienten und therapeuten Neben früheren Luxationen sind Unsicherheitsgefühle bei be-stimmten Bewegungen im Schultergelenk ein Kardinalsymptom für eine Instabilität. In der Untersuchung fragt man deshalb gezielt nach Unsicherheitsgefühlen. Klinische Muster bieten Orientierung für die Ursachenklärung (Trauma, Mikrotraumen, insuffizientes Bindegewebe und/oder muskuläre Dysbalancen, evtl. neural be-dingt). Bei Patienten mit Instabilität stagniert der Therapieverlauf häufig (Störungen und Aktivitäten bleiben unverändert). Die Fra-ge ist dann, welche Faktoren den normalen Verlauf stören. Mit den genannten Tests identifizieren Sportphysiotherapeuten spezifisch lokale, aber auch allgemeine Faktoren, die den abweichenden Ver-lauf erklären. Gute „Leitplanken“ auf dem Weg zum stabilen Schul-tergelenk sind die fünf P’s und das Kräftigen dieser Synergisten von zentral nach peripher – bis der Patient sich sicher fühlt. ▄

▬ Das vollständige Literaturverzeichnis finden Sie unter: www.thieme-connect.de/products/sportphysio

abb. 9 Dynamic-Rotary-Stability-Test abb. 10 Bell-Press-Test

DOI 10.1055/s-0034-1395884Sportphysio 2014; 4: 153–159© Georg Thieme Verlag KGStuttgart ∙ New York ∙ ISSN 2196-5951

BiBliograFie

Martin Ophey, MSc ist der Schulterspezialist unseres Heraus-geberteams – in Theorie und Praxis. Der langjährige Dozent des European Sportphysiotherapy Education Network (www.esp-education.net) betreut in einer niederländischen Privat-praxis häufig Sportler mit Schulterproblemen.

IJsveldfysioZevenheuvelenweg 72NL-6571 CK Berg en Dalwww.ysveldfysio.nl; [email protected]

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