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EINGEHENDE ANALYSE EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments Autor: Martin Russell Wissenschaftlicher Dienst für die Mitglieder PE 625.138 – Juli 2018 DE Sieben wirtschaftliche Herausforderungen für Russland UÜberwindung der Stagnation?

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  • EINGEHENDE ANALYSE EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments

    Autor: Martin Russell Wissenschaftlicher Dienst für die Mitglieder

    PE 625.138 – Juli 2018 DE

    Sieben wirtschaftliche

    Herausforderungen für Russland

    UÜ berwindung der Stagnation?

  • In dieser Veröffentlichung wird der derzeitige Zustand der russischen Wirtschaft beschrieben, die in der jüngsten Zeit externe Schocks wie einen Zusammenbruch der Erdölpreise und Sanktionen des Westens hinnehmen musste. Es wird jedoch festgestellt, dass die schwache Wirtschaftsleistung mehr mit langfristigen internen Problemen, darunter fehlenden wettbewerbsfähigen Märkten, geringen Investitionen, mangelnder Innovation und einer übermäßigen Abhängigkeit von natürlichen Rohstoffen, zu tun hat. Abschließend werden die von Präsident Putin versprochenen Wirtschaftsreformen zur Lösung dieser Probleme untersucht und die Wahrscheinlichkeit eines grundlegenden Wandels bewertet.

    AUTOR

    Martin Russell, Referat Externe Politikbereiche, Wissenschaftlicher Dienst für die Mitglieder

    Diese Studie wurde vom Wissenschaftlichen Dienst für die Mitglieder, der zur Generaldirektion Wissenschaftlicher Dienst des Sekretariats des Europäischen Parlaments gehört, erarbeitet.

    Um sich mit den Autoren in Verbindung zu setzen, senden Sie bitte eine E-Mail an: [email protected]

    SPRACHFASSUNGEN

    Original: en

    Übersetzungen: de, fr

    Redaktionsschluss des Originalmanuskripts: Juli 2018

    HAFTUNGSAUSSCHLUSS UND URHEBERRECHTSSCHUTZ

    Dieses Dokument wurde für die Mitglieder und Bediensteten des Europäischen Parlaments erarbeitet und soll ihnen als Hintergrundmaterial für ihre parlamentarische Arbeit dienen. Die Verantwortung für den Inhalt dieses Dokuments liegt ausschließlich bei dessen Verfasser/n. Die darin vertretenen Auffassungen entsprechen nicht unbedingt dem offiziellen Standpunkt des Europäischen Parlaments.

    Nachdruck und Übersetzung – außer zu kommerziellen Zwecken – mit Quellenangabe gestattet, sofern das Europäische Parlament vorab unterrichtet und ihm ein Exemplar übermittelt wird.

    Brüssel © Europäische Union, 2018

    Fotonachweise: © logoboom/Fotolia

    PE 625.138 ISBN: 978-92-846-3652-5 doi:10.2861/806440 CAT: 978-92-846-3652-5

    [email protected] http://www.eprs.ep.parl.union.eu (Intranet) http://www.europarl.europa.eu/thinktank (Internet) http://epthinktank.eu (Blog)

    mailto:[email protected]:[email protected]://www.eprs.ep.parl.union.eu/http://www.europarl.europa.eu/thinktankhttp://epthinktank.eu/

  • Sieben wirtschaftliche Herausforderungen für Russland

    I

    ZUSAMMENFASSUNG

    Durch einen erheblichen Fall des Preises von Erdöl, Russlands wichtigstem Exportprodukt, gepaart mit Sanktionen des Westens wegen des Ukraine-Konflikts, geriet die Wirtschaft des Landes 2015 in eine Rezession. Die Sanktionen sind weiterhin in Kraft, doch der Erdölpreis hat sich teilweise erholt und dazu beigetragen, dass das Wirtschaftswachstum nach einem fast zwei Jahre andauernden Rückgang wieder zunimmt. Es gab jedoch nur eine schwache wirtschaftliche Erholung, das Wachstum wird in den nächsten Jahren weiterhin bei unter 2 % liegen. Prognosen zufolge wird der Anteil Russlands an der Weltwirtschaft weiter sinken und der Abstand zu den weiterentwickelten Volkswirtschaften noch zunehmen.

    Externe Faktoren wie Sanktionen belasten die Wirtschaft Russlands zwar, das Haupthindernis für ein Wachstum liegt jedoch innerhalb des Landes und ist das Ergebnis seit Langem bestehender Probleme, von denen viele bis in die sowjetische Ära oder sogar noch weiter zurückreichen. Trotz marktwirtschaftlicher Reformen in den frühen 1990er Jahren ist Russland weiterhin von großen und unrentablen staatlichen Unternehmen geprägt. Durch die Reformen haben sich das regulatorische Umfeld verbessert und der Verwaltungsaufwand verringert, diese Erfolge gingen jedoch nicht mit Fortschritten bei der Bekämpfung der Korruption einher, die weiterhin eine große Bedrohung für die Wirtschaft darstellt. Was das Humankapital betrifft, so wird sich der katastrophale Rückgang der Beschäftigtenzahlen aufgrund niedriger Geburtenraten voraussichtlich nachteilig auf das Wirtschaftswachstum auswirken. Es besteht weiterhin eine große Ungleichheit, und die fast 20 Millionen Russen, die in Armut leben, konnten bislang noch nicht von der Konjunkturerholung profitieren. Eine geringe Wettbewerbsfähigkeit geht mit einem allgemeinen Mangel an Innovation, geringen Investitionen und der Abhängigkeit von Exporten natürlicher Rohstoffe einher.

    Präsident Wladimir Putin hat die Wiederbelebung der Wirtschaft zu seiner obersten Priorität erklärt. Seines Erachtens stellt die Stagnation eine existenzielle Bedrohung der Zukunft des Landes dar. Es ist ohne Frage ermutigend, dass Russlands Führung die Wichtigkeit struktureller Reformen anerkennt. Die ehrgeizigen wirtschaftlichen Ziele Putins sind jedoch völlig unglaubwürdig, und eine schlechte Erfolgsbilanz bei der Umsetzung der Reformen zur Förderung des Wirtschaftswachstums in den letzten Jahren lässt eine baldige Kehrtwende in der Wirtschaft Russlands zweifelhaft erscheinen.

    Russlands Wirtschaftspolitik wirkt sich stark auf die Beziehungen des Landes zur Europäischen Union aus, nicht nur, weil Russland der viertwichtigste Handelspartner der EU ist. Durch die Sanktionen, die der Westen wegen Russlands Angriff auf die Ukraine verhängt hat, verschärfen sich die genannten Probleme; will Russland seine Wirtschaftsleistung verbessern, ist die Aufhebung der Sanktionen ein wichtiger Teil des weiteren Vorgehens. Eine anhaltende Stagnation hingegen könnte Wladimir Putin darin bestärken, die wirtschaftliche Schwäche seines Landes durch eine fortgesetzte Konfrontation mit dem Westen zu kompensieren.

  • EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments

    II

    INHALT

    1. Lage der russischen Wirtschaft ____________________________________________________________________ 3

    1.1. Momentaufnahme der russischen Wirtschaft im Jahr 2018 ___________________________________________ 3

    1.2. Konjunkturerholung verdeckt strukturelle Probleme in der Wirtschaft __________________________________ 4

    1.3. Russlands strukturelle Probleme sind ein Spiegelbild seiner Geschichte ________________________________ 4

    2. Strukturelle Hindernisse beim Wirtschaftswachstum __________________________________________________ 6

    2.1. Wettbewerb ________________________________________________________________________________ 6

    2.2. Staatsführung ______________________________________________________________________________ 10

    2.3. Humankapital ______________________________________________________________________________ 12

    2.4. Armut ____________________________________________________________________________________ 15

    2.5. Innovation ________________________________________________________________________________ 17

    2.6. Investitionen ______________________________________________________________________________ 20

    2.7. Natürliche Ressourcen _______________________________________________________________________ 23

    3. Aussichten auf Reformen während der vierten Präsidentschaft Putins____________________________________ 26

    3.1. Wladimir Putin erklärt Wirtschaftsreformen zur obersten Priorität ____________________________________ 26

    3.2. Konkurrierende Optionen für Wirtschaftsreformen vorgelegt ________________________________________ 26

    3.3. Einige Bedingungen für Reformen sind günstig ___________________________________________________ 27

    3.4. Schlechte Ergebnisse wecken Zweifel am Erfolg der Wirtschaftsreformen ______________________________ 28

    3.5. Geopolitische Spannungen werden die Wirtschaft weiterhin behindern _______________________________ 29

    3.6. Die neue Aufstellung der Regierung lässt nur wenige Änderungen vermuten ___________________________ 30

    3.7. Politischer Wille zur Umsetzung schwieriger Reformen fehlt möglicherweise ___________________________ 30

  • Sieben wirtschaftliche Herausforderungen für Russland

    3

    1. Lage der russischen Wirtschaft

    1.1. Momentaufnahme der russischen Wirtschaft im Jahr 2018

    Abbildung 1: Wirtschaftswachstum in Russland, 1996-2017, % jährliches Wachstum

    Jährliches Wachstum im Vergleich zum vorangegangenen Zwölfmonatszeitraum; Daten: Russische Statistikbehörde.

    Im Jahr 2014 geriet die Wirtschaft durch die Auswirkungen eines Rückgangs des Preises von Erdöl (Russlands wichtigstem Exporterzeugnis) um fast 75 % zusammen mit den Mitte 2014 vom Westen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine verhängten Sanktionen in eine Rezession. Der Rubel brach zusammen, die Inflation stieg und die Regierung musste in großem Umfang auf ihre internationalen Reserven zurückgreifen, um den Bankensektor am Leben zu erhalten.1

    Ende 2016 begann Russlands Wirtschaft wieder zu wachsen, teilweise unterstützt durch eine Erholung des Erdölpreises (im April 2018 etwa 70 USD pro Barrel nach einem Tiefstand von unter 30 USD im Januar 2016, jedoch weiterhin unter dem Höchststand von 110 USD im Juni 2014). Im Jahr 2017 erreichte das Wachstum 1,6 %, es wird erwartet, dass es in den nächsten beiden Jahren auf einem ähnlichen Stand bleibt.2 Die Landwirtschaft war der am schnellsten wachsende Bereich (2,3 %), aber auch die verarbeitende Industrie und der Dienstleistungssektor legten zu. Der Außenhandel wuchs um 21 %, die Inflation (die 2015 und 2016 im zweistelligen Bereich lag) fiel unter 4 %. Im Jahr 2018 erreichte der russische Staatshaushalt wieder einen Überschuss.

    Nach 18 Monaten der Konjunkturerholung bekamen auch die russischen Durchschnittsbürger endlich den Nutzen des Wachstums zu spüren. Im Jahr 2017 ging die Armutsrate leicht zurück, im April 2018 stieg das tatsächlich verfügbare Einkommen (das nach der Bezahlung notwendiger Einkäufe verbleibende Haushaltseinkommen) erstmals, nachdem es vier Jahre in Folge gesunken war.3

    1 Russell, M.: Die russische Wirtschaft Wird Russland jemals aufholen?, Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments, März 2015.

    2 Russia's Recovery: How Strong are its Shoots?, Weltbank, November 2017. 3 Incomes in Russia Continue 4-Year Plunge, The Moscow Times, 21. November 2017; Russische Statistikbehörde.

    http://www.gks.ru/free_doc/new_site/vvp/kv/tab6.htmhttp://www.gks.ru/free_doc/new_site/vvp/kv/tab6.htmhttp://www.europarl.europa.eu/thinktank/de/document.html?reference=EPRS_IDA(2015)551320http://www.europarl.europa.eu/thinktank/de/document.html?reference=EPRS_IDA(2015)551320https://openknowledge.worldbank.org/bitstream/handle/10986/28930/30-11-2017-17-58-52-forwebNovFINALRERENGfull.pdf#page=43https://openknowledge.worldbank.org/bitstream/handle/10986/28930/30-11-2017-17-58-52-forwebNovFINALRERENGfull.pdf#page=43https://themoscowtimes.com/news/incomes-in-russia-continue-4-year-plunge-59642http://www.gks.ru/wps/wcm/connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/population/level/

  • EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments

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    1.2. Konjunkturerholung verdeckt strukturelle Probleme in der Wirtschaft

    Russlands derzeitiges Wirtschaftswachstum von unter 2 % ist im Vergleich zu den Wachstumsraten von 2,3 % und 2,7 %, die in den Vereinigten Staaten bzw. in der EU verzeichnet werden,4 oder dem internationalen Durchschnitt von 3,8 % nicht besonders beeindruckend, es liegt auch weit unter den durchschnittlich während des Wirtschaftsbooms Russlands zu Beginn der 2000er Jahre erreichten 7 %. Ein schwaches Wachstum bedeutet, dass Russlands Anteil an der Weltwirtschaft schrittweise abnimmt und der Rückstand gegenüber den fortgeschritteneren Volkswirtschaften, der sich bis 2014 verringert hatte, wieder zunimmt und dazu führt, dass das Land immer weiter zurückfällt (Abbildung 3).

    Die Rezession in den Jahren 2015/2016 und die langsame Erholung, die seitdem stattgefunden hat,

    haben nur teilweise mit externen Faktoren zu tun (Sanktionen des Westens, Fall des Erdölpreises). Die Tatsache, dass das Wirtschaftswachstum bereits 2012 an Geschwindigkeit verlor, lange bevor diese beiden externen Faktoren ins Spiel kamen, lässt darauf schließen, dass Russland längerfristige interne Probleme hat, die die Wirtschaft bremsen.

    1.3. Russlands strukturelle Probleme sind ein Spiegelbild seiner Geschichte

    Russland hat sich in den vergangenen 30 Jahren grundlegend verändert, die wirtschaftlichen Herausforderungen, denen das Land gegenübersteht, gleichen jedoch in vielerlei Hinsicht denen der Sowjetära. Reiche Rohstoffvorkommen ermöglichen einen angemessenen Lebensstandard der Bevölkerung; der Wirtschaft, die weiterhin von großen und unrentablen staatlichen Unternehmen dominiert ist, fehlt es jedoch an Wettbewerbsfähigkeit und Innovation. Russland besitzt kaum

    4 World Economic Outlook (April 2018), Internationaler Währungsfonds.

    Abbildung 2: Wichtigste Wirtschaftsindikatoren 2015-2017 BIP-Wachstum

    Inflation

    Defizit des Staatshaushalts

    % der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze

    Im Jahr 2017 erholte sich die Wirtschaft: das Wachstum setzte wieder ein, die Inflation sank, das Haushaltsdefizit nahm ab und bei der Armutsrate gab es erste Zeichen für einen beginnenden Rückgang.

    Quellen: Russische Statistikbehörde (BIP-Wachstum, Inflation, Armutsrate); Föderale Staatskasse (Defizit des föderalen Haushalts).

    Abbildung 3: Russlands wirtschaftlicher Rückstand

    Bei der gegenwärtigen Wachstumsrate wird Russlands Anteil an der Weltwirtschaft voraussichtlich sinken und der Rückstand zu den Volkswirtschaften der EU weiter zunehmen. Quelle: Weltbank

    http://www.imf.org/external/datamapper/datasets/WEOhttp://www.gks.ru/free_doc/new_site/vvp/kv/tab6.htmhttp://www.gks.ru/free_doc/new_site/prices/potr/tab-potr1.htmhttp://www.gks.ru/wps/wcm/connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/population/level/http://www.roskazna.ru/http://www.roskazna.ru/https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.PCAP.PP.CD

  • Sieben wirtschaftliche Herausforderungen für Russland

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    technologisch fortschrittliche Exportgüter, der Lebensstandard liegt deutlich unter dem der meisten westlichen Industrieländer. Übermäßige Verteidigungsausgaben führen dazu, dass Mittel für wirtschaftlich produktivere Investitionen abgezogen werden; Russland ist zwar deutlich stärker in die Weltwirtschaft integriert, als dies die Sowjetunion je war, doch die geopolitische Konfrontation mit dem Westen führt dazu, dass das Land den Blick wieder stärker nach innen richtet.

    In anderen Problemen spiegeln sich jüngere geschichtliche Entwicklungen wider. Die chaotischen 1990er Jahre haben zu weit verbreiteter Armut und Ungleichheit geführt, die mittlerweile zwar abgenommen haben, aber in gewissem Umfang weiterhin bestehen. Die Umwälzungen der postsowjetischen Zeit haben auch zu einem dramatischen Rückgang der Geburtenzahlen geführt, dessen Auswirkungen jetzt allmählich in Form einer demografischen Krise sichtbar werden.

    Im folgenden Kapitel werden die strukturellen Hindernisse für Russlands Wirtschaftswachstum in sieben wichtigen Bereichen beschrieben.

  • EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments

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    2. Strukturelle Hindernisse beim Wirtschaftswachstum

    2.1. Wettbewerb 2.1.1. Die Wirtschaft wird von großen staatseigenen Unternehmen beherrscht

    Über weite Teile der Sowjetzeit befanden sich fast alle Unternehmen in Staatsbesitz. Während der einschneidenden Wirtschaftsreformen in den 1990er Jahren wurden zehntausende Unternehmen privatisiert, der staatliche Anteil an der Wirtschaft sank dabei bis 2006 auf 38 % des BIP.5 Während der aufeinander folgenden Präsidentschaften Putins wurde der Trend zur Privatisierung durch die Nationalisierung von Großunternehmen in strategischen Bereichen wie Energie, Finanzen und Verteidigung jedoch umgekehrt. Der Erdölproduzent Lukoil ist unter den fünf nach Umsatz größten Unternehmen des Landes das einzige Unternehmen in Privatbesitz – der russische Staat besitzt oder hält einen Großteil der Aktien an Gazprom (Erdgas), Rosneft (Erdöl), der Sberbank (Bankensektor) und der Russischen Eisenbahn (Abbildung 4). Einer Schätzung zufolge lag der Anteil des öffentlichen Sektors an der Wirtschaft im Jahr 2012 bei 70 %,6 4 100 Unternehmen befanden sich in Staatsbesitz.

    Abbildung 4: Eigentum an den zehn größten Unternehmen Russlands Name des Unternehmens Umsätze 2016 (Mrd. Rubel) Sektor Eigentumsverhältnisse Gazprom 5 966 Erdgas staatlich Lukoil 4 744 Erdöl privat Rosneft 4 134 Erdöl staatlich Sberbank 3 059 Finanzen staatlich Russische Eisenbahn 2 133 Verkehr staatlich VTB Bank 1 320 Finanzen staatlich Rostech 1 266 Investitionen privat Magnit 1 075 Einzelhandel privat X5 Retail Group 1 034 Einzelhandel privat Surgutneftegaz 1 006 Erdöl/Erdgas privat

    Die meisten russischen Großunternehmen befinden sich in Staatsbesitz; Quelle: RBC.ru.

    Mit einem bald nach seiner Wahl im Jahr 2012 unterzeichneten Präsidialerlass7 ordnete Präsident Putin an, dass sich der Staat bis 2016 aus sämtlichen Nichtrohstoffbranchen zurückziehen solle, „mit Ausnahme von Rohstoffmonopolen und verteidigungsrelevanten Unternehmen“. Es gab in der Tat eine gewisse Privatisierung: Im Jahr 2016 verkaufte der Staat einen Teil seiner Beteiligungen an der Diamantmine Alrosa und am Erdölunternehmen Rosneft (bei letzterem hat er jedoch eine Mehrheitsbeteiligung behalten). Grund dafür war offensichtlich eher die Notwendigkeit, ein großes Haushaltsdefizit auszugleichen, als der Wunsch, den Staatssektor zu verkleinern. Im Jahr 2017 kündigte Premierminister Dmitri Medwedew mit dem Verkauf von Teilen der staatlichen Beteiligungen an der Bank VTB und der Reederei Sovcomflot weitere Privatisierungen an.8 Seitdem hat der Druck auf die staatlichen Finanzen jedoch nachgelassen und der Zeitpunkt für den Verkauf der VTB ist ungünstig, da die Bank Ziel westlicher Sanktionen ist; beide Privatisierungen wurden

    5 Russian Federation Systematic Diagnostic: Pathways to Inclusive Growth, Weltbank, 2016. 6 Fiscal Transparency Evaluation, Internationaler Währungsfonds, Mai 2014, S. 8. 7 Präsidialerlass Nr. 596 vom 7. Mai 2012 über die langfristige Wirtschaftspolitik (in russischer Sprache). 8 Russia approves privatization plan aimed at raising 17 billion roubles, Reuters, 2. Februar 2017.

    https://www.rbc.ru/rbc500/http://pubdocs.worldbank.org/en/184311484167004822/Dec27-SCD-paper-eng.pdf#page=152http://pubdocs.worldbank.org/en/184311484167004822/Dec27-SCD-paper-eng.pdf#page=152https://www.imf.org/external/pubs/ft/scr/2014/cr14134.pdf#page=9http://pravo.gov.ru/proxy/ips/?searchres=&bpas=cd00000&a3=102000503&a3type=1&a3value=&a6=&a6type=1&a6value=&a15=&a15type=1&a15value=&a7type=4&a7from=01.01.2012&a7to=31.12.2012&a7date=&a8=596&a8type=1&a1=&a0=&a16=&a16type=1&a16value=&a17=&a17type=1&a17value=&a4=&a4type=1&a4value=&a23=&a23type=1&a23value=&textpres=&sort=7https://www.reuters.com/article/us-russia-budget-privatisation/russia-approves-privatization-plan-aimed-at-raising-17-billion-roubles-idUSKBN15H1Z7

  • Sieben wirtschaftliche Herausforderungen für Russland

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    daher auf unbestimmte Zeit verschoben,9 und es wurden keine Pläne für den Verkauf weiterer staatlicher Unternehmen bekannt gegeben.

    Die staatliche Kontrolle der Wirtschaft ist in der jüngsten Zeit womöglich sogar noch stärker geworden, da die Regierung 2017 drei zahlungsunfähige Banken retten musste.10 Weitere Rettungsaktionen für Banken, die im April 2018 mit US-amerikanischen Sanktionen belegt wurden, werden derzeit erwogen.11

    Daten zeigen, dass staatliche Unternehmen in Russland wie in vielen anderen Ländern12 weniger rentabel als vergleichbare Privatunternehmen sind. Der Weltbank zufolge ist die Multifaktorproduktivität (TFP) – ein Maß dafür, wie effizient Unternehmen Kapital und Arbeit in Einkommen umwandeln13 – in russischen staatlichen Unternehmen sehr viel niedriger als im Privatsektor;14 in einem Bericht von BNP Paribas15 aus dem Jahr 2012 wird ebenfalls der Schluss gezogen, dass die Arbeitsproduktivität in öffentlichen Unternehmen um mehr als 30 % unter dem nationalen Durchschnitt liegt, nicht zuletzt, weil wichtige Entscheidungen häufig eher politischen als geschäftlichen Zielen dienen (beispielsweise der Armenien nach dessen Beitritt zur Eurasischen Wirtschaftsunion16 von Gazprom angebotene Rabatt auf Erdgas oder die Unterstützung der Sberbank für die Olympischen Spiele in Sotschi in Höhe von 2,7 Mrd. USD)17.

    2.1.2. Russlands Privatsektor ist ebenfalls nicht wettbewerbsfähig Daten der Weltbank zur Multifaktorproduktivität18 zeigen, dass russische Privatunternehmen zwar produktiver als entsprechende staatliche Unternehmen, jedoch deutlich weniger leistungsstark als in Russland operierende ausländische Unternehmen sind. Überdies scheint der Abstand zwischen russischen und ausländischen Unternehmen zuzunehmen; die Produktivität letzterer stieg zwischen 2005 und 2013 beträchtlich, wohingegen sie in russischen Unternehmen stagnierte oder abnahm. Die Weltbank stellt auch fest, dass weniger neue Unternehmen in die russischen Märkte eintreten als in den meisten anderen ehemaligen kommunistischen Ländern und etablierte Unternehmen höhere Gewinnmargen erzielen, was auf statische Märkte und einen allgemeinen Mangel an Wettbewerbsfähigkeit hinweist. Mit der Dominanz großer

    9 Russia's improving economy leaves privatization out in the cold, Reuters, 27. Oktober 2017. 10 Russia hit by $3.4 billion Promsvyazbank bailout in latest bank blow, Reuters, 15. Dezember 2017. 11 Viktor Vekselberg's Renova Group says it needs a government bailout (or two), Meduza, 3. Mai 2018. 12 Siehe Abbildung 3.2.1, Ausgewählte Schwellenmärkte: staatliche Unternehmen, Global Financial Stability Report, IWF,

    Oktober 2016. 13 The Meaning of Total Factor Productivity, ThoughtCo, 17. März 2017. 14 Siehe Abbildung 2.8, TFP nach Sektor und Eigentumsverhältnissen, Russian Federation Systematic Diagnostic:

    Pathways to Inclusive Growth, Weltbank, 2016. 15 Russia: The land of the bountiful giants, BNP Paribas, 2012. 16 Gazprom cuts wholesale gas price, Economist Intelligence Unit, 7. Mai 2015. 17 Sochi's costly legacy: A year after Olympics, Russian oligarchs unload toxic assets on state as taxpayers pick up the bill,

    National Post, 5. Februar 2015. 18 Siehe Abbildung 2.8, TFP nach Sektor und Eigentumsverhältnissen, S. 61, Russian Federation Systematic Diagnostic:

    Pathways to Inclusive Growth, Weltbank, 2016.

    Abbildung 5: Beitrag von KMU zur Wirtschaft

    KMU spielen in Russlands Wirtschaft eine deutlich kleinere Rolle als in der Wirtschaft der EU. Quelle: Weltbank, Eurostat

    https://uk.reuters.com/article/us-russia-privatisation/russias-improving-economy-leaves-privatization-out-in-the-cold-idUKKBN1CW112https://www.reuters.com/article/us-russia-banks-promsvyazbank/russia-hit-by-3-4-billion-promsvyazbank-bailout-in-latest-bank-blow-idUSKBN1E91HDhttps://meduza.io/en/news/2018/05/03/viktor-vekselberg-s-renova-group-says-it-needs-a-government-bailout-or-twohttps://www.imf.org/external/pubs/ft/gfsr/2016/02/https://www.thoughtco.com/total-factor-productivity-definition-1147262http://pubdocs.worldbank.org/en/184311484167004822/Dec27-SCD-paper-eng.pdf#page=72http://pubdocs.worldbank.org/en/184311484167004822/Dec27-SCD-paper-eng.pdf#page=72http://pubdocs.worldbank.org/en/184311484167004822/Dec27-SCD-paper-eng.pdf#page=72https://www2.deloitte.com/content/dam/Deloitte/ru/Documents/finance/report_bnp.pdfhttps://www2.deloitte.com/content/dam/Deloitte/ru/Documents/finance/report_bnp.pdfhttp://country.eiu.com/article.aspx?articleid=503145834&Country=Armenia&topic=Economy&subtopic=Fo_7http://nationalpost.com/sports/olympics/sochis-costly-legacy-a-year-after-olympics-russian-oligarchs-unload-toxic-assets-on-state-as-russian-taxpayers-pick-up-the-billhttp://nationalpost.com/sports/olympics/sochis-costly-legacy-a-year-after-olympics-russian-oligarchs-unload-toxic-assets-on-state-as-russian-taxpayers-pick-up-the-billhttp://pubdocs.worldbank.org/en/184311484167004822/Dec27-SCD-paper-eng.pdf#page=72http://pubdocs.worldbank.org/en/184311484167004822/Dec27-SCD-paper-eng.pdf#page=72http://pubdocs.worldbank.org/en/184311484167004822/Dec27-SCD-paper-eng.pdf#page=72http://pubdocs.worldbank.org/en/184311484167004822/Dec27-SCD-paper-eng.pdf#page=91http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Statistics_on_small_and_medium-sized_enterprises

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    etablierter Unternehmen kann erklärt werden, warum der Anteil russischer kleiner und mittlerer Unternehmen am BIP des Landes bei lediglich einem Fünftel und ihr Anteil an der Beschäftigung bei lediglich einem Viertel liegt,19 deutlich niedriger als in der EU mit einem Anteil von 58 % bzw. 67 %20 (Abbildung 5).

    2.1.3. Handelsbarrieren schützen russische Unternehmen vor ausländischer Konkurrenz

    Russland trat der WTO erst 2012 bei. Die Mitgliedschaft in der WTO hat dazu beigetragen, die ehemals hohen Einfuhrzölle zu senken; im Jahr 2015 lag Russlands handelsgewichteter Durchschnittszoll21 bei 4,8 % für Nichtagrarerzeugnisse und bei 12,3 % für Agrarerzeugnisse,22 etwas höher als die Durchschnittswerte der EU von 2,6 % bzw. 7,8 % (Abbildung 6). Ein größeres Problem für potenzielle Exporteure nach Russland sind die vielen nichttarifären Hemmnisse. Neben abweichenden technischen

    Normen besteht in Russland eine lange Tradition der Blockade von Einfuhren – beispielsweise für Fleisch aus Polen (zwischen 2005 und 2012), Obst und Wein aus Moldau und Georgien sowie Milchprodukte aus Belarus, in den meisten Fällen wegen angeblicher gesundheitlicher Bedenken. Sanktionen des Westens wegen des Ukraine-Konflikts haben Russland einen Vorwand geliefert, Nahrungsmitteleinfuhren aus der EU und anderen sanktionierenden Ländern weiter einzuschränken. Seither ist die russische Landwirtschaft aufgrund des fehlenden ausländischen Wettbewerbs rascher gewachsen als alle anderen Branchen.23 Derzeit sind acht Handelskonflikte gegen Russland bei der WTO anhängig; die EU macht beispielsweise geltend, dass durch eine von Russland auf Kraftfahrzeuge erhobene „Recyclinggebühr“ Importe diskriminiert werden, da im Inland hergestellte Personen- und Lastkraftwagen von dieser Gebühr größtenteils befreit sind.24 Die Kommission führt 34 Handelshemmnisse in Russland an, durch die Einfuhren von Erzeugnissen eingeschränkt werden, die von Arzneimitteln bis zu landwirtschaftlichen Maschinen25 reichen; dies ist eine größere Zahl als in den Vereinigten Staaten (19) oder China (25).

    Im Jahr 2015 gründeten Russland, Kasachstan, Belarus und Kirgisistan die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU), um einen eurasischen Binnenmarkt im Stil der EU mit freiem Waren-,

    19 Russian Federation Systematic Diagnostic: Pathways to Inclusive Growth, Weltbank, 2016. 20 Statistics on small and medium-sized enterprises, Eurostat (Daten von September 2015). 21 D. h. Durchschnittszölle, gewichtet nach dem Wert der Einfuhren. 22 Tariff profile, Russian Federation, Welthandelsorganisation. 23 Russian agriculture thrives as sanctions close off imports, Financial Times, 3. September 2017. 24 Russian Federation — Recycling Fee on Motor Vehicles, Welthandelsorganisation; siehe WTO dispute portal zu

    weiteren Beispielen für Handelsstreitigkeiten mit Russland. 25 Marktzugangsdatenbank, Europäische Kommission.

    Abbildung 6: Handelsbarrieren Handelsgewichtete durchschnittliche Zölle

    Handelsbarrieren bei Importen

    Starke Hemmnisse für ausländische Importe in Russland Quelle: Welthandelsorganisation, Europäische Kommission

    http://pubdocs.worldbank.org/en/184311484167004822/Dec27-SCD-paper-eng.pdf#page=91http://pubdocs.worldbank.org/en/184311484167004822/Dec27-SCD-paper-eng.pdf#page=91http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Statistics_on_small_and_medium-sized_enterpriseshttp://stat.wto.org/TariffProfiles/RU_e.htmhttps://www.ft.com/content/09632e20-88bf-11e7-8bb1-5ba57d47eff7https://www.wto.org/english/tratop_e/dispu_e/cases_e/ds462_e.htmhttps://www.wto.org/english/tratop_e/dispu_e/find_dispu_cases_e.htmhttp://madb.europa.eu/madb/barriers_result.htm?isSps=&countries=RU&lastUpdated=ANYTIME&showOnlyNew=false&showOnlyResolved=falsehttp://stat.wto.org/TariffProfiles/RU_e.htmhttp://madb.europa.eu/madb/barriers_result.htm?isSps=&countries=RU&lastUpdated=ANYTIME&showOnlyNew=false&showOnlyResolved=false

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    Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr zu schaffen.26 Die Beseitigung von Handelshemmnissen innerhalb der EAWU wird jedoch kaum einen zusätzlichen Wettbewerb für russische Unternehmen mit sich bringen, erstens, weil der Anteil der anderen EAWU-Mitglieder am gesamten Außenhandel Russlands bei lediglich 10 % liegt und zweitens, weil die Volkswirtschaften der meisten von ihnen noch weniger wettbewerbsfähig als die russische sind.

    2.1.4. Russland leitet ein Importsubstitutionsprogramm ein Russland leitete 2015 ein Importsubstitutionsprogramm ein, das zum Teil eine Reaktion auf die Sanktionen des Westens darstellte.27 Das Programm gilt für 19 Branchen, einschließlich des Verteidigungs-, Automobil- und Elektroniksektors, und umfasst Maßnahmen wie zinsgünstige Darlehen, Steuervergünstigungen und verbindliche Bevorzugung von Dienstleistungen und Ausrüstung aus Russland und anderen EAWU-Staaten bei staatlichen Ausschreibungen. Zwischen 2014 und April 2018 investierte die Regierung 600 Mrd. Rubel (10 Mrd. USD)28 in die Importsubstitution; bis Januar 2018 waren 350 Vorhaben abgeschlossen, weitere 780 sollen bis 2020 fertig gestellt werden.29

    Eine Importsubstitution ist im Verteidigungssektor eine Notwendigkeit, in dem Lieferungen von Technologie, die von russischen Waffenherstellern verwendet werden, durch Sanktionen wegfielen. Ihre Wirksamkeit wurde in Branchen, gegen die keine Sanktionen verhängt wurden, jedoch infrage gestellt. Zwischen 2013 und 2017 sank der Anteil der Einfuhren an Nahrungsmittelerzeugnissen von 36 % auf 22 %, bei Nichtnahrungsmittelerzeugnissen von 44 % auf 35 %.30 Ein großer Teil dieses Rückgangs hängt zweifellos nicht mit Substitutionsbemühungen, sondern mit einem Kursverfall des Rubels um 40 % zusammen, durch den Importe für die meisten Russen zu teuer geworden sind, sowie mit einem (seit August 2014 bestehenden) Einfuhrverbot für zahlreiche Nahrungsmittelerzeugnisse aus westlichen Ländern. Die Aufhebung der russischen Gegensanktionen und die Erholung des Rubelkurses würden höchstwahrscheinlich dazu führen, dass die Russen wieder auf Importe zurückgreifen.

    Überdies fördert eine Politik der Importsubstitution zwar möglicherweise die inländische Produktion, hat jedoch häufig keinen bleibenden wirtschaftlichen Nutzen, wie das Beispiel lateinamerikanischer Staaten aus den 1950er und 1960er Jahren zeigt.31 Im Jahr 2015 warnte Dmitri Medwedew, dass Russland keine Wettbewerbsfähigkeit erreichen werde, wenn Substitution bedeute, dass schlechtere und teurere einheimische Erzeugnisse gefördert würden.32 In einigen Branchen scheint jedoch genau das zu geschehen: Im Jahr 2016 stiegen Berichten zufolge die Preise durch die verbindliche Bevorzugung in Russland hergestellter Fahrzeuge bei Staatsaufträgen um bis zu 82 %.33

    26 Russell, M.: Eurasian Economic Union: the rocky road to integration, Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments, April 2017.

    27 Connolly, R. und Hanson, P.: Import Substitution and Economic Sovereignty in Russia. Chatham House, Juni 2016. 28 MacLeod, J.: Technology import substitution fits wider Russian aims. Oxford Analytica, 12. Juli 2018. 29 Russia expects to complete 780 import substitution projects in two years, TASS, 20. Januar 2018. 30 Russische Statistikbehörde. 31 Pouget-Abadie, T.: How successful was the policy of import substituting industrialisation in Latin America?. Januar

    2017. 32 Medwedew, D.: The new reality: Russia and global challenges (in russischer Sprache), 2015. 33 Import Substitution and Economic Sovereignty in Russia, Chatham House, Juni 2016.

    http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/BRIE/2017/599432/EPRS_BRI(2017)599432_EN.pdfhttps://www.chathamhouse.org/sites/files/chathamhouse/publications/research/2016-06-09-import-substitution-russia-connolly-hanson.pdfhttps://dailybrief.oxan.com/Analysis/DB236069/Technology-import-substitution-fits-wider-Russian-aimshttp://tass.com/economy/986012http://www.gks.ru/wps/wcm/connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/importexchange/https://rbrpublishing.com/2017/01/16/how-successful-was-the-policy-of-import-substituting-industrialisation-in-latin-america/http://www.vopreco.ru/rus/redaction.files/10-15.pdf#page=19http://www.vopreco.ru/rus/redaction.files/10-15.pdf#page=19https://www.chathamhouse.org/sites/files/chathamhouse/publications/research/2016-06-09-import-substitution-russia-connolly-hanson.pdf#page=15

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    2.2. Staatsführung 2.2.1. Fortschritte wurden bei der Reduzierung von Verwaltungsaufwand erreicht

    Mit dem Index der Wirtschaftsfreundlichkeit („Ease of Doing Business“) der Weltbank wird das regulatorische Umfeld für Unternehmen bewertet. Bis vor Kurzem belegte Russland einen Platz in der unteren Hälfte dieser Rangliste (Platz 120 von 183 Ländern im Jahr 2011),34 die Unternehmen mussten bei so grundlegenden Vorgängen wie der Ausfuhr von Erzeugnissen, der Zahlung von Steuern und der Beantragung von Baugenehmigungen komplexe und langwierige Verfahren durchlaufen.

    Im Jahr 2012 legte Wladimir Putin das ehrgeizige Ziel für das Land fest, einen Platz unter den obersten zwanzig in der Rangliste zu belegen. Das Ziel wurde bislang noch nicht erreicht; dennoch hat Russland seine Leistung im Index deutlich verbessert und belegt nun Platz 35,35 vor mehreren EU-Staaten, darunter Italien und Belgien (Abbildung 7). Beispielsweise sind für die Gründung eines Unternehmens jetzt vier Verfahren erforderlich, die 11 Tage dauern (in Moskau), gegenüber neun Verfahren und 30 Tagen im Jahr 2010. Die Zeit, die ein durchschnittliches Unternehmen für die Abgabe seiner Steuererklärung benötigt, hat sich mittlerweile halbiert. Die Beantragung einer Baugenehmigung ist immer noch langwierig und dauert durchschnittlich 230 Tage – dies ist eine eindeutige Verbesserung gegenüber 2010 (zwei Jahre), nimmt jedoch sehr viel mehr Zeit in Anspruch als in den meisten anderen Ländern. Ein weiteres großes Problem ist der grenzüberschreitende Handel, bei Exporten dauert die Abwicklung des Zolls und anderer Grenzkontrollen drei Tage.

    Neben der Reduzierung von Verwaltungsaufwand hat Russland Verfahren auch dadurch vereinfacht, dass einige nun online abgewickelt werden können. Einer Untersuchung der Vereinten Nationen von 201636 zufolge liegt Russland bei elektronischen Behördendiensten auf Platz 35 von 193 Ländern und damit vor mehreren europäischen Ländern, darunter der Tschechischen Republik, Portugal und Kroatien.

    Bedauerlicherweise haben diese Verbesserungen aufgrund der vielen anderen strukturellen Probleme von Russlands Wirtschaft nicht ausgereicht, um zusätzliche Investitionstätigkeiten zu fördern (siehe Abschnitt 2.6 zu Investitionen).

    2.2.2. Korruption ist ein wesentliches Hindernis für Unternehmen Die Straffung bürokratischer Verfahren ist eine Sache, die Reform der Ministerien, die sie durchführen, eine andere. Laut dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International war Russland 2017 das korrupteste Land in Europa und lag weltweit an 46. Stelle,37

    34 Doing Business 2010, Weltbank, September 2009. 35 Doing Business 2018, Economy Profile, Russische Föderation, Weltbank, 2017. 36 UN E-Government Survey 2016. 37 Russia Corruption Report, GAN Business Anti-Corruption Portal.

    Abbildung 7: Rangliste „Ease of Doing Business“

    Die Abwicklung von Geschäften ist in Russland sehr viel einfacher geworden. Quelle: Weltbank

    http://www.doingbusiness.org/reports/global-reports/doing-business-2010/http://www.doingbusiness.org/%7E/media/WBG/DoingBusiness/Documents/Profiles/Country/RUS.pdfhttps://publicadministration.un.org/egovkb/Portals/egovkb/Documents/un/2016-Survey/Annexes.pdf#page=28https://www.business-anti-corruption.com/country-profiles/russia/http://www.doingbusiness.org/rankings

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    gleichauf mit Bangladesch und Guatemala. Im Jahr 2018 bezeichnete der Bürgerbeauftragte für Wirtschaftsfragen Boris Titow die Korruption als das größte Problem für Russlands Unternehmer.38

    Im Dezember 2017 schätzte Generalstaatsanwalt Juri Tschaika die Kosten der Korruption für die russische Wirtschaft während eines Zeitraums von drei Jahren auf 2,5 Mrd. USD, diese Zahl ist jedoch wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. Korruption bedeutet zusätzliche Kosten für Unternehmen: Einer Umfrage von 201139 zufolge mussten Unternehmer Bestechungsgelder in Höhe von durchschnittlich 0,9 % des Umsatzes zahlen, die üblicherweise beim Kontakt zu Steuer- und Zollbehörden, aber auch bei Gerichtsverfahren und Ausschreibungen der Regierung erpresst werden. Ferner spielt Korruption eine Rolle bei Vorfällen wie der verheerenden Brandkatastrophe im Einkaufszentrum von Kemerowo im März 2018, wo sie möglicherweise dazu beigetragen hat, dass Ladeninhaber strikte Brandschutzvorschriften nicht einhalten mussten. Russlands Image als korruptes Land schreckt ausländische Investitionen ab.40 Obendrein werden enorme Vermögen, die häufig durch Korruption angehäuft wurden, auf Offshore-Konten versteckt, statt in die inländische Wirtschaft investiert zu werden; bei den Skandalen um die Panama Papers und die Paradise Papers wurde das Problem deutlich, nicht jedoch das volle Ausmaß von Russlands Offshore-Vermögen, das sich einer Schätzung zufolge auf 75 % des BIP des Landes beläuft.41

    Korruption ist ein seit Langem bestehendes russisches Problem, das in sowjetische und sogar zaristische Zeiten zurückreicht – so forderte beispielsweise im Jahr 1826 Zar Nikolaus I. die „Beseitigung dieses Geschwürs“.42 Bemühungen zur Bewältigung dieses Problems wurden unternommen. Im Jahr 2008 wurden ein nationaler Plan43 und ein Gesetz44 zur Korruptionsbekämpfung angenommen und seither mehrmals aktualisiert; zu den Maßnahmen gehören Vorschriften für Beamte und Abgeordnete zur Offenlegung von Einkommen und Vermögen, eine genauere Prüfung großer Infrastrukturvorhaben und ein verbesserter Schutz von Hinweisgebern. Da durch Online-Verfahren der persönliche Kontakt zu Beamten eingeschränkt wird, dürfte dies auch bedeuten, dass es weniger Gelegenheiten für die Erpressung von Schmiergeldern gibt.

    Trotz dieser Maßnahmen gibt es keinen Beleg dafür, dass Russland bei der Bekämpfung der Korruption größere Fortschritte macht. Russland gehört seit 1996, als das Land zum ersten Mal in den Korruptionswahrnehmungsindex aufgenommen wurde, zur Gruppe der 60 Staaten, die weltweit als am korruptesten gelten. Ähnliche Schlussfolgerungen enthält eine Umfrage von März 2017,45 der zufolge nur 15 % der Russen der Ansicht sind, dass sich die Lage seit Beginn der 2000er Jahre verbessert hat.

    Die Fähigkeit der russischen Behörden, die Lage zu ändern, ist zweifelhaft, da sich die Korruption auf allen Regierungsebenen ausgebreitet hat, auch unter den Beamten, die für die Bewältigung des Problems zuständig sind. Der ehemalige Wirtschaftsminister Alexei Uljukajew, der leitende Beamte für Korruptionsbekämpfung Dmitri Sachartschenko und mindestens drei regionale Gouverneure

    38 Titov: Russian businesses face 'corruption' challenges, BBC News, 8. März 2018. 39 2011 Business Environment and Enterprise Performance Survey, Weltbank/EBRD, Januar 2013. 40 German Firms Put Off by Russian Corruption, Spiegel Online, April 2013. 41 Novkmet, F., Piketty, T., Zucman, G.: From Soviets to Oligarchs: Inequality and Property in Russia 1905-2016, World

    Wealth and Income Database, Juli 2017. 42 Romanov, B.: Corruption in Tsarist Russia: A history of the problem. proza.ru, 2010 (in russischer Sprache). 43 National Anti-Corruption Plan, 22. September 2008. 44 Federal Law of 25 December 2008 on Countering Corruption (in russischer Sprache). 45 Institutional corruption and personal experience, Levada Center, 28. März 2017 (in russischer Sprache).

    http://www.bbc.com/news/av/world-europe-43333465/titov-russian-businesses-face-corruption-challengeshttp://www.bbc.com/news/av/world-europe-43333465/titov-russian-businesses-face-corruption-challengeshttps://openknowledge.worldbank.org/bitstream/handle/10986/16300/755680REVISED00cleaned0June0020130.pdf?sequence=1&isAllowed=yhttp://www.spiegel.de/international/europe/german-investors-discouraged-by-corruption-in-russia-a-892043.htmlhttp://piketty.pse.ens.fr/files/NPZ2017WIDworld.pdfhttp://piketty.pse.ens.fr/files/NPZ2017WIDworld.pdfhttp://www.proza.ru/2010/02/19/1020http://www.proza.ru/2010/02/19/1020http://en.kremlin.ru/supplement/279http://docs.cntd.ru/document/902135263https://www.levada.ru/2017/03/28/institutsionalnaya-korruptsiya-i-lichnyj-opyt/

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    waren 2017 in besonders eklatante Korruptionsfälle verwickelt. Dem Antikorruptionsaktivisten Alexei Nawalny zufolge reicht das Problem bis in die höchsten Ebenen; im März 2017 postete er ein weit verbreitetes YouTube-Video,46 in dem Dmitri Medwedew beschuldigt wird, in korrupter Weise Vermögen anzuhäufen; 2015 erhob Nawalny ähnliche Anschuldigungen im Hinblick auf Immobilien der Familie des russischen Generalstaatsanwalts Juri Tschaika.47

    Viele der jüngsten Korruptionsprozesse spiegeln eher eine politisch motivierte Tendenz wider, Gegner auszuschalten, als den echten Wunsch, eine saubere Regierungsführung zu erreichen. Beispielsweise wurde die Verurteilung Nawalnys wegen Betrug genutzt, um ihn von den Präsidentschaftswahlen 2018 auszuschließen, während die Vorwürfe gegen Wirtschaftsminister Alexei Uljukajew48 und Gouverneur Nikita Belych49 von einigen Beobachtern mit internen Machtkämpfen innerhalb der politischen Elite in Zusammenhang gebracht wurden.

    2.3. Humankapital 2.3.1. Eine schrumpfende und alternde Bevölkerung belastet die Wirtschaft stark50

    Im Jahr 2017 beschrieb Wirtschaftsminister Maxim Oreschkin Russlands demografische Lage als eine der schwierigsten weltweit.51 Diese Lage ist größtenteils den Nachwirkungen der chaotischen 1990er Jahre geschuldet, einer Zeit der wirtschaftlichen Instabilität, die viele Familien davon abhielt, Kinder zu bekommen. Infolgedessen treten nun sehr viel weniger junge Menschen in den Arbeitsmarkt ein oder entscheiden sich, selbst eine Familie zu gründen. Die Bevölkerungszahl insgesamt stagniert, die Erwerbsbevölkerung ist jedoch bereits von 90 Millionen im Jahr 2005 auf derzeit 83 Millionen gesunken. Da die Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs der 1990er Jahre weiterhin spürbar sind, könnte die Gesamtbevölkerung Prognosen zufolge im schlimmsten Fall in den kommenden 20 Jahren um 10 Millionen zurückgehen, wohingegen die Zahl der Beschäftigten um bis zu 8 Millionen abnehmen könnte (−10 %, siehe Abbildung 8).

    46 Alexei Nawalny, Don't call him Dimon, 2. März 2017. 47 The luxury hotel, the family of the top Moscow prosecutor and Russia's most notorious gang, The Guardian,

    13. Dezember 2015. 48 Russian ex-minister Ulyukayev jailed for eight years over $2 million bribe, Reuters, 15. Dezember 2017. 49 The Non-Political Political Arrest of Nikita Belykh in Russia, The New Yorker, 1. Juli 2016. 50 Sofern nicht anders angegeben, stammen die Daten und Prognosen in diesem Abschnitt von der Russischen

    Statistikbehörde (in russischer Sprache). 51 Another Worrying Sign For Russia's Dire Demographics, RFE/RL, 27. September 2017.

    https://www.youtube.com/watch?v=qrwlk7_GF9ghttps://www.theguardian.com/world/2015/dec/13/alexei-navalny-yuri-chaikahttps://www.reuters.com/article/us-russia-ulyukayev-verdict/russian-ex-minister-ulyukayev-jailed-for-eight-years-over-2-million-bribe-idUSKBN1E90SNhttps://www.newyorker.com/news/news-desk/the-non-political-political-arrest-of-nikita-belykh-in-russiahttp://www.gks.ru/wps/wcm/connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/population/demography/http://www.gks.ru/wps/wcm/connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/population/demography/https://www.rferl.org/a/russia-population-decline-labor-oreshkin/28760413.html

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    Abbildung 8: Demografischer Wandel in Russland, 2008-2017 Bevölkerungswachstum

    Größe der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter

    In den letzten Jahren lag die Zahl der Sterbefälle größtenteils über der Zahl der Geburten. Dieser natürliche Rückgang wurde jedoch durch Migration ausgeglichen. Die Zahl der Gesamtbevölkerung ist zwar stabil geblieben, die Zahl der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter geht jedoch zurück. Quelle: Russische Statistikbehörde; Daten zum Bevölkerungswachstum für 2014 liegen nicht vor.

    Um mehr Russen zu ermuntern, Kinder zu bekommen, führte die Regierung 2007 ein Mutterschaftskapital-Programm ein, in dessen Rahmen Eltern einen Gutschein im Wert von rund 6 000 EUR pro Kind für das zweite und jedes folgende Kind erhalten; das Geld kann unter anderem als Beitrag zum Erwerb oder zur Renovierung einer Wohnung verwendet werden. Im November 2018 kündigte Wladimir Putin eine weitere Unterstützung in Form eines Zuschusses an, den wirtschaftlich schlechter gestellte Familien während der ersten 18 Lebensmonate ihres ersten Kindes erhalten. Es wird jedoch nicht erwartet, dass sich die genannten negativen demografischen Trends durch diese Maßnahmen ändern (ein Anstieg der Geburtenraten nach der Einführung des Mutterschaftskapital-Programms war größtenteils darauf zurückzuführen, dass die Kinder des Babybooms der 1980er Jahren in reproduktionsfähiges Alter kamen; seit 2014 sind die Geburtenraten wieder gesunken)52.

    Neben den sinkenden Geburtenraten gibt es mehrere andere Gründe, weswegen die erwerbstätige Bevölkerung kleiner ist als sie sein könnte. Das Rentenalter (60 Jahre für Männer, 55 Jahre für Frauen) gehört zu den niedrigsten weltweit. Der Gesundheitszustand vieler Russen ist nicht gut (die Lebenserwartung bei der Geburt ist um neun Jahre geringer als der Durchschnitt in der EU-28); im Zeitraum 2010-2015 starben 37 % der russischen Arbeitnehmer, bevor sie das Rentenalter erreichten – doppelt so viele wie in Frankreich.53 Abgesehen von einem ungesunden Lebensstil (Alkoholismus, Rauchen und Drogen verursachen Schätzungen zufolge fast zwei Fünftel der Todesfälle)54 wird in Russland nicht genügend Geld ausgegeben: Im Jahr 2016 lagen die staatlichen Gesundheitsausgaben bei lediglich 3,8 % des BIP,55 nur die Hälfte der in den OECD-Industrieländern aufgewendeten Summe; zusammen mit den privaten Ausgaben liegt diese Zahl bei 5,6 % des BIP, auch hier deutlich unter dem OECD-Durchschnitt von 9 %.56 Im Jahr 2018 plant die Regierung eine

    52 Chawryło, K.: Putin's pro-family support programme, Centre for Eastern Studies, 6. Dezember 2017. 53 Russian Federation Systematic Diagnostic: Pathways to Inclusive Growth, Weltbank, 2016, S. 108. 54 Lack of people may be Russia's greatest challenge, Oxford Analytica, 31. Mai 2018. 55 Ebenda. 56 Health at a Glance 2017 – OECD Indicators, OECD, 10. November 2017.

    http://www.gks.ru/wps/wcm/connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/population/demography/https://www.osw.waw.pl/en/publikacje/analyses/2017-12-06/putins-pro-family-support-programmehttp://pubdocs.worldbank.org/en/184311484167004822/Dec27-SCD-paper-eng.pdf#page=119http://pubdocs.worldbank.org/en/184311484167004822/Dec27-SCD-paper-eng.pdf#page=119https://dailybrief.oxan.com/Analysis/DB234111/Lack-of-people-may-be-Russias-greatest-challengehttps://www.oecd.org/els/health-systems/Health-at-a-Glance-2017-Chartset.pdf#page=29

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    geringe Erhöhung der Gesundheitsausgaben auf 4,1 % des BIP; Wladimir Putin erklärte jedoch, dass das Land langfristig doppelt so viel wie bisher für die Gesundheit ausgeben müsse.57

    Hinzu kommt eine andauernde Abwanderung von Fachkräften: Seit 2012 hat sich die Zahl der Russen, die das Land verlassen, verdreifacht und lag 2016 bei 250 000.58 Besorgniserregender als die tatsächliche Zahl der Emigranten ist die Tatsache, dass viele von ihnen Wissenschaftler, Unternehmer und Personen mit IT-Kompetenzen sind, die im Ausland attraktivere wirtschaftliche Möglichkeiten zu finden hoffen – genau die Personen, deren Verlust sich Russlands Wirtschaft am wenigsten leisten kann.59

    Dies sind zumindest gute Nachrichten für Arbeitssuchende. Selbst während der jüngsten Rezession lag die Arbeitslosenrate weiterhin bei knapp 5 %, ausgenommen in verarmten Regionen wie Inguschetien, das die höchste Arbeitslosenrate des Landes verzeichnet (26 %).60 Für Arbeitgeber, die bereits Schwierigkeiten haben, Fachleute beispielsweise in der Technologiebranche zu finden, ist dies jedoch sehr viel besorgniserregender.61 Der daraus resultierende Fachkräftemangel behindert die russische Wirtschaft und kostet einer Schätzung62 zufolge jährlich 0,4 % an Wachstum.

    Der demografische Wandel wird neben einer Verschärfung des Fachkräftemangels dazu führen, dass die Renten schwieriger zu finanzieren sind, da weniger Arbeitnehmer Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Eine weitere Auswirkung ist die Landflucht: Tausende von Dörfern sind bereits verlassen, in den übrigen fehlt es an grundlegenden Einrichtungen, wodurch es noch schwieriger wird, junge Menschen zu halten.63

    Migration (größtenteils aus den ehemals sowjetischen zentralasiatischen Republiken Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan) trägt dazu bei, die Folgen der niedrigen Geburtenraten auszugleichen, hilft jedoch kaum bei der Beseitigung des Fachkräftemangels, da die meisten Migranten ungelernte Arbeiter sind. Zudem ist Feindseligkeit gegenüber zentralasiatischen Migranten weit verbreitet (in einer Umfrage von Februar 2017 gaben 38 % der Befragten negative Gefühle ihnen gegenüber zu)64; dies erschwert es Russland, eine große Zahl von Migranten zu integrieren.

    2.3.2. Russlands Bildungssystem ist nicht in der Lage, Arbeitnehmer auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten

    Russlands Fachkräftemangel ist nicht nur ein Ausdruck der Quantität, sondern auch der Qualität der Arbeitskräfte. Russland hat den weltweit höchsten Anteil an Hochschulabsolventen (2011 53 % der Bevölkerung, deutlich mehr als in den meisten Industrieländern) (siehe Abbildung 9; in der OECD liegt der Durchschnitt bei 32 %)65 und eine Alphabetisierungsrate bei Erwachsenen von nahezu 100 %). Russische Schüler schneiden bei internationalen Tests zum Vergleich von Mathematik-, Naturwissenschafts- und Lesekenntnissen in Schulen verschiedener Länder gut ab – sie liegen bei

    57 Presidential Address to the Federal Assembly, 1. März 2018. 58 Russische Statistikbehörde (in russischer Sprache). 59 A New Emigration: The Best Are Leaving, Institute of Modern Russia, April 2015. 60 Russische Statistikbehörde (in russischer Sprache). 61 'No miracles': labor shortage set to hit Russia's GDP, Reuters, 3. Oktober 2017. 62 Another Worrying Sign For Russia's Dire Demographics, RFE/RL, 27. September 2017. 63 Russia, a land of dying villages, Centre for Economic and Political Reforms, 17. Mai 2017. 64 Attitudes towards migrants, Levada Center, 29. Mai 2017. 65 Education at a Glance, Russian Federation, OECD, 2013.

    http://en.kremlin.ru/events/president/news/56957http://www.gks.ru/wps/wcm/connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/population/demography/https://imrussia.org/en/nation/2224-a-new-emigration-the-best-are-leaving-part-1https://imrussia.org/en/nation/2224-a-new-emigration-the-best-are-leaving-part-1http://www.gks.ru/wps/wcm/connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/wages/labour_force/https://www.reuters.com/article/us-russia-labour-demography/no-miracles-labor-shortage-set-to-hit-russias-gdp-idUSKCN1C80CYhttps://www.rferl.org/a/russia-population-decline-labor-oreshkin/28760413.htmlhttp://cepr.su/2017/05/17/russia-a-land-of-dying-villages/https://www.levada.ru/en/2017/05/29/attitudes-toward-migrants/http://www.oecd.org/education/Russian%20Federation_EAG2013%20Country%20Note.pdf

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    TIMMS/PIRLS fast an der Spitze, bei PISA im Durchschnitt oder knapp unter dem internationalen Durchschnitt.66 Bedauerlicherweise bedeutet dieses hohe Niveau bei der formalen Bildung nicht, dass russische Schulabgänger und Hochschulabsolventen gut auf das Berufsleben vorbereitet sind.

    Russische Arbeitgeber berichten über erhebliche Schwierigkeiten bei der Anwerbung geeigneter qualifizierter Arbeitskräfte. Einer Umfrage von 201767 zufolge betrachten russische Arbeitnehmer unzureichend ausgebildete Arbeitskräfte als das sechstgrößte Hindernis, dem sie gegenüberstehen. Eine Umfrage unter Arbeitgebern aus dem Jahr 2012 gibt genauere Auskunft über die Art der Qualifikationen, die ihres Erachtens fehlen; dazu gehören Problemlösungskompetenzen, die Fähigkeit, unkonventionell zu denken (beides Kompetenzen, die in innovativen Unternehmen besonders wichtig sind) und die Fähigkeit, mit Menschen zusammenzuarbeiten.68 Die Ergebnisse der letztgenannten Umfrage zeigen, dass russische Schulen und Hochschulen mit ihrem Schwerpunkt auf traditionellen Lehrmethoden, Wissen vor Fähigkeiten, Auswendiglernen vor Kreativität und Frontalunterricht vor Gruppenarbeit keinen Bezug zur Arbeitswelt haben.

    Diese Mängel können kaum behoben werden, nachdem die Russen das Bildungssystem verlassen haben. Die OECD-Daten legen nahe, dass russische Arbeitnehmer im Vergleich zu ihren Kollegen in Westeuropa nur in geringer Zahl an Erwachsenenbildung teilnehmen und die Möglichkeiten einer berufsbegleitenden Ausbildung begrenzt sind.69

    2.4. Armut 2.4.1. 20 Millionen Russen leben unter der nationalen Armutsgrenze

    Im Jahr 2000 lebten 30 % der Russen unter der nationalen Armutsgrenze (die 2017 auf 10 181 Rubel, etwa 130 EUR, pro Person und Monat festgelegt wurde).70 In den folgenden 13 Jahren half das rasche Wirtschaftswachstum knapp 27 Millionen Menschen aus der Armut, die Armutsrate fiel dadurch auf unter 11 %. Durch die Wirtschaftsrezession in den Jahren 2015/2016 wurde ein Teil dieses Fortschritts jedoch bedauerlicherweise zunichtegemacht, vier Millionen Russen gerieten unter die Armutsgrenze und die Armutsrate stieg wieder auf 13,4 % (20 Millionen Menschen;71 siehe

    66 Russell, M.: Russia's education system. Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments, Januar 2017. 67 World Economic Forum, Executive Opinion Survey 2017, zitiert in: The Global Competitiveness Report 2017-2018,

    World Economic Forum, 2017. 68 Developing Skills for Innovative Growth in the Russian Federation, Weltbank, Juni 2013. 69 Russian Federation Systematic Diagnostic: Pathways to Inclusive Growth, Weltbank, 2016, S. 108-109. 70 Russische Statistikbehörde (in russischer Sprache). 71 Russische Statistikbehörde (in russischer Sprache).

    Abbildung 9: Russlands Bildungssystem Leistung von Schülern weiterführender Schulen in PISA-Tests 2015 (Gesamtpunktzahl Naturwissenschaften + Lesen + Mathematik)

    Anteil der 25-34-Jährigen mit tertiärer Bildung

    In weiterführenden Schulen zeigen russische Schüler ähnliche Leistungen wie Gleichaltrige in anderen Industrieländern. Russland hat jedoch einen sehr hohen Anteil an Hochschulabsolventen. Quelle: OECD PISA 2015; Zahlen zur tertiären Bildung für 2016, ausgenommen Russland für 2013.

    http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/ATAG/2017/595910/EPRS_ATA(2017)595910_EN.pdfhttp://www3.weforum.org/docs/GCR2017-2018/05FullReport/TheGlobalCompetitivenessReport2017%E2%80%932018.pdf#page=260http://documents.worldbank.org/curated/en/460821468107067600/pdf/ACS15490WP0P1200Box037737900PUBLIC0.pdfhttp://pubdocs.worldbank.org/en/184311484167004822/Dec27-SCD-paper-eng.pdf#page=119http://pubdocs.worldbank.org/en/184311484167004822/Dec27-SCD-paper-eng.pdf#page=119http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/urov/urov_41kv.dochttp://www.gks.ru/wps/wcm/connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/population/level/https://www.oecd.org/pisa/pisa-2015-results-in-focus.pdfhttps://data.oecd.org/eduatt/population-with-tertiary-education.htmhttp://www.oecd.org/education/Russian%20Federation_EAG2013%20Country%20Note.pdf

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    Abbildung 10). Die wahrgenommene Armut ist noch höher – einer Umfrage zufolge betrachteten sich 20-23 % der Bevölkerung im Jahr 2017 als arm, gegenüber 15 % im Jahr 2014.72 Die Zunahme der Armut hatte weniger mit Arbeitslosigkeit zu tun, die während der Rezession bei etwa 5 % konstant blieb, als vielmehr mit sinkenden Löhnen, die nicht mit der Inflation Schritt halten konnten; 2016 war der Durchschnittslohn 8 % weniger wert als noch zwei Jahre zuvor.73 Die Wirtschaft wuchs zwar seit Ende 2016 wieder, doch es dauerte sehr viel länger, bis die normalen Russen den Nutzen zu spüren bekamen. Die Reallöhne stiegen 2017 um 3,4 %,74

    das tatsächlich verfügbare Einkommen stieg jedoch erst Anfang 2018, nachdem es vier Jahre in Folge gesunken war. Das tatsächlich verfügbare Einkommen ist sicherlich ein besserer Indikator für wirtschaftliches Wohlergehen als Reallöhne, da es informelle Erträge und Nichtarbeitseinkommen einschließt.75

    Armut und Ungleichheit sind wichtige politische Themen geworden. In einer Umfrage von April 201876 wurde das fortbestehende Einkommensgefälle als Wladimir Putins größtes Versagen betrachtet (von 45 % der Befragten), wohingegen 32 % beklagten, dass Löhne und Renten nicht stiegen. In Reaktion auf diese Anliegen legte Wladimir Putin in seiner Rede im März 2018 das Ziel fest, die Armut um die Hälfte zu senken. Das Lohnwachstum im derzeitigen Umfang wird nicht ausreichen, um diese drastische Reduzierung in der nahen Zukunft zu erreichen: Zwischen 2010 und 2013, als die russische Wirtschaft sehr viel rascher wuchs als heute und bei den Reallöhnen ein deutlicher Anstieg um 22 % zu verzeichnen war, sank die Armutsrate um 1,7 % – deutlich weniger als die Reduzierung um 6 %, die für Putins Ziel erforderlich ist. Zur Verringerung der Armut müssen daher zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden. Am 1. Mai 2018 wurde der Mindestlohn bis zur Armutsgrenze erhöht.77 Reformen des Wohlfahrtssystems könnten auch zur Bekämpfung der Armut beitragen: Im Ende 2017 verabschiedeten föderalen Haushalt für 2018-2020 sind zwar keine wesentlichen Zusatzausgaben in diesem Bereich vorgesehen,78 doch könnten Leistungen wirksamer eingesetzt werden, indem sie an das Einkommen gebunden werden (derzeit sind lediglich 15 % der Sozialausgaben einkommensabhängig, d. h. sie werden nur an Geringverdiener gezahlt)79.

    72 The mystery of 2017: higher wages, but no money, gazeta.ru, 18. Dezember 2017 (in russischer Sprache). 73 Russische Statistikbehörde (in russischer Sprache). 74 Russians' incomes: four years of unbroken decline, gazeta.ru, 25. Januar 2018 (in russischer Sprache). 75 Siehe Kasten 2: Is there a wage-income paradox? in: Russia's Recovery: How Strong Are Its Shoots?, Weltbank,

    November 2017, S. 13. 76 Vladimir Putin, Levada Center, 7. Mai 2018 (Umfrage im April 2018 durchgeführt). 77 The minimum wage: issues, TASS, 30. April 2018 (in russischer Sprache). 78 Two Lean Years: Russia's Budget for 2018-20, Zhavoronkov, S., 6. Dezember 2017. 79 Russian Federation Systematic Diagnostic: Pathways to Inclusive Growth, Weltbank, 2016.

    Abbildung 10: Einkommen und Armut

    Die Wirtschaft wächst zwar seit Ende 2016 wieder, das Einkommen der Haushalte beginnt sich jedoch gerade erst zu erholen. Quelle: Russische Statistikbehörde

    https://www.gazeta.ru/business/2017/12/18/11499836.shtml?updatedhttp://www.gks.ru/wps/wcm/connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/wageshttps://www.gazeta.ru/business/2018/01/25/11625727.shtmlhttps://openknowledge.worldbank.org/bitstream/handle/10986/28930/30-11-2017-17-58-52-forwebNovFINALRERENGfull.pdf?sequence=7#page=27https://openknowledge.worldbank.org/bitstream/handle/10986/28930/30-11-2017-17-58-52-forwebNovFINALRERENGfull.pdf?sequence=7#page=27https://www.levada.ru/2018/05/07/vladimir-putin-6/http://tass.ru/info/5169867http://intersectionproject.eu/article/economy/two-lean-years-russias-budget-2018-20http://intersectionproject.eu/article/economy/two-lean-years-russias-budget-2018-20http://pubdocs.worldbank.org/en/184311484167004822/Dec27-SCD-paper-eng.pdf#page=127http://pubdocs.worldbank.org/en/184311484167004822/Dec27-SCD-paper-eng.pdf#page=127http://www.gks.ru/wps/wcm/connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/population/level/

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    2.5. Innovation 2.5.1. Russische Forschung hat wenig Einfluss

    Die Sowjetunion investierte stark in Forschung und Entwicklung – 1990 etwa 5 % des BIP80 – und erzielte hervorragende Ergebnisse in Bereichen wie Weltraumforschung und theoretische Physik (sieben Nobelpreise). Die Forschungsausgaben sind seither auf 1,1 % des BIP im Jahr 201581 gesunken und liegen deutlich unter dem Durchschnitt in der EU-28 von 2 %, jedoch auf ähnlicher Höhe wie in vielen anderen Ländern mit einer vergleichbaren wirtschaftlichen Entwicklung.

    Mehr Anlass zur Sorge als die Höhe der Ausgaben geben jedoch eher die begrenzten Ergebnisse der russischen Forschung. Im Jahr 2016 gab es in Russland über 370 000 Wissenschaftler, dies entspricht in etwa der Zahl anderer Industrieländer;82 es gibt jedoch weniger wissenschaftliche Zeitschriften und Publikationen als in einigen anderen Ländern (wie Kanada oder den Niederlanden) mit einer sehr viel geringeren Anzahl an Wissenschaftlern.83 Die Qualität ist ein Problem, ebenso wie die Quantität – unter Wissenschaftlern aus 40 in einem OECD-Bericht untersuchten Ländern84 werden russische Wissenschaftler am seltensten von ihren internationalen Kollegen zitiert.

    In seiner Rede im März 2018 erwähnte Wladimir Putin mehrere umfangreiche Investitionen in Forschungseinrichtungen, darunter neue Beschleuniger für die Teilchenforschung. Doch nicht alle Probleme im Forschungssektor des Landes können durch zusätzliche Ausgaben gelöst werden. Kritiker verweisen auf schlecht verwaltete staatliche Forschungsinstitute, übermäßige bürokratische Kontrolle, fehlenden Wettbewerb unter Wissenschaftlern und nicht erfolgte Zuweisungen von Mitteln an die erfolgversprechendsten Vorhaben.85

    80 Entsprechend Zahlen der UNESCO, zitiert in: „Productivity“, Schaffer, M. und Kuznetsov, B., in: Can Russia Compete? Desai, R., Goldberg, I., Hrsg., 2008.

    81 Research and development expenditure (% of GDP), Daten der Weltbank. 82 Researchers, Daten der OECD. 83 Abbildung 1.16. Output an wissenschaftlichen Publikationen und Anzahl aktiver Zeitschriften, 20 führende Länder, in:

    Compendium of Bibliometric Science Indicators, OECD/CSIS, 2016. 84 Ebenda. 85 How Putin can restore Russian research, Nature, 13. März 2018.

    https://data.worldbank.org/indicator/GB.XPD.RSDV.GD.ZShttps://data.oecd.org/rd/researchers.htmhttp://www.oecd.org/sti/inno/Bibliometrics-Compendium.pdf#page=31https://www.nature.com/articles/d41586-018-03066-y

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    2.5.2. Russische Unternehmen scheitern bei der Innovation In Russland gibt es mehrere wichtige innovative Branchen, beispielsweise IT-Dienstleistungen, Verteidigung und Raumfahrt. Insgesamt zeichnet sich die Wirtschaft jedoch durch einen geringen Grad an Innovation aus. Im Jahr 2016 gaben lediglich 8,4 % der russischen Unternehmen an, sich mit technologischer, organisatorischer und Marketing-Innovation zu beschäftigten,86 was das niedrigste Niveau seit mehreren Jahren ist und deutlich unter den in der Europäischen Union verzeichneten 49 % liegt87 (Abbildung 11). Ein Grund dafür, dass die russischen Unternehmen hinter internationalen Konkurrenten zurückliegen, ist ihr relativ geringer Einsatz von IT. Im Jahr 2016 hatten weniger als die Hälfte der russischen Unternehmen (46 %) eine eigene Website,88 gegenüber 77 % der Unternehmen in der EU.89 Der Mangel an Innovation ist insbesondere in der Energiebranche eklatant, die den Großteil der russischen Ausfuhren erzeugt. Im Jahr 2016 gaben die Erdöl- und Erdgasproduzenten Gazprom und Rosneft lediglich 0,095 % bzw. 0,02 % ihres Umsatzes für Forschung und Entwicklung aus, ein Bruchteil der 0,43 % bzw. 0,47 %, die Shell und ExxonMobil aufwenden.90 Statt ihre eigene Innovation voranzutreiben, verlassen sich russische Energieunternehmen darauf, dass ihre westlichen Partner die Technologie bereitstellen, die sie benötigen, um schwer zugängliche Vorkommen weiterzuentwickeln.91 Das Fehlen inländischer Innovation in diesem Bereich ist heute ein großes Problem, da der Zugang zu dieser Technologie durch die Sanktionen der EU und der USA eingeschränkt wurde; Russlands Energiebranche musste daher mehrere erfolgversprechende Vorhaben aufgeben.92

    Der allgemeine Mangel an Innovation ist teilweise auf die Lage im russischen Forschungssektor zurückzuführen, der keine Ideen entwickelt, die in neue Produkte und Prozesse umgewandelt werden können. Im Jahr 2016 beantragten russische Erfinder 32 000 Patente,93 ein mittelmäßiges Ergebnis im Vergleich zur Größe der russischen Wirtschaft. In der relativ geringen Zahl an Patenten kommt nicht nur die unzureichende Qualität der russischen Forschung zum Ausdruck, die im vorangegangenen Abschnitt beschrieben wurde, sondern auch die fehlende Beteiligung des

    86 Russische Statistikbehörde. 87 Innovationsstatistik, Eurostat, März 2017. 88 Russische Statistikbehörde. 89 Digital economy and society statistics - enterprises, Eurostat, März 2018. 90 Finanzberichte 2016 für Gazprom; Rosneft; Shell; ExxonMobil. 91 Negative outlook for Russian economy as sanctions bite, International Institute for Strategic Studies, März 2015. 92 Russell, M.: Sanctions over Ukraine: Impact on Russia, Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments,

    März 2015. 93 Statistical country profile: Russian Federation, Weltorganisation für geistiges Eigentum, 2007-2016.

    Abbildung 11: Forschung und Innovation Für Forschung und Entwicklung aufgewendeter Anteil des BIP

    Anteil der innovativen Unternehmen

    Anzahl der beantragten Patente (in Tausend, 2016)

    Russische Unternehmen wenden deutlich weniger für FuE auf als ihre Entsprechungen in der EU. Wenige russische Unternehmen sind innovativ tätig, die Zahl der Patente spiegelt ebenfalls eine geringe Innovation wider. Quelle: Weltbank, Russische Statistikbehörde, Eurostat, Weltorganisation für geistiges Eigentum

    http://www.gks.ru/wps/wcm/connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/economydevelopment/http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Innovation_statisticshttp://www.gks.ru/wps/wcm/connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/science_and_innovations/it_technology/http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Digital_economy_and_society_statistics_-_enterpriseshttp://www.gazprom.com/f/posts/92/791430/gazprom-financial-report-2016-en.pdf#page=25https://www.rosneft.com/upload/site2/document_file/a_report_2016_eng.pdf#page=162http://reports.shell.com/annual-report/2016/strategic-report/strategy-and-business/business-overview.phphttp://cdn.exxonmobil.com/%7E/media/global/files/summary-annual-report/2016_summary_annual_report.pdf#page=42https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/13567888.2015.1029240file://EPRSBRUSNVF01/Users$/mrussell/Documents/my%20work/Russell%20M.,%20European%20Parliament%20Research%20Service,%20March%202015file://EPRSBRUSNVF01/Users$/mrussell/Documents/my%20work/Russell%20M.,%20European%20Parliament%20Research%20Service,%20March%202015http://www.wipo.int/ipstats/en/statistics/country_profile/profile.jsp?code=RUhttp://www.wipo.int/ipstats/en/statistics/country_profile/profile.jsp?code=RUhttps://data.worldbank.org/indicator/GB.XPD.RSDV.GD.ZShttps://www.hse.ru/data/2018/02/12/1162058327/Science_and_Technology_Indicators_2018.pdf#page=86http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/R_&_D_expenditure#R_.26_D_expenditure_by_source_of_fundshttp://www.wipo.int/ipstats/en/statistics/country_profile/

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    Privatsektors, der 2016 lediglich 28 % der gesamten Forschungs- und Entwicklungsausgaben des Landes bereitstellte, gegenüber 55 % in der EU;94 mit dieser Dominanz staatlicher Forschungsmittel lassen sich möglicherweise die fehlenden kommerziellen Erfolge erklären.

    Innovation wird auch durch einen unzureichenden Schutz geistigen Eigentums behindert. Nachahmungen sind üblich, es besteht eine weitverbreitete Online-Piraterie von Inhalten, einschließlich Videospielen und Software – ein ernsthaftes Problem für Russlands wachsende IKT-Branche.95 Verwaltungsaufwand hindert Rechteinhaber daran, Personen, die Rechte des geistigen Eigentums verletzen, vor Gericht zu bringen, die Behörden stellen nicht genügend Ressourcen für die Lösung des Problems bereit. Aufgrund dieser Probleme nannte das Büro des US-amerikanischen Handelsbeauftragten 2017 Russland als eines von 11 Ländern, in denen geistiges Eigentum besonders gefährdet ist.96

    Ein dritter Faktor ist das weiter oben beschriebene Fehlen von Wettbewerbsdruck auf den russischen Märkten; russische Unternehmen müssen ihren Konkurrenten nicht einen Schritt voraus sein, deshalb besteht kaum Anreiz, in Innovation zu investieren. Beispielsweise hindert eine minimale Forschungs- und Entwicklungstätigkeit große russische Energieunternehmen nicht daran, Erfolg zu haben.

    Aufgrund des allgemeinen Mangels an Innovation ist es für russische Unternehmen schwerer, produktiver zu werden, dadurch wird das Wirtschaftswachstum behindert. Die russische Regierung hat mehrere Initiativen eingeleitet, um das Problem zu lösen. Unternehmen, die neue Produkte und Dienstleistungen entwickeln, können bestimmte Arten von Forschungs- und Entwicklungsausgaben in größerem Umfang abschreiben, um weniger Steuern auf ihre Gewinne zu zahlen.97 Unternehmen, die sich mit technologischer Innovation beschäftigen und in einer von vier Sonderwirtschaftszonen tätig sind, erhalten zusätzliche Steuervergünstigungen.98 Besondere Steuerbefreiungen gelten auch für Technologieparks; der größte dieser Parks, Skolkovo vor den Türen Moskaus, wird als „Russlands Silicon Valley“ bezeichnet. Skolkovo wurde 2010 gegründet und besteht aus über 1 000 teilnehmenden Start-ups,99 zu seinen internationalen Partnern gehören Boeing, IBM und Microsoft. Im Jahr 2016 erklärte der Technologiepark, Investitionen in Höhe von 19 Mrd. Rubel (250 Mio. EUR) angezogen zu haben.100

    Diesen vereinzelten und von oben gesteuerten Initiativen sind jedoch aufgrund des fehlenden günstigen Umfelds für Innovation Grenzen gesetzt. Im Jahr 2016 räumte der Sprecher des Kremls, Dmitri Peskow, ein, dass die Ergebnisse der Sonderwirtschaftszonen des Landes im Vergleich zu den dort investierten Mitteln enttäuschend seien.101 Von den Hunderten von Technologieparks existieren viele nur auf dem Papier.102 Skolkovo ist zwar relativ erfolgreich, jedoch nicht gefeit gegen die umfassenden Probleme, vor denen Russlands Wirtschaft steht: Der Park geriet 2013 in einen

    94 Tabelle 3.8, Internal research and development expenditure by funding source, S. 85, Forschungsindikatoren: 2018, Russische Statistikbehörde et al. (in russischer Sprache) und R & D expenditure, Eurostat, März 2018.

    95 Russian Federation Systematic Diagnostic: Pathways to Inclusive Growth, Weltbank, 2016, S. 83. 96 2017 Special 301 Report, Büro des Handelsbeauftragten der Vereinigten Staaten. 97 Tax incentives in Russia, Deloitte, 2016. 98 Technology Innovative SEZ, Russisches Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung. 99 What is Skolkovo?, Skolkovo Foundation. 100 2017 Annual Report, Skolkovo Foundation. 101 Kremlin calls special economic zones inefficient, Russia Beyond the Headlines, Juni 2016. 102 Science parks: Russia's secret weapon, or Potemkin village?, Russia Beyond the Headlines, März 2016.

    https://www.hse.ru/data/2018/02/12/1162058327/Science_and_Technology_Indicators_2018.pdf#page=86http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/R_&_D_expenditure#R_.26_D_expenditure_by_source_of_fundshttp://pubdocs.worldbank.org/en/184311484167004822/Dec27-SCD-paper-eng.pdf#page=94http://pubdocs.worldbank.org/en/184311484167004822/Dec27-SCD-paper-eng.pdf#page=94https://ustr.gov/sites/default/files/301/2017%20Special%20301%20Report%20FINAL.PDF#page=54https://www2.deloitte.com/content/dam/Deloitte/ru/Documents/tax/tax-incentives-in-russia-2016-en.pdf#page=6http://economy.gov.ru/en/home/activity/sections/specialEconomicAreas/main/zone01e/?WCM_PI=1&WCM_Page.796a020048d16256aca7ff3b6d21bc61=1https://sk.ru/foundation/about/https://sk.ru/foundation/results/annual_reports_en/p/annual_report_2017.aspxhttps://www.rbth.com/news/2016/06/09/kremlin-calls-special-economic-zones-inefficient_601671https://www.rbth.com/science_and_tech/2016/03/21/science-parks-russias-secret-weapon-or-potemkin-village_577617https://www.rbth.com/science_and_tech/2016/03/21/science-parks-russias-secret-weapon-or-potemkin-village_577617

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    Korruptionsskandal,103 seine Belegschaft ist durch die Fachkräfteabwanderung stark dezimiert104 und sein derzeitiger Geschäftsführer Viktor Vekselberg wurde kürzlich auf die Liste der US-amerikanischen Sanktionen gesetzt.

    Während mit staatlichen Initiativen wie Skolkovo Innovation gefördert werden soll, kann politische Repression den gegenteiligen Effekt haben. Wladimir Putin hat in seiner Rede im März 2018 zwar die Einführung des Hochgeschwindigkeitsinternets im gesamten Land bis 2024 vorgesehen, der Kreml betrachtet das Internet – das in Russland immer noch relativ frei ist105 – jedoch als potenzielle Quelle von Subversion. Um eine stärkere Online-Kontrolle sicherzustellen, sieht ein Gesetz von 2014 vor, dass Websites die persönlichen Daten russischer Nutzer auf russischen Servern speichern müssen; das soziale Netz LinkedIn wird seither wegen Nichterfüllung der Vorschriften blockiert.106 Im April 2018 wurde Telegram (ein beliebter Nachrichtendienst, gegründet vom russischen Unternehmer Pawel Durow) verboten, weil den russischen Behörden keine Informationen vorgelegt worden waren, mit denen sie private Nachrichten entschlüsseln konnten – eine Bestimmung im Rahmen des repressiven „Jarowaja“-Gesetzespakets, das 2016 verabschiedet wurde.107 Auch wenn Russland noch weit von einer Firewall nach chinesischem Muster entfernt ist, tragen diese Maßnahmen dazu bei, das Land vom globalen Internet abzukoppeln. Es gibt auch direkte wirtschaftliche Auswirkungen: Einer Schätzung zufolge könnte das Verbot von Telegram russische Unternehmen (von denen viele diesen Dienst nutzen) bis zu 1 Mrd. USD kosten;108 der ehemalige Finanzminister Alexei Kudrin ist besorgt, dass dadurch der Prozess der Digitalisierung aufgehalten wird, den Russland zur Förderung des Wirtschaftswachstums braucht.109

    Geopolitische Spannungen sind ein weiteres Hindernis für Innovation. Das Virenschutzunternehmen Kaspersky Lab, eines der erfolgreichsten Internetunternehmen Russlands, wurde von US-amerikanischen Ministerien mit einem Verbot belegt, weil befürchtet wurde, seine Software könnte von kremlnahen Hackern genutzt werden, um Zugang zu sensiblen Informationen zu erhalten.110 In der Energiebranche wird der Zugang russischer Energieunternehmen zu innovativer Technologie und Dienstleistungen durch westliche Sanktionen eingeschränkt.

    2.6. Investitionen 2.6.1. Inländische und ausländische Unternehmen scheuen sich, in Russland zu investieren

    Im Jahr 2017 hatten Investitionen in Anlagevermögen einen Anteil von 21 % am BIP111 – dies entsprach dem Durchschnitt von 20 % in EU-Staaten, lag aber deutlich unter dem Niveau in dynamischen aufstrebenden Volkswirtschaften wie China (43 %) und Südkorea (30 %).112 In seiner

    103 Political backlash blamed for woes at Russia's 'Silicon Valley', Financial Times, Mai 2013. 104 The Short Life and Speedy Death of Russia's Silicon Valley, Foreign Policy, Mai 2015. 105 Russell, M.: Media freedom trends 2017: Russia, Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments, Mai 2017. 106 LinkedIn blocked by Russian authorities, BBC News, November 2016. 107 Russia Seeks To Block Telegram In Showdown Over Internet Freedom, RFE/RL, 6. April 2018. 108 High estimate of the cost of the Telegram ban (in russischer Sprache), Kommersant, 26. April 2018. 109 Kudrin sees the Telegram ban as an obstacle to digitalisation of the Russian economy, 26. April 2018 (in russischer

    Sprache). 110 Trump signs into law U.S. government ban on Kaspersky Lab software, Reuters, 12. Dezember 2017. 111 Russische Statistikbehörde (auf Russisch) 112 Zahlen für 2016, Gross fixed capital formation (% des BIP), Daten der Weltbank.

    https://www.ft.com/content/a9d3bd90-c157-11e2-b93b-00144feab7dehttp://foreignpolicy.com/2015/05/06/the-short-life-and-speedy-death-of-russias-silicon-valley-medvedev-go-russia-skolkovo/http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/ATAG/2017/603898/EPRS_ATA(2017)603898_EN.pdfhttp://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/ATAG/2017/603898/EPRS_ATA(2017)603898_EN.pdfhttp://www.bbc.com/news/technology-38014501https://www.rferl.org/a/russia-seeks-block-telegram-showdown-internet-freedom/29149515.htmlhttps://www.kommersant.ru/doc/3614069https://www.kommersant.ru/doc/3614376https://www.reuters.com/article/us-usa-cyber-kaspersky/trump-signs-into-law-u-s-government-ban-on-kaspersky-lab-software-idUSKBN1E62V4http://www.gks.ru/wps/wcm/connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/efficiency/https://data.worldbank.org/indicator/NE.GDI.FTOT.ZS

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    Rede im März 2018 bezeichnete Wladimir Putin höhere Investitionen als zweitwichtigste Antriebskraft des Wirtschaftswachstums nach der Innovation und forderte eine Erhöhung des Anteils auf 27 % des BIP. Die geringen Investitionen sind mehreren Faktoren geschuldet, von denen einige bereits genannt wurden: In nicht wettbewerbsorientierten Märkten müssen Unternehmen nicht investieren, um sich zu behaupten; auch wenn für Unternehmen nun deutlich weniger Verwaltungsaufwand besteht, halten Korruption und Schwierigkeiten bei der Gewinnung qualifizierter Mitarbeiter weiterhin ausländische und inländische Investoren ab.

    Geopolitische Spannungen belasten ausländische Investitionen erheblich, die seit 2014 eingebrochen sind (Abbildung 12). Die von den EU und den USA verhängten Ukraine-bezogenen Sanktionen haben sich auf die Auslandsbeteiligung im Energiesektor ausgewirkt, dem Hauptziel ausländischer Direktinvestitionen in Russland. Die Sanktionen führen nicht nur unmittelbar zum Verbot von Beteiligungen an innovativen Energievorhaben, sondern verhindern auch andere Arten von Investitionen, die nicht unmittelbar untersagt sind, bei denen aufgrund der Komplexität der Sanktionen jedoch das Risiko besteht, dass Bestimmungen unbeabsichtigt nicht eingehalten werden. Beispielsweise zog sich der deutsche Mischkonzern Siemens aus einem Joint Venture zurück, nachdem der russische Empfänger von vier seiner Turbinen diese unter Verstoß gegen EU-Sanktionen auf die Krim verbracht hatte.113 Überdies hat die Aussicht auf neue Sanktionen eine Atmosphäre der Unsicherheit entstehen lassen; die Vereinigten Staaten ergreifen weiterhin umfangreiche Maßnahmen, die in einem Gesetz von August 2017 vorgesehen sind,114 im Vereinigten Königreich ist von neuen Sanktionen die Rede115 und Moskau hat mit einem neuen Gesetz über Gegenmaßnahmen reagiert, die möglicherweise in Russland operierende westliche Unternehmen treffen könnten.116

    Abbildung 12: Ausländische Investitionen/Kredite in Russland Ausländische Direktinvestitionen während der vorangegangenen zwölf Monate in Russland, Mrd. USD

    Auslandskredite für russische Banken und Unternehmen, Mrd. USD

    Seit 2014 ist der Zustrom ausländischer Direktinvestitionen und ausländischer Finanzmittel nach Russland dramatisch eingebrochen. Quelle: Zentralbank Russlands

    2.6.2. Die Beschaffung von Finanzmitteln ist schwierig Dem vom World Economic Forum herausgegebenen Global Competitiveness Report 2017 zufolge betrachten russische Führungskräfte den Zugang zu Kapital als ihr drittgrößtes Problem.117 Im

    113 Siemens to exit Russian power joint venture, BBC News, 21. Juli 2017. 114 Countering America's Adversaries Through Sanctions Act, US-amerikanisches Finanzministerium. 115 Russian 'dirty money' is damaging UK security, MPs say, The Guardian, 21. Mai 2018. 116 Putin signs Russian 'counter-sanctions' into law, Reuters, 4. Juni 2018. 117 World Economic Forum, Executive Opinion Survey 2017, zitiert in: The Global Competitiveness Report 2017–2018,

    World Economic Forum, 2017.

    https://www.cbr.ru/Eng/statistics/?PrtId=svshttp://www.bbc.com/news/business-40680004https://www.treasury.gov/resource-center/sanctions/Programs/Pages/caatsa.aspxhttps://www.theguardian.com/politics/2018/may/21/russian-dirty-money-is-damaging-uk-security-mps-sayhttps://www.reuters.com/article/us-usa-russia-sanctions-law/putin-signs-russian-counter-sanctions-into-law-idUSKCN1J01IKhttp://www3.weforum.org/docs/GCR2017-2018/05FullReport/TheGlobalCompetitivenessReport2017%E2%80%932018.pdf#page=260

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    gleichen Bericht werden unzureichend entwickelte Finanzmärkte als der Bereich dargestellt, in dem Russland im Vergleich zu anderen Ländern am schlechtesten abschneidet und auf Platz 107 von 137 Ländern liegt. Zu den Gründen für dieses schlechte Ergebnis gehören die Schwierigkeit, Kredite zu bekommen, das Fehlen erschwinglicher Finanzdienstleistungen und die begrenzten Möglichkeiten, russische Investoren zu gewinnen. Die Schwäche des Bankensektors ist ein großes Problem. Zur schwersten Krise der jüngsten Zeit kam es im Dezember 2014 auf dem Höhepunkt der Rezession, als Sparer 21 Mrd. USD bei der Sberbank, Russlands größter Bank, abhoben;118 kurze Zeit später kündigte die Regierung einen Rettungsplan für die Branche in Höhe von 24 Mrd. EUR an.119

    Neben dem allgemeinen Wirtschaftsabschwung waren die Ukraine-bezogenen Sanktionen einer der Hauptgründe für die Bankenkrise in den Jahren 2014/2015. Russische Banken und Unternehmen hängen stark von ausländischen Krediten ab. Dies ist zum Problem geworden, da die Kreditvergabe von Banken aus der EU und den USA an Russland durch die Sanktionen erheblich eingeschränkt ist. Da ihre Kredite nicht verlängert werden konnten, mussten russische Kreditnehmer seit Mitte 2014 210 Mrd. USD zurückzahlen.120 Inländische Kreditgeber konnten diesen Ausfall an ausländischen Finanzmitteln nicht ausgleichen: Zwischen April 2017 und März 2018 vergaben russische Banken Unternehmenskredite im Wert von 215 Billionen Rubel, gegenüber 192 Billionen im Vergleichszeitraum vier Jahre früher121 – unter Berücksichtigung der starken Abwertung des Rubels seit 2014 bedeutet dies in Dollar einen Rückgang von 47 %. Kleine Unternehmen traf dies noch härter: Hier gingen die Kredite im gleichen Zeitraum in Dollar um 54 % zurück.122

    Das Problem des Bankensektors und allgemein die Schwierigkeiten der russischen Unternehmen beim Zugang zu Kapital bestanden jedoch bereits vor 2014. Im Global Competitiveness Report von 2013123 schnitt Russland im Hinblick auf die Finanzmarktentwicklung bereits sehr schlecht ab (Platz 121 von 148 Ländern), der Zugang zu Kapital wurde von russischen Unternehmern als ihr fünftgrößtes Problem eingestuft.

    Für die lang anhaltende strukturelle Schwäche im russischen Bankensektor wurden eine übermäßige Regulierung und eine unverantwortliche Kreditvergabe durch Banken verantwortlich gemacht.124 Im Bemühen um eine Behebung dieser Probleme hat die Zentralbank Russlands seit 2014 über ein Drittel der Banken des Landes geschlossen.125 Dennoch sind russische Banken (vor allem Banken in Privatbesitz) weiterhin anfällig, und 2017 mussten drei Großbanken gerettet werden.126

    118 Russian Banks Face More Pain, Bloomberg, November 2015. 119 Russia unveils $35 billion anti-crisis plan, silent on cuts to pay for it, Reuters, Januar 2015. 120 Zentralbank Russlands. 121 Volume of Loans in Rubles Granted to Resident Legal Entities and Individual Entrepreneurs, by Economic Activity and

    Use of Funds, Zentralbank Russlands. 122 Volume of Loans in Rubles, Foreign Currency and Precious Metals Granted to Small, Medium-Sized Businesses,

    Zentralbank Russlands. 123 The Global Competitiveness Report 2013–2014, World Economic Forum, 2014. 124 How to fix Russia's broken banking system, Financial Times, 14. Januar 2018. 125 Russia pushes to rid itself of 'Potemkin' banks by 2019, Reuters, 6. März 2017. 126 Russia Is Bailing out Another One of its Biggest Banks, Fortune, 15. Dezember 2017.

    https://www.bloomberg.com/news/articles/2015-11-05/russian-banks-face-more-painhttps://www.reuters.com/article/us-russia-crisis-anticrisi-plan-idUSKBN0L10XJ20150128https://www.cbr.ru/Eng/statistics/?PrtId=svshttp://www.cbr.ru/Eng/statistics/UDStat.aspx?TblID=302-01&pid=sors&sid=ITM_27910http://www.cbr.ru/Eng/statistics/UDStat.aspx?TblID=302-01&pid=sors&sid=ITM_27910https://www.cbr.ru/Eng/statistics/UDStat.aspx?TblID=302-17&pid=sors&sid=ITM_33769http://www3.weforum.org/docs/WEF_GlobalCompetitivenessReport_2013-14.pdf#page=342https://www.ft.com/content/b90754a8-f7c0-11e7-a4c9-bbdefa4f210bhttps://www.reuters.com/article/us-russia-banks/russia-pushes-to-rid-itself-of-potemkin-banks-by-2019-idUSKBN16D0H2http://fortune.com/2017/12/15/russia-promsvyazbank-bailout-otkritie/

  • Sieben wirtschaftliche Herausforderungen für Russland

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    2.7. Natürliche Ressourcen 2.7.1. Russlands Rohstoffreichtum ist ein Segen und ein Fluch

    Abbildung 13: Beitrag von Erdöl und Erdgas zur Wirtschaft BIP-Wachstum und Erdölpreis

    Wichtigste russische Exporte (2016)

    Der enge Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und hohen Erdölpreisen und der enorme Anteil von Erdöl und Erdgas an den Ausfuhren machen Russlands Abhängigkeit von der Erzeugung fossiler Brennstoffe deutlich. Quelle: Zentralbank Russlands, ITC Trade Map

    Einigen Schätzungen127 zufolge besitzt Russland größere Mineralvorkommen als jedes andere Land. Im Jahr 2015 besaß es die weltweit größten Vorkommen an Erdgas und die sechstgrößten Vorkommen an Erdöl,128 bei einer Vielzahl von Mineralen, darunter Eisen, Nickel, Platin, Gold und Diamanten, gehört es zu den ersten zehn Ländern weltweit. Im Jahr 2016 lag der Anteil der Rohstoffe an Russlands BIP bei 11,5 %,129 sie machten drei Viertel der Exporte aus. Zwischen 2000 und 2008 hat sich der Durchschnittspreis von Erdöl, Russlands Hauptexportgut, nahezu verfünffacht und stieg auf 100 USD pro Barrel Rohöl;130 dies führte zu einem Boom mit einem durchschnittlichen BIP-Wachstum von 7 %.

    Erdöl und Erdgas fördern das Wirtschaftswachstum und sind zudem eine wichtige Einnahmequelle für die föderale Regierung (Steuern auf Kohlenwasserstoffe hatten 2017 einen Anteil von 37 % an den Haushaltseinnahmen)131, sie ermöglichen Russland in den meisten Jahren einen gesun