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Solidarność
Solidarität als Geschichte.
5 polnische Bücher mit Analysen und Quellenpublikationen über die
NSZZ Solidarność
Als wir in der „Solidarność“ waren galt dort der Grundsatz der Verteidigung der
Schwächsten. Heute geben die Erben unserer Gewerkschaft diesen Grundsatz
zugunsten der Verteidigung der Besitzenden auf.
(Jacek Kuroń und Karol Modzelewski, Gazeta Wyborcza, 27/28. Januar 2001)
Am 13. Dezember 2001 jährt sich zum 20. Mal die Einführung des Kriegsrechtes
in Polen. Es wird Ausstellungen geben, Bücher, Artikel, Radio- und
Fernsehsendungen. Kurz zuvor, am 23. September, sind Parlamentswahlen,
welche die „postkommunistische“ Sozialdemokratie mit Sicherheit gewinnen wird.
Seit Monaten liegt sie in den Umfragen stabil über 45 Prozent. Die Hoffnungen
der bürgerlichen Mitte ruhen auf einem Kandidaten, der vor 12 Jahren am
Runden Tisch noch auf Seiten der „kommunistischen“ Regierung gesessen hatte.
Der politische Arm der heutigen Solidarność, die stramm rechte „AWS- Prawicy“,
steht ebenso kurz vor dem parlamentarischen Aus wie ihr Widerpart im
Solidarność - Lager, die liberale UW. Nur in der Erinnerung hat die Solidarność
noch eine alle Polen umfassende Macht.
Was aber wird da erinnert, wie und vor allem – von wem? Als vor einem Jahr der
20. Jahrestag des Gdańsker Abkommens, der “Gründungsurkunde” der
unabgängigen, selbstverwalteten Gewerkschaft (NSZZ) Solidarność am
31.08.2000 gefeiert wurde, blieb die Begeisterung begrenzt. 2.000 Menschen
kamen zu einer feierlichen Messe, die von 25 Bischöfen am historischen Denkmal
in Gdańsk zelebriert wurde. Vielleicht ebenso viele Warschauer versammelten
sich auf dem Schlossplatz der Hauptstadt, wohin Historiker der Opposition mit
einem “unpolitischen Schreiben” zu einem „Tag der Solidarność“, zu einem
“Treffen ohne Teilungen” eingeladen hatten.1 Hier wie dort wurden Ausstellungen
eröffnet und Reden gehalten. Doch auch die massenmediale Aufbereitung und
offizielle Würdigung konnte die Gräben, welche die in der Politik verbliebenen
Aktivisten voneinander und vor allem von ihren ehemaligen Kollegen und der
großen Mehrheit der Bevölkerung trennen, nicht überbrücken. Die 15 Monate der
Solidarność charakterisierte eine breite öffentliche, soziale und politische
1 Gazeta Wyborcza, 1.09.2000; Rzeczpospolita, 1.09.2000.
Sebastian Gerhardt 1 http://planwirtschaft.wordpress.com/
Solidarność
Aktivität der arbeitenden Bevölkerung. Das Ende der legalen Solidarność im
Dezember 1981 markierte die Wiederherstellung einer Ordnung, in der die
Arbeitenden arbeiten, die Leiter leiten und die Politiker Macht ausüben. 1989, am
Ende des “Kommunismus” in Polen, wurden die vielen Aktiven von 1980 nur noch
von wenigen repräsentiert. Die Wirkung der Solidarność wandelte sich mehr und
mehr ins Symbolische. Paradoxe Konsequenzen waren unausbleiblich:
Ausgerechnet unter den Regierungen und dem Schutzschirm einer Gewerkschaft,
die wie wenige andere Anfang der 80er Jahre für Solidarität, Gleichheit und
Gerechtigkeit eingetreten war, wurde Anfang der 90er Jahre in kurzer Zeit eine
brutale Verarmung insbesondere der polnischen Arbeiterklasse durchgesetzt. In
Gdańsk saß in der ersten Reihe der Ehrengäste die bekannte
Gewerkschaftsfreundin Margaret Thatcher als frischgebackene Ehrenbürgerin der
Hafenstadt.
Samoopisująca się rewolucja- eine sich selbst beschreibende Revolution2
Zu den Anfängen der Solidarność in Gdańsk gehört die Erinnerung an die
Dezemberstreiks von 1970, an die erschossenen Werftarbeiter und die Forderung
nach einem Denkmal für sie. Die Verteidigung der “wirklichen” gegenüber der
offiziellen Geschichte, der “Wahrheit” gegen die “Lüge” begleitete jeden Schritt
der Gewerkschaft. Es ging nicht nur um die historische Bestätigung der eigenen
Rechte und Ideale, sondern um die Herstellung eines öffentlichen Raumes. Es
ging um das Recht auf eine eigene Sicht auf die Gesellschaft - und um seine
Realisierung. Der Zugang des Streikkomitees zur Druckerei und zum
Werksrundfunk der Leninwerft markiert den Schritt zu einer ebenso öffentlichen
wie selbständigen Willensbildung außerhalb des Korsetts der offiziellen
Institutionen. Das Mikrophon und das Tonband, die Verbreitung und
Dokumentation mündlicher Auseinandersetzungen nahmen in dieser neuen,
“proletarischen Öffentlichkeit” eine zentrale Rolle ein.3 Die Öffentlichkeit wurde
als Schutz verstanden: durch das Wissen der anderen konnte der Einzelne ihrer
Solidarität teilhaftig werden. Mit erstaunlicher Offenheit und Präzision machten
die Beteiligten ihre Erlebnisse und Erfahrungen außenstehenden Berichterstattern
zugänglich, seien es nun ausländische Journalisten oder polnische Soziologen. So
2 Idee und Terminus entlehne ich von Piotr Marciniak, Stan badań nad historią ruchu społecznego “Solidarność” 1980 – 1981, in: Ku syntezie historii ruchu społecznego (1980-1981), Referaty z konferencji, Stowarzyszenia Archiwum Solidarności i Instytutu Stosowanych Nauk Społecznych Uniwersytetu Warszawskiego, Pod red. Elżbiety Kaczyńskiej, Warschau 2000. URL: http://strony.wp.pl/wp/archsol/Archives.htm.
3 Das hatte durchaus Tradition. Vgl. das Tonbandprotokoll von der Versammlung der streikenden Szczeciner Werftarbeiter mit Gierek u.a. am 24.02.1971 in: Rewolta szczecińska i jej znaczenie, Paris, Instytut Literacki 1971 (dt.: Rote Fahnen über Polen. Trikont München 1972)
Sebastian Gerhardt 2 http://planwirtschaft.wordpress.com/
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brachte die “sich-selbst-beschreibende Revolution” eine ebenso dichte
Überlieferung auf Seiten der Beteiligten wie auf Seiten der Beobachter hervor,
wobei einige Beobachter – als Berater der Gewerkschaft zum Beispiel – sich
durchaus auch beteiligt haben.
Die Durchsetzung des “Kriegsrechtes” nach dem 12.12.1981 beendete die Phase
solcher demonstrativen Öffentlichkeit. Die illegalen Gewerkschaftsorganisationen
hatten kein Interesse an der Dokumentation ihres Innenlebens.4 Regionale
Solidarność - Archive wurden vernichtet.5 Es ging nunmehr darum, die Spuren
einer einmaligen Erfahrung zu sichern und, wenn möglich, zu verarbeiten, den
langen Sommer der Solidarität gegen die tägliche Ohnmachtserfahrung und die
Verleumdungen der Staatsmacht zu verteidigen. Im Untergrund und im Ausland
erschienen die ersten und als solche bis heute nicht überholten
Gesamtdarstellungen von Jerzy Holzer und Timothy Garton Ash.6 Eine Reihe von
soziologischen Forschungsarbeiten entstand, die teils in offiziellen – d.h.
zensurierten – Organen, teils im unzensierten Manuskriptdruck, teils in der
Untergrundpresse publiziert wurden. Im letzteren Fall erschienen die Arbeiten oft
unter Pseudonym, oder eine Anmerkung der Redaktion war vorangestellt: “Wir
drucken die Arbeit ohne Wissen und Einverständnis des Autors.”
Noch während des Kriegsrechtes gründeten Journalisten und Historiker 1983 in
Warschau im Untergrund eine Institution, die sich die Sammlung, Erschließung
und Publikation von Quellenmaterial über die Solidarność zum Ziel setzte, das
“Archiwum Solidarności”7. Ohne formale Verbindung zu den
Untergrundstrukturen der Solidarność gelang es den Aktivisten unter der Leitung
von Andrzej Paczkowski8, eine Vielzahl von Dokumenten und Berichten zu
sammeln und einige auch zu veröffentlichen, sei es in den Zeitschriften des
Untergrunds9 oder in einer eigenen Reihe des “Archiwum Solidarności” in
verschiedenen Untergrundverlagen.10 Dabei beschränkten sie sich nicht auf die
4 Zur Untergrundgewerkschaft vgl. Hartmut Kühn, das Jahrzehnt der Solidarność. Berlin 1999. S. 269ff.
5 Kaczyńska in Postulaty 1970- 71 i 1980. Materiały źródlowe do dziejów wystąpień pracowniczych w latach 1970- 1971 i 1980 (Gdańsk i Szczecin). Gesammelt und herausgegeben von Beata Chmiel und Elżbieta Kaczyńska, Niezależna Oficyna Wydawnicza NOWA, Warszawa 1998, S. 9.
6 Jerzy Holzer, Solidarność, 1983. Timothy Garton Ash, Solidarity. A polish revolution. London 1983. Allerdings ist diesen Pionierarbeiten inzwischen, zumindest für den deutschen Sprachraum, die genannte Darstellung von Hartmut Kühn zur Seite zu stellen.
7 http://strony.wp.pl/wp/archsol/Archives.htm.8 Institut für politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften.
(http://www.isppan.waw.pl/)9 Powstanie KKP, Krytyka, Nr. 18, S. 71ff. 10 Der erste Band war die Reportage von Małgorzata Szejnert und Tomasz Zalewski: Szczecin.
Grudzień – Sierpień – Grudzień. Warszawa, nowa 1984. Andere Bücher erschienen bei Oficyna
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Zeit bis zum Kriegsrecht, sondern schlossen die aktuelle Geschichte der
Untergrundgewerkschaft mit ein. Bis 1990 erschienen in dieser Buchreihe 24
Bände, darunter bereits 5 Bücher mit den Tonbandprotokollen der Sitzungen der
Krajowa Komisja Porozumiewawcza (KKP), des Leitungsgremiums der
Solidarność.11 Andere Bände behandelten die Regionalgeschichte der Solidarność
oder zentrale Konflikte zwischen Gewerkschaft und Staatsmacht. Dabei lag aber
immer wieder die “innere Seite” der Staatsmacht außerhalb des darstellbaren
Bereiches, da hierfür die Quellen fehlten. Nur Risse im Machtblock ließen
zuweilen Informationen nach außen dringen.
Herrschaftswissen: Perspektiven der Macht in Ost und West
1986 konnte Grażyna Pomian in Paris Dokumente des Parteiapparates
veröffentlichen.12 1987 erschien in der Pariser “Kultura” ein 53-seitiges Interview
mit dem langjährigen Informator des CIA und polnischen Obersten Ryszard
Kukliński.13 Jedoch erst nach dem Zusammenbruch des Ostblocks begannen die
Quellen reicher zu fließen, sei es in Gestalt der Erinnerungen von führenden
Funktionären,14 sei es in Gestalt von Dokumentenfunden und Editionen. So legte
der Exilverlag Aneks 1992 eine umfangreiche Dokumentation von Protokollen des
Politbüros der PZPR aus den Jahren 1980/81 vor.15 Damit wurde nun eine nähere
Aufklärung der Motive und Diskussionen der Parteiführung möglich, z.B. anhand
der ökonomische Zwänge, in denen sie sich im Sommer 1980 sah. Diese Zwänge
führten u.a. zu einem Beschluß über Massenentlassungen im vergesellschafteten
Sektor.16 Allerdings setzt die Dokumentation erst mit dem Juni 1980 ein und ist
Literacka, PoMost, Wolne Słowo.11 4/11.-12.12.81; 5/23.-24.3.81; 8/22.-23.10.81; 11/31.3.-1.4.81; 16/2.-3.11.81; Das Projekt
konnte erst 1995 fortgesetzt und 1999 mit der Publikation des letzten Bandes abgeschlossen werden.
12 Protokoły tzw. Komisji Grabskiego. Tajne dokumenty PZPR, pod red. G.Pomian, Paryż 198613 "Wojna z narodem widziana od środka," Kultura (Paris), 4/475 (April 1987)14 Einige liegen auch auf deutsch vor, so die beiden Bücher von Wojciech Jaruzelski, Mein Leben
für Polen, München 1993, Hinter den Türen der Macht, Leipzig 1996 sowie von Mieczyław Rakowski, Es begann in Polen.Hamburg 1995.
15 Tajne dokumenty Biura Politycznego. PZPR a “Solidarność” 1980- 1981. Bearb. Zbigniew Włodek. Londyn 1992. In gleicher Aufmachung erschienen weiterhin eine Dokumentation zum Dezember 1970: Tajne dokumenty Biura Politycznego. Grudzień 1970. Bearb. Pawel Domański. Londyn 1991 sowie Tajne dokumenty Biura Politycznego i Sekretriatu KC. Ostatni rok władzy 1988 – 1989. Bearb. Stanisław Perzkowski. London 1994.
16 Tajne dokumenty 80-81, In der Vorlage der Plankommission wird der Umfang der nötigen Entlassungen mit 240.000 Personen beziffert (S. 14), im Protokoll der Sitzung heißt es dazu: “Es wurde unterstrichen, daß die Einschränkung der Beschäftigung nicht den Charakter einer einmaligen Aktion haben solle. Man muß vor allem die Disziplin stärken, nicht von neuem jene beschäftigen, die willkürlich die Arbeit unterbrechen, ihre Verpflichtungen schlecht erfüllen.”(S. 6) Wie angesichts dieser klaren Worte ein Experte der Tageszeitung “junge welt” unter Berufung auf diese Quelle darauf verfallen kann, man habe zur Verhinderung von Entlassungen sogar die Arbeitsproduktivität senken wollen, ist mir ein Rätsel – allerdings gibt die Serie von Marian Stankiewicz noch mehr solcher Rätsel auf. (Der Flächenbrand, , 26.08.2000, www.jungewelt.de).
Sebastian Gerhardt 4 http://planwirtschaft.wordpress.com/
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vielfach unvollständig.
Dennoch werden die Veröffentlichungen von Aneks allgemein verwendet und sind
das bis heute beste zugängliche Material. Sie stützen sich auf “Kopien der
Dokumente, die sich in privaten Sammlungen befinden”. Dies ist leicht erklärlich.
Nirgendwo gibt es einen vergleichbar offenen Zugang zur Hinterlassenschaft der
Politbürokraten und ihrer Dienste wie in Deutschland. Anders als in der DDR, wo
die Machtfrage schließlich durch den Import einer fertigen Staatsmacht geklärt
wurde, waren die Erbauer einer neuen, marktwirtschaftlichen Ordnung in
Osteuropa auf die Umfunktionierung der vorhandenen, sozialistischen
Staatsmacht angewiesen, da ein anderer Gewaltapparat nicht zur Verfügung
stand. Nicht nur zur Verhinderung möglichen gewaltsamen Widerstands der alten
Machteliten waren gute Verbindungen zu den vorhandenen Staatsorganen und
ihren Organisatoren unabdingbar. Der Machtapparat wurde gebraucht, um den
unausbleiblichen gesellschaftlichen Widerstand gegen die horrenden Unkosten
des “Schocks ohne Therapie”, der Preisfreigabe und Privatisierung zu
neutralisieren. Schließlich erwiesen sich Kontakte zur Macht auch als hilfreich bei
der eigenen Durchsetzung in der Konkurrenz der neuen Eliten. Solche
Abhängigkeit wurde selbstverständlich auch von den alten Funktionären genutzt.
Statt zu einer pauschalen Abrechnung mit dem alten Regime kam es daher zum
politischen Streit um die Opportunität dieser oder jener Art des Umgangs mit
ihnen. In Polen gewann dieser Streit seine besondere, auch persönliche Schärfe
aus der Tatsache, daß die Opposition nun mit den Protagonisten des
Kriegszustandes zusammenarbeiten musste. Die Auseinandersetzung begann
bereits 1989 mit der Kritik am Runden Tisch, sie setzte sich fort mit Adam
Michniks Artikel “Euer Präsident – unser Premier” vom 3. Juli ´89 und dem “Krieg
an der Spitze” des Jahres 1990, sie prägte Triumph und Zerfall des Solidarność -
Lagers in den frühen 90er Jahren.
Sie prägte auch die Geschichtsschreibung. Dabei gehörte die Säuberung der
Archive zu den beiläufig erledigten Hausaufgaben der Funktionäre in der
Übergangsperiode vom Sozialismus zum Kapitalismus. So wurden Ende 1989 die
stenographischen Protokolle der Sitzungen des Politbüros der PZPR aus den
80ern vernichtet.17 Ein prinzipielle Öffnung der Archive erfolgte weder nach den
Präsidentschaftswahlen Ende 1990 noch nach den Parlamentswahlen vom
Oktober 1991. Wie alle gewöhnlichen Akten staatlicher Institutionen unterliegen
z.B. auch die Überlieferungen des Verteidigungsministeriums einer 30- jährigen
17 Rozkaz: zniszczyć protokoły. Jerzy Morawski, Rzeczpospolita, 11-01-2001.
Sebastian Gerhardt 5 http://planwirtschaft.wordpress.com/
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Sperrfrist und sind im wesentlichen nicht zugänglich.18 Ende 1991 bildete der
Sejm eine Komisja Odpowiedzialności Konstytucyjnej, welche die Fragen der
Verfassungsmäßigkeit der Einführung der Kriegszustandes und der
Verantwortlichkeit der beteiligten Personen prüfen sollte. Dahinter stand die
Absicht der polnischen Rechten, die 40 Jahre Volkspolens als Ära einer
verbrecherischen sowjetischen Fremdherrschaft aus der nationalen Tradition
auszugrenzen. Die Kommission arbeitete bis 1996, wobei sicher auch die neuen
Mehrheitsverhältnissen – die “postkommunistische” SLD hatte am 19. September
1993 die Wahlen gewonnen – nicht ohne Einfluß auf den Verlauf ihrer Arbeit und
das Ergebnis blieben.
Zu einer Vielzahl von Fragen standen der Kommission hinreichende
Aktenbestände nicht zur Verfügung. Insbesondere gilt dies, wie gesagt, für die
Überlieferung des Militärs, so für die Entscheidungsfindung der entscheidenden
Komisja Obrony Kraju (Nationalen Verteidigungsrat), für die Diskussion der
Parteiführung sowie für die Beziehungen der polnischen Staats- und
Parteiführung zur Sowjetunion.19 Ausgehend von der vollständigeren
Überlieferung des Innenministeriums, den umfangreichen Befragungen von
Beteiligten und schriftlichen Erinnerungen wichtiger Funktionäre war jedoch eine
Rekonstruktion der Planungen und Handlungen des Sicherheitsapparates und
entscheidender Schritte der Staatsführung möglich.20 Zur Frage des äußeren
Einflusses stützte sich die Kommission vor allem auf verschiedene Aktenbestände
postsowjetischer und DDR- deutscher Herkunft.21 Letztere, vom
Forschungsverbund SED- Staat anhand der offenen Archive erarbeitet, gestatten
einen weitgehenden Überblick über die Haltung, den Informationsstand und die
Vorhaben der SED- Führung bezüglich der polnischen Krise und ermöglichen
darüber hinaus einen Einblick in die Meinungsbildung im Warschauer Vertrag.22
Dagegen handelt es sich bei den postsowjetischen Aktenbeständen um
ausgewählte Bestände, die keinen Rückschluß auf die Gesamtheit der
vorhandenen Akten zulassen, sondern deutliche Lücken aufweisen. In diesem
18 Jüngst wurden wieder einige ausgewählte Aktenstücke zum August 1980 freigegeben. Rzeczpospolita, 29-08-2001.
19 Zur Quellenbasis vgl. Andrzej Paczkowski, Odpowiedzialność za stan wojenny (Die Verantwortung für den Kriegszustand), Rzeczpospolita, 29.07.1995. Das Gutachten für die Sejm- Kommission, auf das sich der Artikel stützt, soll ebenso wie das Gutachten Andrzej Werblans demnächst im Rahmen der Working paper des CWIHP auch online veröffentlicht werden. Siehe unten.
20 Paczkowski, ebenda.21 Andrzej Werblan, Czy w 1981 roku groziła interwencja? (Drohte 1981 eine Invasion?), Dziś, Nr.
6 (45), 1994, S. 38ff.22 SED- Politbüro und polnische Krise 1980- 82. Berlin 1994
Sebastian Gerhardt 6 http://planwirtschaft.wordpress.com/
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Zusammenhang wurde 1994 auch die Authentizität einer “Bitte der polnischen
Führung um militärische Unterstützung”, die schon im Dezember 1981 im
Politbüro der KPdSU bezweifelt wurde, in Frage gestellt.23
Die fachliche wie politische Kontroverse der Historiker vor der Kommission
konzentrierte sich nicht zuletzt auf die Frage der Reformwilligkeit und -fähigkeit
der “Macht” einerseits und der Solidarność andererseits.24 Für die politische
Entscheidung über die rechtliche Beurteilung der Verantwortlichen blieb dies
ohne Relevanz. Der Sejm beschloß Ende 1996, entsprechend dem Vorschlag der
Kommission, die Verantwortlichen nicht vor dem Staatsgerichtshof anzuklagen.
Damit hatte sich die Verteidigungsstrategie Wojciech Jaruzelskis durchgesetzt,
der mit dem Hinweis auf eine seinerzeitige Gefahr eines Bürgerkrieges und einer
äußeren Intervention durch den Warschauer Vertrag die Ausrufung des
Kriegsrechtes als “kleineres Übel” in einer Situation “höherer Notwendigkeit”
gerechtfertigt hatte. Eine Argumentation, die nach Meinungsumfragen von der
Mehrheit der polnischen Bevölkerung geteilt wird.25 Auch die Rückkehr des
verbliebenen Solidarność – Lagers in die Regierung im Jahre 1997 und die damit
verbundenen geschichtspolitischen Entscheidungen (Gründung des Instytut
Pamięci Narodowej26) konnten daran nichts ändern.
Den internationalen Verwicklungen des polnischen Konfliktes und seiner Akteure
entsprechend bedarf auch die historiographische Aufarbeitung der internationalen
Kooperation. Federführend ist hierbei das National Security Archive (NSA) - keine
staatliche Einrichtung!27, das 1992 ein langfristiges Vorhaben startete, das
23 Werblan, op. cit. p. 44.24 Vgl. Andrzej Werblan, Trudny wybór,(Eine schwierige Wahl) Dziś Nr. 7 (58), 1995, S. 112ff und
Andrzej Paczkowski, Odpowiedzialność za stan wojenny, Rzeczpospolita, 29.07.1995.25 Für die 80er Jahre vgl. die Untersuchungen der Soziologen um W. Adamski: Polacy `84:
Dynamika społecznego konfliktu i konsensu und Polacy `88: Dynamika konfliktu a szanse reform. Einen englischsprachigen Überblick über diese Untersuchungen gibt der Band Societal Conflict and Systemic Change. The Case of Poland 1980- 1992 (Hg. W. Adamski, Warschau 1993). Für die 90er Jahre vgl. Renata Wróbel, Zdarzył się stan wojenny, (Es geschah der Kriegszustand) Rzeczpospolita 13.12.1996 und dieselbe, Większość uważa, że Jaruzelski postąpił słusznie, (Die Mehrheit meint, dass Jaruzelski richtig vorging) Rzeczpospolita 13.12.1997.
26 Das IPN (www.ipn.gov.pl) nahm seine Tätigkeit nach erbitterten Kontroversen, u.a. um die Besetzung des Präsidentenpostens, im Jahre 2000 auf. Das Institut vereinigt Strafverfolgungsbehörde, Archiv und eine Bildungseinrichtung (Biuro Edukacji Publicznej). Letztere hat vor allem mit ihrer Verherrlichung des antikommunistischen bewaffneten Untergrundes erhebliche Kritik auf sich gezogen.
27 Das Projekt entstand 1985 als Sammelpunkt für deklassifizierte Akten, die aufgrund des Freedom of Information Act zugänglich wurden. Das Archiv enthält "the largest collection of contemporary declassified national security information outside the United States Government". Es konzentriert die eigene Arbeit auf die politische Praxis der US- Außenpolitik. Die Arbeit wird v.a. durch private Stiftungen finanziert, ohne Regierungsmittel. Das Archiv befindet sich in der Gelman Library der George Washington University in Washington, DC. Eine Vielzahl von Publikationen und die sehr nützliche Website (http://gwis.circ.gwu.edu/%7Ensarchiv/) machen Arbeitsergebnisse rasch erreichbar.
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“Openness in Russia and Eastern Europe Project”, welches die Sicherung,
Analyse und Veröffentlichung historischer Quellen zur Nachkriegsgeschichte
Osteuropas betreibt. Daneben besteht seit Ende 1991 das Cold War International
History Project, das ein ausführliches Programm zur Erforschung des Kalten
Krieges, u.a. anhand nunmehr zugänglicher Akten aus Osteuropa und
deklassifizierter Akten der US- Administration betreibt.28 Das CWIHP arbeitet mit
historischen Institutionen in den betreffenden Ländern zusammen. Polnischer
Partner des Projektes ist das Institut für Politische Studien der Polnischen
Akademie der Wissenschaften.29 Beide Projekte – CWIHP und NSA – behandeln
Europa als nur einen unter vielen Schauplätzen des Kalten Krieges. Deutlicher
Ausdruck der sehr produktiven Kooperation dieser beiden Forschungsprojekte ist
eine Reihe von Konferenzen, in denen Forscher und Zeitzeugen der
gegensätzlichen Seiten zu erhellenden Auseinandersetzungen zusammengeführt
werden konnten.
So fand im Rahmen dieses Programms im November 1997 bei Warschau eine
Konferenz unter dem Titel “Poland 1980-1982: Internal Crisis, International
Dimensions” statt, an der neben polnischen Beteiligten, Oppositionellen wie
Zbigniew Bujak, Karol Modzelewski und Janusz Onyszkiewicz, sowie Staats- und
Parteifunktionären wie Wojciech Jaruzelski, Stanisław Kania und Mieczysław
Rakowski auch internationale Mitspieler auftraten: u. a. der Marschall der
Sowjetunion und damalige Chef der Vereinigten Streitkräfte des Warschauer
Vertrages Viktor Kulikow und der Sowjetunionexperte US - Präsident Reagans,
Richard Pipes. Ausgangspunkt war ein Dokumentenband des NSA, der sich u.a.
auf ein polnisches Forschungsprojekt stützte.30 Das CWIHP hat über die Tagung
berichtet (Bull.10) Inzwischen ist auch der Konferenzband erschienen.31 Im
Zentrum der Konferenz stand die Frage nach dem Realitätsgehalt und den
Konsequenzen der Drohung mit einer Intervention der Truppen des Warschauer
Vertrages. Angesichts des Beispieles des Prager Frühlings spielte diese Gefahr
28 Das Projekt ist angesiedelt am Woodrow Wilson International Center für Scholars in Washington. Die sehr gut gemachte Website: http://cwihp.si.edu/Default.htm. Einerseits finden sich hier Analysen und Dokumente im html- Format, mit der Möglichkeit zur Volltextrecherche, andererseits auch in “Papierform” - die bisher publizierten Bulletins und die Mehrzahl der Arbeitspapiere im pdf- format. Daneben Nachrichten zur Forschung. Links etc.
29 Die entsprechende Abteilung leitet Andrzej Paczkowski.30 Malcolm Byrne, Pawel Machcewicz, Christian Ostermann, eds., Poland 1980-1982 Internal
Crisis, International Dimensions. A Compendium of Declassified Documents and Chronology of Events ( Washington, DC: National Security Archive, 1997). Das polnische Projekt stand unter dem Titel “Kryzys polityczny 1980-1982: strategia i taktyka PZPR” und wurde von A. Paczkowski, P. Machcewicz, Krzysztof Persak und Andrzej Friszke bearbeitet.
31 Andrzej Paczkowski und Nina Smolar. Wejdą Nie Wejdą: Polska 1980-1982: Konferencja w Jachrance. (Sie kommen; sie kommen nicht! Polen 1980-1982: Konferenz in Warschau – Jachranka, 8.-10. November 1997) London and Warsaw, ANEKS, 1999.
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von Anfang an eine entscheidende Rolle in der innerpolnischen
Auseinandersetzung: sowohl für die Solidarność (was im Konzept der “sich-
selbst- begrenzenden Revolution” seinen Ausdruck fand), als auch für die Leute
der “Macht”, der Partei- und Staatsführung, die ja nicht zuletzt mit der Gefahr
einer sowjetischen Intervention die Ausrufung des Kriegrechtes als patriotische
Pflicht legitimieren. Gerade über diesen Punkt kam es zu deutlichen
Kontroversen, da insbesondere ehemalige sowjetische Militärs jede Drohung mit
einem Einmarsch verneinten.32
Ebenso wie der Beginn, so fand auch das Ende des “Jahrzehntes der Solidarność”
(Hartmut Kühn), als weiterer “Brennpunkt des Kalten Krieges” großes Interesse.
Im institutionellen Rahmen des Programms des NSA folgte u. a. im Oktober 1999
eine Konferenz ”Poland, 1986-1989: The End of the System”.33 In anderem
Zusammenhang organisierte die University of Michigan in Ann Arbor eine
Konferenz mit ebenfalls prominenter Beteiligung zum Runden Tisch in Polen.34
Weniger erforscht ist nach wie vor der politische Alltag des polnischen Konfliktes
in den 80er Jahren. Einen eigentümlichen Beitrag zu diesem Thema leistete Peter
Schweizer 1994 mit seinem Buch über “die geheime Strategie, die den Kollaps
der Sowjetunion beschleunigte”.35 Darin geht er auch auf die Unterstützung der
Solidarność ein. Seinerzeit lief bekanntlich die realsozialistische Propaganda auf
Hochtouren, um der staunenden Bevölkerung die imperialistische Steuerung der
Solidarność glaubhaft zu machen.36 Wie aber war es tatsächlich um die
Beziehungen der Solidarność zum Westen bestellt? Auf die Öffnung der
einschlägigen Aktenbestände wird man wohl noch lange warten müssen.
Angesichts des Mangels an anderen Unterlagen ist es vielleicht sinnvoll, anhand
eines heimlichen Klassikers zum Thema den derzeit möglichen Kenntnisstand
kurz zu rekapitulieren, zumal eine sachliche Auseinandersetzung mit diesem
Thema noch nicht recht begonnen hat. Dies scheint um so mehr geboten, da
32 Im ersten Teil des 11-ten CWIHP- Bulletins (Winter 1998) finden sich neben einigen, auf der Konferenz vorgestellten Analysen auch die Position von Mark Kramer und die gut argumentierte Gegenposition von W. Jaruzelski zum Gehalt des später präsentierten “Anoshkin- notebooks”. Mark Kramer ist Direktor des Harvard Project on Cold War Studies am Davis Center for Russian Studies, Harvard University.
33 Miedzeszyn-Warsaw , October 21-23, 1999. Co-organized with the Institute for Political Studies of the Polish Academy of Sciences (Warsaw).
34 Communism`s negoitiated Collapse. The polish round table talks of 1989, ten years later. 07.-10.04.1999. Materialien zur Konferenz und die Transkripte der Diskussionen unter: http://www.unmich.edu/~iinet/PolishRoundTable/
35 Peter Schweizer. Victory. The Reagan Adminstration`s Secret Strategy. That Hastened the Collapse of the Soviet Union. New York 1994.
36 Vgl. z.B. J. Kornilow, M. Kusnezow, J. Nikolajew: Wie eine Verschwörung entsteht. Progress Moskau 1985.
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Solidarność
unter Bezugnahme auf dieses Buch neue alte Legenden verbreitet werden.37
Peter Schweizer ist ein glühender Verehrer des erfolgreichen Antikommunisten
Ronald Reagan. Er stützt sich vor allem auf mündliche Mitteilungen seiner
Helden, zuständiger Politiker der Reaganadministration. Sein zentraler
Bezugspunkt ist die Meinungsbildung in der Umgebung des US- Präsidenten.38
Der Hauptheld, CIA- Chef William Casey, konnte von ihm allerdings nur noch
posthum gewürdigt werden. Er starb 1988. Das Buch behandelt chronologisch
den Zeitraum von Anfang 1981, der Bildung der ersten Reaganregierung, bis
Ende 1986, den letzten glücklichen Tagen vor Beginn der Iran – Contra – Affäre.
(Auf diese Affäre und ihre Hintergründe geht Schweizer nicht ein.) Neben Fragen
des internationalen Wirtschaftskrieges (Ölpreis, Technologieexporte in den
Ostblock), der Rüstungspolitik (SDI) und Afghanistan bilden die Entwicklungen in
Polen eines der durchgängigen Themen.
Für die Aktivitäten der Vorgängerregierung Carter (bis Januar 81) zur
Unterstützung der Solidarność hat Schweizer nur Verachtung übrig. Im
Gegensatz zum Einsatz des AfL-CIO, der aus seinen Mitteln allein 1980 ca.
150.000 Dollar als materielle und finanzielle Unterstützung bereitgestellt hatte,39
war die Beihilfe durch die US- Regierung zu vernachlässigen.40 Noch vor
Verhängung des Kriegsrechtes gab es Planungen für direkte Kontakte zur
Solidarność, u.a. zum Zwecke der gegenseitigen Information. Schweizer bezieht
sich hierbei auf die Spionageergebnisse zu Polen, auch auf die Geschichte des
Obersten Kuklinski.41 Solche direkten Kontakte sollten mit Hilfe des Mossad
37 junge welt, 31.08.2000. Marian Stankiewicz kann das von ihm angeführte Buch schwerlich gelesen haben, er kennt es bestenfalls aus zweiter Hand: die Differenzen zwischen seinen Behauptungen und der Darstellung Schweizers sind zu offensichtlich. Nach Schweizer hat der CIA weder die legale Solidarność der Jahre 80/81 finanziert, noch später die amerikanischen Gewerkschaften dazu benutzt. Auch der “formelle Pakt” zwischen dem Vatikan und dem amerikanischen Präsidenten entspringt allein den ressentimentgeleiteten Phantasien des Autors.
38 Vgl. insbesondere die Ausführungen zur National Security Planing Group und zur Beschlusslage (national security decision directive - NSDD): NSDD-32: S. 76ff , NSDD-66: S. 125ff, NSDD-75: S. 131ff, NSDD-166: S. 213f. Ein großer Teil der NSDD der Reagan- Administration ist 1999 deklassifiziert worden und im Netz als gif- Datei zugänglich: http://www.fas.org/irp/offdocs/nsdd/index.html. Von 325 NSDD ist bei 6 nicht einmal das Thema freigegeben. Etwa 17% sind außer dem Titel gesperrt, darunter die oben genannte NSDD-166 (US Policy, Programs and Strategie in Afghanistan) vom 27. März 1985. Dagegen wurden NSDD-32 (US National Security Strategie, 20- Mai 1982) teilweise, sowie NSDD- 66 (East- West Relations and Poland Related Sanctions, 29. 11.1982) und NSDD-75 (US Relations with the USSR, 17.01.1983) vollständig freigegeben. Weiterhin teilweise freigegeben ist NSDD-54, die bei Schweizer nicht erwähnt wird, dennoch zum Thema gehört (US Policy Towards Eastern Europe, 02.09.1982).
39 Schweizer, S. 60f.40 Schweizer schreibt über die Carter – Regierung “ But it was all pretty minor stuff and extremely
limited in scope. ... All the activity was taking place outside of Poland. It was considered too risky to do anything in the country. Solidarity was 100 percent made in Poland.”(32)
41 Schweizer, S. 55ff. Zu Kukliński vgl. oben FN 12, sowie den Artikel von Mark Kramer im CWIHP Bulletin Nr. 11 und den instruktiven Artikel von Benjamin B. Fischer von der CIA in den “Studies
Sebastian Gerhardt 10 http://planwirtschaft.wordpress.com/
Solidarność
hergestellt werden, was jedoch erst im Jahre 1982 gelang.42
Den Beginn der Planungen für finanzielle Unterstützung der Solidarność datiert
Schweizer auf die Zeit nach Verhängung des Kriegsrechts, den Beginn der
verdeckten Zahlungen auf März 1982.43 Daneben wurde auch technische
Unterstützung geleistet.44 Zunächst wurden vor allem die Medien der
Untergrundgewerkschaft gefördert, so der Untergrundverlag nowa und das Radio
der Solidarność.45 Bis Ende 1982 gelang die gedeckte Einführung eines C3I –
Systems46 für die Solidarność.47 Codierte Nachrichten wurden in das Programm
der „Voice of America“ eingefügt.48 Schweizer bezeichnet Zbigniew Bujak als den
Verantwortlichen für die Verteilung insbesondere der ausländischen
Unterstützung.49 Spätestens seit 1983 flossen jährlich einige Millionen Dollar in
den polnischen Untergrund, der Höhepunkt wurde 1985 mit etwa 8 Millionen
Dollar erreicht.50 Zur Finanzierung der Solidarność bediente sich die CIA weder
des Vatikans51 noch der amerikanischen Gewerkschaften.52 Die in beiden Fällen
durchaus vorhandene Zusammenarbeit bestand vielmehr vor allem im Austausch
von Informationen. Zum direkten Nachschub diente ab 1983 der Weg von
Schweden über die Ostsee zu den polnischen Häfen.53 Selektiv versorgte der CIA
den polnischen Untergrund auch mit Informationen.54 Erfolge der polnischen
Staatssicherheit, selbst die Verhaftung Bujaks am 5. Juni 1986 – nach 4 ½
Jahren im Untergrund - konnten diese Verbindungen nicht mehr vollständig
unterbrechen.55 Die kurz darauf erfolgende Amnestie (22.7.86) führt der Autor
auf den erfolgreichen Wirtschaftskrieg gegen Polen zurück. Eher beiläufig,
wenngleich nicht uninteressiert verweist Schweizer auf die Kooperation
osteuropäischer, vor allem polnischer und tschechischer Oppositioneller56, z. B.
in Intelligence”: http://www.cia.gov/csi/studies/summer00/index.html. 42 Die sogenannte „ratline“ des Mossad gab die Möglichkeit, Personen nach Osteuropa zu
schmuggeln. Schweizer S. 34, vgl. S. 56, 70, 86.43 Schweizer, S. 69f. S. 75f, 44 “It would be similar to the Afghan supply operation, the only difference being that the cargo for
Poland would not be lethal.” (S. 146)45 Schweizer, S. 89ff.46 C3I – command, control, communicate and intelligence – militärische Bezeichung für integrierte
Kommunikations- und Aufklärungstechnik, d.h. Funktechnik und andere passende Elektronik.47 Schweizer, S. 86f und 123. Information Robert Mc Farlane.48 Schweizer, S. 75, S. 89, 121. S. 224 (+RFE)49 Schweizer, S. 144f. Namentlich genannt werden von Organisatoren des Widerstands auch
Wiktor Kulerski, Ewa Kulik und Konrad Bieliński. Ebenda.50 Schweizer, S. 76, 146 und 225.51 Schweizer, S.35ff, “The fact was, they where already helping with important intellegence.” (38)
70. Zitat Pointdexter. S. 107 inf., S. 160f., S. 181ff.52 Schweizer, S. 60f, S. 75, S. 146. 53 Schweizer, S. 146, S. 164f, S. 184, S. 257ff.54 Schweizer, S. 75f.55 Schweizer, S. 222ff, 257ff, 264ff.56 Schweizer, S. 184, 227f, 256.
Sebastian Gerhardt 11 http://planwirtschaft.wordpress.com/
Solidarność
auf den gemeinsamen Brief zum 30. Jahrestag des Ungarischen Aufstands im
Oktober 1986, der ebenfalls gesponsort wurde.57
Schweizer betont die entscheidende Bedeutung der ökonomischen
Auseinandersetzung: durch den Wirtschaftskrieg und die qualitative Rüstung58
sollte die prinzipielle Überlegenheit der marktwirtschaftlichen Ordnung zum
Tragen kommen, die Kosten der Aufrechterhaltung des sozialistischen Lagers
unerträglich werden. Die ökonomischen und sozialen Verhältnisse, an denen
dieser Hebel angesetzt werden sollte, interessieren ihn nur als mehr oder
weniger passender Ausgangspunkt für die Beeinflussung des Gegners. Damit
bleibt jedoch die Entstehung und Gestaltung der betrachteten politischen Eliten
in Ost und West unberücksichtigt.
Die Arbeiter und die Politik – Dokumente
Zudem waren diese Eliten nicht die einzigen politischen Akteure. In den 15
Monaten der Solidarność zum Beispiel wurde ihnen ihr Monopol auf politische
Entscheidungen bestritten. Ohne eine Analyse der Bewegung, der Leute, ihrer
Motive und Handlungen, die den herrschenden Politbürokraten in “ihr” Geschäft
pfuschten, ist die Dynamik der Auseinandersetzung nicht zu verstehen. Diese
Dynamik ergibt sich nicht aus den Machinationen von Geheimdiensten,
Diplomaten und Militärs – auch wenn die Mehrheit der damaligen Akteure sich im
Gegensatz zu diesen nicht wieder zu Wort gemeldet hat. Die Sicherung und
Publikation der Dokumente ihres Aufbruches bilden auch unter den neuen
marktwirtschaftlichen Bedingungen einen besonders schwierigen, aber
unentbehrlichen ersten Schritt zur Analyse der Solidarność.
Das Archiwum Solidarności legte in der ersten Hälfte der 90er Jahre nur wenige
neue Bücher auf – zu den Streiks von 1988, zum Studentenstreik in Lodz `81
und zum Prozess gegen die Mörder des Priesters Jerzy Popiełuszko. Nach
dreijähriger Unterbrechung gelang ab 1995 die Publikation der noch fehlenden
Protokolle der Sitzungen der KKP.59 Mit dem Wiedererwachen des öffentlichen
Interesses an der Geschichte der Solidarność in der zweiten Hälfte der 90er Jahre
ergab sich auch eine erneute Nachfrage nach Dokumentationen und Analysen
57 Schweizer, S. 267. 58 Qualitative Rüstung zielt auf eine technologische Überlegenheit über den Gegner, die auch eine
größere Anzahl von Waffensystemen neutralisieren konnte. Zur Beunruhigung in der DDR vgl. H.-J. Gießmann, Qualitative Rüstung – neue Herausforderung für die Abrüstung, IPW- Forschungsheft 1/90, Berlin 1990.
59 In den Bänden 28, 29 und 30 legte das Archiv 1995/96 die Protokolle der Sitzungen vom 23.04., 04.06. und 09./10.04.1981 vor. Erst 1999 folgte der letzte Band mit dem Protokoll zum 3./4. 11.1981.
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Solidarność
zum Thema. Ein Ausgangspunkt waren dabei die Produktionen der “grauen
Literatur” der 80er Jahre, von denen einige nun tatsächlich veröffentlicht werden
konnten oder als Basis für neue Arbeiten dienten.60
Zu den klassischen Arbeiten der 80er Jahre über die unabhängige
Arbeiterbewegung in Polen zählen die Dokumentation von Andrzej Drzycimski
und Tadeusz Skutnik “Zapis Wydarzeń. Gdańsk – Sierpień `80”61 aus dem Jahr
1986 und die von Beata Chmiel und Elżbieta Kaczyńska herausgegebene Arbeit
“Postulaty. Materiały do dziejów wystąpień pracowniczych w latach 1970/71 i
1980 (Gdańsk/Szczecin)”62 aus dem Jahre 1988. Die letztere Arbeit erschien
1988 als Manuskript in einer Auflage von 99 Exemplaren (d.h. poza cenzurą-
außerhalb der Zensur). Über die Dokumentation hinaus enthielt dieser Band in
einem ersten Teil eine Reihe von Aufsätzen zum Thema (etwa 250 Seiten). Im
Rahmen eines umfassenderen Forschungsprojektes63 der Polnischen Akademie
der Wissenschaften konnte der zweite, dokumentarische Teil 1998 als Band 32
des Archiwum Solidarności publiziert werden – für die Veröffentlichung des
analytischen Teils reichten die finanziellen Mittel nicht aus.64 Das Buch präsentiert
im Hauptteil 56 Dokumente, drei weitere in Anhängen. Den Dokumenten sind
ausführliche Anmerkungen beigegeben, in denen ortsübliche Abkürzungen und
Wendungen erläutert werden.
Der Schwerpunkt der „Postulaty“ liegt auf dem Zeitraum Dezember 1970 bis
Februar 1971. Die Streikwelle des Dezembers 1970 war nach der Verkündung
einer Preiserhöhung am 14. Dezember ausgebrochen. Die hier mitgeteilten Texte
aus Szczecin setzen am 18.12. ein, mehrere Tage nach Beginn der
Okkupationsstreiks in den großen Werften und einen Tag nach der Beendigung
von Straßenunruhen durch Einsätze von Militär und Polizei, die allein hier zu
mindestens 16 Todesopfern führten. An erster Stelle der dokumentierten
Forderungen stehen daher das Ende des Einsatzes von Feuerwaffen und der
Rückzug von Polizei und Militär.65 Die Freilassung der verhafteten Kollegen und
die Bestrafung der Verantwortlichen werden ebenso verlangt wie die Beendigung
60 Vgl. z.B. Polacy ’81. Postrzeganie kryzysu i konfliktu, pod red. W.Adamskiego. Warszawa 1996. I.Krzemiński, Solidarność. Projekt polskiej demokracji, Warszawa 1997.
61 Aufzeichnung der Ereignisse. Gdańsk – August 1980.62 Die Forderungen. Materialien zur Geschichte der Arbeiterunruhen in den Jahren 1970/71 und
1980 (Gdańsk/Szczecin).63 Die unabhängige Aktivität der Gesellschaft als Voraussetzung der Systemtransformation des
Jahres 1989 (unter besonderer Berücksichtigung des Zeitraums 1980- 1981).64 Postulaty 1970- 71 i 1980. Materiały źródlowe do dziejów wystąpień pracowniczych w latach
1970- 1971 i 1980 (Gdańsk i Szczecin). Gesammelt und herausgegeben von Beata Chmiel und Elżbieta Kaczynska, Niezależna Oficyna Wydawnicza NOWA 1998
65 NB:Einige Texte unterstellen unzutreffender Weise, daß sich die Miliz lediglich in Uniformen der allseits geachteten Armee verkleidet habe.
Sebastian Gerhardt 13 http://planwirtschaft.wordpress.com/
Solidarność
der einseitigen Berichterstattung in der Presse und ein ungehinderter Zugang zu
den Werften, d.h. zu den Streikenden. Weiterhin betonen viele Schreiben den
organisierten Charakter des eigenen Auftretens und grenzen sich von
gewalttätigen Ausschreitungen ab. Viele betonen die sozialen, nicht-politischen
Ziele der Streiks - was selbst eine, teilweise zweifellos auch bewußte politische
Strategie darstellt. Sie kritisieren die Unfähigkeit der Gewerkschaften zur
Verteidigung ihrer Interessen und stellen die Solidarität mit den anderen
streikenden Belegschaften und ihren “berechtigten Forderungen” heraus. In
einem zentralen Falle, den gemeinsamen Forderungen der Streikkomitees der
Warski- Werft und der Gryf- Reparaturwerft vom 18.12.70 findet sich bereits die
Aussage: “Wir fordern unabhängige Gewerkschaften, die der Arbeiterklasse
unterstehen.” (Dok. 6, S.30).
Bereits beim ersten Lesen fällt die große Spannweite in Form, Autoren und
Adressaten der Texte auf. Es handelt sich um Erklärungen im Namen der
Belegschaft, in denen deren Forderungen fixiert sind, um Mitteilungen und
Beschlüsse von Streikkomitees oder um Protokolle von Versammlungen, auf
denen solche Forderungen artikuliert wurden. Daneben gibt es Briefe an
streikende Belegschaften oder Briefe von Belegschaften an die Direktion oder
lokale Machtorgane. In vielen Fällen wurden die Dokumente namentlich
unterzeichnet. In einem Fall hat sich die Direktion eines Betriebes selbst
darangemacht, ihren übergeordneten Stellen die Forderungen der Belegschaft in
einem offiziellen Schreiben zuzuleiten.
Der PZPR gelang es zunächst, durch die Ablösung W. Gomulkas und die
Verkündung zusätzlicher Sozialmaßnahmen für arme Familien die Konfrontation
zu entschärfen. Aber die Auseinandersetzungen um die Gewaltanwendung und
die Preiserhöhungen führten rasch zu neuen Streiks. Am 16. Januar trat die
Leninwerft in Gdańsk wieder in den Streik, mit Forderungen aus diesem Streik
beginnt die Dokumentation von Positionen aus dem Raum der “Dreistadt”
Gdańsk-Gdynia-Sopot, für den aus dem Dezember 1970 keine Texte abgedruckt
sind.
Am 22.01. trat auch die Warski- Werft in Szczecin wieder in Streik. Lokale Partei
und Administration versuchten den Ausstand zu isolieren: in der Stadt wurden
Flugblätter verteilt, welche den Streikenden eine Sabotage am Kurs der neuen
Parteiführung vorwerfen. Auf diese Vorbereitung zur Niederschlagung des Streiks
antwortet das einzige in der Sammlung enthaltene Flugblatt vom 23.01.70. Auf
Sebastian Gerhardt 14 http://planwirtschaft.wordpress.com/
Solidarność
der Werft kommt es am 24.01. zur großen Debatte mit der Partei- und
Regierungsdelegation unter Gierek.66 Im zweiten der drei Anhänge findet sich
übrigens ein 5-seitiges Protokoll des Treffens der Partei- und Regierungsspitze
unter Gierek mit Vertretern der Belegschaften in Gdańsk am folgenden Tag. Den
Abschluß der Dokumentation der Ereignisse der Jahreswende 70/71 bildet eine
mehr als 50 Seiten lange Liste von 872 Forderungen der verschiedenen
Abteilungen der Leninwerft aus dem Februar 1971 sowie ein Protokoll einer
Parteiversammlung einer Grundorganisation der Leninwerft aus dem gleichen
Zeitraum.
Die Preiserhöhungen wurden erst im März 1971 angesichts unkontrollierbarer
Streiks der Textilarbeiterinnen in Lodz zurückgenommen. Eine vergleichbare
Dokumentation dieser Geschichte steht noch aus.
Auch im August 1980 gab es neben den relativ kurzen Forderungslisten einzelner
Belegschaften und Abteilungen umfangreiche Zusammenfassungen der
Forderungen der Abteilungen eines Betriebes sowie überarbeitete, teilweise
vereinheitlichte Forderungskataloge, mit denen die Belegschaften Direktion und
Staatsmacht gegenübertraten. Die im Band dokumentierten Forderungen zum
Verhalten der Staatsmacht gegenüber den Streikenden sind kürzer und,
angesichts der bitteren Erfahrungen von 1970 wie des geringeren
Repressionsniveaus 1980, anders gefasst. Offensichtlich ist auch der Einfluß der
organisierten Opposition, einerseits im Bezug auf die “bürgerlichen” Freiheiten
und der Forderung nach Freilassung der politischen Gefangenen (einer de facto
Legalisierung der Opposition), andererseits in der Formulierung der zentralen
Forderungen nach freien Gewerkschaften (Bezug auf die 1956 durch Polen
ratifizierte Konvention 87 der ILO)67 und nach einem Teuerungsausgleich.68
Schließlich macht die Vielzahl von übereinstimmenden oder ähnlichen
Forderungen deutlich, wie wenig sich in den Betrieben geändert hatte.
Die Dynamik der Entwicklung, die im August 1980 die Aktivisten von der Freien
Gewerkschaft des Küstengebietes in das Zentrum der Entstehung einer
66 Zum Protokoll siehe die Literatur in FN 2.67 Der Bezug auf die Konvention der ILO wird verdeckt, wenn (wie z.B. bei H. Kühn, S. 29), in der
Übersetzung der damals in Polen tatsächlich unübliche Terminus Arbeitgeber (pracodawcy) mit “Betriebsleitungen” wiedergegeben wird.
68 Vgl. die Karta Praw Robotniczych (Charta der Arbeiterrechte) vom Juli 1979, in: Zygmunt Hemmerling, Marek Nadolski (Hg.) Opozycja Demokratyczna w Polsce 1976- 1980, Warszawa 1994, S. 602ff, zu deren Unterzeichnern u.a die Aktivisten von der Freien Gewerkschaft des Küstengebietes gehörten.
Sebastian Gerhardt 15 http://planwirtschaft.wordpress.com/
Solidarność
unabhängigen und selbstverwalteten Gewerkschaft brachte, lässt sich an der
Dokumentation von Drzycimski/Skutnik studieren. Sie bildete die Grundlage für
einen weiteren Dokumentationsband (36) des Archiwum Solidarności.69 Der Band
enthält in chronologischer Ordnung den Text von 338 Dokumenten aus dem
August 1980, vom Streikaufruf der “Gründungskomitees der Freien
Gewerkschaften” an die Arbeiter der Gdańsker Werft vom 14. August 1980 bis
zum Kalendarium des Streiks, das am 31.08.1980 im Bulletin der Streikenden
erschien. Aufgenommen wurden ausschließlich solche Dokumente, die noch
während des Auguststreiks von den Beteiligten wahrgenommen wurden und
insofern direkt auf den Gang der Ereignisse “einwirken” konnten. Auch die Seite
der “Macht”, Partei und Regierung, wird nicht anhand interner Schreiben,
sondern auf der Grundlage ihrer Verlautbarungen in Presse, Funk und Fernsehen
vorgestellt. Der Band enthält ein kurzes Vorwort der Redaktion, ein
Abkürzungsverzeichnis, eine Liste der Dokumente und eine englischsprachige
Zusammenfassung.
Der Band zeigt im Nebeneinander der Dokumente das Ineinandergreifen
unterschiedlichster Bewegungen in der Streikwelle sowie ihre Ausbreitung und
Veränderung als den zentralen Prozess. So macht er mit der Wiedergabe der
Forderungen verschiedener Belegschaften das Spektrum der Zielvorstellungen,
gegenseitige Bezüge und Solidarisierungen deutlich. Besonderes Interesse
verdient zweifellos die Dokumentation von Krisensituationen der
Streikbewegung. Dazu zählen, um nur einige zu nennen, die Weiterführung des
Streiks auf der Leninwerft nach dem 16.8. 1980 trotz der beschlossenen
Beendigung des Streiks durch das Streikkomitee unter Wałęsa und die Bildung
des Überbetrieblichen Streikkomitees (MKS), die Durchsetzung des MKS als des
alleinigen Verhandlungspartners der Regierung sowie die Verhandlungen selbst.
So musste in Gdańsk der Verzicht auf die ursprüngliche und gut verankerte
Forderung nach einem Teuerungsausgleich (Dok. 2, S. 5) gegen die Forderung
nach unabhängigen Gewerkschaften abgewogen werden. Kommentare und
Berichte beider Seiten zum Fortgang der Verhandlungen bilden einen weiteren
wichtigen Teil der Dokumentation. Die Regierung versuchte während dessen, die
Gdańsker Streiks vom Rest des Landes zu isolieren. An den ebenfalls
wiedergegebenen Solidaritätserklärungen, Briefen, Geldsendungen und
Nachrichten über Streikaktionen anderswo ist das Scheitern dieser Strategie zu
69 Zapis wydarzeń. Gdańsk – Sierpień 1980. Dokumenty. Gesammelt und herausgegeben von Andrzej Drzycimski und Tadeusz Skutnik. Niezależna Oficyna Wydawnicza NOWA. Warszawa 1999, 536 S.
Sebastian Gerhardt 16 http://planwirtschaft.wordpress.com/
Solidarność
erkennen. Immer wieder wird durch die Wiedergabe von Flugblättern beider
Seiten, von Artikeln und offiziellen Positionen die politische, öffentliche
Dimension der Auseinandersetzung deutlich. Es entsteht dabei nicht das Bild
einer Konfrontation zweier bestehender Lager, vielmehr wird die Bildung und
Veränderung der Grenzlinien zwischen „Ihnen“ und „uns“, zwischen der „Macht“
und der „Gesellschaft“ erkennbar.
Dokumentiert werden auch verschiedene Stellungnahmen zur Streikbewegung,
Versuche, Unterstützung zu geben und Einfluß zu gewinnen: durch die Tätigkeit
von Priestern und kirchlichen Institutionen, durch Stellungnahmen von
Oppositionsgruppen, mit der Formierung der Beratergruppe, deren Ratschläge
dokumentiert sind (Dok. 139, S. 184ff) usw. Eine Vielzahl von Spekulationen
über den Einfluß der Kirche und der Opposition könnte qualifiziert werden,
nähme man die hier mitgeteilten Gebete, Presseerklärungen, Predigten und
Ratschläge zur Kenntnis.
Die Streiks in Szczecin und Gdańsk 1980 endeten mit der Anerkennung der MKS
durch die Regierung. Diese akzeptierte einen Vertragspartner, der sich nicht
auflösen, sondern in Gestalt der unabhängigen Gewerkschaften die Realisierung
der Übereinkünfte kontrollieren und sicherstellen wollte. Verhandlungen und
Unterredungen zwischen Vertretern der Regierung und der Solidarność haben die
folgenden Monate ebenso geprägt wie Straßendemonstrationen und Streiks.
Einen Beitrag zur Erforschung dieser Verhandlungen als “eines der Mechanismen
des politischen Kampfes” leistet ein 1998 erschienener Quellenband. Die von
Bogusław Kopka, Andrzej Paczkowski und Tomasz Tabako zum Druck
vorbereitete Arbeit dokumentiert die Gespräche zwischen einer Delegation der
Solidarność und Regierungsvertretern vom 15. bis 18. Oktober 1981. Die
Gespräche fanden in der kurzen Zeit zwischen dem Ende des ersten Kongresses
der Solidarność am 7. Oktober und der Einführung des Kriegsrechts am 13.
Dezember statt. Die Dokumentation stützt sich größtenteils auf
Tonbandmitschnitte, die transkribiert wurden.70 Über den Gang der
Verhandlungen hinaus enthält sie eine Reihe von Texten zur Vorgeschichte und
den Begleitumständen des Treffens. Das Vorwort skizziert kurz die
unterschiedlichen organisatorischen Ressourcen beider Seiten und versucht, die
Verhandlungen im Rahmen der Strategie der Machthaber zu verorten.
70 Rozmowy z rządem PRL. Negocjacje pomiędzy NSZZ “Solidarność” a rządem w dniach 15- 18 pażdziernika 1981. Zum Druck vorbereitet durch Bogusław Kopka, Andrzej Paczkowski, Tomasz Tabako. Niezależna Oficyna Wydawnicza NOWA, Warszawa 1998
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Solidarność
Zwischen der 1. und 2. Tagung des Solidarność – Kongresses hatte die
Militärführung die organisatorischen Vorbereitungen zur Einführung des
Ausnahmezustandes abgeschlossen, ohne sich jedoch bereits für diese Option zu
entscheiden.71 Die günstigste Möglichkeit einer Einbeziehung der Solidarność in
eine Neuauflage der “Nationalen Einheitsfront” unter Führung der Partei oder die
Spaltung der Solidarność in einen “gesunden” und einen “radikalen” Teil wurden
noch nicht ausgeschlossen. Die Regierungsseite wollte die Gewerkschaft in ein
System der Krisenbekämpfung einbinden, das vielen gesellschaftlichen Gruppen
wie der Mehrheit der Bevölkerung insgesamt eine weitere Absenkung des
Lebensniveaus um einer ungewissen zukünftigen Stabilisierung willen zumuten
sollte. Eine zentrale Rolle spielten dabei Preiserhöhungen und die Ausweitung
von Exportproduktionen.72
Seit dem August `80 hatte sich die Versorgungslage der Bevölkerung
kontinuierlich verschlechtert. Proteste und lokale Streiks, insbesondere gegen
den Skandal der unzureichenden Deckung der Lebensmittelkarten auf Fleisch
einerseits und den gegen den gleichzeitigen Export von Fleisch andererseits.
Weder die Regierung noch die Gewerkschaft konnten sich durchsetzen, das Land
aber konnte nicht “nach zwei Fahrplänen funktionieren” (Jacek Kuroń). Die
Solidarność forderte auf ihrem Kongreß nicht nur die konsequente Realisierung
der Abkommen aus dem August 1980, sondern in Anbetracht der
Gesellschaftskrise den Abschluß neuer “gesellschaftlicher Übereinkommen”, in
denen der Ausgang aus der Krise, die Wirtschaftsreform und der Übergang zur
Zielvorstellung der Gewerkschaft, einer “selbstverwalteten Republik” mit den
Herrschenden ausgehandelt werden sollten. Mit dem Kongreß hatte die
Solidarność verdeutlicht, daß sie schon lange den Rahmen einer reinen
Gewerkschaftsbewegung verlassen hatte.
Die Verhandlungen vom 15. bis 18. Oktober waren der erste Versuch, die Ziele
des Kongresses auch umzusetzen. Ihr Ergebnis wurde in der Solidarność
mehrheitlich als Mißerfolg angesehen.73 Die Solidarność - Vertreter zielten über
die öffentliche Diskussion um die Frage der Lebensmittelversorgung und eines
71 Andrzej Paczkowski, Odpowiedzialność za stan wojenny, Rzeczpospolita, 29.07.199572 Zur Diskussion vgl. Rozmowy, pp. 179- 244. Die im Mai `81 in die Welt gesetzten
populistischen Thesen des Parteifunktionärs Marian Rajski aus Gdańsk, wonach der ungünstige Handel mit der Sowjetunion und die Unterstützung teuren Revolutionsexportes für die ökonomische Misere entscheidend gewesen wären, lehnten die Solidarność - Experten explizit (S. 195) oder implizit (S. 201) ab. Für die deutsche Diskussion vgl. Renate Damus, Die polnische Wirtschafts- und Gesellschaftskrise: Folge des Ost- West- Handels, sowjetischen Raubhandels oder verfehlter wirtschaftlicher Entwicklungsstrategie. In: Prokla Nr. 48 (3/1982), S. 19ff.
73 J. Holzer, Solidarität, S. 323.
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Solidarność
Teuerungsausgleichs explizit auf die Erlangung eines Zugangs zu den
Kommandohöhen der Wirtschaft, um die Interessen ihrer Mitglieder auch unter
den Bedingungen der Wirtschaftskrise vertreten und so der zunehmenden
Resignation und Verzweiflung entgegnen zu können. Das vom
Verhandlungsführer der Solidarność, Gregorz Palka, präsentierte Modell eines
“Gesellschaftlichen Volkswirtschaftsrates” war eindeutig auf die Solidarność
konzentriert und auch in der Gewerkschaft weder unumstritten noch
ausdiskutiert.74 Das Eigenleben dieses Themas prägte den weiteren Verlauf der
Verhandlungen75, zumal nach einer breit publizierten, äußerst scharfen
Presseerklärung Rakowskis vom 16.10. (“Anschlag auf die verfassungsmäßige
Ordnung”, die Solidarność strebe nach “Zurückweisung der demokratischen
Wandlungen” und zur “Errichtung einer totalitären Diktatur”)76 auch das
Verlangen der Solidarność nach öffentlicher Richtigstellung und Verteidigung
ihrer Positionen zum Verhandlungsthema wurde.77
Der Versuch der gegenseitigen Erpressung im Namen der nationalen
Verantwortung blockierte die Verhandlungen. Die Gewerkschafter beriefen sich
auf das fehlende Vertrauen zur Regierung, um im Austausch gegen die Teilhabe
an den wirtschaftspolitischen Entscheidungen ihre Autorität in der
Massenbewegung zur Absicherung der Wirtschaftsreform anzubieten.78 Die
Regierungsseite versuchte demgegenüber, die einzigen Mittel der
Gewerkschafter, die Streiks und Proteste, anhand ihrer negativen ökonomischen
Folgen zu blamieren und daraus die Vorzüge eines konstruktiven,
“partnerschaftlichen” Verhältnisses abzuleiten. Die schließlich veröffentlichten
“Feststellungen” über das Treffen enthielten nicht viel mehr als ein Moratorium.
Ein Erfolg für die Gewerkschaft war das sicher nicht. Weitere Gespräche zogen
sich noch, ergebnislos, bis zur Einführung des Kriegsrechtes hin.79 Die Lage
wandelte sich: Während Ende 1980 die Ergebnisse einer soziologischen
Befragung darauf hinwiesen, daß die Polen die Verantwortung für die
Wirtschaftskrise nahezu ausschließlich auf Seiten der Regierung sahen, so hatte
sich dies Bild ein Jahr später gewandelt. Der Anteil derer, die die Regierung allein
schuldig sprachen, war von 1980: 61, 5 % auf 39,7 % gesunken, und der Anteil
derer, die Solidarność und Regierung gleichermaßen verantwortlich machten, war
74 pp. 42-48.75 pp. 49- 61, pp. 104ff, 76 im Anhang, S. 308ff, vgl. 149.77 pp. 173ff, pp. 196ff, pp. 286ff.78 Ebenda, pp. 112f, vgl. pp. 162ff, pp. 274ff.79 Wojciech Jaruzelski, Stan wojenny dlaczego, S. 324ff.
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Solidarność
von 27,5 % auf 40% gestiegen.80
Solidarność - Analysen einer sozialen Bewegung
Seit mehreren Jahren organisiert der Historiker Marcin Kula, Spezialist für
lateinamerikanische (Revolutions)geschichte an der Warschauer Universität
Forschungsarbeiten zur Geschichte und Soziologie der Solidarność der Jahre
1980/81. Zusammen mit seinen Studenten hat er nun in einem Buch eine erste
Analyse der Solidarność vorgelegt, die in der Druckfassung durch zwei von ihm
betreute Magisterarbeiten begleitet wird.81
Ihre Analyse über “Faktoren, welche die Dynamik der Solidarność- Bewegung in
den Jahren 1980-1981 bestimmten” haben Professor Kula und seine Studenten in
den Jahren 1997 bis 99 erarbeitet und als kollektives Produkt veröffentlicht – es
sind 21 Autoren aufgeführt. Ausgangspunkt der Untersuchung waren die im
Archiwum Solidarności publizierten Protokolle der KKP der Solidarność. Die
Studie ist systematisch, oder eher problematisch, um gewisse Fragestellungen
herum organisiert. Deren Darstellung erfolgt in mehr oder minder kurzen,
teilweise essayistisch pointierten Texten, die zum jeweiligen Kapitel
zusammenmontiert sind. Nicht unbeteiligt und durchaus bei der Sache, fehlt den
Autoren doch das Pathos jener Märtyrologen, die mit jeder Zeile die heroischen
Opfer im Kampfe um die Unabhängigkeit des Vaterlandes heiligen wollen. Sie
erörtern die Motive des Aufruhrs: die Spannung zwischen den Vorstellungen vom
Gemeinwohl als dem Zweck der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Tätigkeit
und dem tatsächlichen Gang der Dinge. Sie lassen sich ein auf eine ausführliche
Erörterung der Gedankenwelt der Arbeiter, mit ihrer dualistischen Sicht der
Gesellschaft und ihren Erwartungen an eine gerechte Ordnung – eine
Gedankenwelt, die sich im Anschluß an E.P. Thompson als die moralische
Ökonomie der polnischen Arbeiterklasse bezeichnen ließe.82
Die Analyse hebt an mit der Frage nach dem Charakter und den Grenzen der
Solidarność als einer spontan und gleichzeitig an vielen Orten entstehenden
Bewegung. Die Autoren sehen hierin die Grundlage für die schwache
Institutionalisierung der Gewerkschaft, den starken Hang zu Formen direkter
Demokratie, die große Bedeutung lokaler Fragen und die geringe Autorität der
eigenen Vertreterstrukturen. Zugleich begünstigte aber die Entstehung der
80 Polacy `81, S. 85ff.81 Solidarność w ruchu 1980- 1981. Studia pod redakjcją Marcina Kuli. Niezależna Oficyna
Wydawnicza NOWA. Warszawa 2000.82 E.P. Thompson, The Making of the English Working Class, 1963, dt. (suhrkamp) 1987.
Sebastian Gerhardt 20 http://planwirtschaft.wordpress.com/
Solidarność
Solidarność aus den Betriebsbelegschaften, das Bestehen gemeinsamer
Lebensbedingungen und geteilter Erfahrungen die Herausbildung einer stabilen
und handlungsfähigen Organisation. Wiederholt weisen die Autoren auf die
organisierende Wirkung der Kirche und der nationalen Symbolik sowie auf die
charismatische Rolle Walesas hin, ohne diesen Faktoren wundersame Wirkungen
nachzusagen. Sie prüfen die politischen Konsequenzen des Manichäismus: wir,
die Gesellschaft, die Solidarność, gegen sie, die Macht, die Partei. Vorsichtig
bejahend beantworten sie die Frage, ob und wie die Zielvorstellungen der
Gewerkschaft von der realsozialistischen Gesellschaft beeinflusst waren, in der
sie entstand.
Neben diesen, sozusagen subjektiven Faktoren thematisiert die Studie am
historischen Detail die fördernden und hemmenden Faktoren in der Entwicklung
der Gewerkschaft, den langen Weg vom Durchbruch zu einer landesweiten und
nationalen Bewegung bis zur Flucht nach vorn, zum Verbalradikalismus der
letzten Wochen vor dem Kriegsrecht. Die Autoren zeigen, daß sich die Dynamik
der Solidarność im Herbst `81 zunehmend erschöpft hatte. Insbesondere mit
diesem Ergebnis gibt die Studie Anlaß zu nicht nur wissenschaftlichen
Kontroversen.
Ausgehend von einer beeindruckend sicheren Beherrschung des Stoffs geben
Marcin Kula und seine Studenten die Skizze einer Problemgeschichte der
Solidarność. Mit einem wachen Blick für die Eigenheiten und Widersprüche dieser
großen Bewegung öffnen sie einen sachlichen Zugang zur Frage nach dem
Zusammenhang zwischen der Gewerkschaftsbewegung und der späteren
Systemtransformation, ohne die Unterschiede in den Zielvorstellungen und
Methoden zu beschweigen.
So reflektiert und sicher im Urteil wie die Kollektivstudie über die Solidarność ist
Dionizy Smoleńs Magisterarbeit nicht.83 Er versucht, anhand eines Vergleichs des
Auguststreiks in Gdańsk mit mehreren historisch dokumentierten städtischen
Unruhen der Jahre 1789 (Paris), 1794 und 1831 (Warschau) den Unterschied
zwischen einer “organisierten Gesellschaft” und gewalttätigen, spontanen und
unkontrollierbaren Menschenmassen zu bestimmen. Dabei entgeht ihm nicht nur
der sehr unterschiedliche soziale Hintergrund der von ihm untersuchten
Ereignisse. Fixiert auf die Begrifflichkeit von Gustav Le Bons “Psychologie der
83 Dionizy Smoleń, Tłum czy społeczność zorganizowana? Strajkujący w Stoczni Gdańskiej w sierpniu 1980. In: M. Kula (red.): Solidarność w ruchu 1980- 1981. Studia pod redakjcją Marcina Kuli. Niezależna Oficyna Wydawnicza NOWA. Warszawa 2000, S. 151- 217.
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Solidarność
Massen” übersieht er völlig, daß seine Darstellung der unkontrollierbaren
städtischen Massen aus den Mitteilungen unbeteiligter bis feindlicher Beobachter
gewonnen ist – an keiner Stelle kommt ein Teilnehmer “zu Wort” – während
seine Darstellung des Auguststreiks dagegen wesentlich auf den Dokumenten der
Streikenden selbst beruht. Gänzlich ausgeblendet wird die Bedeutung des
Verhaltens der Gegenseite, insbesondere der Umstand, daß die Staatsmacht
eben nicht zur gewaltsamen Isolierung und Niederschlagung der Streiks schritt.
Während Smoleń das offiziöse Selbstbild der Solidarność zur Grundlage seiner
Überlegungen macht, konzentriert sich die Arbeit von Marcin Meller auf die
Entstehung genau dieses Selbstbildes. Er thematisiert die Rolle des Denkens über
die Geschichte in der Solidarność- Bewegung und versucht, den historischen
Kanon der Bewegung zu rekonstruieren, d. h. das geordnete System der
historischen Ereignisse, auf welches sich die Bewegung in der Bestimmung ihrer
eigenen Identität bezog.84 An erster Stelle standen in diesem System die
Arbeiterunruhen von 1970, 1956 und 1976, daneben die Auseinandersetzung mit
der Legitimation der Macht (Katyn) und die nationalen Traditionen, die gegen die
Symbole der “sozialistischen” Herrschaft gewendet wurden. Die Zuordnung einer
historischen Erscheinung zur eigenen Tradition war nicht immer unproblematisch.
So wurde der Streit, ob neben dem nationalen 3. Mai, dem Tag der Verfassung
von 1791, auch der 1. Mai, der traditionelle Tag der Arbeiterklasse zu feiern sei,
nicht zuletzt aufgrund pragmatischer Erwägungen entschieden: Man konnte der
Macht den längst üblich gewordenen Feiertag schließlich nicht einfach überlassen.
Anhand solcher Debatten kann Meller auch die “wichtigste Frage” beantworten:
Wer ist – in der Sicht der Solidarność – das Subjekt der Geschichte? Er
untersucht die drei in Frage kommenden Kandidaten: die “Gesellschaft”, das
“Volk” und die “Arbeiterklasse”. Die “Gesellschaft” war insbesondere unter den
Beratern aus der Tradition des KOR85 populär, blieb aber auch hier Teil eines
nationalen Diskurses. Heller kommentiert das Vorhaben einer “Zusammenarbeit
mit anderen Völkern” aus der Gründungserklärung der Klubs “Freiheit- Gleichheit
– Unabhängigkeit”, einer im Herbst `81 aus dem KOR entstandenen Strömung
wie folgt: “Und so wohnen – im Denken der “Gesellschafter” – im Ausland Völker,
aber an der Weichsel eine Gesellschaft.”86 Der Begriff der “Arbeiterklasse” war
84 Marcin Meller, Rola myslenia o historii w ruchu “Solidarność” w latach 1980- 1981. In: ebenda, S. 219- 266.
85 Komitet Obrony Roboczych (Komitee zur Verteidigung der Arbeiter) – nach den Streiks von 1976 von linken und liberalen, katholischen und laizistischen Intellektuellen gegründete politische Organisation.
86 Ebenda, S. 259.
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Solidarność
von Anfang an durch die sozialistischen Assoziationen belastet, die er mit sich
führte. In den Texten der Gewerkschaft und selbst in der Erinnerung an die
proletarischen Unruhen und Opfer wird er zunehmend von der Berufung auf das
polnische Volk verdrängt. “Naród”, das – ethnisch verstandene – Volk87 war für
die Solidarność das eigentliche Subjekt der Geschichte.88 Zu den wenigen
kritischen Stimmen gegen einen übersteigerten Nationalismus im Solidarność-
Lager zählte schon 1981 der Historiker und Mitbegründer des KOR, Jan Józef
Lipski. Im nach ihm benannten Wettbewerb historischer Arbeiten wurden die
Texte von Smoleń und Heller prämiert.
Marcin Kula beteiligte sich auch an einer Konferenz, in der das oben genannte
Projekt des Archiwum Solidarności “Die unabhängige Aktivität der Gesellschaft
als Voraussetzung der Systemtransformation des Jahres 1989 (unter besonderer
Berücksichtigung des Zeitraums 1980- 1981)” seine Arbeit resümierte. Die
Konferenzbeiträge wurden im Internet publiziert.89 Der ”Band” steht nicht zufällig
unter dem Titel “Zu einer Synthese der Geschichte der sozialen Bewegung 1980
–81”. Die gemeinsame politische Nähe der Autoren zur “linken” Strömung in der
polnischen Opposition um das KOR wird unter anderem in der wenig
rücksichtsvollen Schärfe ihrer Analysen deutlich.
In ihrem Vorwort geht Elżbieta Kaczyńska kurz auf die Diskussion auf der
Konferenz ein. Im Mittelpunkt standen die Frage nach der Berechtigung
unterschiedlich gesetzter Zäsuren und die Frage nach der Definition der
gesellschaftlichen Bewegung. Die Besonderheit der Solidarność sahen die
Diskutanten in der Vereinigung unterschiedlicher Strömungen der
Unzufriedenheit (ökonomisch, politisch, national). Die Frage nach der
Bestimmung von Bewegung und Widerstand wurde mehrheitlich so beantwortet,
daß die Seite der Macht durch ihre Kriterien den Umfang des “Widerstands”
bestimme. Schließlich wurde die Frage erörtert, inwieweit die Solidarność ein
illegitimes Kind des herrschenden politischen System war, inwieweit die
Herrschenden unbeabsichtigt zur Gestaltung der Opposition beitrugen.
87 Es gibt im polnischen auch ein zweites Wort für “Volk”, “lud” – in einem sozialen Sinne: “Unterschichten” (oft auch pejorativ). Die entsprechenden Adjektivbildung “ludowy” gehört traditionell zum Namen der Bauernpartei und diente in den realsozialistischen Zeiten als Attribut, welches den volkstümlichen Charakter des Staates und aller seiner Organe hervorheben sollte. (Volksrepublik Polen = Polska Rzeczpospolita Ludowa).
88 Ebenda, S. 256.89 Ku syntezie historii ruchu społecznego (1980-1981), Referaty z konferencji, Stowarzyszenia
Archiwum Solidarności i Instytutu Stosowanych Nauk Społecznych Uniwersytetu Warszawskiego, Pod red. Elżbiety Kaczyńskiej, Warschau 2000. URL: http://strony.wp.pl/wp/archsol/Archives.htm.
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Solidarność
Im ersten Artikel gibt Piotr Marciniak einen Überblick über die polnischsprachige
Literatur zur Solidarność, ihre unterschiedlichen Strömungen und Konjunkturen.90
Danach fragt Marcin Kula nach jener revolutionshistorischen Synthese, in der die
vorliegenden Teilstudien und die Gesamtdarstellungen von Holzer und Ash
aufgehoben werden könnten. Und er fragt im direkten Sinne des Wortes: nach
einleitenden Erwägungen über die Art und Weise, die Geschichte von
Revolutionen zu behandeln, breitet er auf 10 Seiten ein weites, thematisch und
rhetorisch strukturiertes Spektrum von Problemstellungen und vielen, vielen
Fragen aus, welche er in einer Geschichte der Solidarność behandeln würde.
Sein Interesse liegt auf einer möglichst präzisen Rekonstruktion der sozialen und
politischen Dynamik, d.h. zuallererst einer Übersicht über die sozialen und
politischen Akteure, ihre Handlungsmöglichkeiten und Zielstellungen, ihre
gegenseitige Wahrnehmung und ihre Veränderung in und mit der Geschichte,
deren Akteure sie waren. Die provozierenden Implikationen eines solch nüchtern
Ansatzes verdeutlicht eine Eingangs formulierte Frage: Müssen in einer
Geschichte der Solidarność auch die Entwicklungen in der PZPR berücksichtigt
werden und inwiefern? Oder darf die Partei, der Seite des Gegners zugehörig, nur
als äußerer Faktor auftreten?
Als Warnung vor einem allzu naiven Vertrauen in die historischen Quellen und
ihre objektiven Auskünfte versteht Elżbieta Kaczyńska ihr Referat über die
Arbeiterunruhen Ende des 19. Jahrhunderts und die Revolution von 1905 im
russischen Teilungsgebiet. Sie unterscheidet grundsätzlich zwischen einem
organisatorischen, unmittelbaren Einfluß politischer Gruppierungen, und einer
vermittelten, nur propagandistischen Wirkung und erörtert am historischen
Beispiel Widersprüche und Gefahren der populistischen Instrumentalisierung
einer Massenbewegung.
Den historischen Hintergrund der Entstehung der Solidarność zeichnet Andrzej
Friszke mit einer Forschungsskizze zum Thema des gesellschaftlichen
Widerstands in Volkspolen 1956 – 1980. Er geht aus von einem allgemein
üblichen Verständnis von – bewusster – Opposition und eher diffusem
gesellschaftlichem Widerstand, und findet diese Begriffe auch für die heftigen
Auseinandersetzungen der unmittelbaren Nachkriegszeit weitgehend adäquat. Mit
der Niederlage des antikommunistischen Untergrunds, vor allem aber mit der
90 Infolge der Konzentration auf die Zeit der Solidarność wird ein äußerst interessantes Buch nicht erwähnt: Antonin Dudek, Tomasz Marszałkowski, Walki uliczne w PRL (Straßenunruhen in der Volksrepublik Polen), Kraków 1992 (2. Ausgabe 1999).
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Solidarność
1956 (Rückkehr Gomulkas, Polonisierung der Politik und Propaganda der PZPR)
gewonnenen nationalen Legitimation der Staatsmacht seien die klaren Grenzen
zwischen Partei und Gesellschaft geschwunden. Dementsprechend sei auch an
die Stelle klarer Differenzen zwischen Opposition und Kollaboration, wie sie in
Analogie zur Kriegszeit immer wieder gesucht werden, eine weites Feld von
vermischten Formen widerständigen wie akzeptierenden und unterstützenden
Verhaltens zur Macht getreten. Seinen Ansatz entfaltet Friszke anhand
verschiedener Beispiele: am Verhältnis von Gläubigen, Kirche und Staat, der
Emigration aus Polen, der begrenzten Bewegungsfreiheit in zugelassenen “niszy”
(Nischen) – wie den Klubs der Katholischen Intelligenz oder den Pfadfindern, der
Resistenz beruflicher Milieus (Hochschulen, Rechtsanwälte) und Unruhen unter
den Jugendlichen. Er geht auf das Wahlverhalten und manifesten Protest
(Flugblätter, Inschriften) im Umfeld von Wahlen und Parteitagen ein, hebt die
besondere politische Bedeutung der Studenten hervor, auch der vom
Sicherheitsapparat als unpolitisch (Drogen) charakterisierten Hippies. Als
Resümee verweist er nicht nur auf das Fehlen von radikalen, auf die prinzipielle
Veränderung des Systems zielenden Losungen und die Vielzahl sozialer,
kultureller und ökonomischer Motive im gesellschaftlichen Widerstand nach
1956, sondern vor allem auf die unterschiedliche Qualität abweichenden
Verhaltens je nach den Anforderungen und Zumutungen der Macht.
Piotr Marciniak untersucht in seinem Referat den Zusammenhang zwischen der
Solidarność der Jahre 80/81 und der Systemtransformation der Jahre ab 1989.
Obwohl das nominelle Ziel der Opposition in der zweiten Hälfte der 80er Jahre
gerade in der Wiederherstellung der Situation vor dem Kriegsrecht bestanden
habe (Legalisierung der Solidarność), hatten sich die gesellschaftlichen
Bedingungen so sehr geändert, daß die Rückkehr zum status quo ante unmöglich
war. Das Kriegsrecht – dessen soziale und politische Analyse immer noch
aussteht – war nicht einfach eine Winterszeit, nach deren Ende die eingefrorene
Massenbewegung wieder erwacht wäre. Im Gegenteil, die Grundlagen für die
massenhafte Aktivität und soziale Kreativität des langen Sommers der Solidarität
waren nicht mehr gegeben. Marciniak verdeutlicht die Differenzen zunächst in
einem Vergleich der Streikbewegung von 1988 und 1980.91 1988 dauerten die
Streiks nicht lange, blieben auf einzelne, wenn auch wichtige Betriebe
beschränkt, die Solidarisierung anderer Belegschaften und der städtischen
91 Er stützt sich dabei auf seine präzise Analyse der Auguststreiks in dem Artikel “Horyzont programowy strajków 1980 r.” In: Studia nad ruchami społecznymi, t.2, Hg.:P.Marciniaka/ W.Modzelewskiego, Warszawa 1989.
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Solidarność
Bevölkerung blieb aus. Die 88er Streiks waren von Anfang an hoch politisiert und
trafen auf den entschiedenen, auch gewaltsamen Widerstand von Partei und
Staatsmacht. Die Streikbewegung entwickelte keine eigene Dynamik, keine
eigene Organisationen, sondern bildete ein untergeordnetes Moment der
politischen Auseinandersetzung.
Die Gründe für diese Differenzen sieht der Autor in der Entzauberung des Streiks
als eines politischen Kampfmittels. Schon im Verlauf des Jahres 1981 habe der
Streik nicht mehr als effektives Mittel zur Verteidigung der Interessen der
Beschäftigten gewirkt. Hatten die Streiks 1980 mit der Veränderung der
ungerechten Verteilung zugleich die gesellschaftliche Krise lösen wollen, so war
nach den Erfahrungen von 1981 und den Wirtschaftsreformen der 80er Jahre
dieser Optimismus geschwunden. Damit waren aber auch keine
gesellschaftlichen Grundlagen für eine Rückkehr zum alten, immer noch gültigen
Programm der “selbstverwalteten Republik” gegeben. Mit der Massenbewegung,
die es hervorgebracht hatte, gehörte es der Vergangenheit an und fungierte
nurmehr als Fundus einer integrierenden Symbolik der Opposition im Kampf um
die Macht. Statt dessen gewannen die Reformvorstellungen der Kirche und der
oppositionellen Intelligenz, die 1980 als Berater aufgetreten waren,
eigenständige politische Bedeutung. So erst wurden die Bedingungen geschaffen,
um aus dem Erbe einer egalitären Bewegung das Schutzschild einer
radikalliberalen Privatisierungspolitik zu schmieden. Während die “erste”
Solidarność eine Massenbewegung in der realsozialistischen Gesellschaft war, die
nicht auf eine Transformation des System zielte, wurde 1989 die Transformation
ohne Massenmobilisierung erreicht. Daß letzteres aber überhaupt möglich war,
hatte zweifellos eine seiner Grundlagen in den personellen, ideologischen und
organisatorischen Folgen der Jahre 1980/81.
Dem heutigen Verhältnis der Polen zur Solidarność widmete sich der Soziologe
Sergiusz Kowalski, Ende der 80er Jahre Autor einer zu recht gerühmten Studie
über die Ideologie der Solidarność.92 Mit dem milden Pessimismus eines
Aufklärers reflektiert er pragmatische wie fundamentalistische Verirrungen auf
dem Wege aus dem “Kommunismus”. Er kritisiert scharfsinnig Antimodernismus
und Antiliberalismus der christlich-nationalen Rechten, ihre Ablehnung der
“unmoralischen” neuzeitlichen Kultur, die sich aus ihrer Sicht vor allem durch
92 S. Kowalski, Krytyka solidarnośćiowego rozumu, Warszawa 1990. Der polnische Titel entspricht der Übersetzung von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (Krytyka czystego rozumu) und ist daher etwa als: Kritik der Vernunft, des Selbst- und Weltverständnisses der Solidarität zu verstehen.
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Solidarność
Rockmusik, Drogen und religiösen Relativismus auszeichnet. An jenen, die noch
heute in jedem Mangel die fortdauernde “Kommune” erkennen wollen, entdeckt
er die erstaunliche Möglichkeit, den gesellschaftlichen Umbruch der letzten Jahre
einfach zu übersehen. Woher kommt solche Blindheit? Sergiusz Kowalski sieht
sie in einem Mangel greifbarer Symbole für den Wandel von 1989 begründet.
Dieser Mangel ist doch aber selbst nur ein Symbol für das Fehlen einer
allgemeinen Mobilisierung der Bevölkerung zugunsten von Privatisierung,
Marktwirtschaft und Kapitalismus. Kowalski akzeptiert, trotz der
gesellschaftlichen Kosten von Balcerowicz`s Schocktherapie die
Systemtransformation nach 1989 als den “historischen Triumph der Solidarność”.
Die Beurteilung dieses Triumphes wird aber wohl unterschiedlich ausfallen
müssen – je nach dem, ob man unter der Solidarność eine unabhängige
Gewerkschaft im Realsozialismus oder den Nährboden einer erfolgreichen
Gegenelite sieht. Und wenn auch zukünftig, nach der erwarteten Aufnahme in die
EU die alten Klassenfragen sich in einer modernen Bürgergesellschaft als aktuell
erweisen werden, dann spätestens wird man über Erfolg und Niederlage neu
nachdenken müssen. Aber das ist dann eine andere Geschichte.
–
Erstveröffentlichung: Horch und Guck (www.horch-und-guck.info), Heft 35
(=3/2001), Seite 78-88
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