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9/3/2015 Spracherwerb: Was können wir noch lernen? | ZEIT ONLINE http://www.zeit.de/zeitwissen/2010/06/fremdsprachelernenalter/komplettansicht 1/14 SPRACHERWERB: Was können wir noch lernen? Kinder eignen sich eine Sprache mit Leichtigkeit an. Wie gut aber geht das noch mit 30, 50 oder 70 Jahren? Erstaunlich gut, sagen Forscher – wenn die Bedingungen stimmen. von Stefanie Schramm ZEIT Wissen Nr. 06/20107 Kommentare schließen PDF Speichern Mailen Drucken Twitter Facebook Google + Für den Ingenieur Joachim Zimmer wird es wohl das komplizierteste Projekt seiner Laufbahn werden. Weder sein Maschinenbaustudium noch seine jahrelange Berufserfahrung bei Bosch werden ihm helfen können. Der 47Jährige will Chinesisch lernen, in zwei Monaten wird er in Changsha im Süden Chinas einen Job als Gruppenleiter antreten. Nach fast 30 Jahren sitzt er nun wieder auf der Schulbank, am Landesspracheninstitut in Bochum . "Ein ziemlich merkwürdiges Gefühl", sagt er. Max Westerheide dagegen kennt es nicht anders. Er ist gerade mal 17 Jahre alt, geht aufs Gymnasium und demnächst für ein Jahr zum Schüleraustausch nach China. Joachim Zimmer schaut hin und wieder neidisch zu ihm rüber. "Der kapiert das relativ schnell", sagt er. "Das wurmt mich schon ein bisschen." Drei Wochen haben die beiden und ihre drei Mitschüler am Landesspracheninstitut in der RuhrUniversität Zeit, um eine völlig fremde Sprache zu lernen. Das LSI ist landesweit bekannt dafür, Managern und Diplomaten, Ingenieuren und Korrespondenten schnellstens komplizierte Sprachen beizubringen – sei es Japanisch, Russisch oder Persisch. 800 Vokabeln und etwa die Hälfte der chinesischen Grammatik sollen Zimmer und Westerheide zum Schluss beherrschen. Ein spannendes Experiment: In kürzester Zeit wird sich zeigen, wie der gestandene Ingenieur das meistert und ob er mit dem 30 Jahre jüngeren Schüler mithalten kann. Für den Job eine neue Sprache zu lernen – vor dieser Herausforderung stehen

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SPRACHERWERB:

Was können wir noch lernen?Kinder eignen sich eine Sprache mit Leichtigkeit an. Wiegut aber geht das noch mit 30, 50 oder 70 Jahren?Erstaunlich gut, sagen Forscher – wenn die Bedingungenstimmen. von Stefanie Schramm

ZEIT Wissen Nr. 06/20107 KommentareschließenPDFSpeichernMailenDruckenTwitterFacebookGoogle +Für den Ingenieur Joachim Zimmer wird es wohl das komplizierteste Projektseiner Laufbahn werden. Weder sein Maschinenbaustudium noch seinejahrelange Berufserfahrung bei Bosch werden ihm helfen können. Der 47­Jährigewill Chinesisch lernen, in zwei Monaten wird er in Changsha im Süden Chinaseinen Job als Gruppenleiter antreten. Nach fast 30 Jahren sitzt er nun wieder aufder Schulbank, am Landesspracheninstitut in Bochum . "Ein ziemlichmerkwürdiges Gefühl", sagt er.

Max Westerheide dagegen kennt es nicht anders. Er ist gerade mal 17 Jahre alt,geht aufs Gymnasium und demnächst für ein Jahr zum Schüleraustausch nachChina. Joachim Zimmer schaut hin und wieder neidisch zu ihm rüber. "Derkapiert das relativ schnell", sagt er. "Das wurmt mich schon ein bisschen."

Drei Wochen haben die beiden und ihre drei Mitschüler amLandesspracheninstitut in der Ruhr­Universität Zeit, um eine völlig fremdeSprache zu lernen. Das LSI ist landesweit bekannt dafür, Managern undDiplomaten, Ingenieuren und Korrespondenten schnellstens komplizierteSprachen beizubringen – sei es Japanisch, Russisch oder Persisch. 800 Vokabelnund etwa die Hälfte der chinesischen Grammatik sollen Zimmer und Westerheidezum Schluss beherrschen. Ein spannendes Experiment: In kürzester Zeit wirdsich zeigen, wie der gestandene Ingenieur das meistert und ob er mit dem 30Jahre jüngeren Schüler mithalten kann.

Für den Job eine neue Sprache zu lernen – vor dieser Herausforderung stehen

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viele Berufstätige irgendwann in ihrer Karriere. Jeder dritte braucht wenigstensGrundkenntnisse, jeder sechste Fachkenntnisse in einer Fremdsprache, ergabeine Umfrage des Bundesinstituts für Berufsbildung . Und nicht erst beivergleichsweise exotischen Sprachen wie Chinesisch, Arabisch oder Kisuahelikommen die Lerner ins Schwitzen. Auch wer Schulenglisch beherrscht, aberBusiness­Englisch braucht, muss sich beinahe eine ganz neue Sprache aneignen.Da wünscht sich so mancher, früher begonnen zu haben, und fragt sich: Was istdenn noch drin, wenn man jenseits der 30 oder 50 eine neue Sprache lernt? Undwie stellt man das am besten an?

LERNEN MIT 30 JAHRENViele der 30­Jährigen profitieren von ihrer Lernroutine: Das Studium ist noch nicht lange her,und im Beruf müssen sie sich ohnehin ständig Neues aneignen. Wer für den Job eine Sprachelernt, ist hoch motiviert und muss das Gelernte gleich anwenden – zwei wichtige Faktoren fürden Erfolg. Wer sich richtig anstrengt, kann in manchen Bereichen noch fast so gut werden wieein Muttersprachler.

LERNEN MIT 50 JAHRENZum Sprachenlernen gehört auch das clevere Kombinieren mit vorhandenem Wissen. Davonbesitzen die 50­Jährigen reichlich. Lernen sie eine Sprache für den Beruf, können sie mit ihrerErfahrung Querverbindungen herstellen und schneller vorankommen. Das gilt gerade fürSprachen, die mit der Mutter­ oder Zweitsprache verwandt sind. Besitzt man schon einGrundgerüst in Grammatik und Aussprache, ist es noch leichter. Vokabeln lernen geht auch mit50 noch gut.

LERNEN MIT 70 JAHRENWer im Ruhestand eine neue Sprache lernt, hat vor allem eines: Zeit. Ein großer Vorteil. GeradeSatzstrukturen und Vokabeln müssen wieder und wieder geübt werden. In Chinesischkursensind Rentner oft die besten Schüler, wenn es ums Lernen der Schriftzeichen geht. Wichtig ist,dass sie für Gelegenheiten sorgen, um das Gelernte auszuprobieren – etwa indem sie sich imInternet über ihre Hobbys austauschen.

Wir sind geradezu zum Lernen gemacht: Schon vor der Geburt lassenErfahrungen und Eindrücke neue Verbindungen zwischen den Nervenzellen imGehirn entstehen und verstärken ältere, später wird das Netz ständig neugeknüpft, gelöst, geflickt. Kinder machen Tag für Tag enorme Fortschritte. Wieflexibel aber ist das Gehirn eines Erwachsenen, wie gut kann es noch etwasvollkommen Unbekanntes meistern? Wer hat noch nicht mit dem Gedankengespielt, etwas ganz Neues auszuprobieren – doch noch Geige spielen lernen!Oder Snowboard fahren! Oder Italienisch! –, und dann womöglich einenRückzieher gemacht, weil er glaubte, zu alt zu sein.

Doch die Hirnforschung macht Mut : Auch das Gehirn eines Erwachsenen istnoch formbar, "plastisch" sagen die Wissenschaftler. Und anders als lange Zeitangenommen, können sogar noch nach der Pubertät neue Nervenzellen im Hirnentstehen. Besonders das Sprachenlernen fasziniert die Lernforscher, hiererhoffen sie sich die aufschlussreichsten Erkenntnisse, es ist die Königsdisziplin:Fast alle Sinne sind gefordert, Denken und Bewegung (Zunge, Gaumen, Lippen)

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müssen koordiniert werden, und das alles im Miteinander mit anderenMenschen, deren Absichten und Gefühle man verstehen muss, um mitreden zukönnen. Und schließlich ist Sprache das wichtigste Werkzeug zum Weiterlernen –ohne sie bliebe uns die Welt verschlossen.

Was aber Erwachsene beim Sprachenlernen eigentlich von Kindern unterscheidetund was das wiederum für ihren Lernerfolg bedeutet, darüber streiten dieWissenschaftler erbittert. Die einen sind fest davon überzeugt, dass es einbiologisch eingebautes Verfallsdatum für das sprachliche Lernvermögen gibt.Danach gehe es unweigerlich bergab. Die anderen bestreiten das vehement. Siemeinen, dass Kinder einfach deshalb so mühelos lernen, weil sie perfekteBedingungen haben: viel Zeit, Betreuung rund um die Uhr, individuellesTraining. Dahinter steckt die hartnäckige Debatte um den Einfluss von Biologieoder Umwelt. Es geht allerdings um weit mehr als um theoretischeGrundsatzfragen. Denn wenn es nicht das Hirn ist, sondern schlicht dieUmweltbedingungen sind, die Kindern das Lernen so leicht machen – dannkönnte man diese doch ganz praktisch im Unterricht für Erwachsene imitierenund so das Fremdsprachenlernen revolutionieren.

"Wer erst spät mit einer Sprache beginnt, kann noch extrem gut werden. Aber erwird immer mit Akzent sprechen und einige Fehler machen", sagt RobertDeKeyser. Der Sprachlernforscher von der University of Maryland gehört zurBiologie­Fraktion. "Natürlich, einige Spätlerner sprechen so gut, dass sogarMuttersprachler sie für ihresgleichen halten", gibt er zu. Das ist der klassischeEinwand der Umwelt­Anhänger: Wenn einige es doch so perfekt hinkriegen, kannes ja keine biologische Grenze geben! DeKeyser wischt das Argument mit einemSatz vom Tisch: "Mit Tests im Labor können wir diese Leute immer überführen."Hier ein verdächtig kurzer Vokal, dort ein leichtes Zögern bei einer Redewendung– und schon ist klar: kein Muttersprachler.

INTENSIVSPRACHKURSJoachim Zimmer 47, Maschinenbauingenieur"Ich werde bald für Bosch nach China gehen und dort eine Arbeitsgruppe leiten, die elektrischeSteuerungsantriebe für Autos entwickelt. Als mein Chef mir den Job anbot, riet er mir, vorhereinen Intensivsprachkurs zu machen. Changsha, wo ich arbeiten werde, liegt ziemlich imSüden, dort sprechen nur wenige Leute Englisch, außer in der Firma. Mein Chef hat mir dasLandesspracheninstitut in Bochum empfohlen, da schickt Bosch öfter Mitarbeiter hin. Ich wusste,dass es anstrengend wird, aber am zweiten Tag habe ich ehrlich gesagt gedacht: 'Wie soll ichdas drei Wochen lang durchhalten?' Am schwierigsten finde ich es, zugleich Aussprache undInhalte zu lernen. Im Chinesischen ist ja die Betonung ganz wichtig; da habe ich am Anfang einbisschen geschlampt, das hat sich gleich bemerkbar gemacht. Gut fand ich, dass wir fürstägliche Überleben trainiert haben, also Einkaufen, Hotel und so weiter. Jetzt übe ich morgensmit einer CD im Auto sprechen. Ich möchte vor allem bei Geschäftsessen ein paar Worte sagenkönnen, ein bisschen Small Talk machen."

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Wer an zwei Abenden in der Woche in der Sprachschule büffelt, wäre froh,überhaupt ein solches Niveau zu erreichen. Für Wissenschaftler wie DeKeyseraber sind die kleinen Unterschiede Indizien dafür, dass die Fähigkeit zumSprachenlernen mit dem Alter deutlich zurückgeht.

Wann genau es aber zu spät ist, um so gut wie ein Muttersprachler zu werden,darüber sind sich die Forscher nicht einig. "Es kommt auch darauf an, welchenAspekt der Sprache man betrachtet", sagt DeKeyser. "Als Erstes verlieren Kinderdie Fähigkeit, die Aussprache exakt nachzuahmen, also akzentfrei zu sprechen."Manche Wissenschaftler setzen die kritische Grenze bei sechs Jahren an, einigenoch früher. Die Regeln der Grammatik dagegen könnten Kinder noch bis zurPubertät perfekt verinnerlichen.

Am längsten erhalten bleibt die Fähigkeit, neue Wörter abzuspeichern. AuchErwachsene können noch ohne große Probleme Vokabeln lernen. Es sind einfachzusätzliche Daten, in der Muttersprache kommen ja auch dauernd neueAusdrücke hinzu. Doch sogar in diesem Feld haben die Forscher Unterschiedefestgestellt: Spätlernern sind oft nicht alle Dimensionen eines Begriffs und diefeinen Bedeutungsunterschiede verwandter Ausdrücke klar.

Die Chinesisch­Schüler in Bochum kämpfen am meisten mit der Aussprache.Frau Sun, die Lehrerin, übt mit ihnen an diesem Morgen noch mal ganz intensiv,ohne Grammatik, ohne neue Wörter. " Wo« steht auf ihrem Übungszettel, "ich"heißt das. "Uo", sagt der Ingenieur Zimmer. Frau Sun sagt: "Uooa." Dann " xue",lernen. Max Westerheide sagt "ssü". "Chssüüe", sagt Frau Sun. "Beim ›ü‹ ganzkleiner Mund, Spitzmund!", ruft sie. "Wie beim Küssen!" Westerheide schautgebannt auf den Kussmund von Frau Sun, stülpt selbst die Lippen vor, versuchtes noch mal: "Chsüe". Auch Joachim Zimmer starrt hoch konzentriert auf dieLehrerin, kein Seitenblick zu Westerheide. Mit der Aussprache haben die beidengleich viel Mühe – 47 oder 17 Jahre, das macht offenbar keinen Unterschied.

In der Tat verlieren Kinder schon ab dem ersten Lebensjahr eine entscheidendeFähigkeit, um Fremdsprachen völlig akzentfrei zu lernen. Zunächst können sienoch jeden der über 100 Sprachlaute dieser Welt wahrnehmen, doch dannkonzentrieren sie sich auf die Laute, die um sie herum gesprochen werden, allesandere nehmen sie nicht mehr wahr. Später ist es dann egal, wie exakt einSprachlehrer die Wörter vorspricht und wie geduldig er korrigiert, bis ins letzteDetail können ältere Lerner sie nicht mehr nachahmen – weil sie einigeUnterschiede erst gar nicht hören.

Da hilft auch alle Theorie nichts, sagt Wolfgang Klein, Direktor des Max­Planck­

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Instituts (MPI) für Psycholinguistik . Der Germanist erforscht seit 30Jahren inNijmegen, wie man eine Zweitsprache lernt. "Eine meiner Mitarbeiterinnen ausChina, ausgerechnet eine Phonologin, müht sich schon lange, die Laute r und lauseinanderzuhalten, wie viele Asiaten", erzählt Klein. In ihrer Muttersprachespiele der Unterschied einfach keine Rolle. "Sie hat regelrecht auswendig gelernt,wo ein r und wo ein l steht", sagt der Forscher. "Aber beim Sprechen rutscht ihrtrotzdem immer mal wieder der falsche Laut heraus."

Am LSI haben die Chinesisch­Lerner gerade die Ausspracheübungenüberstanden, da wirbelt Herr Zhang in die Klasse: "Neue Lektion!" Unter demArm hat er einen Stapel selbst gebastelter Pappschilder mit Mustersätzen, die ermit Magneten an die Tafel knallt, klack, klack, klack! Nach Bedarf klappt er sieaus und ein, während er Grammatik und Vokabeln erklärt. Heute sindModalverben dran: können, mögen, müssen, wollen. Und Getränke: Kaffee, Cola,Wasser, Bier. "Bilden Sie doch mal einen Satz: Ich möchte Kaffee!"

DURCH DIE L IEBEJulia Morgenstern, 29, Volkswirtin:"Als ich vor vier Jahren ein Praktikum in Ecuador machte, lernte ich Marco kennen, der imselben Haus wohnte. Wir kochten zusammen, gingen tanzen und kamen uns näher. Da er keinDeutsch und kaum Englisch sprach, konnten wir uns nur auf Spanisch unterhalten. So war ichgezwungen, meine Beziehung zu ihm in einer fremden Sprache aufzubauen. Zwar hatte ichvorher einen VHS­Kurs und ein Praktikum in Chile gemacht, aber mein Spanisch war noch sehrholperig. Das meiste habe ich von Marco gelernt. Als ich nach Deutschland zurückging, führtenwir eine Fernbeziehung. Da war die Kommunikation besonders wichtig – Worte waren alles,was wir hatten. Wir haben uns Liebesbriefe geschrieben und fast jeden Tag über Skypetelefoniert, einmal sogar zehn Stunden lang. Wir haben uns online verabredet, um vormBildschirm gemeinsam Wein zu trinken, wir haben Schach gespielt und über Gott und die Weltgeredet – zweieinhalb Jahre lang! Dadurch wurde mein Spanisch immer besser. Klar habe ichviel von Marco übernommen, mein Spanisch ist sein Spanisch in allen Facetten: Ich habe mirseine Sprüche, seinen Rhythmus, typisch ecuadorianische Ausdrücke angeeignet. Umgekehrttrifft das auch auf Marcos Deutsch zu. Er ist vor einem Jahr nach Deutschland gezogen, undjetzt helfe ich ihm, meine Sprache zu lernen."

Joachim Zimmer sucht mühsam Wort für Wort zusammen: " Wo", sagt er. Pause."Muss ich jetzt yao oder xiang sagen, wollen oder mögen?" – "Das ist in Chinaegal, Sie sind der Kunde!" – " Wo yao kafei.« Es klingt noch unsicher, aber einenKaffee kann der Ingenieur nun bestellen. Max Westerheide hat schon dennächsten Satz parat, mit einer Extraschwierigkeit – einem zusätzlichen Verb: "Wo xiang mai pijiu." "Wunderbar!" ruft Herr Zhang. "Ich möchte Bier kaufen!"

Dem 17­Jährigen fällt es offenbar leichter, Sätze zusammenzubauen, er istexperimentierfreudiger, auch ein bisschen vorlaut. "Das Chinesische hat ja fastkeine Grammatik", sagt er selbstbewusst. Im Vergleich zu Sprachen wieFranzösisch stimmt das, aber für drei anstrengende Wochen reicht es allemal."Der ist halt Schüler, der ist das Lernen gewohnt. Das muss man hinnehmen",

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sagt Zimmer. Schnell fügt er hinzu: "Er braucht die Sprache in der Schule inChina ja auch dringender als ich in der Firma, da wird Englisch gesprochen."

Folgt man den Argumenten der Biologie­Fraktion unter den Sprachlernforschern,ist es aber nicht nur die Übung, die Westerheide schneller lernen lässt: Mit 17Jahren profitiert man ihrer Ansicht nach noch von der sensiblen Phase fürsGrammatiklernen. Tatsächlich bleibt die Lernfähigkeit für den Satzbau über diePubertät hinaus erhalten, hat Kenneth Hyltenstam von der Universität Stockholmfestgestellt. Während seine Testpersonen, die im Alter von 13 bis 19 Jahrenbegonnen hatten, Schwedisch zu lernen, bei Redewendungen, Hörverstehen undAussprache relativ schlecht abschnitten, schaffte im Grammatiktest immerhin dieHälfte ein ähnliches Ergebnis wie ein Muttersprachler.

Spätlerner lassen sich aber nicht nur an der Aussprache oder der Beherrschungvon Redewendungen erkennen, auch ihr Hirn arbeitet anders als das vonMuttersprachlern. Das gilt sogar für eine sehr einfache Sprache, welche dieLerner gut beherrschen, fand die Psychologin Jutta Müller vom Max­Planck­Institut für Kognitions­ und Neurowissenschaften in Leipzig heraus.

Für ihr Experiment brachte sie ihren Testpersonen eine Schrumpfversion desJapanischen mit gerade einmal 16 Wörtern und simpler Grammatik bei. Dannspielte sie ihnen und Japanern Sätze wie diesen vor: Ichi wa no komo ga ni hikino neko o tobikoeru tokoro desu. – Eine Ente hüpft über zwei Katzen. Schließlichbaute sie verschiedene Fehler ein, mal eine falsche Wortart, mal einen falschenKasus, und maß die Hirnströme der Probanden. Bei den Muttersprachlernentdeckte Müller drei spezielle Reaktionsmuster; die Spätlerner zeigten nur einsdavon.

Die Unterschiede im Gehirn sind jedoch wesentlich subtiler, als man noch voreinigen Jahren dachte. Manche Forscher waren davon ausgegangen, dass Fremd­und Muttersprache in völlig unterschiedlichen Hirnregionen verarbeitet werden.In den sechziger und siebziger Jahren glaubten viele gar, für die Zweitsprache seieher die rechte Hirnhälfte zuständig, während die Erstsprache links analysiertund produziert werde. "Heute wissen wir, dass die neuronale Basis imWesentlichen dieselbe ist", sagt Müller. Allerdings schalten sich bei derFremdsprache zusätzliche Regionen im sogenannten präfrontalen Kortex ein."Die sind für das kontrollierte Verarbeiten von Informationen zuständig", erklärtdie Psychologin. "Das Hirn hat mit der Zweitsprache einfach mehr Arbeit."

Was aber genau im Gehirn passiert, wenn die sensible Phase fürs Sprachenlernenzu Ende geht, weiß noch niemand. "In der Pubertät ändert sich so ziemlich alles

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im Hirn. Was davon mit dem Sprachenlernen zusammenhängt, lässt sich schwerfeststellen", sagt Robert DeKeyser. Wahrscheinlich liege es vor allem amGedächtnis, sagt der Sprachlernforscher: "Kinder sind wie kleineKassettenrekorder. Die hören etwas und spulen es ganz genauso wieder ab.Erwachsene können das nicht mehr."

Das könnte damit zusammenhängen, dass die Nervenfasern nach und nach mitMyelin überzogen werden, wenn das Gehirn reift. Dank dieser Isolierschichtwerden elektrische Impulse schneller geleitet, dafür lassen sich nicht mehr soleicht Verbindungen zwischen den Nervenzellen knüpfen. "Die Myelinisierung inden für Sprache zuständigen Regionen findet genau in dem Zeitraum statt, indem wir den Rückgang des Lernvermögens beobachten. Wir denken, dass da einZusammenhang besteht", sagt Kenneth Hyltenstam.

VOLKSHOCHSCHULEAnnemarie Gerhard, 57, Verwaltungsangestellte:"Ich schreibe gerade an meiner geologisch­paläontologisch ausgerichteten Promotion undverbringe daher mehrere Wochen im Jahr in Nordjordanien, um bestimmte Gesteine und fossileMuscheln zu suchen. Da möchte ich die Grundstücksbesitzer vor Ort selbst fragen können, obich ihr Land betreten darf. Zwar habe ich schon während meines Studiums etwas Arabischgelernt, aber das ist zwölf Jahre her. Deshalb wollte ich meine Kenntnisse reaktivieren undverbessern. Die Sprache ist schön, sehr klangvoll, aber anspruchsvoll. Zum Lernen brauchte ichein Angebot, das zeitlich in meinen Alltag integrierbar ist. Mein Kurs an der Volkshochschulebeginnt um 18.30 Uhr, das schaffe ich gut. Es ist ein Kurs, der sich an Anfänger richtet, aber inerhöhtem Lerntempo arbeitet. Das entspricht meinen Vorkenntnissen, die ich zu Beginn nichtrichtig einschätzen konnte. Erst hatte ich Bedenken, wegen des Klischees, dass an der VHS derUnterricht nur vor sich hin plätschert. Aber wir schaffen im Schnitt ein Kapitel pro Woche.Abgesehen von dem Lehrbuch, das etwas unstrukturiert ist, bin ich vollauf zufrieden. Vor allemdie motivierende Atmosphäre hat mich begeistert. Wir haben alle die gleiche Leidenschaft fürdie Sprache. Ich habe mich schon für den Folgekurs angemeldet."

Doch auch wenn Forscher wie Hyltenstam und DeKeyser eine Menge Indizien füreine biologisch begründete sensible Phase gesammelt haben – die Beweislagebleibt lückenhaft. Das gibt der Umwelt­Fraktion Auftrieb. "Ich bestreite geradezu,dass etwas im Hirn es unmöglich macht, später noch eine Sprache vollkommen zulernen", sagt Ellen Bialystok, Sprachforscherin an der York University in Toronto. "Das ist ein unmögliches Argument!" Kinder müssten schließlich fünf, sechsJahre lang nicht viel anderes machen, als eine Sprache zu lernen, betreut voneinem Lehrerteam, das sie rund um die Uhr individuell unterstütze. "HättenErwachsene diese Möglichkeit, würden sie jede Fremdsprache vollkommenbeherrschen."

Auch Psycholinguist Klein ist überzeugt davon, dass Erwachsene jede sprachlicheEigenschaft perfekt lernen können – sie täten es bloß nicht. "Erwachsene legeneinfach weniger Wert darauf, exakt so zu sprechen wie Muttersprachler", meintKlein. Kinder dagegen müssten sich eine soziale Identität in einer Gemeinschaft

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aufbauen, und das gehe nur, wenn sie ganz genauso sprächen, wie es in dieserGemeinschaft üblich sei. Sie lernen die Sprache also vor allem, umdazuzugehören; Erwachsenen hingegen reicht es, mitreden zu können.

Genauso könnte es mit Nastja und Dascha gewesen sein. Die beiden Mädchenkamen aus Russland nach Deutschland, als sie acht und vierzehn Jahre alt waren;zwei Forscherinnen vom Max­Planck­Institut für Psycholinguistik und von derUniversität Köln beobachteten anderthalb Jahre lang, wie die beiden Deutschlernten.

Etwa das Perfekt: Nastja, die Jüngere, bildete von Anfang an dieVergangenheitsform mal mit "sein", mal mit "haben". Zunächst ging das häufigschief, aber bald hatte sie den Unterschied raus. Dascha dagegen formte dasPerfekt immer mit "haben" und blieb auch dabei. Ähnlich lief es bei denPluralformen oder der Beugung der Adjektive: Nastja versuchte, alles richtig zumachen, auch wenn das am Anfang nicht gleich klappte und womöglich zuMissverständnissen führte. Dascha dagegen pfiff auf Richtigkeit und benutzteeinfache Formen, die zwar häufig falsch waren, aber verstanden wurden. "Diewichtigste Ursache dafür, dass Erwachsene eine Sprache weniger gut lernen alsKinder, sind veränderte Präferenzen", meint Klein.

Das schließe allerdings nicht aus, dass sich auch das Lernvermögen ändere: Eskönnte ja sein, dass ein perfektes Ergebnis zwar möglich sei, aber sehr viel mehrMühe mache – und Erwachsenen dafür schlicht die Motivation und die Zeitfehlten. Es ist also wohl eine Mischung aus biologischer Bestimmung undUmwelteinflüssen, die den Unterschied zwischen jungen und älterenSprachlernern macht. Das bedeutet, dass uns die Biologie tatsächlich Grenzensetzt. Es bedeutet aber auch, dass wir mit guten Lernbedingungen noch einigesherausholen können.

Am Landesspracheninstitut wird das versucht, hier sollen sich die Schüler für dreiWochen vom Alltag verabschieden. "Erwachsene haben einfach viel mehr imKopf: Beruf, Kinder, Verantwortung", sagt Manfred Frühauf, Leiter derChinesisch­Abteilung. "Das erleichtert das Lernen nicht gerade." In Bochumwohnen die Schüler in einem der Betontürme des Instituts, Zimmer mitFrühstück, ohne Fernseher. "Es gibt wenig Ablenkung, im Job hätte ich nie so vielZeit zum Lernen. Und wenn ich erst in China bin, schon gar nicht", sagt IngenieurZimmer. Doch so ganz kann er den Büroalltag nicht aussperren. NachUnterrichtsschluss um fünf Uhr nachmittags beantwortet er ein, zwei Stundenlang Mails. Dann setzt er sich noch einmal zum Vokabellernen hin. Am nächstenMorgen um halb neun wartet schon wieder Herr Zhang: "Wiederholung!"

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Chinesisch rund um die Uhr – das kommt der Lernsituation von Kindern schonrecht nahe. Und es ist erfolgreich: Nach drei Wochen können sich die meistenAbsolventen in China "ohne Babysitter" bewegen, wie Frühauf es formuliert.Wäre es da nicht klug, noch mehr Aspekte des kinderleichten Lernens imErwachsenenunterricht zu imitieren?

Eine Technik zum mühelosen Lernen – das würde den Sprachunterrichtrevolutionieren. Einige Sprachlehrer haben es versucht, die ersten schon in denzwanziger Jahren mit der "natürlichen Methode": Statt mit ihren SchülernLehrbücher Seite für Seite durchzuackern, redeten sie mit ihnen, und zwarausschließlich in der Fremdsprache. Grammatikregeln erklärten sie nicht, diesollten die Lernenden intuitiv ableiten und so ein Sprachgefühl wie in derMuttersprache entwickeln. An den Schulen setzte sich die Methode allerdingsnicht durch, dort wurden weiterhin Beispielsätze gebüffelt, Lückentexte ausgefülltund Vokabeln gepaukt.

"Babys lernen keine Listen auswendig, warum sollten Kinder oder Erwachsenedas tun?", fragte sich dann aber der US­Psychologe James Asher in den siebzigerJahren und begann, eine damals bahnbrechende Methode zu entwickeln: TotalPhysical Response (TPR). Seine Schüler brauchten erst einmal nur zuzuhören,wie Babys. Dann sollten sie auf Anweisungen reagieren und so deren Bedeutungim wahrsten Wortsinn begreifen: "Öffne das Fenster! Setz dich hin! Nimm denKugelschreiber!"

SPRACHTANDEMEnke Spänkuch, 39, Sprachlehrforscherin:"Ich habe schon in der Schule Russisch gelernt und später slawische Philologie studiert.Danach hatte ich aber lange Zeit keine Sprachpraxis mehr – bis ich 2006 in meiner neuenPosition an der Universität auf einmal Russisch unterrichten sollte. Da brauchte ich schnell einsprachliches Update. Das Sprachtandem ist dafür genau richtig. Ich übe mit Olga gezielt fürtypische akademische Situationen. Bei Präsentationen hilft sie mir zum Beispiel bei derÜbersetzung von Fachbegriffen. Die Lernpartnerschaft funktioniert auch deshalb sehr gut, weilwir uns sympathisch sind. Aber man muss sich bewusst sein, dass Tandem keine Plauderei ist,sondern konsequente Arbeit."

LERNPARTNERSCHAFTOlga Scheidereiter, 39, Studentin:"Als ich 1999 nach Deutschland kam, sprach ich gar kein Deutsch. Erst habe ich mit Bücherngelernt und so gesprochen, wie ich es für richtig hielt. Auch bei einem späteren Sprachkurskorrigierte niemand meine falsche Aussprache. 2006 begann mein Studium, und dieProfessoren sagten, ich bräuchte jemanden, der mir ein qualifiziertes Feedback zur Aussprachegeben könnte. So habe ich Enke kennengelernt. Sie kann sich sehr gut auf einen Aspekt meinerAussprache konzentrieren. Bei unseren Treffen trage ich ihr zum Beispiel Referate vor, und sieachtet dann nur auf die Intonation. Mein Deutsch ist dadurch viel besser geworden."

Genau so lernt ein Kind sprechen: Es tut etwas, die Eltern sprechen es an,machen etwas vor, es reagiert darauf – oder auch nicht –, die Erwachsenen

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kommentieren wieder. "Nimm mal den Löffel in die Hand. Schau, so. Nein, nichtdamit auf den Brei schlagen! – Jetzt brauchst du wohl einen neuen Pulli." Dasgemeinsame Tun sei für den Spracherwerb entscheidend, meint derEntwicklungspsychologe Michael Tomasello vom Max­Planck­Institut fürEvolutionäre Anthropologie. "Kinder beginnen erst dann sprachlicheKonventionen zu erwerben, wenn sie um ihren ersten Geburtstag herumanfangen, an gemeinsamen Aktivitäten teilzunehmen", schreibt er in seinem BuchDie Ursprünge der menschlichen Kommunikation .

Zuhören allein reicht nicht, das zeigt auch die Erfahrung mit Kindern gehörloserEltern: Früher wurde den Vätern und Müttern geraten, sie vor den Fernseher zusetzen und so die Lautsprache lernen zu lassen. Es funktionierte nicht – weil dasGesprochene wenig mit ihnen zu tun hatte.

Durch das Hin und Her zwischen gemeinsamer Aktion und Lautäußerungen seidie Sprache in der Menschheitsgeschichte überhaupt erst entstanden, schreibtTomasello. Zunächst verständigten sich unsere Vorfahren mit Zeigen, Gesten undkleinen Pantomimen, dann kamen willkürliche Lautfolgen hinzu. Weil sich dieSprachpioniere deren Sinn im gemeinsamen Tun regelrecht erarbeiteten, wurdensie schließlich von allen verstanden. Die Sprache machte dann dieZusammenarbeit effizienter, ein großer Vorteil in der Evolution.

Kann dieses uralte Pingpong von Machen und Sprechen, das jedes Kind in seinerEntwicklung nachspielt, auch Erwachsenen beim Sprachenlernen helfen? Das LSIin Bochum hat die Methode Total Physical Response ausprobiert – doch derVersuch scheiterte: Den Geschäftsleuten war das Herumgehampel zu kindisch."Die sind kopfgesteuert, und so muss man sie auch unterrichten", sagt ManfredFrühauf heute. Dass die Manager sich genierten, ist aber nur ein Teil desProblems. Die eigentlichen Schwierigkeiten von Ansätzen wie TPR lägen tiefer,sagt der Sprachlernforscher Robert DeKeyser: "Erwachsene sind keine Kinder,deshalb können sie nicht wie Kinder lernen." Den großen Unterschied zwischenkleinen und großen Lernern macht offenbar das Bewusstsein. Kinder lernen,ohne es zu bemerken, "implizit" sagen die Lernforscher. Erwachsene können daskaum noch. "Deshalb brauchen ältere Lerner explizite Erklärungen", betontDeKeyser. Das mühelose Lernen bleibt damit ein Traum.

Dass dieser Traum Sprachschülern überhaupt in den Kopf gesetzt wird, darüberkann sich Manfred Frühauf richtig aufregen. Etwa über diese Werbung mit derhübschen Frau mit den Kopfhörern auf den Ohren: "Die rekelte sich mitgeschlossenen Augen auf dem Sofa, daneben stand: ›Ich träume nicht, ich lerne.‹So funktioniert das nicht!" Vokabeln müssten gepaukt, Satzstrukturen

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eingeschliffen werden.

Das hat auch der Ingenieur Joachim Zimmer gemerkt: "Vieles muss man einfachauswendig lernen. Das fand ich nicht so einfach, die Schule ist für mich halt schoneine Weile her." Natürlich hätte es noch mehr gebracht, wenn er abends ein, zweiStunden länger Vokabeln gelernt hätte, meint Zimmer. "Aber irgendwann mussauch Schluss sein." Max Westerheide dagegen strotzt vor Tatendrang. In seinemJahr in China will er auch die Schrift lernen, 1000 Zeichen hat er sichvorgenommen. "Drei am Tag, das ist doch kein Problem!"

Doch Lernfleiß, Zeitaufwand und selbst moderne Didaktik bringen wenig, wenndas Ziel fehlt. Warum lerne ich die Sprache überhaupt? Was will ich damitanfangen? Sich darüber klar zu sein ist sowohl für Schüler als auch für Lehrerwichtig: ohne Ziel keine Motivation und kein guter Lehrplan. "Das Wichtigsteüberhaupt ist, den Unterricht an Aufgaben zu orientieren", sagt Michael Long,Sprachlernforscher an der University of Maryland . So machen es das LSI undviele andere Sprachschulen und Lehrbücher inzwischen: Wie kaufe ich ein, wieverabrede ich mich mit jemandem, wie frage ich im Büro, ob jemand für michangerufen hat.

HÖRBÜCHERRaphael Neumann, 31, Krankenpfleger:"In der Schulzeit habe ich Russisch und Französisch gelernt, nun möchte ich auch Englischlernen und mich so weiterbilden. Weil ein VHS­Kurs ziemlich erfolglos blieb, erarbeite ich mirjetzt mit einem Vokabeltrainer den Grundwortschatz. Mit Hörbüchern auf CD trainiere ich meinHörverständnis. Ich höre zum Beispiel Kurzgeschichten von Agatha Christie. Mit den CDs binich total flexibel und kann lernen, wo und wann ich will. Wenn mich jemand auf Englisch nachdem Weg fragt, kann ich ihn inzwischen gut verstehen und ihm weiterhelfen."

Sprachkurse, die stur eine Liste grammatischer Strukturen abarbeiten, bringennichts. "Grammatik des Tages" nennt Long das abschätzig: "Das läuft dann so:Ah, heute ist Mittwoch, da ist present perfect dran." Dass viele Lehrer, besondersan allgemeinbildenden Schulen, sich trotzdem lange darauf konzentrierten und esteilweise heute noch tun, liege auch daran, dass sie die Fremdsprache oft selbstnicht besonders gut beherrschten, meint der Wissenschaftler: "Bei starrenGrammatikübungen können sie ihren Schülern immer einen Satz voraus sein."

Wenn aber der Lernstoff wenig mit dem Leben zu tun hat, geht es Sprachschülernähnlich wie den Kindern gehörloser Eltern im Fernsehexperiment – sie begreifenwenig, und zu sprechen lernen sie kaum. "Eine Sprache zu lernen heißt doch, zulernen, etwas mit Wörtern zu tun", sagt Long. Wer das Gelernte gleich anwendenkann, lernt deshalb besonders effektiv. Beim Sprachkurs im Ausland geht dasnatürlich am einfachsten, weil man gleich nach Unterrichtsschluss an der

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nächsten Ecke nach dem Weg fragen, mit der Verkäuferin im Laden nebenan diePreise diskutieren oder mit seinem Vermieter klären muss, wo das warme Wasserbleibt.

Doch ganz von selbst lernt es sich auch in Südfrankreich, Australien, Indonesienoder Malta nicht. "Im Ausland passiert nichts Magisches mit einem", sagtDeKeyser, der das Sprachenlernen fern der Heimat untersucht hat. "Man fängtsich eine Sprache ja nicht ein wie eine Krankheit oder Sonnenbräune. Üben mussman immer."

Und wer zu Hause lernt, kann fast genauso gute Fortschritte machen, meinen diemeisten Wissenschaftler. Ob man nun in der Volkshochschule am Heimatort, perInternet oder mit einem Selbstlernprogramm die Grundlagen erwirbt – wichtigist, selbst für Gelegenheiten zum Ausprobieren zu sorgen: amerikanischeFernsehserien gucken, spanische Bücher lesen, französische Chansons hören, inInternetforen auf Englisch diskutieren. Und sich vor allem jemanden suchen, dermit einem spricht, zum Beispiel einen Tandempartner.

Eine Lerntechnik aber favorisieren alle Sprachforscher, auch wenn sie sich sonstüber sensible Phasen, Didaktik und Methoden streiten. Bei dem Verfahrenkommt einfach alles zusammen, was für das Sprachenlernen wichtig ist: einattraktives Ziel, Motivation, Training rund um die Uhr, reichlich Gelegenheit zurAnwendung und im besten Fall eine entspannte Lernatmosphäre. MPI­DirektorWolfgang Klein sagt es scherzhaft so: "Suchen Sie sich jemanden, der dieZielsprache spricht. Und verlieben Sie sich."

So hat Julia Morgenstern Spanisch gelernt. Während ihres VWL­Studiums gingsie für mehrere Monate nach Chile und Ecuador, um Praktika zu machen. Ineinem Kurs an der Volkshochschule Köln eignete sie sich ein Grundgerüst anVokabeln und Grammatik an, wirklich gelernt hat sie die Sprache aber erst, als sieMarco in Quito traf. Das war der ecuadorianische Mitbewohner, in den sie sichverliebte. Da Marco kein Deutsch und nur wenig Englisch sprach, blieb ihr nichtsanderes übrig, als schnellstens ihr Spanisch zu verbessern. "Mit seiner Hilfe fielmir das leicht, weil er mir geduldig zuhörte und extra langsam sprach", sagt sie.

Ein Wörterbuch brauchte sie bald nicht mehr, sie lernte lieber die "alltägliche undechte Sprache" von Marco. Sie fragte ihn nach Vokabeln, schnappteRedewendungen auf und probierte sie an ihm aus. Sie ließ sich von ihmkorrigieren, ahmte seine Aussprache nach und übernahm unbewusst seinenSingsang. "Seine Sprache wurde so fast nebenbei zu meiner eigenen", sagt sie.Wer in einem fremden Land eine Sprache lerne, habe oft Hemmungen, auf die

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Einheimischen zuzugehen und sie auszuprobieren. "Aber in einerLiebesbeziehung nimmt man kein Blatt vor den Mund", sagt Julia Morgenstern."Wenn du jemandem vertraust, hast du keine Angst, Fehler zu machen." IhrSpanisch ist heute fast so gut wie ihre Muttersprache.

COMPUTERPROGRAMMClaudia Brunow, 29, Personalsachbearbeiterin:"Vor einem Jahr habe ich beschlossen, etwas für mich zu tun. Ich wollte eine neue Sprachelernen, aber keine, die ich für den Beruf brauche, sondern eine, die mir Spaß macht. Ich habemich für Dänisch entschieden, denn das hat mich schon immer fasziniert. Im Internet habe ichmich über verschiedene Lernmöglichkeiten informiert. Wegen meiner Arbeitszeiten kann ichfeste Kurstermine nur schwer einhalten, deshalb wollte ich ein Sprachtraining, bei dem ichselbst bestimmen kann, wann, wo und wie schnell ich lerne. Das Computerprogramm istoptimal, denn den Laptop kann ich überall benutzen. Bei jeder Lektion kann ich wählen, ob ichzuerst Vokabeln oder Grammatik lernen möchte und ob ich sie lesen oder hören will. Besondersgut gefällt mir, dass ich lerne, Alltagssituationen zu meistern: einkaufen oder nach dem Wegfragen. Ich denke, dass ich mir dadurch bereits gute Grundkenntnisse erarbeiten konnte. AmEnde jeder Lektion gibt es einen Test mit detaillierten Korrekturen. Schade ist nur, dass ich keinpersönliches Feedback zur Aussprache bekomme. Aber ich will bald nach Dänemark fahrenund meine Kenntnisse praktisch anwenden – ganz ohne Computer."

Aber auch wer, wie die meisten, die Fremdsprache für seinen Job lernt, bekommtdie Chance, sie anzuwenden, gleich mitgeliefert – und sollte sie unbedingt nutzen,selbst wenn das erste Telefongespräch noch stockend verläuft, beim Small Talkdas eine oder andere Wort fehlt oder die Präsentation nicht gerade eine Eins inGrammatik verdient hätte. "Ja nicht grübeln: Wie geht noch gleich derAkkusativ?", rät MPI­Direktor Klein. "Hauptsache, man drückt sich klar undverständlich aus. Formale Korrektheit ist dafür ziemlich unwichtig."

Die Angst, Fehler zu machen, ist wohl das größte Hindernis beim Sprachenlernen."Erwachsene sind da weit weniger risikobereit als Kinder, das erklärt wohl aucheinen Teil des Alterseffekts", meint Robert DeKeyser. Wie gut und schnell jemandeine Sprache lernt, hängt deshalb nicht nur von seiner allgemeinenSprachbegabung, sondern auch von seiner Persönlichkeit ab. "ExtrovertierteTypen, die einfach drauflosreden, haben es leichter", sagt DeKeyser."Introvertierte Menschen lernen mehr für sich; viele haben einen großenWortschatz, aber sie sprechen normalerweise nicht sehr flüssig."

Max Westerheide gehört sicher zu den Drauflosrednern. Seine etwas vorlaute Arthat die älteren Chinesisch­Schüler hin und wieder genervt, doch beimSprachenlernen hilft sie offenbar. Der Ingenieur Zimmer dagegen istzurückhaltender, tastet sich langsamer vor. "Für mich ist wichtig, dass dieStrukturen gut erklärt wurden", sagt er. "Vielleicht ticke ich als Ingenieur einfachso." Nach drei Wochen Dauerchinesisch ist er aber optimistisch: "Ich denke, dassich das in China schon hinkriege, wenn ich täglich mit den Leuten rede." Und am

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Ende sei sein junger Mitschüler auch gar nicht so viel weiter gewesen.

Mag also sein, dass 30­, 50­, 70­Jährige eine Sprache nicht mehr absolut perfektlernen können. Aber was man wirklich braucht, um sich zu verständigen, dasmeistert auch das erwachsene Hirn. Und das reicht ja vollkommen.

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