sr-15_bedarfsorientierte_mindessicherung
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Norman Wagner Stand: Dezember 2010 INHALT Inhaltliche Koordination: Norman Wagner Dieses Skriptum ist für die Verwendung im Rahmen der Bildungsarbeit des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, der Gewerkschaften und der Kammern für Arbeiter und Angestellte bestimmt.TRANSCRIPT
Sozialrecht
Dieses Skriptum ist für die Verwendung im Rahmen der Bildungsarbeitdes Österreichischen Gewerkschaftsbundes, der Gewerkschaften undder Kammern für Arbeiter und Angestellte bestimmt.
SR15
Bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS)
Norman Wagner
Inhaltliche Koordination:Norman Wagner
Stand: März 2014
INHALTEinleitung 3Armut und Armutsbekämpfung in Österreich oder: warum es die BMS braucht 4Entwicklung des Fürsorgewesens in Österreich 6Die BMS im System der sozialen Sicherheit 9Allgemeine Zielvorstellung und Grundsätze der BMS 12Leistungen der BMS 14Anspruchsvoraussetzungen 15Leistungsformen 17Kostenersatz 20Organisation und Verfahren 21Exkurs: Unterschiede zwischen BMS und Sozialhilfe 23Beantwortung der Fragen 25Literatur 27
Anmerkungen
2
Wie soll mit diesem Skriptum gearbeitet werden?
ZeichenerklärungFrage zum Lernstoff im vorigen Abschnitt (vergleichen Sie Ihre eigene Antwort mit der am Ende des Skriptums angegebenen).
Anmerkungen: Die linke bzw. rechte Spalte jeder Seite dient zur Eintragung persön licher Anmerkungen zum Lernstoff. Diese eigenen Notizen sollen, gemeinsam mit den bereits vorgegebenen, dem Verständnis und der Wiederholung dienen.
Arbeitsanleitung– Lesen Sie zunächst den Text eines Abschnitts aufmerksam durch.– Wiederholen Sie den Inhalt des jeweiligen Abschnittes mit Hilfe der ge
druckten und der eigenen Randbemerkungen.– Beantworten Sie die am Ende des Abschnitts gestellten Fragen (möglichst
ohne nachzu sehen).– Die Antworten auf die jeweiligen Fragen finden Sie am Ende des Skrip
tums.– Ist Ihnen die Beantwortung der Fragen noch nicht möglich, ohne im Text
nachzusehen, arbeiten Sie den Abschnitt nochmals durch.– Gehen Sie erst dann zum Studium des nächsten Abschnitts über.– Überprüfen Sie am Ende des Skriptums, ob Sie die hier angeführten Lern
ziele erreicht haben.
LernzieleNachdem Sie dieses Skriptum durchgearbeitet haben, sollen Sie– über die Rechtsgrundlagen und die Entwicklung der BMS in Österreich
informiert sein;– die BMS im Gesamtsystem der sozialen Sicherheit einstufen können;– über die Zielvorstellungen und die Grundsätze der BMS in Österreich
Bescheid wissen;– die verschiedenen Leistungen im Rahmen der BMS kennen und– über die Organisation und die Verfahrensform der BMS informiert sein.
Viel Erfolg beim Lernen!
Anmerkungen
3
Einleitung1
Durch die Einführung der Bedarfsorientierten Mindestsicherung (BMS) mit dem 1.9. 2010 wurden die Fürsorgeleistungen des österreichischen Staates, die bisher unter dem Begriff der Sozialhilfe zusammengefasst waren, neu geordnet. Leistungen die Personen in Privathaushalten bzw. Obdachlosen zugutekommen, werden nunmehr aus dem Titel der BMS erbracht (früher „offene Sozialhilfe“). Leistungen im stationären Bereich, das heißt für Personen in Altenwohn und Pflegeheimen werden nach wie vor aus der „geschlossenen Sozialhilfe“ finanziert. Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich überwiegend auf die BMS.
Die Mindestsicherungsgesetzgebung der Bundesländer räumt Personen, denen es nicht möglich ist, den Lebensunterhalt für sich und ihre Angehörigen zu bestreiten, einen Anspruch auf Hilfestellung ein. Ein Rechtsanspruch auf Leistungen im Rahmen der BMS besteht nur für die in der Art. 15a BVG Vereinbarung festgelegten Bestimmungen. Zusätzliche Leistungen der Bundesländer sind privatrechtlicher Natur und liegen daher im Ermessen der Behörde.
Im System der sozialen Sicherung in Österreich ist die BMS ein Teil des Sozialrechts, zu dem auch die Sozialversicherung gehört. Dabei kommt der BMS im Vergleich zum Leistungsumfang der Sozialversicherung nur eine untergeordnete Rolle zu. Auch der budgetäre Aufwand ist ungleich geringer als jener für die Leistungen aus der Sozialversicherung.2
Die BMS greift nur „subsidiär“ (=nachrangig) ein, das heißt nach Ausschöpfung aller anderen Mittel, also soweit keine andere finanzielle Absicherung durch Einkommen und Sozialversicherung gegeben ist. Sie ist Sache der Bundesländern, auf Basis einer Vereinbarung von Bund und Ländern. In einer sozialen Notlage steht dem/der Einzelnen die Deckung eines konkreten individuellen Bedarfs zu, wenn der oder die Hilfe Suchende weder über Einkommen noch Vermögen in ausreichender Höhe verfügt. Zudem ist bei arbeitsfähigen Personen Voraussetzung, dass sie bereit sind eine Erwerbsarbeit anzunehmen.
Die aus der BMS entstehenden Kosten werden – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – von den Ländern und Gemeinden sowie vom Bund getragen.
Rechtsgrundlagen– Art 12 Abs 1 Z 1 (iVm Art 15 Abs 6) Bundesverfassungsgesetz (BVG)
sowie Art 15 Abs 1 BVG– Burgenländisches Mindestsicherungsgesetz (Bgld.MSG)– Kärntner Mindestsicherungsgesetz (KMSG)– Niederösterreichisches Mindestsicherungsgesetz (NÖ MSG)– Oberösterreichisches Mindestsicherungsgesetz (OÖ BMSG)– Salzburger Mindestsicherungsgesetz (MSG)– Steiermärkisches Mindestsicherungsgesetz (StMSG)– Tiroler Mindestsicherungsgesetz (TMSG)– Vorarlberger Mindestsicherungsgesetz (MSG)– Wiener Mindestsicherungsgesetz (WMG)– Mindestsicherungsverordnungen3
1 Der Autor dankt Sybille Pirklbauer für ihre Unterstützung.2 Der zu erwartende finanzielle Aufwand für Bund, Länder und Gemeinden in der BMS beträgt
etwa ein Viertel der Ausgaben für Arbeitslosengeld und Notstandshilfe.3 Auf Basis des jeweiligen Mindestsicherungsgesetzes werden in den Ländern eine oder auch
mehrere Verordnungen erlassen. In diesen Mindestsicherungsverordnungen werden Voraussetzungen oder Rahmenbedingungen für Leistungen zur materiellen Existenzsicherung geregelt oder Höhe bzw. Inhalt näher bestimmt.
Einführung der Bedarfsorientierten Mindestsicherung
Kosten
Anmerkungen
4
Armut und Armutsbekämpfung in Österreich oder: warum es die BMS braucht
Herausforderungen einer modernen SozialpolitikMit sich ständig verändernden Rahmenbedingungen einer modernen, globalisierten Welt sind in den letzten Jahrzehnten auch die Aufgaben und die Herausforderungen des österreichischen Sozialstaates andere geworden. In vielen Fällen greifen bewährte Lösungsansätze zu kurz um eine entsprechende soziale Absicherung für die gegenwärtigen Lebensumstände zu schaffen. Zu den Bereichen mit dem dringendsten Handlungsbedarf zählen:
● Die Atypisierung der Erwerbsarbeit: ein ständig geringer werdender Anteil der erwerbstätigen Personen in Österreich arbeitet in unbefristeten Vollzeitarbeitsverhältnissen. Stattdessen steigt die Zahl der Menschen die auf Basis freier Dienstverträge, Werkverträge oder als Leiharbeitskräfte beschäftigt sind. Viele dieser Arbeitsverhältnisse ermöglichen keine langfristige soziale Absicherung.
● Die Individualisierung der Lebensformen: unregelmäßige, unterbrochene Erwerbsverläufe, eine steigende Zahl von AlleinerzieherInnen oder die Zunahme von PatchworkFamilien sind ein Zeichen gesellschaftlicher Vielfalt. Sie sind aber oft genug auch ein Grund für schlechte soziale Absicherung in einem System, das Großteils noch immer auf „ „männliche Ernährer“ ausgelegt ist.
● Die Auseinanderentwicklung von Einkommen und Vermögen: seit Jahren steigen die Reallöhne kaum, gleichzeitig muss Vermögen nichts zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben beitragen; daher hat der Staat immer größere Probleme, die notwendigen Einnahmen seine Aufgaben unter den sich ständig verändernden sozialen Gegebenheiten (z.B. Bevölkerungsalterung, Anstieg des Pflegeaufwands) zu erzielen.
Armut als KonzeptTraditionelle sozialpolitische Konzepte reichen oft nicht (mehr) aus, um ein Abrutschen in die Armut zu verhindern. Doch Armut ist nicht gleich Armut. Grundsätzlich gibt es zwei Konzepte dazu: absolute Armut oder relative Armut.
Von absoluter Armut betroffen zu sein bedeutet Probleme bei der Sicherung der physischen Existenz zu haben, also die Gefahr zu verhungern, zu erfrieren oder ähnlichem. Absolute Armut hat, unabhängig vom sozialen Umfeld, dieselben Auswirkungen in einem reichen Industriestaat wie in einem armen Entwicklungsland.
Relative Armut bezieht sich auf das NichtErreichen eines Mindestmaßes an gesellschaftlicher Teilhabe und steht damit in engem Zusammenhang mit dem sozialen Umfeld. Jemand, der in Österreich aufgrund von z.B. Arbeitslosigkeit und niedrigen sozialen Transferleistungen in relativer Armut lebt, wäre mit denselben Mitteln in einem Entwicklungsland aller Wahrscheinlichkeit nach in einer wesentlich besseren (finanziellen) Situation.
Geänderte sozial politische Rahmen
bedingungen
Armut und Armuts bekämpfung
Anmerkungen
5
Für die Beschäftigung mit der BMS ist primär das Konzept der relativen Armut relevant. Konkreter Ansatzpunkt ist der Begriff der Armutsgefährdung nach EUSILC4, der sich mit Einkommensarmut befasst. Menschen, die ein Einkommen von weniger als 60% des Durchschnitteinkommens (Median)5 zur Verfügung haben, gelten als armutsgefährdet. Laut aktuellster Erhebung (2012) sind das 1.090 € pro Monat für Alleinstehende. Dabei werden nicht nur Erwerbseinkommen berücksichtigt, sondern alle (netto) zufließenden Geldleistungen wie Pensionen, Kapitaleinkommen, Arbeitslosengeld, Wohn oder Familienbeihilfe. Vermögen bleiben jedoch unberücksichtigt. Haben armutsgefährdete Personen zusätzlich Probleme, unregelmäßige Ausgaben zu finanzieren, ihre Wohnung zu heizen, die Miete zu zahlen oder zumindest einmal im Monat Freunde zum Essen einzuladen, spricht man von „manifester“ (=sichtbarer) Armut.
In Österreich waren im Jahr 2012 rund 1,2 Million Menschen (14,4% der hier lebenden Personen) armutsgefährdet. Knapp die Hälfte davon war manifest arm. Betroffen sind mehrheitlich Frauen.
4 EUSILC: European Union – Statistics on Income and Living Conditions5 Das Medianeinkommen ist jener Wert, der von 50% der Bevölkerung über und 50%. unter
schritten wird im Gegensatz zum Durchschnitt.
Armutsgefährdung
Anmerkungen
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Entwicklung des Fürsorgewesens in ÖsterreichDie Einführung der BMS stellt einen wichtigen sozialpolitischen Fortschritt dar, der mehrere Jahrzehnte bis zu seiner Umsetzung gebraucht hat. Die Geschichte der Fürsorgeleistungen reicht jedoch viel weiter zurück. Ein kurzer Blick auf die historische Entwicklung ist oft hilfreich, für ein besseres Verständnis der aktuellen Situation.
● Vor der staatlichen Regelung des Fürsorgewesens waren Hilfestellungen für Arme der privaten Wohltätigkeit überlassen. Im Mittelalter haben vor allem Klöster und Orden begonnen, sich dieses Teils der Bevölkerung anzunehmen. Auf dem Lande, aber auch in den Städten erfolgte die Unterstützung vorwiegend aus Stiftungen, außerdem wurden so genannte Bettelbriefe ausgestellt. Neben der kirchlichen Armenpflege wurden von genossenschaftlichen Vereinigungen wirtschaftlicher oder religiöser Art (Gilden, Zünfte, Bruderschaften) fallweise Unterstützungen verteilt.
● Erst mit dem Aufkommen der Staaten im heutigen Sinn begannen die landesfürstlichen Behörden auf dem Gebiete des Armenwesens regelnd einzugreifen. Im 19. Jahrhundert wurde durch das Reichsgemeindegesetz das Armenwesen schließlich als eine Angelegenheit des selbständigen Wirkungsbereiches der Gemeinden erklärt. Die näheren Bestimmungen über das Armenwesen fanden sich im Heimatgesetz. Zur Kostentragung war jene Gemeinde verpflichtet, in welcher der oder die Arme heimatberechtigt war; heimatlose Arme wurden einer Gemeinde zugewiesen und der Aufwand für deren Versorgung vom zuständigen Bundesland ersetzt.
● Um der zunehmenden Massenverelendung entgegenzutreten, organisierte sich die Arbeiterschaft und forderte u. a. einen wirksamen Schutz für die Folgen des Verlustes von Einkommen durch Krankheit, Unfall und Alter sowie Begrenzungen der Arbeitszeit für Jugendliche. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ist diesen Anliegen der Arbeiterbewegung schrittweise Rechnung getragen worden. So ist 1887 die Unfallversicherung und 1889 auch ein Krankenversicherungsschutz für LohnarbeiterInnen eingerichtet worden.
● Während Maßnahmen zugunsten der arbeitenden Bevölkerung damit als zentralstaatliches Anliegen erfasst wurden, blieben Hilfestellungen für jene, die am Erwerbsleben aus welchen Gründen auch immer nicht teilnehmen konnten, weiterhin den Ländern und Gemeinden vorbe halten. Diese kompetenzrechtliche Trennung zwischen der vom Bund und der von den Ländern zu besorgenden Sozialpolitik wurde bis ins 21. Jahrhundert beibehalten. Erst durch die Einführung der BMS ist es zu einer Aufweichung der Trennlinien gekommen.
● Ab dem Jahr 1938 galten in Österreich die deutschen fürsorgerechtlichen Bestimmungen aus dem Jahre 1924. Diese waren die Verordnung über die Fürsorgepflicht und die Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge. Nach 1945 wurden diese Regelungen aufgrund des Rechtsüberleitungsgesetzes und des Übergangsgesetzes zunächst ins Bundesrecht übernommen und traten später als vorläufige Regelung der landesrechtlichen Fürsorge als Landesgesetze in Kraft.
● Aufgrund der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung wäre es dem Bund offen gestanden, ein Grundsatzgesetz zu erlassen und eine bundeseinheitliche Rahmenregelung zu schaffen. Es blieb aber wegen Meinungsverschiedenheiten mit und unter den einzelnen Bundesländern bei mehreren Gesetzesentwürfen und vielfältigen Diskussionen. 1968 er
private und behördliche
Wohlfahrt
Heimatgesetz
Anfänge der Sozialpolitik
Fürsorge
Anmerkungen
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klärte der Bund, von seiner Grundsatzgesetzgebungskompetenz keinen Gebrauch zu machen, und stellte es wegen der Auffassungsunterschiede den Ländern frei, neue Landesfürsorgegesetze zu schaffen.
● In der Folge wurde in den LandesSozialreferaten 1971 ein „Musterentwurf“ eines LandesSozialhilfegesetzes ausgearbeitet. Ausgehend von diesem haben sämtliche Bundesländer zwischen 1972 und 1976 eigene Sozialhilfegesetze beschlossen. Diese weichen allerdings zum Teil beträchtlich voneinander ab.
● In den letzten Jahrzehnten wurde aufgrund von zahlreichen sozial und gesellschaftspolitischen Veränderungen wie bspw. steigende Arbeitslosigkeit, Anstieg an atypischen Beschäftigungsverhältnissen usw. offensichtlich, dass Reformbedarf im Bereich der sozialen Sicherung besteht. Das erste Netz, die Sozialversicherung, war löchrig geworden und vermehrt mussten daher Leistungen durch die Sozialhilfe erbracht werden. Die Folge war, dass die Anzahl der BezieherInnen von Sozialhilfe seit Mitte der 1990er Jahre massiv angestiegen ist. Ende 2008 betrug die Zahl der Allein, Haupt und Mitunterstützten in der offenen Sozialhilfe etwa 161.000 Personen, um fast 100.000 Personen (+ 160 %) mehr als 1995. Der Großteil davon waren BezieherInnen von Aushilfen bzw. von Richtsatzergänzungen. Aushilfen wurden häufig als ergänzende Geldleistung zu – im Vergleich zu den Sozialhilferichtsätzen – niedrigeren Arbeitslosenversicherungsleistungen an Personen ausbezahlt, die zuvor in Niedriglohnbranchen bzw. in prekären Beschäftigungsverhältnissen erwerbstätig gewesen waren (Pratscher, 2005, S. 336 ff.). Dem Reformbedarf in der Sozialhilfe wurde in einzelnen Ländern durch Neuregelungen bzw. Umorganisationen Rechnung getragen. Dabei kam es zu gewissen Annäherungen zwischen den Ländern. Die Unterschiede waren aber nach wie vor beträchtlich. Ende der 1990er Jahre wurde im Sozialministerium eine Arbeitsgruppe initiiert, um Vorschläge für eine Harmonisierung der Sozialhilfe zu erarbeiten. Diese Vorschläge wurden von den LandespolitikerInnen grundsätzlich gebilligt, konkrete Schritte folgten dem jedoch keine.
● Im Jänner 2007 trat eine neue Bundesregierung an, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Sozialhilferegelungen der Länder zu vereinheitlichen und neu zu konzipieren. Die Bedarfsorientierte Mindestsicherung, wie sie im Ministerrat vom Juli 2009 beschlossen wurde, stellt eine Weiterentwicklung der bestehenden Sozialhilfegesetze dar. Vorrangige Zielsetzungen waren das Schließen von Lücken im löchrig gewordenen sozialen Netz und die (Re)Integration von Menschen am Rande der Gesellschaft. Da in der BMS jedoch länderspezifische Ergänzungsleistungen fortbestehen, kann lediglich von einer Vereinheitlichung der Grundleistung gesprochen werden. Die BMS wurde mit 1. September 2010 in Wien, Niederösterreich und Salzburg eingeführt, die anderen Bundesländer folgten bis 1. Oktober 2011.
● Parallel dazu werden derzeit in Österreich (und auch in vielen anderen Ländern) zahlreiche Diskussionen geführt, die sich mit der Thematik der Grundsicherung auseinander setzen. Ganz allgemein versteht man unter Grundsicherung Modelle und Politikinstrumente, die sich mit der Armutsbekämpfung und der Verhinderung sozialer Ausgrenzung befassen. Es existiert hierbei eine Anzahl von parallel verwendeten Begriffen. „Grundsicherung“, „Grundeinkommen“ und „Bedarfsorientierte Mindestsicherung“ sind ähnliche Begriffe, stehen jedoch für verschiedene Inhalte. Das „Grundeinkommen“ beispielsweise ist eine Form der Grundsicherung, die unabhängig von vorhandenem Vermögen, Einkommen und Erwerbsarbeit – also „bedingungslos“ ausbezahlt werden soll, während die „Bedarfsorientierte Mindestsicherung“ erwerbszentriert ist und die persönlichen Lebensumstände berücksichtigt. Unter dem Druck der bereits erwähnten Zunahme unregelmäßiger Erwerbsbiographien und
Reformbedarf und Harmonisierung
Einführung der Bedarfsorientierten Mindestsicherung
Grundsicherungs modell
Anmerkungen
8
der damit einhergehenden geringer werdenden sozialen Absicherung der Betroffenen, erhalten „alternative“ Konzepte der sozialen Sicherheit, wie das Grundeinkommen, auch mehr Raum in der öffentlichen Diskussion.
1. Welche Entwicklungen haben zur Einführung der BMS geführt?
9
Die BMS im System der sozialen Sicherheit
Drei Grundformen sozialer Sicherungssysteme
Bei der Absicherung sozialer Risiken wird zwischen drei Systemen unterschieden:
● Leistungen nach dem Versicherungsprinzip,● Leistungen nach dem Versorgungsprinzip,● Leistungen nach dem Fürsorgeprinzip.
Gemeinsamer Ausgangspunkt all dieser Systeme ist die staatliche Absicherung (Hilfe) von Risken in bestimmten Lebenslagen (z. B. Krankheit, Alter, Armut, Arbeitslosigkeit, Minderung der Erwerbsfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit).
Bei Leistungen im Sinne des Versicherungsprinzips werden den Mitgliedern beim Eintreten eines Versicherungsfalles die Schäden vergütet. Voraussetzung ist das Zahlen von Beiträgen bzw. Prämien. Dieses Zusammenspiel wird als versicherungstechnische Äquivalenz bezeichnet.
Die Sozialversicherung basiert auf einem – verpflichtenden – Zusammenschluss von erwerbstätigen Personen (gesetzliche Pflichtversicherung), die ähnlichen und damit für sie typischen sozialen Risiken ausgesetzt sind (Risiko gemeinschaft). Damit erwerben sie einen Rechtsanspruch auf Leistungen aus der Sozialversicherung. Bei Eintritt eines solchen Risikos, des so genannten Versicherungsfalles, soll die Risikogemeinschaft bei der Bewältigung der Situation helfen oder zumindest einen gewissen Ausgleich für den eingetretenen Nachteil bieten. Damit werden die Gefahren des Einzelnen auf die Allgemeinheit verteilt, konkret auf die im Gesetz zu einer Risikogemeinschaft zusammengefassten Berufsgruppen. Die Sozialversicherung stellt eine Modifikation des Versicherungsprinzips dar (das sog. Sozialversicherungsprinzip). Zum Prinzip der Äquivalenz kommen hier zusätzlich Sicherungs und Solidarziele hinzu, um zwischen Personen mit unterschiedlicher Leistungsfähigkeit und Bedürftigkeit umverteilen zu können. Während in der Pensionsversicherung das Äquivalenzprinzip verhältnismäßig ausgeprägt ist, kommen in der Krankenversicherung umverteilende Aspekte stärker zum Tragen.
Leistungen nach dem Versorgungsprinzip sind nur als Schutz für ganz bestimmte Benachteiligungen oder Schäden vorgesehen. Die traditionellen Versorgungsleistungen sind für Personen vorgesehen, die entweder aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen oder anderer Formen der Gewaltanwendung zu Schaden gekommen sind (Kriegsopfer, Heeresversorgungsgesetz etc.). Zusätzlich fallen auch Leistungen unter diesen Begriff, die unter bestimmten Voraussetzungen grundsätzlich gewährt werden. Vor allem Pflegegeld oder Familienbeihilfe sowie die einkommensunabhängigen Varianten des Kinderbetreuungsgeldes sind hier zu nennen. Diese Leistungen kommen allen Personen innerhalb einer Solidargemeinschaft bei Eintreffen der relevanten Bedingungen zu, unabhängig von der jeweiligen finanziellen Situation. Auf Versorgungsleistungen besteht ein Rechtsanspruch.
Im Gegensatz zu Leistungen aus dem Versicherungs bzw. aus dem Versorgungsprinzip sind die Leistungen nach dem Fürsorgeprinzip nicht planmäßig und vorhersehbar, sondern den Bedürfnissen des konkreten Einzelfalles
Systeme der Sozialen Absicherung
Sozialversicherung
Versorgung
Fürsorge
Anmerkungen
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anzupassen. Sie werden nur dann gewährt, wenn keine anderen Möglichkeiten zur Bedarfssicherung bestehen. Sie sollen Bereiche abdecken, die von Versicherungsleistungen nicht oder nur schlecht erfasst werden können, setzen eine Bedarfsprüfung voraus und sind von Beitragsleistungen in das Sozialsystem unabhängig.
Die Sozialhilfe wurde oft als Beispiel einer Fürsorgeleistung genannt. Sie setzt(e) auch keine Beitragszahlungen voraus. Bei der BMS besteht – im Gegensatz zur klassischen Fürsorgeleistung – ein Rechtsanspruch auf die vereinheitlichte Grundleistung. Leistungen nach dem Fürsorgeprinzip sind auf Ausnahmefälle und ungewöhnliche Problemlagen ausgelegt. Die alten Sozialhilfegesetze der Bundesländer entsprechen diesem Gedanken zum Teil noch stark. Die BMS aber ist bereits unter dem Eindruck konzipiert worden, dass es sich bei den LeistungsbezieherInnen nicht mehr um unglückliche Einzelschicksale handelt, sondern um ein Massenphänomen. Die BMS kann daher nicht eindeutig einem der genannten Prinzipien zugeordnet werden. Sie ist de facto eine Mischung aus Versorgungs und Fürsorgeleistung.
Drei Säulen der ExistenzsicherungDie Sicherung eines Mindestmaßes an gesellschaftlicher Teilhabe steht in Österreich auf drei Säulen:
● Absicherung von Personen mit Anspruch auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung
Menschen mit Anspruch auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung, können nach Auslaufen des Arbeitslosengelds (nach 20 bis 52 Wochen) bei Bedürftigkeit und unter Anrechnung des Einkommens der (Ehe) Partnerin/des (Ehe)Partners Notstandshilfe beziehen.
● Absicherung von Personen mit Anspruch auf Leistungen aus der Pensionsversicherung
Personen, die einen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Pensionsversicherung erworben haben, erhalten nach dem Pensionsantritt bei sehr niedriger Pensionshöhe und unter Einbeziehung des (Ehe) PartnerInneneinkommens eine Mindestpension, die sogenannte Ausgleichszulage.
● Absicherung von Personen ohne (ausreichende) Ansprüche aus Arbeitslosen oder Pensionsversicherung
Für Personen in Privathaushalten ohne Ansprüche aus Arbeitslosen oder Pensionsversicherung in entsprechender Höhe erfolgt die Existenzsicherung über die BMS. Zudem können jene, die eine zu niedrige Leistung aus der Arbeitslosenversicherung erhalten, eine Aufzahlung aus der BMS bekommen. Leben diese Personen nicht in Privathaushalten sondern in Altenwohn oder Pflegeheimen, so erfolgt die Absicherung weiterhin über die Sozialhilfe („Finanzierung, bzw. Mitfinanzierung der Unterbringung von hilfsbedürftigen Menschen in Altenwohn und Pflegeheimen“).
BMS als Mischform
Teilhabe in unterschiedlichen Lebens
situationen
Anmerkungen
11
2. Worin bestehen die Unterschiede zwischen dem System der BMS und dem der Sozialversicherung?
3. Welche der genannten sozialen Sicherungssysteme spielen für von Armut betroffene Menschen eine Rolle?
Anmerkungen
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Allgemeine Zielvorstellung und Grundsätze der BMS
Die BMS ist eine staatliche Leistung mit dem Ziel, von Armut betroffenen Menschen die Führung eines menschenwürdigen Lebens zu ermöglichen. Sie wird auch als letztes oder drittes soziales Netz bezeichnet und kommt erst zum Tragen, wenn weder das erste soziale Netz (Sozialversicherung) noch das zweite (Haushalt und Familienverbund) die soziale Absicherung gewährleisten können. Sie versteht sich daher als so genannte „Hilfe zur Selbsthilfe“. Die BMS hat also den Zweck, Menschen zu befähigen, von der Hilfe unabhängig zu werden bzw. zumindest zur Beseitigung der Notlage selbst beizutragen. Auch die die Vermeidung von sozialen Notlagen spielt in diesem Konzept eine wichtige Rolle.
Die BMS beruht auf vier Grundsätzen:
Die BMS als PauschalleistungDie BMS ist als pauschalierte Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes konzipiert. Auf beides besteht ein Rechtsanspruch. Soweit es nicht möglich ist, erwerbsfähige BezieherInnen in den Arbeitsmarkt zu (wieder)einzugliedern, soll die BMS ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Das inkludiert auch die Hilfe bei Krankheit, Schwangerschaft und Entbindung.
Der Grundsatz der Subsidiarität (Nachrangigkeit)Die BMS als staatliches Mittel zur Bewältigung von sozialen Notlagen wird nur dann gewährt, wenn und soweit andere Möglichkeiten zur Sicherung des Lebensbedarfes nicht bestehen. Darunter fallen:
● Einsatz der eigenen Kräfte z. B. durch die Ergreifung von Arbeitsmöglichkeiten;
● Einsatz eigener Mittel (Einkommen, Vermögen);● Berücksichtigung gesetzlicher und vertraglicher, tatsächlich durchsetz
barer Leistungsverpflichtungen Dritter, insbesondere Unterhaltsverpflichteter;
● Berücksichtigung von Sozialversicherungsleistungen und Leistungen nach Spezialgesetzen, wie Opferfürsorge und Arbeitsmarktförderungsgesetz
Das Subsidiaritätsprinzip bewirkt, dass ein Anspruch auf BMS nur dann besteht, wenn eine Notlage anders nicht abgewendet oder beseitigt werden kann.
Der Grundsatz der Wiedereingliederung Das erklärte Ziel der BMS ist die dauerhafte (Wieder)Eingliederung der erwerbsfähigen BezieherInnen in den Arbeitsmarkt. Um das zu erreichen soll den Betroffenen ein entsprechendes Beratungs und Betreuungsangebot zur Verfügung gestellt werden. Bei Personen, die nicht (mehr) ins Erwerbs
Führung eines menschenwürdigen
Lebens
pauschale Geldleistung
Subsidiarität
Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt
Anmerkungen
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leben (zurück)geführt werden können (z.B. Erwerbsunfähige, Menschen, die das Regelpensionsalter erreicht haben) steht die Vermeidung und Überwindung von sozialen Notlagen im Vordergrund.
Die BMS als bundesweiter MindeststandardDie BMS ist als österreichweiter Mindeststandard konzipiert und darf demensprechend von den Ländern und ihnen nachgeordneten Institutionen nicht unterschritten werden. Die Länder dürfen jedoch zusätzliche, ergänzende Leistungen anbieten (z.B. höhere Wohnbeihilfen), auf die allerdings in der Regel kein Rechtsanspruch besteht. Im Rahmen der Mindeststandards ist zusätzlich festgelegt, dass es zu keiner Verschlechterung für Personen kommen darf, die bisher Leistungen aus der offenen Sozialhilfe bezogen haben und in die BMS übernommen werden, das sogenannte Verschlechterungsverbot.
4. Legen Sie dar, welche Grundsätze der BMSGesetzgebung Sie kennen und welche Auswirkung diese für die Betroffenen haben.
Mindestleistungshöhe
Anmerkungen
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Leistungen der BMS
Die BMS basiert, wie bereits beschrieben, auf einer von Bund und Ländern beschlossenen Art. 15a BVG Vereinbarung, inklusive darüber hinausgehenden, voneinander abweichenden, Leistungen der Länder.
Die BMS umfasst folgende Bedarfsbereiche:
LebensunterhaltUnter dem Begriff Lebensunterhalt wird der regelmäßig wiederkehrende Aufwand für Nahrung, Bekleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und Strom sowie andere persönliche Bedürfnisse wie die angemessene soziale und kulturelle Teilhabe zusammengefasst. Der Lebensunterhalt soll durch die pauschale Geldleistung der BMS gedeckt werden (siehe ‚Allgemeine Zielvorstellung und Grundsätze der BMS‘). Falls im Einzelfall höhere Kosten entstehen (z.B. durch eine Erkrankung), ist auch die Gewährung einer entsprechend höheren Leistung möglich.
Für Anschaffungen, die aus der Pauschalleistung nicht gedeckt werden können (z.B. das Ersetzen eines kaputten Kühlschranks), besteht die Möglichkeit zur Gewährung gezielter Einzelleistungen. Auf diese besteht aber kein Rechtsanspruch.
WohnbedarfDer Begriff Wohnbedarf beinhaltet die für die für die Sicherung einer angemessenen Wohnsituation notwendigen regelmäßig wiederkehrenden Kosten für Miete, allgemeine Betriebskosten und sonstige Abgaben, wie Kanal oder Abfallgebühren. Der Aufwand für Heizung und Strom fällt, wie bereits beschrieben, in die Kategorie des Lebensunterhalts.
Schutz bei Krankheit, Schwangerschaft und EntbindungIm Rahmen des Schutzes bei Krankheit, Schwangerschaft und Entbindung werden all jene Sachleistungen und Vergünstigungen gewährt, die BezieherInnen einer Ausgleichszulage aus der Pensionsversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung zukommen.
Diese Regelung stellt eine wesentliche Veränderung im Verhältnis zur offenen Sozialhilfe dar, in der der Gesundheitsschutz in der Krankenhilfe geregelt war. Demgegenüber sind BMSBezieherInnen, inklusive ihrer Angehörigen, in die gesetzliche Krankenversicherung eingebunden, inklusive Befreiung von Rezept und ECardgebühr.
5. Welche Leistungsarten der BMS kennen Sie und welches Problem entsteht, wenn BezieherInnen mit unerwarteten Zusatzausgaben konfrontiert sind?
regelmäßig wiederkehrender
Aufwand
Sicherung der Wohnsituation
Gleichstellung mit Ausgleichs
bezieherInnen
Anmerkungen
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Anspruchsvoraussetzungen
Leistungen aus der BMS ziehen, soweit sie die Art. 15a BVG Vereinbarung zwischen Bund und Ländern nicht übersteigen, hoheitliche Rechtsansprüche nach sich. Werden von den Ländern über diese Vereinbarung hinaus Leistungen zugestanden, so besteht darauf jedoch in der Regel kein Rechtsanspruch. Ebenso wenig können Beratungs oder Betreuungsangebote eingeklagt werden, oder Maßnahmen, die der (Wieder)Eingliederung in den Arbeitsmarkt dienen.
Anspruchsberechtigter PersonenkreisEinen Anspruch auf Leistungen aus der BMS haben grundsätzlich Personen, die zum dauernden Aufenthalt in Österreich berechtigt sind. Darunter fallen:
● Österreichische StaatsbürgerInnen;
● Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte;
● EU/EWRBürgerInnen, sowie Schweizer Staatsangehörige und deren Familienangehörige, soweit sie durch den BMSBezug ihr Aufenthaltsrecht nicht verlieren;
● Personen mit einem Aufenthaltstitel „DaueraufenthaltEG“ oder „Daueraufenthalt–Familienangehörige“, Personen mit einem Niederlassungsnachweis oder einer unbefristeten Niederlassungsbewilligung.
Antragsrecht und Parteistellung steht grundsätzlich allen volljährigen Personen zu. Die Geltendmachung von Leistungen ist dabei auch im Namen von Personen im gleichen Haushalt möglich.
Einsatz der ArbeitskraftUm Leistungen aus der BMS beziehen zu können, ist Arbeitswilligkeit bei arbeitsfähigen Personen Voraussetzung. Zeigt die betroffene Person trotz Ermahnung keine Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme, so ist eine Kürzung um 50% möglich, bei beharrlicher Weigerung auch darüber hinaus.
Es ist dabei auf die persönliche und familiäre Situation der Hilfesuchenden Rücksicht zu nehmen. Arbeitsfähigkeit und Zumutbarkeit einer Beschäftigung werden wie in der Notstandshilfe behandelt, wobei jedoch Ausnahmen bestehen. Jedenfalls nicht verlangt werden darf der Einsatz der Arbeitskraft von Personen, die
● das Regelpensionsalter nach dem ASVG erreicht haben;
● Betreuungspflichten gegenüber Kindern haben, welche das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, und keiner Beschäftigung nachgehen können, weil keine geeigneten Betreuungsmöglichkeiten bestehen;
● pflegebedürftige Angehörige überwiegend betreuen, welche ein Pflegegeld mindestens der Stufe 3 beziehen;
● Sterbebegleitung oder Begleitung von schwersterkrankten Kindern leisten;
● in einer bereits vor Vollendung des 18. Lebensjahres begonnenen und zielstrebig verfolgten Erwerbs oder Schulausbildung stehen.
Grundsätzlich reduziert jedes erworbene Einkommen die Unterstützungsleistung durch die BMS. Personen, die nach längerer Arbeitslosigkeit bei
Rechtsanspruch
anspruchs berechtigte Personen
Arbeitswilligkeit und Sanktionen
Anmerkungen
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gleichzeitigem BMSBezug (wieder) ins Erwerbsleben eintreten, steht jedoch ein „WiedereinsteigerInnenfreibetrag“ zu, Dieser beträgt zwischen 7% und 17% des für die BMS relevanten Ausgleichzulagenrichtsatzes (2014: zwischen 57 € und 139 €).
Berücksichtigung von Leistungen Dritter und eigenen MittelnBevor eine Leistung aus der BMS zuerkannt wird, müssen eigene Einkünfte, eigenes Vermögen sowie Leistungen Dritter, die der Hilfe suchenden Person zur Verfügung stehen, berücksichtigt werden. Erst wenn diese aufgebraucht sind, bzw. auf das vereinbarte Niveau zurückgegangen sind, sind Leistungen aus der BMS zuzuerkennen. Nicht berücksichtigt werden dürfen dabei:
● Freiwillige soziale Zuwendungen
● Leistungen von Dritten ohne rechtliche Verpflichtung, wenn dadurch die Notlage nicht überwunden werden kann
● Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag
● Pflegegeld und vergleichbare Leistungen
● therapeutisches Taschengeld
● ein Freibetrag bei Einkommen aus eigener Erwerbstätigkeit, wenn die Hilfe suchende Person vor Aufnahme der Erwerbstätigkeit zumindest ein Jahr erwerbslos war (WiedereinsteigerInnenfreibetrag, siehe oben)
Bei der Vermögensverwertung muss darauf geachtet werden, dass dadurch eine Notlage nicht ausgelöst, verlängert oder erschwert wird. Daher ist auf die Verwertung in Bezug auf folgende Bereiche zu verzichten:
Gegenstände, die zur Erwerbsausübung oder der Befriedigung angemessener kultureller Bedürfnisse der Hilfe suchenden Person dienen;Gegenstände, die als angemessener Hausrat anzusehen sind;
● Kraftfahrzeuge, die berufsbedingt oder auf Grund besonderer Umstände (insbesondere Behinderung, unzureichende Infrastruktur) erforderlich sind;
● unbewegliches Vermögen, wenn dieses zur Deckung des angemessenen Wohnbedarfs der Bedarfsgemeinschaft dient;
● verwertbares Vermögen nach Abs. 2 bis zu einem Freibetrag in Höhe des Fünffachen des Mindeststandards (Vermögensfreibetrag) (2014: 4.070 €)
● sonstige Vermögenswerte, solange Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung nicht länger als für eine Dauer von sechs Monaten bezogen wurden. Dabei sind alle ununterbrochenen Bezugszeiträume im Ausmaß von mindestens zwei Monaten innerhalb von zwei Jahren vor der letzten Antragstellung zu berücksichtigen.
6. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, bevor BMSLeistungen zuerkannt werden können?
Einkommen, Vermögen und
Unterhaltsansprüche
Anmerkungen
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Leistungsformen
Die RichtsatzleistungDie regelmäßige Geldleistung der BMS umfasst die Leistungen zur Deckung des Lebensunterhaltes und die des angemessenen Wohnbedarfes. Sie basiert auf dem monatlichen Richtsatz der Ausgleichszulage der gesetzlichen Pensionsversicherung (2014: 857,73 € brutto/Monat für Alleinstehende) und ist von den Ländern zu tragen. Dieser Betrag beinhaltet – wie in der Pensionsversicherung – den Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung (2014: 5,1%), der vor der Auszahlung abgezogen wird. Aufgrund der Heranziehung der Höhe der Ausgleichszulage sind jährliche Beschlüsse zur Leistungsanpassung an die Lebenserhaltungskosten nicht notwendig. Die BMS wird bei Bedürftigkeit, maximal 12mal im Jahr ausbezahlt, eine 13. und 14. Auszahlung wie in der Pensionsversicherung gibt es hier grundsätzlich nicht, Zusatzleistungen der Länder (ohne Rechtsanspruch) sind jedoch möglich.
Vor allem seitens der Betroffenenorganisationen wird immer wieder Kritik an der Leistungshöhe der BMS laut, da diese weit unter der statistischen Armutsgefährdungsschwelle (2012: 1.090 € pro Monat) liegt (siehe oben). Zusätzlich wird kritisiert, dass die von den Bundesländern in Aussicht gestellten ergänzenden Leistungen dazu führen, dass die Vereinheitlichung der Leistung in der BMS de facto nicht stattfindet.
Die RichtsatzhöheFür die Höhe der Richtsatzleistung sind Haushaltsgröße und zusammensetzung relevant: ● Alleinstehende und AlleinerzieherInnen haben Anspruch auf 100% der Richtsatzleistung● (Ehe)Paare haben Anspruch auf 150% (2 mal 75%)● Ab der 3. im selben Haushalt lebenden volljährigen Person, sofern diese
einer anderen im Haushalt lebenden Person gegenüber unterhaltsberechtigt ist, erhöht sich der Anspruch um jeweils 50%
● Minderjährige Personen, mit Anspruch auf Familienbeihilfe, die mit zumindest einer anspruchsberechtigten Person im selben Haushalt leben:
– Für die ersten (ältesten) drei Kinder 18% – Für alle nachfolgenden Kinder 15%6
Der Richtsatz für Paare ist im Vergleich zu jenem für Alleinstehende niedriger, weil davon ausgegangen wird, dass bei einer gemeinsamen Haushaltsführung Einsparungen im Bereich der Fixkosten möglich sind. Ebenso wird davon ausgegangen, dass Kinder einen geringeren Bedarf als Erwachsene haben.
Die tatsächliche Leistungshöhe ergibt sich aus der Differenz zwischen den tatsächlich zur Verfügung stehenden Eigenmitteln (Einkommen, Arbeitslosengeld, Notstandshilfe,…) und dem entsprechenden BMSRichtsatz.
6 Diese Unterscheidung ist damit begründet, dass ab dem 4. Kind die erhöhte Familienbeihilfe zusteht. Werden BMSLeistung und Familienbeihilfe zusammengerechnet, so ergibt sich für alle anspruchsberechtigten Minderjährigen die gleiche Leistungshöhe.
Anmerkungen
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In den letzten Jahren hat der Anteil jener Personen, deren Einkommen aus Arbeit bzw. aus der Arbeitslosenversicherung niedriger war als der für sie relevante Richtsatz (in der Sozialhilfe) ständig zugenommen. So bezogen 2011 in Wien, dem einzigen Bundesland, das derart detaillierte Informationen ausweist, fast vier von fünf LeistungsbezieherInnen eine sogenannte Richtsatzergänzung, eine regelmäßige Sozialhilfeleistung als Ergänzung zu einem niedrigen Einkommen oder einer niedrigen Leistung aus der Arbeitslosenversicherung.
Der Wohnbedarf75% des BMSRichtsatzes machen die Leistungen zur Deckung des Lebensunterhaltes aus, die restlichen 25% die des angemessenen Wohnbedarfes. Wenn die tatsächlichen Wohnkosten den sich daraus ergebenen Betrag übersteigen, sollen die Länder zusätzliche Leistungen (auf Grundlage des Privatrechts) gewähren. Wenn dadurch eine drohende Delogierung verhindert werden kann, können Leistungen zur Deckung des Wohnbedarfs auch an Dritte ausbezahlt werden.
ZusatzleistungenZusatzleistungen stellen eine anlassbezogene Unterstützung bei außergewöhnlichen Schwierigkeiten dar, die ihre Ursache in persönlichen, sozialen oder wirtschaftlichen Verhältnissen des Einzelnen haben kann. Während die laufenden Geldleistungen alle regelmäßigen monatlichen Aufwendungen abdecken sollen, wird durch einmalige Geldleistungen ein unregelmäßiger Bedarf der Hilfe suchenden Person abgedeckt (Kosten im Zusammenhang mit dem Schulbeginn der Kinder, Reparaturen in der Wohnung etc.). Auf die Hilfe in besonderen Lebenslagen besteht kein Rechtsanspruch, sie wird von den Ländern im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung gewährt.
SachleistungenSachleistungen sind nur dann vorgesehen, wenn dadurch die Deckung des Lebensunterhaltes besser erreicht werden kann als durch Geldleistungen. Mit der Einführung der BMS ist auch die Einbeziehung der Betroffenen in die gesetzliche Krankenversicherung einhergegangen. Vergleichbar mit BezieherInnen der Ausgleichszulage in der Pensionsversicherung sind sie von Rezept und ECardgebühr befreit.
Zusatzleistungen der LänderDie Bundesländer haben die Möglichkeit über die in der Art. 15a BVG Vereinbarung festgelegten Mindeststandards hinaus zusätzliche Leistungen zu gewähren. Dies erfolgt jedoch auf Grundlage des Privatrechts, was dazu führt, dass die Bewilligung im Ermessen der zuständigen Behörde liegt. Es steht den Ländern frei, diese Zusatzleistungen in Form von Geld oder von Sachleistungen zu gewähren.
Zusätzlich wurde in der BMS ein Verschlechterungsverbot vereinbart. Damit soll sichergestellt werden, dass keine Situation entsteht, in der Men
Anmerkungen
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schen, die bisher eine Leistung aus der Sozialhilfe bezogen haben, in der BMS schlechter gestellt werden.
Die Vereinbarung des Verschlechterungsverbotes hat durch das Abgehen vom ursprünglichen Vereinbarungsentwurf der BMS an Bedeutung gewonnen. Im Jahr 2007 waren (maximal) 14 Auszahlungen pro Jahr vereinbart worden, 2009 wurde jedoch eine Reduktion auf (maximal) 12 Auszahlungen beschlossen. Das hat zu einer um bis zu 15% niedrigeren Leistung für Betroffene im Verhältnis zum Erstentwurf geführt. Eine Folgeerscheinung davon ist, dass in der Sozialhilfe auf eine höhere Leistung als in der BMS Anspruch bestünde und somit das Verschlechterungsverbot zum Tragen kommt.
ArbeitslosenversicherungZusammen mit der BMS wurde der Einbau mindestsichernder Elemente in der Arbeitslosenversicherung beschlossen. Darunter fallen:● Die Erhöhung des Ausmaßes der Notstandshilfe für Personen, bei denen
der tägliche Grundbetrag des vorherigen Arbeitslosengeldes 1/30 des Ausgleichszulagenrichtsatzes für Alleinstehende nicht übersteigt, durch die Abbildung der Nettoersatzrate des Arbeitslosengeldes von bis zu 60% (bei Anspruch auf Familienzuschläge: von bis zu 80%) des vorherigen Einkommens.
● Die Sicherstellung, dass es auf Grund der Anrechnung von Einkommen der Partnerin, bzw. des (Ehe) Partners zu keinem geringeren Anspruch auf Notstandshilfe kommt, als er AusgleichszulagenbezieherInnen mit (Ehe)PartnerInnen und allfälligen Kindern zusteht.
Anmerkungen
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Kostenersatz
Grundsätzlich gilt für BezieherInnen von BMSLeistungen, dass sie bei Wiedererlangung ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit – im Gegensatz zur Sozialhilfe – nur in Ausnahmesituationen zur Rückzahlung der bezogenen Leistungen verpflichtet sind.
Ersatz durch die EmpfängerInnen der BMSHilfeleistungsempfängerInnen haben die für sie aufgewendeten Kosten nur dann zu ersetzen, wenn
● sie im Nachhinein zu einem Vermögen (z. B. aus einer Erbschaft) in relevanter Höhe kommen;
● sie über Einkommen oder Vermögen verfügen, das zum Zeitpunkt der Gewährung der Leistung der Behörde nicht bekannt war.
● sich die Einkommens und Vermögensverhältnisse grundlegend geändert haben. Eine Einschränkung des Kostenersatzes ergibt sich aus dem Sinn und Zweck der BMS, sodass Rückzahlungen nicht geleistet werden müssen, wenn andernfalls eine Gefährdung des Erfolgs der Hilfe befürchtet werden muss.
Verbindlichkeiten zum Ersatz der Kosten gehen gleich einer anderen Schuld auf den Nachlass der EmpfängerInnen der BMS über. Kostenersatzan sprüche können daher auch gegen die Erben von BMSEmpfängerInnen geltend gemacht werden, jedoch nur in dem Ausmaß, als sie aus dem Nachlass befriedigt werden können. Alle darüber hinausgehenden Forderungen verfallen.
Ersatz durch DritteVon Dritten darf generell dann Ersatz verlangt werden, wenn der oder die LeistungsbezieherIn für den gleichen Zeitraum Dritten gegenüber entsprechende Ansprüche hatte (Personen, die zum Unterhalt verpflichtet gewesen wären).
Zum Ersatz verpflichtet sind neben den LeistungsempfängerInnen deren Eltern, insoweit die BezieherInnen zum Zeitpunkt des Leistungsbezugs noch nicht volljährig waren. Von Kindern, Enkelkindern oder Großeltern darf kein Ersatz gefordert werden. Ebenfalls nicht zum Ersatz herangezogen werden dürfen Personen, denen (frühere) BezieherInnen von Leistungen ein Vermögen ohne adäquate Gegenleistung übertragen haben. Die Verjährungsfrist für Ersatzansprüche beträgt in der Regel drei Jahre.
Anmerkungen
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Organisation und Verfahren
Grundsätzlich ist jedes Bundesland Träger der BMS, und zwar sowohl im Bereich der Hoheitsverwaltung als auch als Träger von Privatrechten.
Hilfestellungen jeglicher Art können nur dann rechtzeitig erbracht werden, wenn die für die Erbringung der Leistungen zuständigen BMSTräger auf die Notlage von Hilfsbedürftigen und der im gemeinsamen Haushalt lebenden Angehörigen aufmerksam wird. Dies setzt voraus, dass entweder ein Antrag auf Zuerkennung von BMSLeistungen eingebracht oder die zur Entscheidung zuständige Stelle auf andere Weise (Volkshilfe, Caritas etc.) Kenntnis von der Hilfsbedürftigkeit erlangt.
Antragsstellung und OneStopShopAnträge auf BMS können in jenem Bundesland eingebracht werden, in dem der oder die AntragsstellerIn ihren Hauptwohnsitz, oder in Ermangelung eines solchen, ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Orte der Antragsstellung sind traditionell Bezirksverwaltungsbehörden, Sozialämter sowie in Wien die Sozialzentren. Seit der Einführung der BMS ist es zusätzlich möglich, Anträge in den Geschäftsstellen des Arbeitsmarktservice (AMS) einzubringen, die von dort an die für die BMS zuständigen Behörden weitergeleitet werden. Sinn dieser als OneStopShop bezeichneten Praxis ist das Ermöglichen einer gemeinsamen Beantragung von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosengeld, Notstandshilfe) mit den oftmals ergänzenden Leistungen der BMS. Die Bearbeitung der Anträge und die Auszahlung der Leistung erfolgt nur durch Bezirksverwaltungen, Sozialämter und Sozialzentren, nicht durch das AMS. Als eingebracht gilt ein Antrag auf BMS mit dem Einlangen in der auszahlenden Stelle und nicht mit Abgabe beim AMS, das lediglich für die ungeprüfte Weiterleitung zuständig ist.
Nähere Regelungen in Bezug auf die Antragstellung bzw. die Verpflichtung zur Entscheidung ergeben sich aus den einzelnen Landesgesetzen. Sowohl in den Bezirkshauptmannschaften als auch in den Magistratischen Bezirksämtern gibt es eigene Referate, an die sich Auskunftssuchende wenden können. Darüber hinaus gibt es auch auf Landesebene Abteilungen, denen ein oder eine für Mindestsicherungsangelegenheiten zuständige(r) Landesrat/Landesrätin vorsteht.
Die Einführung des OneStopShops galt als eine der zentralen Neuerungen in der BMS. Sie war jedoch aufgrund der Kompetenzüberschneidungen von Sozialämtern (Gemeinden) und AMS (Bund) von Beginn an umstritten. In der praktischen Umsetzung stellt die ungeprüfte Weiterleitung der Anträge durch das AMS oft ein Problem dar, da die weitergeleiteten Unterlagen vielfach unvollständig sind und umfangreicher Nachbearbeitung bedürfen.
Leistungszugang und VerfahrenAus den Erfahrungen der Vergangenheit hat sich bei der Konzeption der BMS die Einsicht verfestigt, dass das Verfahrensrecht auf die besonderen Bedürfnisse und die Vulnerabilität der BMS beantragenden Personen Bedacht genommen werden muss.
Anmerkungen
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Darunter fallen:
● die Zulassung der Antragseinbringung bei allen dafür geeigneten Stellen (siehe „OneStopShop“),
● eine großzügige Definition des zur Antragstellung berechtigten bzw. zur Vertretung befugten Personenkreises und nicht wie bisher nur durch die sogenannten „Haushaltsvorstände“ und
● die ausdrückliche Verankerung von Informations und Anleitungspflichten der Behörden.
Ausdrückliches Ziel der BMS ist die Beschleunigung des Verfahrens. Dabei wurde eine dezidierte Mitwirkungspflicht der AntragsstellerInnen und bei Nichteinhaltung die Verhängung von Sanktionen beschlossen. Weiters wurde die Verkürzung der Entscheidungspflicht (zumindest in der ersten Instanz) auf höchstens drei Monate vereinbart sowie die Schaffung von Möglichkeiten zu effektiver Soforthilfe in besonderen Notfällen.
Ein ebenfalls zentrales Ziel bei der Entwicklung der BMS war die Verbesserung der Rechtssicherheit und des Rechtsschutzes der Betroffenen im Verhältnis zu den in der Vergangenheit oft kritisierten Sozialhilfegesetzen. Darunter fällt die Verpflichtung zur Ausstellung eines schriftlichen Bescheids, wenn geringere als die in der Art. 15a BVG Vereinbarung festgelegten Mindeststandards zugesprochen werden oder wenn die Partei (die zu ihrer Vertretung befugte Person) einen Bescheid verlangt. Entscheidungen in einem allfälligen Berufungsverfahren haben jedenfalls schriftlich zu erfolgen. Die Möglichkeit, einen Berufungsverzicht zu vereinbaren, ist grundsätzlich ausgeschlossen.
Die verfahrensrechtlichen Vereinbarungen sollen dazu beitragen die Ermessensspielräume der Sozialhilfe/BMSBehörden einzuengen. Diesen wird seit Jahren von Hilfsorganisationen „Willkür“ bei der Leistungswährung vorgeworfen. Das Bekämpfen dieses Zustandes war jedoch vielfach mangels Handhabe es gab keinen Bescheid gegen den berufen werden konnte nicht oder kaum möglich. In diesem Zusammenhang ist auch die Nontakeuprate zu erwähnen, der Anteil jener Menschen, die zwar Anspruch auf eine (Sozialhilfe/BMS)Leistung hätten, sie aber nicht in Anspruch nehmen. Die Gründe für diese Nichtinanspruchnahme reichen von Informationsmangel über Stigmatisierung der AntragsstellerInnen bis hin zur abschreckenden Wirkung von Rückzahlungsbestimmungen. Der Anteil der Nichtinanspruchnahme schwankt stark von Bundesland zu Bundesland, wobei im Allgemeinen davon ausgegangen wird, dass die Quote in Wien am niedrigsten ist. Eines der zentralen Ziele der BMS ist die Reduzierung der Nontakeuprate.
7. Warum wurden mit der BMS viele verfahrensrechtliche Veränderungen eingeführt?
Anmerkungen
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Exkurs: Unterschiede zwischen BMS und Sozialhilfe
Wie bereits zu Beginn dieses Skriptums ausgeführt, waren die der BMS vorangegangenen Sozialhilfegesetze – trotz einer Vielzahl von Adaptierungen – bereits drei bis vier Jahrzehnte in Kraft. Die in diesem Zeitraum stattgefundenen wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen haben dazu geführt, dass das letzte soziale Netz in vielen Bereichen neu konzipiert werden musste.
Ursprünglich war die Sozialhilfe dafür gedacht, jene (wenigen) Menschen aufzufangen, die in der Vollbeschäftigungsgesellschaft der 1970er Jahre die – voraussichtlich kurze – Phase der Erwerbslosigkeit nicht aus eigener Kraft überwinden konnten. Aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklungen der 1980er Jahre (Ende des Austrokeynesianismus und der Vollbeschäftigungspolitik, damit steigende Arbeitslosigkeit und Schwächung der ArbeitnehmerInnenvertretungen, Siegeszug des Neoliberalismus) hat die Sozialhilfe ein Ausmaß erreicht, für das sie nicht vorgesehen war. Entsprechend waren auch einige der gesetzlichen Regelungen immer weniger zeitgemäß. Die folgende Tabelle gibt einen kurzen Überblick über die wichtigsten Unterschiede zwischen den bisher gültigen Sozialhilfegesetzen und der Bedarfsorientierten Mindestsicherung.
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Tabelle: BMSRichtsätze (in Euro)7
2013 2014
Richtsätze insgesamt (100 %)
brutto netto brutto netto
Alleinstehende und AlleinerzieherInnen 837,63 794,91 857,73 813,99
(Ehe)Paare 1255,89 1192,37 1286,03 1220,98
jeder weitere, in der Bedarfsgemeinschaft lebende Erwachsene 418,82 397,46 428,87 406,99
1.3. Kind mit Anspruch auf FB* 150,77 143,08 154,39 146,52
ab. dem 4. Kind mit Anspruch auf FB* 125,64 119,24 128,66 122,10
Leistungen zur Deckung des Lebensunterhaltes (75%)
brutto netto brutto netto
Alleinstehende und AlleinerzieherInnen 628,22 596,18 643,30 610,49
(Ehe)Paare 941,92 894,27 964,52 915,74
jeder weitere, in der Bedarfsgemeinschaft lebende Erwachsene 314,11 298,09 321,65 305,25
1.3. Kind mit Anspruch auf FB* 113,08 107,31 115,79 109,89
ab. dem 4. Kind mit Anspruch auf FB* 94,23 89,43 96,49 91,57
Leistungen zur Deckung des Wohnbedarfs (25%)
brutto netto brutto netto
Alleinstehende und AlleinerzieherInnen 209,41 198,73 214,43 203,50
(Ehe)Paare 313,97 298,09 321,51 305,25
jeder weitere, in der Bedarfsgemeinschaft lebende Erwachsene 104,70 99,36 107,22 101,75
1.3. Kind mit Anspruch auf FB* 37,69 35,77 38,60 36,63
ab. dem 4. Kind mit Anspruch auf FB* 31,41 29,81 32,16 30,52
* Ohne Berücksichtigung von Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag. ** nach Abzug des Beitrags zur gesetzlichen Krankenversicherung (jeweils 5,1%).
FB = Familienbeihilfe
7 ohne Leistungen der Länder auf Privatrechtsbasis
Tabellle: Wichtige Unterschiede zwischen BMS und Sozialhilfe
Sozialhilfe BMS
Rückzahlungspflicht von Leistungen bei Arbeits(wieder)aufnahme
ja (teilweise nicht exekutiert) nein, Einführung eines WiedereinsteigerInnenfreibetrags
Regressmöglichkeiten gegenüber Angehörigen
sehr weitreichend (Kinder, Eltern von erwachsenen Kindern)
stark eingeschränkt (Erben max. im Ausmaß der Erbschaft)
Information und Einreichung Bei Sozialämtern und Bezirksverwaltungsbehörden
Zusätzlich beim AMS
die Einbeziehung in die gesetzliche Krankenversicherung
neinstattdessen Krankenhilfe
jainkl. Rezeptgebührenbefreiung
Arbeitsmarkt kaum Einbeziehung in AMSMaßnahmen
arbeitsfähige BMSBezieherInnen werden in die Beratungs und Betreuungsangebote des AMS einbezogen
Leistungen der Arbeitslosenversicherung Einbau mindestsichernder Elemente in der Notstandshilfe
Vermögensverwertung meist gänzliches Aufbrauchen des Ersparten vor Inanspruchnahme
Beträge bis zur 5fachen Höhe der BMS können behalten werden
Anmerkungen
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Beantwortung der Fragen
F 1: Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte. Zu nennen sind dabei vor allem die Atypisierung der Arbeitsverhältnisse, die oft in die Prekarität führt sowie die Individualisierung der Lebensrealitäten, die unregelmäßige Erwerbsbiographien und das Aufweichen klassischer Rollenmuster mit sich gebracht hat. Nicht zuletzt hat sich das Instrument der Sozialhilfe als nicht (mehr) ausreichend erwiesen, Armut und Armutsgefährdung wirksam zu bekämpfen.
F 2: Leistungen aus der Sozialversicherung stehen verpflichtende Beitragszahlungen gegenüber, die mehr (Alterspension) oder weniger (Krankheit) stark von der Beitragshöhe abhängig sind. Die Einbeziehung in die Sozialversicherung ist von der Teilnahme am Erwerbsleben abhängig (wichtigste Ausnahme: mitversicherte Personen). Leistungen der BMS sind von Beitragszahlungen unabhängig und werden gewährt, soweit der Lebensunterhalt nicht aus anderen Mitteln (Arbeit, Unterhalt,…) gesichert werden kann.
F 3: Abhängig vom konkreten Einzelfall können alle der genannten Sicherungssysteme für von Armut betroffene Menschen relevant werden. So kann eine betroffene Person gleichzeitig BMS und für von ihr abhängige Minderjährige Familienbeihilfe beziehen. Sollte diese Person zusätzlich zu diesen Leistungen auch einer Erwerbsarbeit nachgehen, so hat sie (in den meisten Fällen auch) Anspruch auf Leistungen aus der Sozialversicherung, wie Arbeitslosen oder Krankengeld.
F 4: Hilfe in Form einer pauschalen Geldleistung: ● Finanzielle Unterstützung zur Sicherung von Lebensunterhalt und
Wohnbedarf. ● Subsidiarität (Nachrangigkeit): ● Potenzielle AntragsstellerInnen haben nur Anspruch auf eine Leis
tung, wenn sonst keine Möglichkeiten zur Sicherung des Lebensbedarfs bestehen.
Stabilisierung und Wiedereingliederung: ● Die BMS soll helfen, arbeitsfähige Menschen durch (Re)Integration
in den Arbeitsmarkt aus der Armut zu befreien. Für Personen, bei denen das keine Option ist, ist das Ziel die Schaffung einer Situation frei von Existenzängsten.
Schaffung von Mindeststandards: ● Um zu verhindern, dass die Unterstützung von Bedürftigen von
behördlicher Willkür abhängig ist, wurden österreichweite Mindeststandards für die BMS geschaffen, die von den Ländern ergänzt aber nicht unterschritten werden können.
F 5: Die drei von der BMS abgedeckten Bedarfsbereiche sind der Lebensunterhalt, mit dem der Aufwand für die sogenannte soziale und kulturelle Teilhabe abgedeckt werden soll, der Wohnbedarf, der Miete, Betriebskosten und diverse Gebühren umfasst und der Schutz bei Krankheit, Schwangerschaft und Entbindung mit Einbeziehung in die gesetzliche Krankenversicherung.
Unerwartete Zusatzausgaben wie die Neuanschaffung einer kaputten Waschmaschine oder eines Herds werden im Rahmen der Privatrechtsverwaltung gewährt. Daher ist die Zuerkennung der dafür notwendigen finanziellen Mittel im behördlichen Ermessen und nicht einklagbar.
Anmerkungen
26
F 6: Antragsstellende Personen müssen bereit sein, eine Beschäftigung anzunehmen, wobei sie in Bezug auf Arbeitsfähigkeit und Zumutbarkeit grundsätzlich denselben Kriterien unterliegen wie in der Notstandshilfe. Es bestehen aber für diverse Personengruppen Ausnahmen, vor allem in Bezug auf Betreuungsaufgaben. Weiters sind vorhandene finanzielle Mittel, wie Einkommen, Vermögen (unter Berücksichtigung des Vermögensfreibetrags) oder Unterhaltsansprüche Dritten gegenüber zu berücksichtigen. Das Verkaufen einer Eigentumswohnung oder eines Eigenheimes, die als Hauptwohnsitz dienen, ist jedoch nicht notwendig. Wird über die vorhandenen finanziellen Mittel weitere Hilfe benötigt, besteht Anspruch auf die BMS.
F 7: Die Änderungen sollen dazu beitragen, dass die in der Sozialhilfe oft kritisierte hohe Nichtinanspruchnahme reduziert wird. Durch die verpflichtende Bescheidausstellung soll der behördliche Ermessensspielraum verringert und die Einklagbarkeit der Leistung erleichtert werden. Die Betroffenen sollen damit leichter der Rolle als „BittstellerInnen“ entziehen können. Der OneStopShop soll zusätzlich dazu beitragen, die Stigmatisierung durch die Antragsstellung bei Bezirks ämtern, die vor allem in kleinen Gemeinden oft ein Problem war („soziale Kontrolle“), zu reduzieren.
Anmerkungen
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Literatur– Badelt/Österle, Grundzüge der Sozialpolitik, Spezieller Teil, 2. Auflage,
Manz, Wien, 2001– Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, Ar
muts und Ausgrenzungsgefährdung in Österreich, Ergebnisse aus EUSILC 2011, Studie der Statistik Austria im Auftrag des BMASK, März 2013.
– Fuchs, Michael: NichtInanspruchnahme von Sozialleistungen am Beispiel der Sozialhilfe, in: Handbuch Armut in Österreich, Studienverlag, 2009, 290 – 301.
– Kammer für Arbeiter und Angestellte: Sozialleistungen im Überblick, Lexikon der Ansprüche und Leistungen, Ausgabe 2013, ÖGBVerlag, 2013
– Österreichischer Nationalrat: Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern gemäß Art. 15a BVG über eine bundesweite Bedarfsorientierte Mindestsicherung – inkl. Erläuterungen, Juli 2010.
– Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung: Umverteilung durch den Staat in Österreich, Wien, Juli 2009.
– Pratscher, Sozial(hilfe)leistungen der Bundesländer 2003 und im Jahrzehnt 1994 bis 2003, in Statistische Nachrichten 4/2004, Wien
– Pratscher, Kurt, Bedarfsorientierte Mindestsicherung der Bundesländer im Jahr 2011, in: Statistische Nachrichten 1/2013, 6376.
– Pfeil, Vergleich der Sozialhilfesysteme der österreichischen Bundesländer, BMSG, Wien, 2001
– Resch, Sozialrecht, 3. Auflage, Manz, Linz, 2005