staatshaftung wegen fehlerhafter richtlinienumsetzung - haftungsfall leiharbeitsrichtlinie
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Staatshaftung wegen fehlerhafter Richtlinienumsetzung – Haftungsfall Leiharbeitsrichtlinie?
RA, FAArbR Dr. André Zimmermann, LL. M., Counsel bei King & Wood Mallesons LLP, Frankfurt a. M.
Ende 2014 hat eine Leiharbeitnehmerin die Bundesrepublik vor dem LG Berlin wegen
unzureichender Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie auf Schadensersatz verklagt. Der
deutsche Gesetzgeber habe es – richtlinienwidrig – versäumt, den dauerhaften Einsatz von
Leiharbeitnehmern zu gegenüber vergleichbaren Stammarbeitnehmern schlechteren
Bedingungen zu unterbinden. Der Beitrag gibt zunächst einen Überblick über den
unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch. Anschließend untersucht er, ob die Umsetzung
der Leiharbeitsrichtlinie Ende 2011 tatsächlich ein Haftungsfall ist.
I. Einleitung
Für die Angleichung des Arbeitsrechts in der Union spielen Richtlinien eine herausragende Rolle. Sie
sind für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen ihnen jedoch
die Wahl der Form und der Mittel (Art. 288III AEUV). Setzt der nationale Gesetzgeber Richtlinien nicht,
nicht fristgemäß oder inhaltlich unzureichend um, kommt ein Staatshaftungsanspruch in Betracht,
wenn richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich ist. Aktuell wird das mit Blick auf die Umsetzung der
Leiharbeitsrichtlinie vor dem Hintergrund einer anhängigen Staatshaftungsklage diskutiert.
II. Der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch im Überblick
„Erfunden“ hat der EuGH den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch vor über 20 Jahren in der
Rechtssache Francovich (EuGH, NJW 1992, 165). Weitere „leading cases“ des EuGH sind Brasserie du
Pêcheur (EuGH, NJW 1996, 1267), Dillenkofer (EuGH, NJW 1997, 2585) und MP Travel Line (EuGH,
NJW 1996, 3141).
1. Voraussetzungen
Der EuGH formuliert drei Voraussetzungen für den Haftungsanspruch:
a. Verstoß gegen individual begünstigende Regelung: Die fragliche Richtlinienbestimmung muss
die Verleihung von individuellen Rechten bezwecken und somit individuell begünstigend wirken.
Die Anforderungen des EuGH sind nicht hoch. Ausreichend ist, dass die Regelung nicht allein dem
Interesse der Allgemeinheit dient, sondern zumindest auch die Verleihung individueller Rechte
bezweckt (vgl. Urteil Brasserie du Pêcheur, Rn. 54). Allerdings muss die Norm hinreichend bestimmt
sein: Der Richtlinie muss im Wege der Auslegung ein Mindestinhalt des zu verleihenden Rechts
entnommen werden können, ein „Mindestrecht“ (vgl. Urteil Francovich, Rn. 15-22, 40; Urteil
Dillenkofer, Rn. 43-45; Grabitz/Hilf/Nettesheim/v. Bogdandy/Jacob, Das Recht der Europäischen Union,
54. EL 2014, Art. 340 AEUV, Rn. 159).
Im Fall Francovich ließ sich etwa der Richtlinie 80/987/EWG eine Mindestgarantie entnehmen. Ziel der
Richtlinie ist es, den Arbeitnehmern bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers die Befriedigung ihrer
nicht erfüllten Ansprüche zu garantieren. Auch wenn die Richtlinie den Mitgliedstaaten einen gewissen
Gestaltungsspielraum bei der Festsetzung der Garantie einräumt, steht das Ziel Mindestgarantie klar
fest. In der Rechtssache Dillenkofer zur Richtlinie 90/314/EWG über Pauschalreisen hat der EuGH der
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Richtlinie die Verleihung eines Rechts an den Pauschalreisenden entnommen, das die Sicherstellung der
Erstattung der von ihm gezahlten Beträge und der Rückreise enthält. Den Inhalt dieses Rechts hielt das
Gericht für hinreichend bestimmt.
b. Qualifizierter Verstoß: Der Verstoß gegen die individual begünstigende Regelung muss
hinreichend qualifi
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ziert sein. Nur ein gravierender Verstoß soll Haftungsansprüche auslösen. Das bejaht der EuGH ohne
weiteres bei der Versäumung der Umsetzungsfrist und wenn bereits ein Urteil in der Welt ist – etwa
nach einem vorangegangenen Vertragsverletzungs- oder Vorabentscheidungsverfahren, das den
Verstoß festgestellt hat (so etwa im Fall Francovich).
Bei inhaltlichen Umsetzungsdefiziten sind die Anforderungen deutlich höher. Der Mitgliedstaat
muss die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten
haben (Urteil Brasserie du Pêcheur, Rn. 55; Urteil Dillenkofer, Rn. 23; v. Bogdandy/Jacob, a. a. O., Rn.
161). Ob das der Fall ist, entscheidet der nationale Richter. Er muss hierbei u. a. das Maß an Klarheit
und Genauigkeit der verletzten Vorschrift, den Umfang des Ermessensspielraums, den die verletzte
Vorschrift dem Mitgliedstaat lässt, die Frage, ob der Verstoß vorsätzlich begangen oder der Schaden
vorsätzlich zugefügt wurde und die Entschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums (Urteil Brasserie du
Pêcheur, Rn. 56) berücksichtigen.
c. Unmittelbare Kausalität; Schließlich muss zwischen Umsetzungsdefizit und entstandenem
Schaden ein unmittelbarer und adäquater Kausalzusammenhang bestehen. Der Schadenseintritt darf
nicht außerhalb der allgemeinen Lebenserfahrung liegen. Hier gelten dieselben Grundsätze, die im
nationalen Recht mit der Adäquanztheorie beschrieben werden.
2. Rechtsfolgen
Liegen diese drei Voraussetzungen vor, muss der Staat dem Einzelnen den Schaden ersetzen, der
dadurch entstanden ist, dass die Richtlinie nicht, nicht fristgemäß oder inhaltlich unzureichend
umgesetzt wurde. Über die Art und Höhe des Schadensersatzanspruchs entscheiden die nationalen
Gerichte. Sie sind aber an gewisse europarechtliche Vorgaben gebunden. So kann etwa ein
entgangener Gewinn nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden (Urteil Brasserie du Pêcheur, Rn. 82
und 87).
Noch nicht geklärt ist das Verhältnis des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs zum
Haftungsanspruch aus Art. 34 GG i. V. m. § 839 BGB (vgl. MüKoBGB/Papier, 6. Auflage 2013, § 839
BGB Rn. 103 m. w. N.). Die praktisch wichtige Frage, welches Verjährungsregime gilt, ist inzwischen
beantwortet. Der EuGH hat die Geltung der allgemeinen Verjährungsfrist in § 195 BGB anerkannt
(EuGH, NVwZ 2009, 771; vgl. dazu Armbrüster/Kämmerer, NJW 2009, 3601).
III. Haftungsfall Leiharbeitsrichtlinie?
Aktuell wird die Haftung für fehlerhafte Richtlinienumsetzung mit Blick auf die Umsetzung der
Leiharbeitsrichtlinie Ende 2011 diskutiert. Eine Leiharbeitnehmerin macht vor dem LG Berlin
Schadensersatzansprüche gegen die Bundesrepublik geltend, weil der Gesetzgeber sie nicht wirksam
vor dauerhafter Überlassung zu gegenüber vergleichbaren Stammarbeitnehmern schlechteren
Bedingungen schütze. Das verlange die Richtlinie aber.
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1. Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie Ende 2011
Bis zum Erlass der Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG war es in Deutschland (seit 2003) zulässig,
Leiharbeitnehmer dauerhaft und damit ohne zeitliche Höchstgrenze zu überlassen. Nach Meinung
vieler Arbeitsrechtler verstößt eine solche dauerhafte Arbeitnehmerüberlassung jedoch gegen die
Leiharbeitsrichtlinie, die bis zum 5.12.2011 in nationales Recht umzusetzen war. Das AÜG legt in § 1I 2
dementsprechend seit 1.12.2011 fest, dass die Überlassung von Arbeitnehmern „vorübergehend“
erfolgt (vgl. zur AÜG-Reform 2011 Zimmermann, ArbRAktuell 2011, 62).
Die Vorschrift enthält nach der Rechtsprechung des BAG ein ausdrückliches Verbot der mehr als
vorübergehenden Überlassung. Beabsichtigt der Entleiher einen mehr als vorübergehenden Einsatz von
Leiharbeitnehmern, hat der Betriebsrat des Entleihers ein Zustimmungsverweigerungsrecht nach §
99II Nr. 1 BetrVG wegen Gesetzesverstoßes (BAG, ArbRAktuell 2013, 357 m. Anm. Lingemann; BAG,
ArbRAktuell 2015, 82 m. Anm. Söhl).
In gefestigter Rechtsprechung lehnt das BAG das Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses mit dem
Einsatzunternehmen mangels gesetzlicher Grundlage ab (BAG, ArbRAktuell 2014, 15 m. Anm. Bauer;
BAG, ArbRAktuell 2014, 436 m. Anm. Chwalisz). Andere Sanktionen (Bußgeld, Versagung, Rücknahme
oder Widerruf der Erlaubnis) sieht das AÜG für die mehr als vorübergehende Überlassung nicht vor,
wobei ein mehrfacher systematischer Verstoß gegen das Verbot der vorübergehenden Überlassung
Zweifel an der Zuverlässigkeit des Verleihers begründen wird und damit die allgemeinen verwaltungs-
und gewerberechtlichen Sanktionen auslösen kann (vgl. ErfK/Wank, 15. Auflage 2015, § 1 AÜG Rn. 37
f.).
2. Schadensersatzklage vor dem LG Berlin
Eine Leiharbeitnehmerin hält das für eine unzureichende Umsetzung der Vorgaben der
Leiharbeitsrichtlinie und hat die Bundesrepublik Deutschland Anfang Dezember 2014 vor dem LG Berlin
auf Schadensersatz i. H. v. ca. 30.000 EUR verklagt (Az. 28 O 6/15).
Die Klägerin ist bei einem Zeitarbeitsunternehmen angestellt und seit mehr als acht Jahren in einer
Klinik auf demselben Arbeitsplatz tätig. Sie wird nach Tarifverträgen der Zeitarbeit bezahlt und verdient
deutlich weniger als Stammarbeitnehmer der Klinik. Die Vergütungsdifferenz der letzten drei Jahre
verlangt sie als Schadensersatz vom Staat. Sie macht geltend, die Leiharbeitsrichtlinie lasse eine
dauerhafte Ungleichbehandlung von Leiharbeitnehmern nicht zu. Im AÜG fehlten aber entgegen Art.
10II der Leiharbeitsrichtlinie wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen bei mehr als
vorübergehender Überlassung. Zum Schutz dauerhaft überlassener Arbeitnehmer hätte der
Gesetzgeber Sanktionen in Form von individuellen Ansprüchen gesetzlich festschreiben müssen. Auch
die Rechtsprechung habe diese Lücke nicht geschlossen. Schließlich ziehe die Agentur für Arbeit als
zuständige Ver
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waltungsbehörde in ihrer Prüfungspraxis keine Konsequenzen aus dem Verbot der mehr als
vorübergehenden Überlassung.
3. Das finnische Vorlageverfahren AKT
Auslöser für die Klageerhebung Anfang Dezember 2014 dürften die Schlussanträge des zuständigen
Generalanwalts Szpunar am 20.11.2014 im finnischen Vorlageverfahren AKT (BeckRS 2014, 82404)
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gewesen sein. Er betonte, dass Leiharbeitsverhältnisse „vorübergehender Art“ seien. Leiharbeit sei eine
atypische Arbeitsform, die den Regelfall der direkten Anstellung nicht verdrängen dürfe. Ein Missbrauch
von Leiharbeit sei anzunehmen und könne ohne Verstoß gegen die Richtlinie von Mitgliedstaaten
verboten werden, wenn Leiharbeitnehmer neben Stammarbeitnehmern bei dauerhaftem Bedarf für
längere Zeit eingesetzt werden. Hier schien sich die Klägerin in ihrer Auffassung bestätigt zu sehen.
Anders als der Generalanwalt hat sich der EuGH dann in seinem Urteil vom 17.3.2015 nicht mehr mit
der Frage auseinandersetzen müssen, ob der dauerhafte Einsatz von Leiharbeitnehmern statt
Stammarbeitnehmern nach der Leiharbeitsrichtlinie unzulässig ist (EuGH, BeckRS 2015, 80381). Er hat
nur die erste Vorlagefrage beantwortet, ob Art. 4I der Leiharbeitsrichtlinie nationale Behörden und
Gerichte verpflichte, nationale Vorschriften unangewendet zu lassen, die gegen die Richtlinie
verstoßen.
Hier sieht der EuGH nur eine Überprüfungsverpflichtung der national zuständigen Behörden – keine
Pflicht der Gerichte, nationale Vorschriften nicht anzuwenden, die mit der Richtlinie unvereinbar
scheinen. Ggfs. waren daher die Mitgliedstaaten veranlasst, ihre nationalen Regelungen über Leiharbeit
nach entsprechender Prüfung zu ändern. Es stehe den Mitgliedstaaten jedoch frei, nicht gerechtfertigte
Verbote oder Einschränkungen aufzuheben oder anzupassen. Art. 4I der Richtlinie schreibe den
Mitgliedstaaten nicht den Erlass einer bestimmten Regelung vor, sondern lege nur den Rahmen fest, in
dem sich ihre Regelungstätigkeit abspielen dürfe.
4. Kein ausdrückliches Verbot der dauerhaften Überlassung
Die Erfolgsaussichten der Schadensersatzklage sind eher gering. Die Leiharbeitsrichtlinie enthält
zunächst kein ausdrückliches Verbot der dauerhaften Überlassung. Generalanwalt Szpunar entnimmt in
seinen Schlussanträgen in dem finnischen Vorlageverfahren AKT der Richtlinie allerdings das Ziel, die
Verdrängung von eigenen, auf Dauerarbeitsplätzen eingesetzten Arbeitnehmern durch
missbräuchlichen Einsatz von Leiharbeit zu unterbinden (BeckRS 2014, 82404, Rn. 120 f. vgl. zuvor
schon Hamann, RdA 2014, 271, 276; Düwell, ZESAR 2011, 449, 454 f.).
5. Keine hinreichende Bestimmtheit – Wahlfreiheit bei der Ausgestaltung der Sanktionen
Die Erreichung dieses Ziels, wenn man es der Richtlinie entnehmen will, ist aber auf vielen Wegen
möglich. Insoweit fehlt es der Richtlinie an der erforderlichen hinreichenden Bestimmtheit, wie dieses
Ziel zu erreichen ist (vgl. Hamann, a. a. O., 277). Der Richtlinie lässt sich – anders als in den
Rechtssachen Francovich und Dillenkofer – insbesondere nicht entnehmen, welchen Mindestinhalt
eine Sanktion der mehr als vorübergehenden Überlassung haben muss. Die Richtlinie verpflichtet in
Art. 5V die Mitgliedstaaten nur generell, „die erforderlichen Maßnahmen gemäß ihren nationalen
Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten“ zu ergreifen. In Art. 10II heißt es: „Die Mitgliedstaaten
legen die Sanktionen fest, die im Falle eines Verstoßes gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur
Umsetzung dieser Richtlinie Anwendung finden, und treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um deren
Durchführung zu gewährleisten. Die Sanktionen müssen wirksam, angemessen und abschreckend
sein.“
Die Mitgliedstaaten haben damit Wahlfreiheit bei der Ausgestaltung der Sanktionen. Hier ist vieles
denkbar: Equal Pay ohne Ausnahme (wie im Koalitionsvertrag „Deutschlands Zukunft gestalten“ nach
neun Monaten vorgesehen), Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses mit dem Entleiher, Geldbußen
gegen Verleiher und Entleiher und der Widerruf der Erlaubnis (vgl. Hamann, a. a. O.). Es ist damit
schon unklar, ob die Sanktion ein subjektives Recht des einzelnen Leiharbeitnehmers sein muss. Erst
recht ergibt sich aus der Richtlinie nicht, dass ein nicht dispositives Equal Pay erforderlich ist. Das ist
nur eine mögliche Sanktion.
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Lässt das Unionsrecht den Mitgliedstaaten aber einen solchen Spielraum, muss der nationale
Gesetzgeber sein Regelungsermessen offenkundig und schwerwiegend überschreiten, um
Staatshaftungsansprüche unter dem Gesichtspunkt des legislativen Unrechts auszulösen.
Leiharbeitnehmer sind aber auch nach geltendem Recht nicht schutzlos gestellt: Das BAG nimmt ein
Zustimmungsverweigerungsrecht des Betriebsrats im Einsatzbetrieb an, wenn Leiharbeitnehmer mehr
als vorübergehend überlassen werden (vgl. oben III. 1.). Sie dürfen bei einer wirksamen
Zustimmungsverweigerung daher nicht eingesetzt werden. Die dauerhafte Substitution von
Stammarbeitnehmern durch Leiharbeitnehmer wird so jedenfalls erschwert. Der Gestaltungsspielraum,
den die Richtlinie lässt, dürfte damit nicht offenkundig überschritten sein.
6. Vertragsverletzungsverfahren
Die Klägerin hat Anfang 2015 auch die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahren gegen die
Bundesrepublik bei der Europäischen Kommission beantragt. Mitte März 2015 hat die Kommission
bestätigt, dass sie Vorermittlungen aufgenommen hat (CHAP (2015) 00716). Von vornherein völlig
aussichtlos erscheint dieser Antrag daher nicht. Immerhin hat die Kommission in ihrem Bericht über die
Anwendung der Leiharbeitsrichtlinie vom 21.3.2014 (COM (2014) 176) festgestellt, dass „bestimmte,
häufig angewandte Ausnahmen vom Gleichbehandlungsgrundsatz in einigen Fällen möglicherweise
dazu geführt [haben], dass die Anwendung der Richtlinie keine effektive Verbesserung des Schutzes
der Leiharbeitnehmer herbeigeführt hat.“
Zimmermann: Staatshaftung wegen fehlerhafter Richtlinienumsetzung – Haftungsfall
Leiharbeitsrichtlinie? (ArbRAktuell 2015, 165)
Die Bundesrepublik wird hier freilich nicht explizit genannt.
Nach dem Bericht wird die Kommission die Anwendung der Richtlinie auch weiterhin unter
Berücksichtigung der künftigen Entwicklungen im Bereich Arbeitsrecht und Leiharbeit genau
überwachen, um sicherzustellen, dass ihre Ziele angemessen verwirklicht und ihre Bestimmungen in
allen Mitgliedstaaten in vollem Umfang und korrekt in nationales Recht umgesetzt werden. Ggfs. werde
sie auch Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten einleiten, heißt es dort weiter.
Ob die Kommission ein Verfahren einleitet, liegt in ihrem Ermessen. Tut sie es, muss sie dem
Mitgliedstaat zunächst durch ein informelles Mahnschreiben Gelegenheit zur Stellungnahme geben.
Anschließend gibt sie eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab. Kommt der Staat dieser
Stellungnahme innerhalb der von der Kommission gesetzten Frist nicht nach, so kann die Kommission
den EuGH anrufen. Allerdings dürfte dann bereits die im Koalitionsvertrag vereinbarte Gesetzesreform
in Kraft getreten sein, die zwingend Equal Pay nach neun Monaten vorsieht (vgl. dazu Zimmermann,
ArbRAktuell 2013, 613).
V. Fazit
Unklarer Tatbestand, unklare Rechtsfolge – die gesetzgeberische „Performance” (Rieble/Vielmeier,
EuZA 2011, 475, 486) mag beschränkt gewesen sein, als er § 1I 2 Ende 2011 in das AÜG einfügte.
Staatshaftung scheidet jedoch aus. Auch wenn der Fingerzeig aus Luxemburg ausgeblieben ist, darf
gehofft werden, dass bei der angekündigten AÜG-Reform, die wohl erst 2016 ansteht, die
entscheidenden Punkte dieses Mal klar geregelt werden. Das gilt vor allem für den Bezug der geplanten
Höchstüberlassungsdauer (arbeitnehmer- oder arbeitsplatzbezogen?) und die Folgen eines Verstoßes.
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