standardisiertes einwirkungsmodell zur bemessung von wildbachsperren unter mureinwirkung

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792 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin. Bautechnik 90 (2013), Heft 12 DOI: 10.1002 / bate.201300064 AUFSATZ Jürgen Suda*, Johannes Hübl, Florian Rudolf-Miklau Standardisiertes Einwirkungsmodell zur Bemessung von Wildbachsperren unter Mureinwirkung 1 Problemstellung 1.1 Einwirkungsmodell für Murprozesse In Wildbächen – nach ONR 24800 [1] typischen Fließge- wässern des Gebirges mit streckenweise großem Gefälle, rasch und stark wechselnden Abflüssen und zeitweise hoher Feststoffführung – findet nach Starkregenereignis- sen häufig ein Übergang von hochwasserartigen zu mur- artigen Fließprozessen statt. Muren zählen zu den murar- tigen Fließprozessen mit sehr hoher Feststoffkonzentra- tion (siehe Tab. 2). Sie bestehen aus einer Suspension von Wasser, Feststoffen und Wildholz, die sich dann entwi- ckelt, wenn in kurzer Zeit große Geschiebemengen (z. B. nach Hanganbrüchen, Sohlverflüssigung oder einem Ver- klausungsbruch) verfügbar werden. Murprozesse folgen anderen hydraulischen Gesetzmäßigkeiten als Hochwäs- ser, zeichnen sich durch eine hohe Prozessenergie (Fließ- geschwindigkeit, dynamische Einwirkungen auf Hinder- nisse) aus und können auch extrem große Komponenten (Blöcke, Baumstämme) transportieren [2]. Die Zerstö- rungskraft von Murgängen aus Wildbacheinzugsgebieten ist entsprechend hoch und führt im Alpenraum regelmä- ßig zu katastrophalen Ereignissen (z. B. 2012: Lorenzer- bach/Steiermark, Firschnitzbach/Tirol [3]; 2013: Taxen- bach, Hüttau/Salzburg). Wildbachschutzbauwerke im Einwirkungsbereich von Murgängen erfüllen die Funktion der Energieumwand- lung, der Filterung von groben Komponenten oder der Ablenkung des Prozesses vom Gefährdungsgebiet (ONR 24800:2009 [1]). Insbesondere Wildbachsperren (Murbre- cher, Filterbauwerke, Bild 1) sind – bedingt durch die für diese Bauwerke typischen exponierten Standorte im stei- len Mittellauf oder am Schluchtausgang (Schwemmkegel- hals) – extremen dynamischen Belastungen ausgesetzt. In der Ingenieurpraxis der Wildbachverbauung wurde bisher auf einfache, aus Erfahrungswerten abgeleitete Einwirkungsmodelle und Bemessungskonzepte zurückge- griffen [2, 4], die zu sehr heterogenen, teils unwirtschaft- lichen Dimensionierungsergebnissen führten. Ein stan- dardisiertes Einwirkungsmodell für Murgänge war bis dato in Ermangelung einer systematischen Analyse der Wildbachschutzbauwerke mit energieumwandelnder, filternder oder ablenkender Funktion für Muren unterliegen extremen dynamischen Beanspruchungen und hohen Sicherheitsanfor- derungen an die Bemessung, die Konstruktion und den Betrieb. Die neue ONR 24801enthält ein standardisiertes Modell zur Bemessung von Wildbachsperren unter Mureinwirkung, wel- ches aus der Vergleichsrechnung gängiger Murenmodelle ent- wickelt und mit Messergebnissen von Murereignissen kali- briert wurde. Das Modell basiert auf einem statisch-dynamisch gemischten Lastansatz und berücksichtigt auch den Anprall von Einzelkomponenten (Blöcke, Baumstämme) auf das Bau- werk. Der dynamische Teil der Mureinwirkung wird von einem charakteristischen Gerinnequerschnitt auf eine flächengleiche Einwirkungsfläche im zentralen Teil der Sperre übertragen, zu- sätzlich wird ein statischer Murdruck über die gesamte Bau- werkshöhe angesetzt. Das Modell wurde bereits an einigen Sperrenbauwerken erprobt und stimmt gut mit den in Öster- reich üblichen Bemessungsansätzen für Wildbachsperren überein. Keywords Wildbachverbauung; Wildbachsperre; Murbrecher; Muren; Mureinwirkung; Einwirkungsmodell; Normung Standardized load model for design of torrential barriers under debris flow impact Torrential barriers with energy-dissipating, filtering or deflect- ing function for debris flow are subject to extreme dynamic stress that presupposes the application of high safety stan- dards for design, construction and maintenance. The newly is- sued Austrian Standard ONR 24801 provides a standardized model for the design of torrential barriers under debris flow im- pact, which has been developed from comparative calculation of common debris flow models from engineering practice in torrent control and calibrated by impact measurements of de- bris flow events. The model is based on a combined static-dy- namic stress approach and also takes into account the impulse by a single object (block, tree trunk). The dynamic part of the debris flow stress is transferred from a characteristic cross- section in the torrent to a vertical impact area of same dimen- sion on the central part of the barrier; additionally static debris flow stress is applied. The standardized model was already tested successfully at several torrential barriers and is in good agreement with the common design approaches (experiences) of torrent control in Austria. Keywords torrent control; torrential barrier; debris breaker; debris flows; debris flow stress; load model; technical standard *) Corresponding author: [email protected] Submitted for review: 18 August 2013 Revised: 05 November 2013 Accepted for publication: 08 November 2013

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Page 1: Standardisiertes Einwirkungsmodell zur Bemessung von Wildbachsperren unter Mureinwirkung

792 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin. Bautechnik 90 (2013), Heft 12

DOI: 10.1002 / bate.201300064

AUFSATZJürgen Suda*, Johannes Hübl, Florian Rudolf-Miklau

Standardisiertes Einwirkungsmodell zur Bemessung von Wildbachsperren unter Mureinwirkung

1 Problemstellung

1.1 Einwirkungsmodell für Murprozesse

In Wildbächen – nach ONR 24800 [1] typischen Fließge-wässern des Gebirges mit streckenweise großem Gefälle,rasch und stark wechselnden Abflüssen und zeitweisehoher Feststoffführung – findet nach Starkregenereignis-sen häufig ein Übergang von hochwasserartigen zu mur-artigen Fließprozessen statt. Muren zählen zu den murar-tigen Fließprozessen mit sehr hoher Feststoffkonzentra -tion (siehe Tab. 2). Sie bestehen aus einer Suspension vonWasser, Feststoffen und Wildholz, die sich dann entwi-ckelt, wenn in kurzer Zeit große Geschiebemengen (z. B.nach Hanganbrüchen, Sohlverflüssigung oder einem Ver-klausungsbruch) verfügbar werden. Murprozesse folgenanderen hydraulischen Gesetzmäßigkeiten als Hochwäs-ser, zeichnen sich durch eine hohe Prozessenergie (Fließ-geschwindigkeit, dynamische Einwirkungen auf Hinder-

nisse) aus und können auch extrem große Komponenten(Blöcke, Baumstämme) transportieren [2]. Die Zerstö-rungskraft von Murgängen aus Wildbacheinzugsgebietenist entsprechend hoch und führt im Alpenraum regelmä-ßig zu katastrophalen Ereignissen (z. B. 2012: Lorenzer-bach/Steiermark, Firschnitzbach/Tirol [3]; 2013: Taxen-bach, Hüttau/Salzburg).

Wildbachschutzbauwerke im Einwirkungsbereich vonMurgängen erfüllen die Funktion der Energieumwand-lung, der Filterung von groben Komponenten oder derAblenkung des Prozesses vom Gefährdungsgebiet (ONR24800:2009 [1]). Insbesondere Wildbachsperren (Murbre-cher, Filterbauwerke, Bild 1) sind – bedingt durch die fürdiese Bauwerke typischen exponierten Standorte im stei-len Mittellauf oder am Schluchtausgang (Schwemmkegel-hals) – extremen dynamischen Belastungen ausgesetzt. Inder Ingenieurpraxis der Wildbachverbauung wurde bisher auf einfache, aus Erfahrungswerten abgeleiteteEinwirkungsmodelle und Bemessungskonzepte zurückge-griffen [2, 4], die zu sehr heterogenen, teils unwirtschaft -lichen Dimensionierungsergebnissen führten. Ein stan-dardisiertes Einwirkungsmodell für Murgänge war bisdato in Ermangelung einer systematischen Analyse der

Wildbachschutzbauwerke mit energieumwandelnder, filternderoder ablenkender Funktion für Muren unterliegen extremen dynamischen Beanspruchungen und hohen Sicherheitsanfor-derungen an die Bemessung, die Konstruktion und den Betrieb.Die neue ONR 24801enthält ein standardisiertes Modell zur Bemessung von Wildbachsperren unter Mureinwirkung, wel-ches aus der Vergleichsrechnung gängiger Murenmodelle ent-wickelt und mit Messergebnissen von Murereignissen kali-briert wurde. Das Modell basiert auf einem statisch-dynamischgemischten Lastansatz und berücksichtigt auch den Anprallvon Einzelkomponenten (Blöcke, Baumstämme) auf das Bau-werk. Der dynamische Teil der Mureinwirkung wird von einemcharakteristischen Gerinnequerschnitt auf eine flächengleicheEinwirkungsfläche im zentralen Teil der Sperre übertragen, zu-sätzlich wird ein statischer Murdruck über die gesamte Bau-werkshöhe angesetzt. Das Modell wurde bereits an einigenSperrenbauwerken erprobt und stimmt gut mit den in Öster-reich üblichen Bemessungsansätzen für Wildbachsperrenüberein.

Keywords Wildbachverbauung; Wildbachsperre; Murbrecher; Muren;Mureinwirkung; Einwirkungsmodell; Normung

Standardized load model for design of torrential barriers underdebris flow impactTorrential barriers with energy-dissipating, filtering or deflect-ing function for debris flow are subject to extreme dynamicstress that presupposes the application of high safety stan-dards for design, construction and maintenance. The newly is-sued Austrian Standard ONR 24801 provides a standardizedmodel for the design of torrential barriers under debris flow im-pact, which has been developed from comparative calculationof common debris flow models from engineering practice intorrent control and calibrated by impact measurements of de-bris flow events. The model is based on a combined static-dy-namic stress approach and also takes into account the impulseby a single object (block, tree trunk). The dynamic part of thedebris flow stress is transferred from a characteristic cross-section in the torrent to a vertical impact area of same dimen-sion on the central part of the barrier; additionally static debrisflow stress is applied. The standardized model was alreadytested successfully at several torrential barriers and is in goodagreement with the common design approaches (experiences)of torrent control in Austria.

Keywords torrent control; torrential barrier; debris breaker; debris flows;debris flow stress; load model; technical standard

*) Corresponding author: [email protected] for review: 18 August 2013Revised: 05 November 2013Accepted for publication: 08 November 2013

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Modellgrundlagen und einer Kalibrierung anhand vonMesswerten sowie Vergleichsrechnungen nicht verfügbar.

1.2 Normung von Wildbachschutzbauwerken nach ONR 24800f.

Seit 2005 werden in einem Normenkomitee am öster -reichischen Normungsinstitut technische Regeln fürWildbachsperren erarbeitet. Wenn es auch aufgrund derKomplexität der Einwirkung von Murprozessen auf Wild-bachsperren nicht möglich ist, ein allgemein gültigesStandardverfahren für die Planung und Bemessung sol-cher Bauwerke festzulegen, so konnte doch mit der so-eben fertiggestellten ON-Regel 24800f. „Schutzbauwerkeder Wildbachverbauung“ des Österreichischen Nor-mungsinstitutes [1, 5-7] erstmals eine umfassende norma-tive Grundlage für Planung, Bemessung, Konstruktionund Betrieb von Wildbachsperren geschaffen werden.

Als zentrales Element dieser Normenreihe behandelt derBeitrag das standardisierte Modell für Wildbachsperrenunter Mureinwirkung (murartiger Feststofftransport, Mur-gänge) nach ONR 24801 und zeigt erste Erfahrungen inder Anwendung in der österreichischen Wildbachverbau-ung.

2 Einwirkungsmodelle aus murartigen Prozessen

2.1 Prozessmodell und Einwirkungsmodell (Schema)

Zur schematischen Erfassung von Einwirkungen aus Na-turprozessen auf ein Bauwerk werden ein Prozessmodellund ein Einwirkungsmodell an einer charakteristischenSchnittstelle kombiniert (Bild 2). Das Prozessmodell bil-det das Verhalten des Naturprozesses (hier: murartigerProzess) aufgrund seiner physikalischen Eigenschaften imGerinne, das Einwirkungsmodell die Interaktion des Na-turprozesses mit dem Bauwerk ab; Letzteres berücksich-tigt auch die Prozesse am Bauwerk. An der Schnittstellewerden maßgebliche Parameter des Prozessmodells (z. B.Energie, Dichte des Mediums, Fließhöhe, Fließgeschwin-

digkeit) an das Einwirkungsmodell weitergegeben. DasEinwirkungsmodell für das Tragwerk umfasst die reprä-sentativen Einwirkungen (z. B. Flächen-, Einzellast) unddie zugehörige Verteilung der Einwirkung (Lastfigur).

2.2 Modellgrundlagen

Für Ingenieurbauwerke (Brücken, Hochbauten) werdendie repräsentativen Werte und Verteilungen von Einwir-kungen aus ausreichend erforschten Naturprozessen(z. B. Wind, Schnee, Erdbeben) üblicherweise direkt ausNormenwerken entnommen, die – abgesehen von regio-nalspezifischen Modifikationen – allgemeine Gültigkeithaben. Die Betrachtung der Modellzusammenhängedurch den Anwender ist i. d. R. nicht erforderlich.

Die physikalischen Grundlagen von Einwirkungen ausmurartigen Prozessen sind ebenfalls bekannt, die Band-breite der Prozesse ist jedoch sehr heterogen und unter-liegt komplexen Zusammenhängen in Abhängigkeit der

Bild 1 Wildbachsperren mit energieumwandelnder (links) und filternder (rechts) Funktion, auf dynamische Einwirkungen durch murartige Prozesse oder Murgänge bemessenTorrential barriers with energy-dissipating or filtering function; designed for dynamic impact by debris floods and debris flow

Bild 2 Schematische Erfassung der Einwirkungen aus Naturprozessen aufBauwerke (Einwirkungsmodell) an einer definierten Schnittstelle,abgeleitet aus einem physikalischen ProzessmodellSchematic depiction of stress by natural processes on buildings(stress model) at a defined interface, derived from a physicalprocess model

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Eigenschaften des jeweiligen Wildbacheinzugsgebietes(Klima, Geologie, Topografie, Vegetation, hydrologischesRegime, Landnutzung etc.). Eine detaillierte Beschrei-bung dieser Zusammenhänge findet sich in [2,  8]. Mur -artige Prozesse weisen eine hohe räumliche und zeitlicheDynamik auf, daher sind die aus dem Prozessmodell ab-geleiteten Einwirkungsparameter äußerst variabel. Wäh-rend der kurzen Einwirkdauer eines Murgangs auf einBauwerk ändert sich – entsprechend einer physikalisch„exakten“ Betrachtung des Prozesses – beispielsweise

– die volumetrische Feststoffkonzentration und somitauch die Dichte der Mure,

– die Wahrscheinlichkeit eines Treffers eines größerenEinzelblockes,

– die Granulometrie (Kornverteilung) des Murmaterialsin longitudinaler und vertikaler Richtung sowie dasFließverhalten (nicht newtonisch zu newtonisch),

– die Geschwindigkeit und Höhe des Abflusses,– die Einwirkflächen des Muranpralles,– das Verhältnis von dynamisch zu statisch beeinfluss-

ten Bauwerksteilen.

Darüber hinaus unterliegen die Prozessparameter einesMurmodells einer großen Bandbreite und können für einkonkretes Wildbacheinzugsgebiet (Murereignis) mit aus-reichender Genauigkeit nur auf Basis aufwändiger sedi-mentologischer, rheologischer und hydraulischer Analy-sen bestimmt werden.

Eine normative Regelung der Einwirkungen kann dahernicht auf die tabellarische Darstellung der Größenord-nung von Drücken oder Auflasten (auf Basis eines impli-ziten, normierten Einwirkungsmodells) beschränkt blei-ben, sondern erfordert – analog den Einwirkungsnormenfür Erddrücke – die explizite Definition eines Einwir-kungsmodells (Eingangsparameter, Formelapparat zurErmittlung der charakteristischen Einwirkungen bzw.Lasten, Lastverteilungen) sowie ergänzende Regeln fürdie Ableitung der Eingangsparameter aus dem Prozess-modell. Durch diese höhere Komplexität der Norm wirdder Sachverständige für Wildbachverbauung der Aufgabeeiner umfassenden Analyse des Einzugsgebietes und derdarin ablaufenden Prozesse nicht entbunden, es stehenihm jedoch nachvollziehbare und standardisierte Vor -gehensweisen für die Begutachtung und Festlegung des

Einwirkungsmodells zur Verfügung, die ausreichendSpielraum für die Berücksichtigung der spezifischen Cha-rakteristika eines Einzugsgebietes sowie der regionalenErfahrungen und Verfahren der Ingenieurpraxis lassen.Die ONR 24801 legt explizit fest, in welcher Form dievom Sachverständigen für Wildbachverbauung festgeleg-ten Parameter des Einwirkungsmodells an die Tragwerk-splaner zur Bauwerksbemessung zu übergeben sind.

Des Weiteren wurde die direkte Messung von Drückenaus Murprozessen auf Fließhindernisse bisher kaum um-gesetzt, deshalb liegen weltweit nur wenige konsistenteDatensätze vor [9,  10]. Die alternative Möglichkeit be-steht daher in der indirekten Ermittlung von Prozesspara-metern aus von realen Muren durchflossenen Quer-schnittsflächen (Ereignisdokumentation) und anderen„Stummen Zeugen“ [11, 12].

Für eine ingenieurmäßige Bemessung von Wildbachsper-ren sind Vereinfachungen des Prozessmodells, insbeson-dere der Modellparameter, des Druckmodells und derLastverteilung erforderlich.

2.3 Lastverteilung von Mureinwirkungen

Bei den Lastverteilungen von Mureinwirkungen sind dreiTypen, dreieckig (Typ A), rechteckig (Typ B) und trapez-förmig (Typ C), gebräuchlich (Bild 3). Von diesen Grund-formen abweichende bzw. auf deren Kombination auf-bauende Lastverteilungen wurden beispielsweise in [13](basierend auf den miniaturisierten Versuchen in [14]) ab-geleitet. Solche relativ komplizierten Lastfiguren habensich jedoch in der Praxis nicht durchgesetzt und wurdendaher auch für die ONR 24801 nicht herangezogen.

Druckmodell und Lastverteilungen müssen gemeinsambetrachtet werden, da die Wahl der Lastverteilung dieHöhe der resultierenden Kraft und deren Hebelarm be-einflusst.

2.4 Druckmodelle für Murgänge

Für die quantitative Ermittlung von Murdrücken stehtaus der Literatur eine größere Anzahl von physikalischen

Bild 3 Gebräuchliche Lastfiguren beim Ansatz von MurdrückenCommon load distribution for stress by debris flow processes

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oder empirisch aus Versuchen abgeleiteten Modellen zurVerfügung. Ein detaillierter Überblick über diese Modellewurde bereits in [9, 15] veröffentlicht.

Hydraulische Druckmodelle haben sich für die Anwen-dung in der Ingenieurpraxis als praktikabel erwiesen.Nachfolgend wird ein Überblick über die üblichen Model-le gegeben.

Einen stark vereinfachten Ansatz zur Darstellung dyna-mischer Prozesse stellen Modelle auf Basis des hydro-sta-tischen Wasserdrucks dar (Druckmodell 1: Hydro-stati-sche Druckmodelle). Sie sind immer mit einer Lastfigurvom Typ A gekoppelt. Die dynamische Komponente desMurgangs wird über einen Lasterhöhungsfaktor (dynami-schen Beiwert) berücksichtigt. Hydro-statische Ansätzehaben immer eine Form nach Gl. (1), beispielsweise nach[16, 17] mit einem Lasterhöhungsbeiwert k zwischen 5und 11.

Hydro-dynamische Ansätze haben immer eine Form nachGl.  (2) oder (3) (Druckmodell 2: Hydro-dynamischeDruckmodelle). Dabei unterscheidet man den Anprall anein nicht umströmbares Hindernis auf Basis des Impuls-satzes nach Gl.  (2), welcher immer mit einer Lastfigurvom Typ  B gekoppelt wird, sowie das Druckmodell fürein umströmbares Hindernis nach Gl. (3) auf Basis desGeschwindigkeitsdrucks strömender Flüssigkeiten. DieStoffeigenschaften des Prozesses werden nach [18, 19, 20]über einen Widerstandsbeiwert (a nach Gl.  (2)) berück-sichtigt und mit 2–5 angegeben, c (nach Gl. (3)) berück-sichtigt zusätzlich die Form des Bauwerks.

Statisch-dynamisch gemischte Ansätze (Druckmodell 3:Statisch-dynamisch gemischte Druckmodelle) habenimmer eine Form nach Gl. (4) und setzen sich aus einemhydro-statischen und einem hydro-dynamischen Druckzusammen. Für letzteren gelten die Ausführungen in

Abschn. 2.5.2. Diese Modelle sind immer mit einer Last -figur vom Typ C gekoppelt.

Druckmodell 1:

(1)

Druckmodell 2a (für nicht umströmbare Hindernisse):

(2)

Druckmodell 2b (für umströmbare Hindernisse):

(3)

Druckmodell 3:

(4)

mit:pmax = Maximum des Murdrucksk = Lasterhöhungsbeiwert (dynamischer Faktor)ρ = Dichtehb = Fließhöhe der Mure am Bauwerka = Beiwert zur Berücksichtigung der Stoffeigen-

schaftenc = Widerstandsbeiwertv = mittlere FließgeschwindigkeitCa, Cb = Widerstandsbeiwerte

Anstelle der Berechnung von Drücken ist es in der Inge-nieurpraxis der Wildbachverbauung auch üblich, aus Er-fahrungswerten abgeleitete Flächenlasten anzusetzen(Druckmodell 4: Flächenlasten mit festen Werten). DieFlächenlasten liegen zwischen 90 und 175  kN/m² undwerden als Gleichlast (Lastfigur B) angesetzt.

12

2p p p C g h C vStat Dyn a b b max

121

2p p c v max

1p p k hb max

12p p a v max

Tab. 1 Gebräuchliche Modellansätze aus der Ingenieurpraxis der WildbachverbauungCommon model approaches from engineering practice in torrent control

Zeile Druckmodell Horizontaler Druck LV-Typ zusätzliche Einwirkungen

1 1 2-facher Wasserdruck A Keine

2 1 5-facher Wasserdruck (10 kN/m³) A vertikaler Druck 2,5-facher Wasserdruck

3 1 3-facher Wasserdruck A Keine

4 2 Berechnet mit: B Keineρ = 1 400 kg/m³v = 10–17 m/s, c = 1,0

5 4 untere Hälfte bis hb/2: 300 kN/m² B Seitlich auf die Scheiben: Druck unter obere Hälfte ab hb /2: 210 kN/m² einem Winkel von 45°

6 4 175 kN/m² B Einzellast 460 kN/m²

7 4 140 kN/m² B Einzellast 460 kN/m²

8 4 100 kN/m² B Einzellast 200 kN/m²

9 4 175 kN/m² B Keine

10 4 90 kN/m² B seitlich auf Scheiben 50 kN/m²

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2.5 Einwirkungsmodell für Muren nach ONR 24801

2.5.1 Modellgrundsätze

Das Einwirkungsmodell der ONR 24801 [5] wurde aufBasis des Druckmodells 3 und einer Lastfigur vom Typ Bentwickelt. Dabei galt es, die Forderung nach einem phy-sikalisch korrekten Ansatz (keine empirischen Gleichun-gen) und die Forderung der Praxis nach einem einfachenModellansatz zu erfüllen. Die verwendeten Ansätze ba-sieren auf denselben Gesetzmäßigkeiten wie die vorge-schlagenen Einwirkungen infolge Wasserbeanspruchungaus der EN 1991-1-6, 4.9 und stellen quasi eine Präzisie-rung dieser dar.

Der Murdruck resultiert aus dynamischen Verlagerungs-prozessen mit unterschiedlichen Anteilen von Wasser,Fein- und Grobsediment. Die Mure fließt im Gerinne abund interagiert beim Anprall mit dem Bauwerk (Bild 4).Es wird davon ausgegangen, dass beim Initialstoß diehöchsten Kräfte auf die Sperre wirken. Eventuelle Abla-gerungen hinter der Sperre wirken dämpfend und redu-zieren die auftretenden Drücke aus einem Murgang. Mit

diesem Modell sind alle aus dem Murgang resultierendenErd- und Wasserdrücke abgedeckt.

Das Einwirkungsmodell setzt sich aus folgenden Kompo-nenten zusammen (Bild 5):

– dynamischer Murdruck (pdyn),– statischer Murdruck (pst),– Murauflast (pa),– Ersatzkraft zur Berücksichtigung des Anpralles einer

Einzelkomponente (z. B. Baumstamm, großer Block),(FE).

Der statische Murdruck kann, wie in Bild 5 dargestellt,vereinfacht bis zur Fundamentunterkante wirkend, ange-nommen werden. Der Ansatz des statischen Murdrucksbis zur Geländeoberfläche und darunter ein entsprechen-der Erd- und Wasserdruck mit Auflast aus der Mure istebenso möglich.

Die aus dem Modell erhaltenen Einwirkungen sind fürdie Bemessung als charakteristische Einwirkungen aufzu-fassen. Für die weitere Bemessung sind die so ermittelten

Bild 4 Murmodell nach ONR 24801 [5]: Murgang im Gerinne (rechts) und nach Auftreffen auf das Bauwerk (links)Debris flow model (according to ONR 24801): Debris flow in the stream (right) and after the impact on a barrier (left)

Bild 5 Komponenten des Einwirkungsmodells für Muren nach ONR 24801 [5] (dargestellt ist der Schnitt durch eine Sperre entlang der Bachachse)Components of the stress model for debris flow impact according to ONR 24801 [5] (displayed in the section axis of the barriers along with the water course axis)

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Murdrücke laut ONR 24802  [6] zwar als veränderlicheEinwirkung zu betrachten, jedoch mit einem Teilsicher-heitsbeiwert, der einer ständigen Einwirkung entspricht.

2.5.2 Druckberechnung

Zur Berechnung der auftretenden Kraft FM wird ein ge-mischter Ansatz, der sich aus einem statischen und einemdynamischen Lastanteil zusammensetzt, verwendet(Gl.  (5)). Die Kraft aus dem statischen Anteil des Mur-gangs (FSt) wird analog eines Wasserdrucks über Gl. (6)berechnet. Der statische Anteil wird als Dreieckslast(Lastfigur Typ A) über die gesamte Angriffsfläche der sta-tischen Komponente (ASt) wirkend angenommen. ASt er-gibt sich aus der Breite der Angriffsfläche des dynami-schen Anteiles bdyn laut Bild 6 und der Höhe der stati-schen Angriffsfläche hst laut Bild 5. Die Kraft aus demdynamischen Anteil des Murgangs (FDyn) wird auf Basisdes Impulssatzes über Gl. (7) berechnet. Der dynamischeAnteil wird als Gleichlast (Lastfigur Typ B) über die ge-samte Angriffsfläche der dynamischen Komponente(AQdyn) wirkend angenommen. AQdyn ergibt sich aus derBreite bdyn und Höhe hdyn laut Bild 6. Werden die stati-schen (pSt) und dynamischen (pDyn) Drücke benötigt, be-rechnen sich diese über die Gln. (8) und (9). Die Größe g

ist dabei die Gravitationskonstante in [m/s²], v die mittle-re Geschwindigkeit des Murgangs an der Schnittstelle in[m/s], ρM die Dichte des murartigen Verlagerungsprozes-ses in [kg/m³] laut Tab. 2 und hSt die Höhe der Angriffsflä-che der statischen Komponente in [m].

(5)

(6)

(7)

(8)

(9)

2.5.3 Ermittlung der Angriffsflächen

Die Angriffsfläche der dynamischen Murdruck-Kompo-nente wird aus einer charakteristischen Durchflussfläche(AQM) einer Mure, die dem jeweiligen Bemessungsereig-nis entspricht, ermittelt. Die Durchflussfläche der Mureist mittels der Abflusstiefe an einem charakteristischenGerinnequerschnitt (= Schnittstelle) unmittelbar oberhalb

st st,max M Stp p g h

F F FM St Dyn

0,5St M StF g A

F A vDyn M Qdyn2

dynDyn

Qdynp

F

A

Tab. 2 Charakteristische Parameter für murartige Verlagerungsprozesse nach ONR 24801 [5]Characteristic values for parameters of debris flow processes according to ONR 24801 [5]

Verlagerungsprozessa Murartiger Feststofftransport MurenSteinig Schlammig

Dichte, in kg/m3 1300 bis 1700 1700 bis 2000 2000 bis 2300

Prozessabhängige mittlere Geschwindigkeit v in m/s 3 bis 5 3 bis 6 5 bis 10

a: Die angegeben Parameter stellen die mögliche Bandbreite dar. Der gewählte Wert ist vom Sachverständigen für Wildbachverbauung fest-zulegen und zu begründen.

Bild 6 Charakteristische Durchflussfläche der Mure und Belastungsfläche am BauwerkCharacteristic discharge area of the debris flow and area of stress at the building

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des geplanten Bauwerkes zu ermitteln (Bild 6). Liegenkeine genaueren Erkenntnisse vor, z. B. detaillierte nume-rische Prozessmodelle oder Kartierungen (laut [11]), istdie Abflusstiefe hf im charakteristischen Gerinnequer-schnitt für den alpinen Raum mit 4 m anzunehmen.

Die Belastungsfläche am Bauwerk wird als Rechteck mitden Abmessungen hdyn und bdyn angenommen (Bild 6).Dabei ist die charakteristische Durchflussfläche (AQM)äquivalent auf das Bauwerk umzulegen (AQM = Adyn). DieHöhe der Angriffsfläche hdyn am Bauwerk ist je nach Pro-zesscharakteristik zwischen 2 m und 4 m anzunehmen.Die Belastungsfläche der dynamischen Murdruck-Kom-ponente AQdyn ergibt sich bei diesen Annahmen zu:

(10)

Die Prozesscharakteristik hängt von der jeweiligen Dich-te und Fließcharakteristik (Verlagerungsart laut Tab. 2:steinige oder schlammige Mure) ab. Die projizierte Belas-tungsfläche (AQdyn) ist flächengleich mit AQM unmittelbarunterhalb der Abflusssektion anzusetzen und im Allge-meinen in Hauptstoßrichtung des Prozesses bzw. der Ge-rinneachse anzunehmen.

mit 2 m 4 m

undQdyn dyn dyn dyn

Qdyn QM

A h b hA A

Die Breite bdyn errechnet sich aus der projizierten Belas-tungsfläche AQdyn über Gl. (10) (hdyn wird angenommen).Ist die Bauwerksbreite bges kleiner oder gleich groß wiedie errechnete dynamische Breite bdyn, so entspricht die

Bild 7 Prinzip der Vergleichsrechnungen am Meterstreifen: (oben) Schnittdurch das Bauwerk, (unten) GrundrissPrinciple of comparative calculations for a section one meter wide:cross section of the barrier (top), plan view (bottom)

Tab. 3 Druckmodell, Lastmodell und Streubereich der Parameter der untersuchten Modelle und des standardisierten MurmodellsPressure model, stress model and range of parameters of the investigated model in comparison to the standardized debris flow model

Modell Druckmodell1) Berechnung Murdruck Lastverteilung2) Lastfigur Streuungsbereich der Variablen

M 1 1p1 = k · ρwf · g · hb A

k = 2–5p2 = 0 ρ = 1 000 kg/m3

v = 10–17 m/sM 2 2 p1 = ρ · v2 B ρ = 1 400 kg/m3

M 3 4p1 = Const.

Bp1 = 300 kN/m2

p2 = p1 p2 = 210 kN/m2

p1 Fimp

175 kN/m² 460 kN

M 4 4 p1 = Const. B 140 kN/m² 460 kN 460 kN

p2 = Const. 175 kN/m² 0

90 kN/m² 0

p2 = pMuM St

p1 = pMu + pst Parameter laut Tab. 2(Standard-

3 PMu = pMu · Adyn · v2 C v = 3–10 m/sisiertes

PMu = PMu/Adyn ρ = 1 300–2 300 kg/m3

Modell)pst = ρ · g · hst

1) laut Abschn. 2.42) laut Abschn. 2.3

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Bauwerksbreite der dynamischen Breite. Ist die Bau-werksbreite bges größer als die dreifache dynamische Brei-te bdyn, sind mehrere Lastfälle mit unterschiedlichen An-griffspunkten zu untersuchen.

Die Angriffsfläche der statischen Murdruck-Komponentereicht von der Oberkante der dynamischen Belastungs -fläche bis zur Fundamentunterkante des Bauwerkes. Sieberücksichtigt auch vereinfacht eventuell vorhandene Ablagerungen oder Anschüttungen hinter dem Bauwerkaus denen Erddrücke resultieren. Generell wird der stati-sche Murdruck mit der Breite bdyn angesetzt. SonstigeErddrücke (außerhalb der dynamischen Breite bdyn) sind nach gültigen nationalen Erddrucknormen anzuset-zen.

2.5.4 Anprall von Einzelkomponenten

Neben den Drücken aus den eigentlichen Fließprozessenwirken auch punktuell deutlich höhere Drücke infolgedes Anpralles von Einzelkomponenten (Baumstämme,Steinblöcke, Eisblöcke, …) auf das Bauwerk ein. LautONR 24801,  10 [5] ist die Ersatzkraft FE eines solchenAnpralles aus einer Mure mit 1 000 kN anzunehmen. DieAnprallfläche ist quadratisch mit einer Kantenlänge von70 cm anzunehmen. Diese Ersatzkraft ist nur für lokaleNachweise zu verwenden.

3 Modellkalibrierung

3.1 Vergleichsrechnungen (S)

Um die Parameter des standardisierten Murmodells andas übliche Belastungsniveau anzupassen, wurden Ver-gleichsrechnungen mit den in der Ingenieurpraxis übli-chen Modellen durchgeführt. Die untersuchten Modellesind in Tab. 3 dargestellt. Der Vergleich wurde an denDrücken aus den einzelnen Druckmodellen und den ausdiesen Modellen resultierenden Momenten am Fußpunkteines eingespannten, 1 m breiten Balkens vorgenommen(Bild 7). Durch den Vergleich der resultierenden Momen-te wird die Auswirkung der Lastverteilung berücksichtigt.Die Betrachtungen werden auf deterministischem Niveauund mit charakteristischen Werten durchgeführt. DieHöhe hb des Murgangs am Bauwerk wird in allen Model-len zwischen 2 und 6 m variiert.

Zum Vergleich wird für jedes Modell die obere und unte-re Grenze des Modells berechnet und in einem Dia-gramm aufgetragen (Bild 8). Die Modellgrenzen sind inTab. 3 angegeben. Einwirkungen durch Stöße aus mitge-führten Blöcken werden nur im Modell 4 berücksichtigt.

Mit dem standardisierten Modell (M St) lassen sich dieüblichen Modellbereiche sehr gut abdecken. Die obereModellgrenze, welche etwas niedriger als bei den anderenModellen liegt, wurde in Diskussion mit den bemessen-den Ingenieuren so festgelegt.

Bild 8 Ergebnisse der VergleichsrechnungenResults from comparative calculation

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3.2 Kalibrierung mit gemessenen Murdrücken

Die Ergebnisse aus dem standardisierten Modell wurdenauch mit gemessenen Murdrücken verglichen. Die um-fangreichsten Aufzeichnungen von gemessenen Drückenvon 38 Murschüben eines Murgangs am Jiangjia Go, Yun-nan Province, China (Bild 9) finden sich in [10]. Die Auto-ren haben die Messdaten auf Basis der Einwirkdauer inzwei Gruppen unterteilt. Eine Gruppe beinhaltet die er-mittelten dynamischen Drücke ohne Einzelblockbeauf-schlagung (fluid pressure) auf unterschiedlichen Einbau-höhen (Sensor 3: 0,65, Sensor 2: 0,95 und Sensor 1:1,25 m über Bachsohle), die zweite Gruppe umfasst dieDrücke, die durch Treffer von mittransportierten Blöckenerzeugt wurden (grain impact loading). Deutlich ist zu er-kennen, dass die Drücke aus Einzelblockeinwirkung biszu einem Faktor 10 über den gemessenen dynamischenDrücken aus dem Fließprozess liegen. Die Einzelblock-einwirkungen sind dabei weder mit der Fließgeschwindig-keit eines Murschubs noch mit dessen Abflusstiefe kor -reliert und weisen Drücke bis zu 1 MN/m² auf. Diehydro-dynamischen Drücke erreichen beim gemessenenEreignis vom Jiangjia Go maximal 200 kN/m², bei einerangegebenen Dichte des Murenmaterials von rund2 000  kg/m³, einer Murschubgeschwindigkeit bis zu12 m/s und einer Abflusstiefe von rund 2 m.

Als weitere Datenquelle können [15, 9] herangezogenwerden, die rückgerechnete maximale Anpralldrückenach Literaturangaben von [21] auflisten.

Die angeführten Maximaldrücke (Bild 9), die auch dieEinwirkung von Einzelblöcken beinhalten, erreichen inetwa das Druckniveau der Einzelblockeinwirkung von[10]. Die Schwankungsbreite der Drücke ist jedoch sehrhoch.

Die mit dem standardisierten Modell der ONR 24801 er-mittelten dynamischen Drücke decken die von [10] ge-messenen dynamischen Drücke für Fließgeschwindigkei-ten von 5 bis 10  m/s und Dichten von 1 700 bis2 300 kg/m³ sehr gut ab (Bild 10). Berücksichtigt man zu-sätzlich den Druck aus dem Anprall eines Einzelblockes(siehe Abschn. 2.5.4), der nur auf eine sehr kleine Flächewirkt und zusätzlich zum dynamischen Druck anzuset-zen ist, werden auch die in der Literatur angeführten Ma-ximaldrücke (Bild 10) durch das Modell abgebildet.

4 Zusammenfassung und Ausblick

Durch das standardisierte Murmodell steht erstmals eineeinheitliche Vorgehensweise beim Ansatz von Murdrü-

Bild 9 Gemessene dynamische Drücke und Drücke aus Einzeleinwirkungen eines Murganges am Jiangjia Go [10], ergänzt mit rückgerechneten Maximal -drücken von [15]Measured dynamic stress and impact by single components of a debris flow event in the Jiangjia Go [10], supplemented by back-calculated maximumpressure from [15]

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Literatur

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Dokumentation ausgewählter Katastrophen: Lorenzerbach(Gemeinde Trieben/Steiermark) und Firschnitzbach (Vir-gen/Tirol). Wien, 2012.

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[5] ON  –  institut (Hrsg.): ONR  24801 – Schutzbauwerke derWildbachverbauung – Statische und dynamische Einwir-kungen. Ausgabe: 2013-08-15.

cken auf Sperrenbauwerke zur Verfügung. Durch die Vor-gabe von oberen und unteren Grenzen für die Werte derEingangsparameter in der ONR  24801 wird der Streu-ungsbereich der Murdrücke reduziert. Bereiche außer-halb dieser Gültigkeitsgrenzen sind im begründeten Ein-zelfall mit entsprechend definierten Werten der Eingangs-parameter mit demselben Modellansatz abdeckbar.

In den Vergleichsrechnungen ließ sich zeigen, dass mitdem standardisierten Murmodell die Modellbereiche derüblichen Modelle und die Bereiche der gemessenen Drücke sehr gut abgebildet werden konnten. Nachdemdie gute Ergebnisse gebracht haben, wurde das Modell fürdie Bemessung von Bauwerken verwendet. Auch dabeihaben sich die Modellansätze als tauglich herausgestellt.

Des Weiteren konnten an der Schnittstelle (charakteris -tischer Gerinnequerschnitt) die Werte aus Mursimula -tionsmodellen (Prozessmodelle) optimal in das Einwir-kungsmodell übernommen werden. Eine detaillierte Beschreibung der beispielhaften Bemessung eines murbe-aufschlagten Bauwerkes im Jaidhausgraben (GemeindeHinterstoder in Oberösterreich) findet sich in [22]. DieAnwendbarkeit des Modells wird in den nächsten Jahrenin der Praxis weiter getestet und nach fünf Jahren von derArbeitsgruppe ON AG 256.01 (Wildbachschutzbauwer-ke) evaluiert, da es bei einer ON-Regel üblich ist, diesenach fünf Jahren einer Überprüfung zu unterziehen und –je nach Ergebnis – sie wie gehabt zu belassen, zu modifi-zieren oder zurückzuziehen.

Bild 10 Vergleich der von [10] publizierten dynamischen Drücke von Murschüben mit den aus dem standardisierten Modell errechneten dynamischen Drückenfür Abflussgeschwindigkeiten von 5 bis 10 m/s und Dichten von 1 300 bis 2 300 kg/m³Comparison between the dynamic stress values from debris surges (published in [10]) and the dynamic stress calculated from the standardized model,for flow velocity from 5 to 10 m/s and density from 1 300 to 2 300 kg/m³

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[12] KAITNA, R.; HÜBL, J.: Silent Witnesses for torrentialProcesses. In: SCHNEUWLY-BOLLSCHWEILER, M; STOFFEL,M; RUDOLF-MIKLAU, F. (Eds.), Dating Torrential Processeson Fans and Cones: Methods and Their Application forHazard and Risk Assessment (Advances in Global ChangeResearch) (2012), H. 47, S. 111–130, Dordrecht: Springer,ISBN 978-94-007-4335-9.

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AutorenDDI Dr. Jürgen Sudaalpinfra engineering + consulting gmbhLützowgasse 14/1.Stock1140 WienundInstitut für konstruktiven IngenieurbauDepartment Bautechnik + NaturgefahrenUniversität für Bodenkultur, WienPeter Jordan Straße 821190 [email protected]

Univ. Prof. DI Dr. Johannes HüblInstitut für Alpine NaturgefahrenDepartment Bautechnik + NaturgefahrenUniversität für Bodenkultur-WienPeter Jordan Straße 821190 [email protected]

DI Dr. Florian Rudolf-MiklauBundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und WasserwirtschaftAbteilung IV/5 – Wildbach- und LawinenverbauungMarxergasse 21030 [email protected]