straftheoretische anmerkungen zur verletztenorientierung im strafverfahrender beitrag geht zurück...

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PD Dr. Ralf Peter Anders Straftheoretische Anmerkungen zur Verletztenorientierung im Strafverfahren * Ralf Peter Anders: Oberstaatsanwalt und Privatdozent, Lübeck/Hamburg I. Einleitung Angeregt wurde diese Untersuchung durch zwei Äußerungen auf der Loccumer Tagung Mehr Gerechtigkeit Aufbruch zu einem besseren Strafverfahrenim März 2011, nämlich die Hassemers, nach der die Rolle des Verletzten im Straf- verfahren weder verfassungsrechtlich noch rechtstheoretisch ausreichend gesi- chert sei, und die des Vorsitzenden des Rechtsausschusses des Deutschen Bun- destages, Siegfried Kauder, nach der in Sachen Opferschutz aus Europa noch einiges auf uns zu kommenwerde. Diese Gemengelage aus Reformankündi- gung und ungesicherter rechtlicher Fundierung ist höchst problematisch, denn eine auch verletztenorientierte (weitere) Reform des Strafverfahrensrechts setzt die Klärung der von Hassemer aufgeworfenen Fragen notwendig voraus. Die Wiederentdeckung des Opfers1 vollzieht sich schon seit geraumer Zeit und hat nahezu alle Bereiche des deutschen Strafrechts erfasst 2 : So war der Verletzte schon einmal vor ca. 30 Jahren im Blickfeld des wissenschaftlichen Interesses, seinerzeit mit dem Schwerpunkt im materiellen Strafrecht und der viktimodogmatischenProblematik einer über Verletzten(mit)verantwortung zu begründenden Tatbestandsbegrenzung. Seit den 90er Jahren des letzten Jahr- hunderts liegen die Schwerpunkte im Sanktionenrecht, dort bei der Wiedergutma- chung bzw. dem Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) heute noch weitergehender im Sinne einer Restorative Justice3 , und im Strafverfahrensrecht. Der Fokus * Der Beitrag geht zurück auf den Habilitationsvortrag, den der Verfasser am 6. Juli 2011 vor der Fakultät für Rechtswissenschaft an der Universität Hamburg gehalten hat. 1 Jung, JuS 1987, 157. 2 Vgl. schon Seelmann, JZ 1989, 630. Einen aktuelleren kurzen Überblick gibt Prittwitz, Opferlose Straftheorien?, in: Schünemann/Dubber (Hrsg.), Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem, 2000, S. 51, 52 ff. 3 Vgl. umfassend Sautner, Opferinteressen und Strafrechtstheorien. Zugleich ein Beitrag zum restorativen Umgang mit Straftaten, 2010, S. 65 ff. DOI 10.1515/zstw-2012-0016 ZSTW 2012; 124(2): 374410 Brought to you by | McMaster University Authenticated Download Date | 12/20/14 4:47 AM

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Page 1: Straftheoretische Anmerkungen zur Verletztenorientierung im StrafverfahrenDer Beitrag geht zurück auf den Habilitationsvortrag, den der Verfasser am 6. Juli 2011 vor der Fakultät

PD Dr. Ralf Peter Anders

Straftheoretische Anmerkungen zurVerletztenorientierung im Strafverfahren*

Ralf Peter Anders: Oberstaatsanwalt und Privatdozent, Lübeck/Hamburg

I. Einleitung

Angeregt wurde diese Untersuchung durch zwei Äußerungen auf der LoccumerTagung „Mehr Gerechtigkeit – Aufbruch zu einem besseren Strafverfahren“ imMärz 2011, nämlich die Hassemers, nach der die Rolle des Verletzten im Straf-verfahren weder verfassungsrechtlich noch rechtstheoretisch ausreichend gesi-chert sei, und die des Vorsitzenden des Rechtsausschusses des Deutschen Bun-destages, Siegfried Kauder, nach der „in Sachen Opferschutz aus Europa nocheiniges auf uns zu kommen“ werde. Diese Gemengelage aus Reformankündi-gung und ungesicherter rechtlicher Fundierung ist höchst problematisch, denneine auch verletztenorientierte (weitere) Reform des Strafverfahrensrechts setztdie Klärung der von Hassemer aufgeworfenen Fragen notwendig voraus.

Die „Wiederentdeckung des Opfers“1 vollzieht sich schon seit geraumer Zeitund hat nahezu alle Bereiche des deutschen Strafrechts erfasst2: So war derVerletzte schon einmal vor ca. 30 Jahren im Blickfeld des wissenschaftlichenInteresses, seinerzeit mit dem Schwerpunkt im materiellen Strafrecht und der„viktimodogmatischen“ Problematik einer über Verletzten(mit)verantwortung zubegründenden Tatbestandsbegrenzung. Seit den 90er Jahren des letzten Jahr-hunderts liegen die Schwerpunkte im Sanktionenrecht, dort bei der Wiedergutma-chung bzw. dem Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) – heute noch weitergehender imSinne einer „Restorative Justice“3 –, und im Strafverfahrensrecht. Der Fokus

* Der Beitrag geht zurück auf den Habilitationsvortrag, den der Verfasser am 6. Juli 2011 vorder Fakultät für Rechtswissenschaft an der Universität Hamburg gehalten hat.1 Jung, JuS 1987, 157.2 Vgl. schon Seelmann, JZ 1989, 630. Einen aktuelleren kurzen Überblick gibt Prittwitz,Opferlose Straftheorien?, in: Schünemann/Dubber (Hrsg.), Die Stellung des Opfers imStrafrechtssystem, 2000, S. 51, 52 ff.3 Vgl. umfassend Sautner, Opferinteressen und Strafrechtstheorien. Zugleich ein Beitrag zumrestorativen Umgang mit Straftaten, 2010, S. 65 ff.

DOI 10.1515/zstw-2012-0016 ZSTW 2012; 124(2): 374–410

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Page 2: Straftheoretische Anmerkungen zur Verletztenorientierung im StrafverfahrenDer Beitrag geht zurück auf den Habilitationsvortrag, den der Verfasser am 6. Juli 2011 vor der Fakultät

dieses Vortrags liegt beim Recht des Verletzten auf aktive Einflussnahme auf dieWahrheitserforschung, wie sie durch das Institut der Nebenklage ermöglicht wird.Der Nebenklage werden mehrere Funktionen zugeordnet, die mit dem Begriff derVerletztenpartizipation im Strafverfahren zu verbinden sind, nämlich jedenfallsdie Anerkennung des Verletztenstatus‘, die Sanktionierung des Täterverhaltens4

und der Schutz des Verletzten5. Denn auch der Schutz vor Sekundärviktimisierungwird zunehmend durch Frage-, Erklärungs- sowie Beweisantragsrechte des Ver-letzten als gewährleistet angesehen, während bloße Defensivrechte insoweit alsineffektiv gelten. Die Nebenklage steht in ihrer Multifunktionalität und als „Offen-sivrecht“6 wie kein anderes Verletztenrecht für den allenthalben beobachtetenParadigmenwechsel im Strafverfahren von der Objektstellung des Verletzten zumVerfahrenssubjekt7. Kein zweites Verletztenrecht steht aber auch derart in derKritik – es sei hier nur Schünemanns Warnung vor den Parteistatements des alsZeugen aussagenden Nebenklägers8 erinnert. Und schließlich erscheinen mir imRahmen dieses Instituts die Entwicklungs- und Reformpotentiale am kreativsten;ich möchte dies anhand der Überlegungen zur Erweiterung des rechtlichen Ge-hörs des Verletzten durch das sog. Victim Impact Statement (VIS) skizzieren.

Zunächst werde ich das strukturelle Defizit der StPO als ein gewachsenesHemmnis aber auch als Grund für ihre Reform darlegen (II.). Nachfolgend gehtes um den erreichten Stand des Rechts der Nebenklage im nationalen Recht (III.),der hinsichtlich seiner Reformbestrebungen um die unionsrechtliche, interna-tionale und verfassungsrechtliche Perspektive erweitert werden soll, wobei beider Darstellung des VIS ein Schwerpunkt liegt (IV.). Dann werde ich mich derStellung des Verletzten in den Straftheorien annehmen. Dabei geht es im We-sentlichen um die neueren Strafzwecktheorien, welche um die Perspektive derVerletztenprävention modifiziert werden, die ich mit Holz als Restitutionslehrenbezeichnen möchte9 (V.). Der eigene Beitrag thematisiert das Recht des Verletz-ten auf Einflussnahme zur Wahrheitserforschung in der Hauptverhandlung, dassich aus der freiheitlichen Strafrechtsbegründung gewinnen ließe (VI.).

4 Sautner (Anm. 3), S. 287f., 322 ff., 341.5 Velten, in: SK-StPO, 43. Lfg. 2005, Vor §§ 395 Rdn. 5 ff.; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl. 2011,Vor § 395 Rdn. 1; Stöckel, in: KMR, StPO, 56. Ergänzungslieferung (November 2009), Vor § 395Rdn. 1.6 Schünemann, NStZ 1986, 193, 188f.7 Velten, in: SK-StPO, 29. Lfg. 2002, Vor §§ 374–406h Rdn. 44. Vgl. auch für das materielleStrafrecht Amelung, Festschrift für Eser, 2005, S. 3: „Vom Rechtsgut zum Opfer“.8 Schünemann, NStZ 1998, 198, 199.9 Holz, Justizgewähranspruch des Verbrechensopfers, 2007, S. 176, 190.

Straftheoretische Anm. z. Verletztenorientierung im Strafverf. 375

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II. Rahmenbedingungen für Reformendes Strafverfahrensrechts – unsystematischerStatus des gegenwärtigen deutschenStrafprozessrechts

Rechtspraxis und Wissenschaft dürften sich darin einig sein, dass unsere Straf-prozessordnung reformbedürftig ist. Recht und gesellschaftliche Realität habensich seit 1877 mit Blick auf die damalige Grundidee des Strafverfahrens grund-legend gewandelt10. Die Legislative reagiert zunehmend und bis heute aktuellmit einer allein krisenintervenierenden ad-hoc-Gesetzgebung, bei der die jeweili-gen Vorschriften nicht mehr grundsätzlich hinterfragt werden11. So wurde inquantitativer Hinsicht bis zum Herbst 2009 die StPO insgesamt 152-mal geändert,von den aktuell vorhandenen Paragraphen stimmen mit der Fassung von 1950noch lediglich weniger als ein Viertel überein12. Gewichtiger sind die Verände-rungen in qualitativer Hinsicht: Das Verfahrensrecht hat schleichend an Prä-gekraft verloren, die zum Ende des 19. Jahrhunderts zu Grunde liegenden Pro-zessmaximen dürften das gegenwärtige Prozessmodell, das zunehmend durchentformalisierte Verfahrensspielarten gekennzeichnet ist13, kaum mehr legitimie-ren14. Exemplarisch dafür stehen die Aufsplitterung der Verfahrenserledigungs-typen insbesondere in Strafbefehl, beschleunigtes Verfahren und die Opportuni-tätsabschlüsse; eine Vermengung, die dem kohärenten Legalitätsprinzip mitzentraler Stellung der mündlich, unmittelbar und öffentlich zu führenden Haupt-verhandlung als Standardverfahren, wie sie der StPO von 1879 zu Grunde lag,klar widerspricht15. Zudem steht das unvermittelte und kaum zu vermittelnde

10 Weigend, ZStW 113 (2001), S. 271.11 Rieß, ZIS 2009, 466, 469, 472.12 Rieß, ZIS 2009, 466, 467.13 Weigend, ZStW 113 (2001), S. 271, 272f.14 Rieß, ZIS 2009, 466, 469; Weigend, ZStW 113 (2001), S. 271.15 So werden heute nur noch deutlich weniger als ein Sechstel aller Verfahren im weiterenSinne angeklagt (= Anklagen, Anträge auf Eröffnung des Sicherungsverfahrens, aufDurchführung des objektiven Verfahrens, auf sofortige Hauptverhandlung bzw. aufEntscheidung im beschleunigten Verfahren sowie auf vereinfachtes Jugendverfahren). Etwa einDrittel wird durch Einstellung gemäß § 170 Abs. 2 StPO erledigt, hingegen ein Drittel im Wegeder Opportunitätseinstellung und das verbleibende Sechstel im schriftlich-summarischenStrafbefehlswege durch die Staatsanwaltschaft, vgl. die Zahlen aus den späten neunzigerJahren des letzten Jahrhunderts bis 2004 in: Bundesministerium des Inneren/Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, 2006, S. 541.

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Nebeneinander des Grundsatzes der Ermittlung der materiellen Wahrheit, derwiederum aus der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG und dem darinenthaltenen materiellen Schuldprinzip folgt16, mit dem Konsensprinzip, wie esjetzt mit § 257c StPO (der „deal“) – „die gravierendste Änderung, die der StPOseit 1879 (die Zeitspanne 1933 bis 1945 ausgeklammert) widerfahren ist“17 – zumAusdruck kommt, für die aktuelle Inkohärenz des Strafverfahrensrechts paradig-matisch18. Es geht hier jedoch allein um einen Teilaspekt, nämlich um die Fragenach der Legitimierung einer der neuen, zusätzlichen Aufgabenschwerpunktedes Verfahrensrechts19, nämlich des Verletztenschutzes, der wie kaum eineandere seit einem Vierteljahrhundert zu gravierenden Um- und Anbauten in derStPO geführt hat. So erscheint für Rieß „aus der gegenwärtigen Gesetzgebungs-perspektive (…) eher der Verletzte als der Beschuldigte als die Zentralfigur desStrafverfahrens“ und er schließt „Ansätze für eine ‚Reprivatisierung‘ des Straf-verfahrens (…), bei denen geistesgeschichtliche Wurzeln deutlich werden, dievor der Entstehung des Inquisitionsprozesses liegen“20, nicht aus. Darin liege dieGefahr von erheblichen „strukturellen Auswirkungen auf unser hierfür nichteingerichtetes Prozessmodell“21.

Eine systematische Untersuchung darf sich nicht isoliert auf die dem Zieldes Verletztenschutzes zu Grunde liegenden Interessenformulierungen be-schränken, sondern hat jedenfalls zunächst die Kompatibilität von verletzten-orientierten Verfahrensrechtsreformen mit den geltenden Prozessmaximen inden Blick zu nehmen. Methodologisch beschränkt sich die hier unternommeneBegründung jedoch nicht nur auf die „klassische“ Prüfung, ob Regelungszielund Inhalt einer neuen, verletztenorientierten Norm sich den Prozessmaximenin der Form einer bestimmten bestehenden Struktur einfügen. Denn diese gleich-sam auf die Oberfläche der StPO beschränkte Prüfung blendet in ihrer phänome-nologisch-folgenorientierten Betrachtungsweise den straftheoretischen Hinter-grund des verfolgten Regelungszwecks aus. Folgen einer solchen Betrachtungwären zunächst scheinbar kompatible Schritte, die erst in ihrer langjährigenSumme zum greifbaren Ergebnis der systematischen Aufweichung des Verfah-rensrechts führen.

16 Vgl. nur BVerfGE 20, 323, 331; 57, 250, 275; BVerfG NJW 1987, 2662, 2663.17 Hettinger, JZ 2011, 292, 301.18 Fezer, NStZ 2010, 177, 182; Hettinger, JZ 2011, 292, 299, 301.19 Vgl. zu den längerfristigen inhaltlichen Tendenzen in der Strafprozessreform Rieß, ZIS2009, 466, 474ff.20 Rieß, ZIS 2009, 466, 477.21 Rieß, ZIS 2009, 466, 477; auch Schünemann, ZIS 2009, 484, 493.

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III. Verletztenorientierung im deutschenStrafverfahren

1. Verletzter oder Opfer?

Die Strafprozessordnung verwendet grundsätzlich den Begriff des „Verletzten“22.In das StGB hingegen hat der Begriff des „Opfers“ in den letzten Jahren verstärktEinzug gefunden23. Beide Begriffe werden im Gesetz nicht definiert, sondern sindaus ihren Funktionszusammenhängen abzuleiten24. In der Literatur wird vor-nehmlich der kriminologisch geprägte Opferbegriff benutzt25, wobei dem zuGrunde liegen dürfte, dass damit die durch die Straftat erfolgte Unterwerfungunter eine fremde Macht plastischer zum Ausdruck kommt. Schon auf demHintergrund der Unschuldsvermutung, die gegenüber dem Beschuldigten gilt,sollte m.E. dem weniger plakativen Begriff des „Verletzten“ der Vorzug zu gebensein, weshalb er in dieser Arbeit auch Verwendung findet. Das Grundrechts-bedenken der Unschuldsvermutung26 dürfte sich nicht in gleicher Intensität fürbeide Begriffe stellen, da die Individualität des schädigenden Verletzungsgesche-hens insoweit wirkungssteigernd für den Opferbegriff ins Feld geführt wird, mitdieser Intention m.E. auch der Angriff auf die Unschuldsvermutung stärkererscheint. Auch das neue schweizerische Bundesstrafverfahrensrecht spiegeltdiese Extrembedeutung des Begriffs des Opfers wider: Danach ist nach Art. 115

22 In den §§ 136a Abs. 1 Satz 4, 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5, 155b Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO wirdallerdings der Begriff des Opfers im „Täter-Opfer-Ausgleich“ genannt, zudem in § 406h Satz 1Nr. 3 StPO im Zusammenhang mit dem OEG, in § 406h Satz 1 Nr. 5 StPO mit„Opferhilfeeinrichtungen“ und zudem in § 154c Abs. 2, 155b Abs. 2 Satz 1 und 2 StPOeigenständig verwendet.23 In § 46a Nr. 1 und 2 StGB steht Begriff im Zusammenhang mit dem „Täter-Opfer-Ausgleich“und jeweils eigenständig in den – insoweit nach Maßgabe der Entscheidungsformel aus demUrteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a.) mit demGrundgesetz unvereinbar – §§ 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, 66a Abs. 3 Satz 2, 66b Satz 1 Nr. 2, 67dAbs. 3 Satz 1 StGB sowie in den §§ 78b Abs. 1 Nr. 1, 129b Abs. 1 Satz 1, 130 Abs. 4, 177 Abs. 1Nr. 3, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 3, Abs. 4 Nr. 2, 178, 179 Abs. 5 Nr. 1 und 3, 182 Abs. 3, 194 Abs. 2Satz 2, 221 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3, 232 Abs. 3 Nr. 1 und 2, 233a Abs. 2 Nr. 1 und 2, 235 Abs. 4 Nr. 1,Abs. 5, 238 Abs. 2 und 3, 239 Abs. 3 Nr. 1 und 2, Abs. 4, 239a Abs. 1, 3 und 4 Satz 1, 239bAbs. 1 StGB.24 Safferling, ZStW 122 (2010), S. 87, 92.25 Vgl. nur Sautner (Anm. 3), S. 25 ff.26 Ein die Unschuldsvermutung aufnehmender, dem Terminus des „Beschuldigten“ insoweitkorrespondierender Begriff ist noch nicht etabliert, vgl. nur Safferling, ZStW 122 (2010), S. 87,92; Bung, StV 2009, 430, 432.

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Abs. 1 schwStPO geschädigte Person, die durch eine objektiv und subjektiv er-füllte, rechtswidrige und schuldhafte Tat unmittelbar in ihren Rechten verletztwurde, was auch Gefährdungsdelikte umfasst; Opfer ist gemäß Art. 116 Abs. 1schwStPO hingegen die geschädigte Person, die durch eine Straftat des Bundes-rechts in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbarbeeinträchtigt und nicht nur gefährdet wurde. Der Begriff des Opfers im Vergleichzu dem der geschädigten Person ist im schweizerischen Recht enger; jedes Opferist gleichzeitig geschädigte Person aber nicht umgekehrt27. Die wissenssoziologi-sche Diskursanalyse kommt im Übrigen zu vergleichbaren Ergebnissen: Danachbestehe das zentrale Moment in der Vorstellung vom Opfer in der Traumatisie-rung durch die Straftat als viktimisierende Kontingenzerfahrung, während der„Geschädigte“ sich durch noch vorhandene rationale Entscheidungsautonomieauszeichne28. Ich denke, dass man diese Wertungsdifferenz auch auf das Ver-hältnis der Begriffe „Verletzter“ zu „Opfer“ beziehen kann.

2. Positives Recht der Nebenklage – Ausgestaltungund Genese

a) Ausformung der Mitwirkungsrechte des Nebenklägers in § 397 Abs. 1 StPO

Dem Nebenkläger stehen im Wesentlichen folgende Rechte zu: Er ist berechtigt,an der Hauptverhandlung teilzunehmen (vgl. § 397 Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO), erist zu hören (vgl. § 397 Abs. 1 Satz 4 StPO) und er hat Befugnisse in der Haupt-verhandlung (vgl. § 397 Abs. 1 Satz 3 StPO), nämlich das Recht zur Richter- undSachverständigenablehnung (vgl. §§ 24, 31, 74 StPO), das Fragerecht aus § 240Abs. 2 StPO, das Recht, Anordnungen des Vorsitzenden und Fragen zu beanstan-den (vgl. § 238 Abs. 2, 242 StPO), das Beweisantragsrecht aus § 244 Abs. 3 bis 6StPO sowie das Erklärungsrecht, insbesondere das Recht zum Schlussvortrag(vgl. §§ 257, 258 StPO). Der Nebenkläger ist jedoch nicht wie die Staatsanwalt-schaft zur Objektivität verpflichtet29; es ist daher nicht zu übersehen, dass diegenannten Verfahrensrechte in einem Spannungsverhältnis zur sanktioniertenWahrheitspflicht des Zeugen stehen30.

27 Schmid, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2009, S. 281 f.28 Stückler, Neue Kriminalpolitik 2011, 60, 61, zur Verwendung der Begriffe im legislatorischenProzess der österreichischen Strafprozessrechtsreform.29 Kühne, Strafprozessrecht, 8. Aufl. 2010, Rdn. 255; vgl. Roxin/Schünemann,Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. 2012, vor § 63 Rdn. 2.30 Vgl. Hilger, in: LR, StPO, Achter Band, 26. Aufl. 2009, § 397 Rdn. 9 m.w.N.

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Sieht man mit dem Bundesverfassungsgericht einen wesentlichen Inhalt desallgemeinen Anspruchs auf rechtliches Gehör darin, dass ein Gericht nur solcheTatsachen und Beweisergebnisse verwerten darf, zu denen die Beteiligten Stel-lung nehmen konnten31, dürften die in § 397 Abs. 1 StPO zu Gunsten des Neben-klägers normierten Äußerungs-, Beanstandungs-, Frage- und Antragsrechte vomSchutzbereich des Art. 103 Abs. 1 GG erfasst sein. Der Anspruch des Verletztenauf rechtliches Gehör im Sinne des Art. 103 Abs. 1 GG ist nach der Rechtspre-chung des Bundesverfassungsgerichts auf den Nebenkläger, der seinen An-schluss an die erhobene öffentliche Klage erklärt hat (vgl. § 396 Abs. 1 StPO),beschränkt. In diesem Sinne ist der Nebenkläger dem Verfahren förmlich bei-getreten32. Dem Verletzten, der sich nicht als Nebenkläger angeschlossen hatbzw. dazu nicht berechtigt ist (vgl. § 395 StPO), ist vom Bundesverfassungs-gericht bislang kein Anspruch auf rechtliches Gehör zuerkannt worden; dieserAnspruch steht nur demjenigen zu, der über die bloßen faktischen Auswirkun-gen hinaus von dem Verfahren rechtlich unmittelbar betroffen wird33.

b) Reformgeschichte der Nebenklage

Der Beginn der „Entdeckung des Opfers“ im Strafverfahren fällt in die 80er Jahredes letzten Jahrhunderts. Eine breite Strömung, die sich durch neue Tendenzender Mediation und Diversion im rechtlichen Verfahren berief, sowie ein erstar-kender punitiver Feminismus, der die sekundäre Viktimisierung von Frauen alsVerletzte sexueller Gewalt im Strafverfahren anprangerte34, bereitete den Bodenfür eine Entwicklung, die als Wandel des Verletzten vom Objekt zum Subjektbeschrieben wird35. Dies gilt insbesondere für die Nebenklage: Durch das Opfer-rechtsreformgesetz vom 18. Dezember 198636 wurde die Nebenklage von der

31 Vgl. BVerfGE 6, 12, 14; 57, 250, 274; 64, 135, 144; Perron, Das Beweisantragsrecht desBeschuldigten im deutschen Strafprozeß, 1995, S. 67.32 BVerfGE 14, 320, 323; BVerfG v. 27. August 2003 – 2 BvR 911/03. Vgl. Schmidt-Aßmann, in:Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, 27. Lfg. (November 1988), Art. 103 Abs. I Rdn. 34 m.w.N.;Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum GG, Band III, 6. Aufl. 2010, Art. 103 Abs. 1Rdn. 25; Schmahl, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Kommentar zum Grundgesetz,12. Aufl. 2011, Art. 103 Rdn. 5.33 Vgl. zu dieser Voraussetzung nur BVerfGE 89, 381, 390f. m.w.N.; Schmahl, in:Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Anm. 32), Art. 103 Rdn. 5.34 Krauß, Festschrift für Lüderssen, 2002, S. 269, 272.35 Siehe die Nachweise unter Anm. 8.36 Erstes Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren(Opferschutzgesetz) vom 18. 12. 1996 (BGBl. I S. 2496).

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Privatklage entkoppelt; ursprünglich war sie verbunden mit der Privatklagebe-rechtigung und fand ihren Grund darin, dass der Privatkläger im Falle deröffentlichen Klage durch die Staatsanwaltschaft nicht die Möglichkeit der Ein-flussnahme verlieren sollte37. Nunmehr war sie für abschließend benannte Ver-letztengruppen zu einem Instrument einer Verletztenbeteiligung ausgestaltet.Die Globalverweisung auf das Recht der Privatklage wurde durch die Aufzählungder Rechte des Nebenklägers in § 397 Abs. 1 StPO ersetzt. Nach diesem ent-scheidenden Funktionswechsel weg von der formalen Koppelung an die Privat-klage und hin zum materialen Schutz des insoweit nach empirisch-viktimologi-schen Erkenntnissen bedürftigen Verletzten steht im Mittelpunkt der Entwick-lung des Rechts der Nebenklage die zunehmende Tendenz der Ausweitung desdie Nebenklagebefugnis eröffnenden Deliktekataloges. Beschränkte sich diesernach dem Opferrechtsreformgesetz 1986 noch auf schwerwiegende Sexual- undAggressionsdelikte und führt als Relikte der Konnexität zur Privatklage nochBeleidigungs- und Urheberechtsdelikte mit, wurde mit dem Zeugenschutzgesetz199838 und dem Opferrechtsreformgesetz 200439 der Deliktekatalog erweitert undzudem in § 397a StPO bei bestimmten Taten der sog. Opferanwalt auf Staats-kosten eingeführt, auch wenn die Voraussetzungen, die zur Gewährung vonProzesskostenhilfe führen würden, nicht erfüllt sind. Mit dem 2. Opferrechts-reformgesetz 2008 erfolgte eine nicht mehr auf den Telos der besonderen Schutz-bedürftigkeit des Verletzten bei schwerwiegenden Sexual- und Aggressionsdelik-ten zurückführbare Öffnung des Katalogs in § 395 Abs. 3 StPO, der den An-schluss erlaubt, wenn dies aus besonderen Gründen, insbesondere wegen derschweren Folgen der Tat, zur Wahrnehmung der Interessen des Verletztengeboten erscheint. Dabei ist die in Abs. 3 normierte Liste von Delikten durch dieEinfügung des Wortes „insbesondere“ nicht abschließend.

37 Vgl. BVerfGE 26, 66, 70.38 Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und der Bundesgebührenordnung fürRechtsanwälte (Gesetz zum Schutz von Zeugen bei Vernehmungen im Strafverfahren und zurVerbesserung des Opferschutzes; Zeugenschutzgesetz – ZSchG) vom 30. 4. 1998 (BGBl. IS. 820).39 Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren(Opferrechtsreformgesetz – OpferRRG) vom 24. 6. 2004 (BGBl. I S. 11354).

Straftheoretische Anm. z. Verletztenorientierung im Strafverf. 381

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3. Gesamtgesellschaftliches Einvernehmen mit demRegelungsziel „Verletztenorientierung desStrafverfahrensrechts“

Verletztenschutz ist das Lieblingskind der Strafrechtspolitik. Insbesondere fürdas Strafverfahren gilt parteienübergreifend, dass der dort bislang erreichteStand der Ausbildung von Verletztenrechten bei Weitem noch nicht ausreichendsein soll. Schon Seelmann hat vor mehr als 20 Jahren auf dieses Phänomen beimVerletztenschutz hingewiesen, nach dem sich die unterschiedlichsten rechtspoli-tischen Lager in ihrem Bestreben der Stärkung von Verletztenrechten einig sind40.Über die Verletztenorientierung findet im „gelebten“ Strafverfahren eine zuneh-mende Psychologisierung und Pädagogisierung statt. Die Flut an halbstaatlichenund privaten Projekten zum Verletzten- und Zeugenschutz ohne juristische Fach-leitung dürfte kaum mehr zu übersehen sein; sog. „Runde Tische“ mit außer-juristischen Experten aus den Bereichen Kinder- und Frauenpolitik, seien sie nunals ständige Einrichtung installiert oder eine punktuelle Reaktion auf aktuelleskandalöse Kriminalitätsphänomene, gehören zum Standardrepertoire ministe-rialer Opferrechtspolitik, deren legislatorische Vorschläge im parlamentarischenRaum bereitwillig übersetzt werden. Soweit rechtspolitisch Kritik geübt wird,beschränkt sich diese auf das Argument der Aufgabenüberfrachtung der Strafjus-tiz und den Ruf nach mehr Geld und mehr Personal; eine inhaltliche Auseinan-dersetzung mit Grund und Grenzen der Implementierung der Verletztenorientie-rung in das materielle und formelle Strafrecht findet im politischen Raum jedochnicht statt. So konstatiert Bung, dass die Vokabel „Opferschutz“ in der öffent-lichen Debatte mittlerweile zum „Reflexionsstop“ geführt habe41.

Interessant ist, dass mit dem Ausbau von Mitwirkungsrechten des Verletztenim Strafverfahren eine Mindergewichtung solidarisch-sozialstaatlicher Belangeeinhergeht42. Zwar hat es in den letzten Jahren Änderungen im OEG ergeben,welche auch für Verletzte von Auslandsstraftaten Ansprüche vorsehen und dieRechtsstellung von Ausländern in Deutschland stärken43; andererseits ist dieVerfahrensdauer nach dem OEG bundesweit beklagenswert lang44, ohne dass

40 Seelmann, JZ 1989, 670, 671; ders., in: Karsten Schmidt (Hrsg.), Rechtsdogmatik undRechtspolitik – Hamburger Ringvorlesung, 1990, 159, 161 f.41 Bung, StV 2009, 430, 433.42 Krauß, Festschrift für Lüderssen, S. 269, 272f.43 Durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes (3. OEG-ÄndG), inKraft getreten am 1. Juli 2009 (BGBl. I S. 1580).44 Vgl. den Abschlussbericht des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch inAbhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im

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der Gesetzgeber insoweit gegen steuern würde. Die Bundesländer setzen mit derGründung sog. Opferschutzstiftungen dagegen45. Dürfte der Ausbau der Rechtedes Verletzten im Strafverfahren somit noch nicht zu einem Ende gelangt sein,so wird andererseits die sozialstaatliche Solidarität mit dem Verletzten nichtentsprechend ernst genommen. Insgesamt dürfte sich darin ein Niedergangstaatlicher Souveränität offenbaren46: Während der starke Staat den potenziellenVerletzten in den Blick nimmt und die Bedürfnisse der Risikogesellschaft ehersymbolisch befriedigt, zieht er sich beim konkreten Verletzten zu Gunsten einerquasi-privaten „Konfliktaufarbeitung“ zurück47.

IV. Europarecht und die weitere internationaleEntwicklung am Beispiel des Victim ImpactStatement (VIS)

1. Europarecht

Art. 3 Satz 1 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates über die Stellung desOpfers im Strafverfahren vom 15. März 200148 sieht das Recht des Verletzten aufGehör vor: „Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass das Opfer im Verfahrengehört werden und Beweismaterial liefern kann“. Die Gleichstellung des Opfersmit den Prozessparteien ist nach Erwägungsgrund 9 des Rahmenbeschlussesausdrücklich nicht vorgesehen. Die frühere EU-Rechtsetzung erfolgte auf derRechtsgrundlage der damaligen Art. 31 und 34 Abs. 2 lit. b) des EU-Vertrages imBereich der sog. 3. Säule – polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Straf-

familiären Bereich“, S. 33, online unter http://www.rundertisch-kindesmissbrauch.de/documents/111130AbschlussberichtRTKM111213.pdf (Stand: 2. 5. 2012).45 So bislang in Niedersachsen, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz undSchleswig-Holstein.46 Jahn, Schriftliche Stellungnahme im Rahmen der öffentlichen Anhörung desRechtsausschusses des Deutschen Bundestages zu den Gesetzentwürfen zum2. Opferrechtsreformgesetz am 13. Mai 2009, S. 30, spricht mit Blick auf das Strafrecht voneiner „Teilreprivatisierung der Anklage“.47 Zu dieser Paradoxie Seelmann, JZ 1989, 670, 671; ders., in: Karsten Schmidt (Hrsg.)(Anm. 40), S. 159, 161 f.; Bung, StV 2009, 430, 437, schließt hingegen eine „Harmonie vonOpferschutz und starkem Staat“ nicht aus: „Opferschutz als Opferermächtigung imStrafverfahren ist kein zivilgesellschaftliches Programm“.48 ABl. EG L 82/1.

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sachen – über Rahmenbeschlüsse49. Diese sind lediglich hinsichtlich des zuerreichenden Ziels verbindlich, überlassen den Mitgliedstaaten jedoch die Wahldes Weges zur Zielerreichung. Zudem wirken Rahmenbeschlüsse dadurch mittel-bar, als sie die Auslegung nationaler, hier strafverfahrensrechtlicher Vorschrif-ten beeinflussen können (rahmenbeschlusskonforme Auslegung)50.

Aktuell liegt der Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlamentsund des Rates über Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfernvon Straftaten sowie für die Opferhilfe vor51. Der Vorschlag ist Teil des am 18. Mai2011 vorgestellten „Opferschutzpakets“ der Kommission, das außerdem einenVerordnungsvorschlag über die gegenseitige Anerkennung von Gewaltschutz-maßnahmen sowie eine zusammenfassende Mitteilung über die Stärkung vonOpferrechten in der EU umfasst. Die neue Opferrechte-Richtlinie soll den Rah-menbeschluss 2001/220/JI vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers imStrafverfahren ersetzen52. Da der Rahmenbeschluss von den Mitgliedstaaten nursehr mangelhaft umgesetzt worden ist53, will die Kommission zur Angleichungdes nach wie vor sehr unterschiedlichen Opferrechte- und Opferschutzniveaus inden Mitgliedstaaten nunmehr im Wege der Richtlinie tätig werden. Seit Inkraft-treten des Vertrags von Lissabon verfügt die EU über eine ausdrückliche Kom-petenz zum Erlass von Richtlinien in diesem Bereich. Anders als bei Rahmen-beschlüssen kann die Umsetzung von Richtlinien notfalls über Vertragsverlet-zungsverfahren vor dem EuGH erzwungen werden. Dementsprechend baut derRichtlinienvorschlag auf dem Rahmenbeschluss 2001/220/JI auf. So entsprichtinsbesondere die Nummer 9 des Richtlinienvorschlags – Anspruch auf recht-liches Gehör – Art. 3 des Rahmenbeschlusses. Gleichwohl geht der Richtlini-envorschlag in anderen Bereichen – insbesondere bei Dolmetscherleistungenund Übersetzungen (vgl. Art. 6) und bei der Schulung des Justizpersonals (vgl.Art. 24) – erheblich über den Rahmenbeschluss hinaus. Insgesamt zielt derRichtlinienvorschlag darauf, die Stellung des Opfers im Strafverfahren wesent-lich stärker zu betonen54.

49 Vgl. heute Art. 288 AEUV.50 Vgl. EuGH Maria Pupino C-105/03 EuGHE 2005, I-5285; Safferling, ZStW 122 (2010), S. 87, 91.51 KOM (2011) 275 endg.; vgl. BR-Dr. 278/11.52 Vgl. Art. 28.53 Vgl. Umsetzungsbericht der Kommission gemäß Art. 18 des Rahmenbeschlusses vom20. April 2009, SEK (2009), 476.54 So äußerte EU-Kommissarin Viviane Reding anlässlich einer Rede am 9. Juni 2011 im Rahmeneiner Tagung zum Thema Opferschutz an der Europäischen Rechtsakademie in Trier: „We needto rebalance justice in Europe to provide victims of crime with the services, compensation andinformation that they need. In other words, we must put victims first“. Zum „Trend“ in der EU,die Rechte von Verletzten weiter auszubauen vgl. Fichera, eucrim 2011, 79, 81.

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Im Umsetzungsbericht der Kommission gemäß Art. 18 des Rahmenbeschlus-ses vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren vom20. April 200955 heißt es, dass Deutschland „Opfern Rechte als Nebenkläger inStrafverfahren“ gewähre; Mängel stellt die Kommission insoweit nicht fest. Diesweist darauf hin, dass das Recht des Verletzten auf Gehör im deutschen Straf-verfahrensrecht de lege lata den Anforderungen des Rahmenbeschlusses sowieder zukünftigen Richtlinie genügen dürfte. Darüber hinausgehend wird jedochvertreten, dass derzeit insbesondere deswegen ein Umsetzungsdefizit bestehe,weil im deutschen Recht ein Anspruch auf Gehör des nicht nebenklageberechtig-ten Verletzten nicht anerkannt sei56. So dürfte jedenfalls in Teilbereichen derVerletztenrechte der unionsrechtlichen Entwicklung die Funktion eines „Motors“zukommen.

2. Victim Impact Statement (VIS)

In der aktuellen Reformtendenz liegt insbesondere, die Verletztenrechte imSinne des anglo-amerikanischen sog. Victim Impact Statement (VIS) zu erwei-tern. Das Recht des Verletzten auf Gehör im Wege des VIS wird in Europa derzeitin England, Wales, Schottland, Irland und den Niederlanden umgesetzt. DasBundesministerium der Justiz hat im Juli 2010 dem Deutschen Richterbund einenGutachtenauftrag zu der Frage erteilt, ob es sich empfiehlt, das Recht des Opfersim Strafverfahren insbesondere durch Einführung des VIS nach Vorbild desanglo-amerikanischen Rechts zu stärken57.

In nahezu allen Strafverfahrensordnungen der U.S.-amerikanischen Bun-desstaaten ist das Recht des Verletzten auf VIS normiert, das jedoch zumeistnur bei schwereren Straftaten und generell nur natürlichen Personen gewährtwird58. Danach hat der Verletzte einer Straftat von Amts wegen, zum Teil jedochnur auf Antrag Gelegenheit zur Äußerung. Die Bandbreite des zulässigen Äuße-rungsinhaltes variiert: Während die Auswirkungen der Tat auf den Verletztenim Sinn der erlittenen Verletzungen und Schäden als Kernstück („victim im-

55 SEK (2009), 476.56 Hanloser, Das Recht des Opfers auf Gehör im Strafverfahren, 2010, S. 146 ff.57 Vgl. zum VIS das Gutachten der Großen Strafrechtskommission des DeutschenRichterbundes „Stärkung der Rechte des Opfers auf Gehör im Strafverfahren“, online unterhttp://www.rundertisch-kindesmissbrauch.de/documents/GutachtenDRBStaerkungderRechtedesOpfersaufGehoerimStrafverfahren.pdf (Stand: 2. 5. 2012), S. 79 ff.; zu den Inhalten undErgebnissen des Gutachtens siehe Caspari, DRiZ 2011, 350.58 Hanloser (Anm. 56), S. 29.

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pact“)59 stets umfasst sind, können bei Tötungsdelikten Hinterbliebene über diePerson des Getöteten im Sinne seines Charakters, seiner Stellung in Familie undGesellschaft, seiner Lebensziele, Berufswünsche und Träume („victim characte-ristics“)60 aussagen. Während man diese Inhalte noch dem Bereich der Tatsa-chen zuordnen kann, werden aber auch bloße Meinungsäußerungen über dieTat und den Täter („victim opinion“)61 sowie Strafmaßempfehlungen („senten-cing recommendation“)62 zugelassen mit der Folge, dass höchst emotionaleAuftritte, Wutausbrüche und drastische verbale Angriffe stattfinden. Der Ver-letzte kann die Erklärung mündlich oder schriftlich, persönlich oder durcheinen beauftragten Dritten leisten; in einigen Bundesstaaten ist auch das Zeigenvon Fotos oder Videoaufnahmen bzw. das Abspielen von Tonträgern erlaubt63.Ein Recht des Verletzten auf Berücksichtigung seines Vorbringens ist z.B. inKalifornien normiert, in den Bundesstaaten der U.S.A. jedoch nicht der Regel-fall64. Im U.S.-amerikanischen Strafverfahren findet VIS erst in der Strafmaß-verhandlung statt, d.h. die Täterschaft des Angeklagten wurde bereits durch einSchuldinterlokut festgestellt und in der Regel entscheidet nunmehr allein einBerufsrichter65.

Der Zweck des VIS liegt nach U.S.-amerikanischem Verständnis darin, meh-reren Interessen des Verletzten zu entsprechen: dem Interesse an der Bestrafungdes Angeklagten, seinem Interesse an der persönlichen Aufarbeitung des Ge-schehens an exponierter Stelle als Möglichkeit einer „powerful catharsis“66 sowiedem Interesse an der Vermeidung bzw. Linderung der sog. Sekundärviktimisie-rung67.

59 Hanloser (Anm. 56), S. 30.60 Hanloser (Anm. 56), S. 31 f.61 Z.B., dass der Täter „ein Stück Dreck“ bzw. dass es lächerlich sei, einen Mörder am Lebenzu lassen und dass er genauso leiden solle wie sein Opfer, Hanloser (Anm. 56), S. 32 m.w.N.62 Hanloser (Anm. 56), S. 33.63 Hanloser (Anm. 56), S. 34 ff.64 Hanloser (Anm. 56), S. 40 f.65 Vgl. zum Recht der Strafzumessung im Strafverfahrensrecht der U.S.A.: Perron (Anm. 31),S. 401 ff.66 Vgl. das Zitat bei Hanloser (Anm. 56), S. 22.67 Hanloser (Anm. 56), S. 23.

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3. Verfassungsrechtlicher Anspruch des Verletzten auf Gehörin Form des VIS?

Vereinzelt wird ohne weitere Erläuterung generalisierend behauptet, die strafver-fahrensrechtliche Beteiligung des Verletzten sei verfassungsrechtlich geboten68.In jedem Falle ist bei der Frage nach der verfassungsrechtlichen Begründung vonVerletztenrechten im Strafverfahren nach deren Stoßrichtung zu unterscheiden.Während für klassische Verletztenschutzrechte mit der Menschenwürdegarantie,dem Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip argumentiert wird69, ist die Beurtei-lung bei aktiven Mitwirkungsrechten schwieriger70. Walther hat versucht, einenAnspruch auf rechtliches Gehör des Verletzten aus Art. 103 Abs. 1 GG herzuleiten(a]). Zudem sieht Weigend aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ausnahmsweise für Verletzte schwerer Straftateneinen subjektiven Anspruch auf Durchführung eines Strafverfahrens, in dem dieInformationen des Verletzten entgegengenommen und gewürdigt werden, undauf unrechtsangemessene Sanktionierung des Täters (b]).

a) Anspruch jedes Verletzten auf Tat- und Rechtsfolgenerklärung

Walther deduziert für alle Verletzten, d.h. unabhängig davon, ob sie als Neben-kläger beteiligt sind oder nicht, einen Anspruch auf rechtliches Gehör im Straf-verfahren aus Art. 103 Abs. 1 GG sowie im Übrigen aus der Menschenwürde-garantie des Art. 1 Abs. 1 GG71. Sie begründet ihre weite, verletztenfreundlicheAuffassung damit, dass für alle Verletzten „etwas auf dem Spiel stehe“, nämlichinsbesondere entsprechend ihrem Verständnis der Straftat als Realkonflikt72 dieMöglichkeit einer „Verantwortungsübernahme des Täters in einem auf (…) sozia-le Tatbewältigung gerichteten Sinn“ sowie die Wahrung der Sicherheitsinteres-sen des Verletzten z.B. bei der Rechtsfolge der Aussetzung der Vollstreckung

68 Vgl. Däubler-Gmelin, StV 2001, 359, 360.69 Vgl. Rieß, Die Rechtsstellung des Verletzen im Strafverfahren, Gutachten C zum55. Deutschen Juristentag, 1984, C 47ff.70 So sieht Weigend von Art. 1 Abs. 1 GG allenfalls Opferschutz-, aber keine Aktivrechte desVerletzten erfasst, vgl. Deliktsopfer und Strafverfahren, 1989, S. 424ff.71 Auch Jung, ZStW 93 (1981), S. 1147, 1155 f., stützt die Fürsorgepflicht des Staates und dasRecht des Verletzten auf ein faires Verfahren auf die Menschenwürdegarantie.72 Walther, Vom Rechtsbruch zum Realkonflikt, 2000, S. 250ff., 280; dies., ZStW 111 (1999),S. 123, 130f. Vgl. zur Tradition der Interpretation einer Straftat als Konflikt bereits Peters,MSchKrim 1966, 49; Schüler-Springorum, Kriminalpolitik für Menschen, 1991, S. 229.

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einer verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung73. Walther fordert, dass demVerletzten „die Rolle einer eigenständigen, unabhängigen Verfahrenspartei an-geboten“ werden müsse74. Die Einräumung einer solchen Parteistellung müsstedie dann möglichen Konsequenzen für das deutsche Offizialverfahren und des-sen beweisrechtliche Entsprechung, die Instruktionsmaxime, mit ins Kalkülziehen, was bedeuten würde, die Orientierung an der materiellen Wahrheit zuGunsten eines im Diskurs gewonnen Konsenses aufzugeben. Interessant sind dieFolgerungen, dieWalther aus der Anerkennung des Grundrechtes auf rechtlichesGehör für den Verletzten für das Strafverfahrensrecht zieht: Insbesondere fordertsie die Möglichkeit jedes Verletzten zur freien Erklärung über die Tatfolgen sowiezur Äußerung zur Frage der Rechtsfolgen nach dem Vorbild des VIS75.

b) Verfahrensgrundrechte aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht

Weigend entnimmt dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG zu Gunsten Verletzter schwerer Straftaten das subjektiveRecht auf „Untersuchung und förmliche Anerkennung des Opferstatus“, daLetzterer jedenfalls bei dieser Qualität der Beeinträchtigung der Person durchdie Straftat Teil der Persönlichkeit des Verletzten werden könne, was Anerken-nung verdiene76. Dieses subjektive Recht erfasse zunächst, dass das Anliegendes Verletzten und seine Informationen entgegen genommen würden77 sowieweitergehend, dass dem Verletzten ein Anspruch auf „unrechtsangemesseneSanktionierung des Täters“ zuzubilligen sei, wobei das letztgenannte Recht erstdann verletzt sei, wenn das Urteil durch Tenor und Begründung „eine Gering-schätzung des Opfers deutlich macht“78. DaWeigend jedoch klar stellt, dass nachseiner Auffassung dadurch ein Anspruch des Verletzten auf eine bestimmteBestrafung nicht begründet werden könne79, wäre mit der Zuerkennung einessolchen subjektiven Rechts jedenfalls des Verletzten, der sich der Nebenklageangeschlossen hat, de lege lata wohl nichts zu erinnern80. Gleichwohl wäre

73 Walther, GA 2007, 615, 617 ff.74 Walther, GA 2007, 615, 619 f.75 Walther, GA 2007, 615, 623 in Fn. 51.76 Weigend, RW 2010, 39, 52.77 Weigend, RW 2010, 39, 52.78 Weigend, RW 2010, 39, 53.79 Weigend, RW 2010, 39, 53.80 Vgl. die gesetzliche Anfechtungsbeschränkung wegen fehlender Beschwer in § 400 Abs. 1,1. Alt. StPO.

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durch die Anerkennung eines Anspruchs jedes Verletzten auf Entgegennahmevon Informationen durch die Justiz nicht ausgeschlossen, dass das Recht aufGehör ggf. zum einen über den Nebenkläger hinaus und zum anderen inhaltlichim Sinne des bereits dargestellten VIS erweitert werden könnte81. Nach WeigendsVerständnis kann und darf über VIS Einfluss auf die gerichtliche Entscheidungjedoch nur in dem Rahmen genommen werden, den das Gesetz für die Straf-zumessungsentscheidung vorzeichnet82.

4. Prüfung der Einpassung des VIS in die Verfahrensstruktur(Maximenkonvergenz)

Das VIS nach anglo-amerikanischem Verständnis geht über das bloße Recht desVerletzten, Strafbedürfnisse zu äußern und Rechtsfolgen zu beantragen – hiersieht Walther den Gleichklang mit dem Recht der Nebenklage –83 hinaus. Erfasstwäre das Recht, durch Äußerungen über Tatsachen z.B. über den Charakter desGetöteten und seine Gefühle zu ihm, also über Tatsachen, die zwar zu denaußertatbestandlichen Folgen zählen könnten, aber über § 46 Abs. 2 StGB jeden-falls als verschuldete Auswirkungen der Tat nicht erfasst werden84 und somit fürdie Strafzumessung unerheblich wären, in foro die erlittene Traumatisierungaufzuarbeiten, wobei höchst emotionale Ausbrüche nicht auszuschließen seinwerden. Die Situation ist vergleichbar mit einer beantragten Beweiserhebungüber Tatsachen, die für die Entscheidungsfindung des Gerichts unerheblichwären. In fiktiv-vergleichender Betrachtung: Entsprechende Beweisanträge desNebenklägers85 könnte das Gericht über § 244 Abs. 3 Satz 2, 2. Var. StPO wegenrechtlicher Bedeutungslosigkeit ablehnen86. Es kommt hier jedoch ein kategoria-ler Unterschied hinzu, der, weil es Sinn und Zweck der Institution „VIS“ ist, auchdem sich äußernden Verletzten klar sein dürfte: Es geht ihm um die persönlicheAufarbeitung des Geschehens, die „kathartische Wirkung“, nicht um Tatsachen-

81 In diesem Sinne bereits Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, 1989, S. 515 f.82 Weigend (Anm. 81), S. 516.83 Walther, GA 2007, 615, 624.84 Etwa weil der Täter die Auswirkungen nicht hätte erkennen können, vgl. zum GanzenTheune, in: LK, StGB, 12. Aufl. 2006, § 46 Rdn. 157 ff.85 Mit ausschließlichem Bezug auf Strafzumessungstatsachen wären diese auf demHintergrund des § 400 Abs. 1, 1. Alt. StPO ohnehin unzulässig, vgl. Hilger, in: LR, StPO, 26. Aufl.2009, § 397 Rdn. 8 m.w.N.86 Vgl. dazu Anders, Beweiserhebungskontrollen des Tatgerichts und Autonomie derVerteidigung durch Präsentation von Entlastungsbeweisen in der Hauptverhandlung desStrafprozesses, 1998, S. 63.

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feststellung vor Gericht. Dieser Gedankengang ist zunächst aus der Perspektivedes Gerichts evident, er spiegelte sich in einer Ablehnungsbegründung eines –fiktiven – Beweisantrages wider.

Es handelt sich um eine neue Aufgabe jenseits der Tatschuldklärung. Daherstellt sich die Grundsatzfrage, ob sie überhaupt im Strafverfahren bearbeitetwerden könnte und sollte. Die Frage soll zunächst darauf beschränkt werden, obVIS in die bestehende, zum Teil verfassungsrechtlich abgesicherte Verfahrens-struktur ohne Friktionen und Schäden integrierbar wäre. Dies ist gleich ausmehreren Gründe zweifelhaft:87 Zum einen gerät VIS mit dem Grundsatz derErmittlung der materiellen Wahrheit, der wiederum aus der Menschenwürde-garantie des Art. 1 Abs. 1 GG und dem darin enthaltenen materiellen Schuld-prinzip folgt88, in Konflikt. Dies ergibt sich schon aus der Zielrichtung der „kathar-tischen Wirkung“ des VIS, welche die subjektive Einschätzung aus der Sicht desVerletzten geradezu verlangt und Äußerungen von Trauer, Zorn und Wut damitfür erwünscht erklärt. Die Amtsaufklärungspflicht des Gerichts stellt die Über-prüfung des Vortrags auf seinen Wahrheitsgehalt hin jedoch nicht zur Dispositi-on; dies gilt auch für Tatsachen, die allein für den Bereich der Strafzumessungerheblich wären. Es kommt das Recht auf Gehör des Angeklagten im Sinne desArt. 103 Abs. 1 GG in Form seines Fragerechts und seines Beweisantragsrechts mitBlick auf das VIS des Verletzten hinzu. Folge wäre, dass das erklärte Ziel des VIS,der Schutz vor Sekundärviktimisierung, konterkariert würde. Das Ziel des VISkönnte nach alledem nur dann erreicht werden, wenn insoweit tragende ver-fassungsrechtlich abgesicherte Verfahrensgrundsätze außer Kraft gesetzt wür-den, das VIS also eine isolierte rechtliche Stellung im Verfahren, ggf. abgesetztdurch ein Schuldinterlokut, inne hätte. Dies würde sich nicht nur auf das Ver-fahren im engeren Sinne, sondern auf weitere Folgeprobleme beziehen: Insbeson-dere stellt sich die Frage, ob sich auf Äußerungen des Verletzten im Wege des VISErmittlungsverfahren wegen Verdachts des Verstoßes gegen §§ 153 ff. StGB an-schließen werden. Hier wird die Konfusion zwischen der der materiellenWahrheitunerlässlich verpflichteten und dementsprechend verfahrens- und materiellrecht-lich abgesicherten89 Zeugenrolle des Verletzten und seinem Interesse an ins-

87 Vgl. das Gutachten der Großen Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes„Stärkung der Rechte des Opfers auf Gehör im Strafverfahren“ (Anm. 57), S. 80 ff.; zu denInhalten und Ergebnissen des Gutachtens siehe Caspari, DRiZ 2011, 350.88 Vgl. nur BVerfGE 20, 323, 331; 57, 250, 275; BVerfG NJW 1987, 2662, 2663. Hassemer undWeigend sehen den durch das VIS in Frage gestellten Grundsatz der materiellenWahrheitsermittlung als „unverfügbar“, Hassemer, Festschrift für Maihofer, 1988, S. 183, 203bzw. „unverzichtbar“, Weigend, ZStW 113 (2001), S. 271, 303f.89 Vgl. § 57 StPO, §§ 153 ff., 257, 258, 164, 185 ff., 263 StGB.

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besondere Genugtuung noch drastischer aufgewiesen als sie ohnehin in derDoppelrolle des Verletztenzeugen, der Akteneinsichtsrecht genießt und seineAussage dementsprechend „planen“ kann90, schon angelegt ist. In tatsächlicherHinsicht würde der Prozess emotionalisiert und aufgeladen werden, was derTradition des reformierten Inquisitionsverfahrens, das gerade durch die Zurück-drängung des Verletzten eine Objektivierung und Versachlichung des Verfahrensfür sich in Anspruch nimmt91, widersprechen würde.

Die Prüfung ergibt, dass VIS nicht in die Struktur des deutschen Strafverfah-rensrechts passt. Da diese aber, wie bereits dargestellt, schleichenden system-aufweichenden Veränderungen unterliegt, ist dieses Argument isoliert genutztvon minderer Durchschlagskraft. Die dargelegte prinzipienbrechende Neurege-lung zur Verfahrensabsprache in § 257c Abs. 4 StPO und die systemtheoretischenÜberlegungen im Schrifttum, die für einen radikalen Bruch mit dem Prinzip dermateriellen Wahrheitserforschung durch Einführung des Konsensprinzips derWahrheit plädieren92, könnten die Vorboten für weitere Reformen sein, die in derGesamtbetrachtung zu einer echten Strukturveränderung führen.

Den verfassungsrechtlichen Forderungen nach Erweiterung des rechtlichenGehörs durch VIS wurde bislang, soweit ersichtlich, nicht explizit entgegengetreten. Soweit es die Ausweitung von Verletztenrechten im Strafverfahrenangeht, herrscht im Übrigen das Muster einer Gegenargumentation vor, nach deraus Gründen der Waffengleichheit Ausgleich auf Seiten des Beschuldigten not-wendig sein soll93. Der Grundsatz der „Waffengleichheit“ wird dabei nicht unpro-blematisch in ein Universalprinzip überdehnt, demgemäß jegliche Asymmetriezu Lasten der Beschuldigtenrechte zu vermeiden sei94. Diese Bedenken verhallenauch nicht gänzlich ungehört, wie jedenfalls der Entwurf der Bundesregierungfür das „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs(StORMG)“, das die Pflichtverteidigerbestellung für den Fall der Beiordnungeines sog. Opferanwalts in den Katalog des § 140 Abs. 1 StPO aufnehmen will95,zeigt. Eine solche relative Argumentation kommt indes zu spät: Gleich einem„Wettrüsten“ sorgt sie für Parität, ohne die Berechtigung des jeweils erreichten

90 Schünemann, NStZ 1998, 198, 199; ders., ZIS 2009, 484, 492.91 Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 1990, S. 69 f.; ders., Das Opfer alsVerteidiger: Ermittlungen des Verletzten im Strafverfahren, 1996, S. 10. Vgl. Günther, Festschriftfür Lüderssen, S. 205, 211: „Diese Exklusion ist geradezu die raison d’etre des staatlichenStrafanspruchs“.92 Theile, Wirtschaftskriminalität und Strafverfahren, 2009, S. 331 f.; Jahn, ZStW 118 (2006),S. 427, 454ff.93 Jahn (Anm. 46), S. 7 ff.; Bung, StV 2009, 430, 431.94 Jahn (Anm. 46), S. 10.95 Vgl. BR-Drs. 213/11, S. 13.

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Niveaus der Spirale zu hinterfragen. Implizit wird damit der erste Schritt, diezunächst einseitige „Aufrüstung“ aus verletztenschutzpolitischen Erwägungen,gebilligt96. Eine grundlagenorientierte Auseinandersetzung ist damit nicht ge-leistet.

Man könnte Walthers Forderung in ihrem Kern jedoch auch auf ein bloßes„Gleichziehen“ der Mitwirkungsrechte der nicht nebenklageberechtigten Verletz-ten bzw. derjenigen Verletzten, die nicht den Anschluss an die Anklage erklärthaben, zu dem Rechtsstatus, über den die Nebenkläger verfügen, reduzieren.Dann wäre die vornehmlich systematische Frage berührt, ob die Begründungvon Mitwirkungsrechten nicht allein den bestimmten Verletzten vorbehalten seinsollte, denen das Recht zur Nebenklage zusteht (vgl. § 395 StPO). Diese Auswahlfolgt bislang dem in der gesetzlichen Regelung jedenfalls grundsätzlich angeleg-ten Leitgedanken, dass die besonderen Rechte der Nebenklage nur den Ver-letzten höchstpersönlicher Rechtsgüter, im Wesentlichen von Sexual- und Ag-gressionsdelikten zustehen sollen97. Ausgehend von einem viktimologischenStandpunkt kommt es hier entscheidend auf die Beantwortung der Frage an,welche konkreten Verletzteninteressen der Einräumung von aktiven Mitwir-kungsrechten im Strafverfahren zu Grunde gelegt werden: Bejaht man insoweitauch den Schutz vor sekundärer Viktimisierung98, so wäre es durchaus an-gebracht, die Einräumung des status activus den Verletzten schwererer Strafta-ten vorzubehalten und den – grundsätzlichen – konzeptionellen Ansatz derNebenklage insoweit nicht zu verändern. Aber auch wenn man das Partizipati-onsinteresse vornehmlich in einem Sanktionsinteresse begründet, liegt eine Be-schränkung auf die von der Nebenklage erfassten schwereren Delikte nahe, dahier ein Bestrafungsinteresse eine größere Rolle spielen dürfte99.

Die dargelegten Schwächen der bloß systematischen Prüfung einer Maxi-menkonvergenz sowie die zum VIS angestellten verfassungsrechtlichen Über-legungen, die sich auf höchst offene Bestimmungen und Interpretationen zu-rückziehen, machen deutlich, dass für die weitere Positionsbestimmung straf-theoretische Überlegungen notwendig sind.

96 Jahn (Anm. 46), S. 6: „Deshalb geht es nicht um das ‚Ob‘, sondern nur um das ‚Wie‘ derReform“.97 Siehe dazu oben S. 381.98 Velten, in: SK-StPO (Anm. 5), Vor §§ 395 Rdn. 5 ff.; Meyer-Goßner (Anm. 5), Vor § 395 Rdn. 1;Stöckel, in: KMR (Anm. 5), Vor § 395 Rdn. 1; Hilger, in: LR (Anm. 30), Vor § 395 Rdn. 8 m.w.N.99 In diese Richtung dürfte wohl Sautner (Anm. 3), S. 341 f., zu verstehen sein.

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V. Der Stand des Verletzten in denStraftheorien und diestrafverfahrensrechtlichen Folgerungen

Im Folgenden soll der Standort des Verletzten in der Begründung des Straf-rechts – der Straftheorie – und auf dieser Grundlage die ihm im Strafverfahrengrundsätzlich zukommende Position bedacht werden.

1. Abhängigkeit der Ausgestaltung des Verfahrensrechtsvom Strafzweck

Im Strafverfahren geht es um den möglichen Verletzten und den möglichen Täter:Empirische Erkenntnisse der Kriminologie über den Verletzten und die normati-ve Beschreibung der Verletztenposition können daher nicht bruchlos in die Aus-gestaltung der Rechtsposition des Verletzten im Verfahren übertragen werden100.Zudem ist eine rein „dienende“ Funktion des Verfahrensrechts gegenüber demmateriellen Recht im Sinne eines allein technisch-umsetzenden Verhältnissesabzulehnen101. Denn materielles und formelles Recht stehen in einer Wechsel-wirkung: Die jeweilige Prozesssituation hat Auswirkungen auf die Gestalt desanzuwendenden Rechts102, und bereits die Ausgestaltung des materiellen Rechtsist von den Rechtsanwendungsbedingungen abhängig und erfasst diese pro-spektiv mit103. Andererseits darf die Rolle des Verfahrens nicht überakzentuiertwerden. Insbesondere Hirsch hat radikal die Auffassung vertreten, ein Interessedes Verletzten an Genugtuung erschöpfe sich darin, es möge ein gerechtes Urteilergehen, und mit dieser Argumentation jegliche Mitwirkungsrechte im Strafver-fahren abgesprochen, vielmehr für diesen Zweck allein eine Kontrollfunktiongegenüber der Strafjustiz bejaht104. Es gilt jedoch vielmehr, aus den wohl kon-sentierten übergeordneten Verfahrensziel „Rechtsfrieden“ des Strafverfahrens,welches die beiden Unterziele „Wahrheit“ als „Zwischenziel“ und „Gerechtig-keit“ umfasst105, Schlüsse auf die Ausgestaltung des Strafverfahrens zu ziehen.Nun hängt in diesem Zusammenhang von dem Verständnis des Zielbegriffs

100 Velten, in: SK-StPO (Anm. 7), Vor §§ 374–406h Rdn. 1; Weigend, RW 2010, 39, 54.101 Anders (Anm. 86), S. 211 ff.102 Murmann, GA 2004, 65, 67, 72 f.103 Insoweit zutreffend Lüderssen/Jahn, in: LR, StPO, 26. Aufl. 2006, Einl. Abschn. M Rdn. 17 ff.104 Hirsch, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 699, 714 f.105 Anders (Anm. 86), S. 182ff., 216 f.; Murmann, GA 2004, 65 f., 68 f.

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„Rechtsfrieden“ viel ab: Begreift man diesen empirisch sozialpsychologisch, sodrängen sich Parallelen zur Strafzwecklehre der positiven Generalpräventionauf106. Begreift man ihn hingegen normativ unter Rückführung auf einen syste-matisch entwickelten freiheitlichen Rechts- und insbesondere Strafrechtsbegriff,so lassen sich bereits aus diesem intersubjektive Komponenten für die Aus-gestaltung der Strafprozessrechtsverhältnisse entnehmen107. Aus den Antwortenzu den Aufgaben des Strafrechts lassen sich demnach Ergebnisse für die Umset-zung dieser Ziele im Strafverfahren gewinnen108.

2. Zu den sog. Restitutionslehren109

Zunächst sollen vorherrschend präventionsorientierte Strafzwecklehren auf ihreLeistungsfähigkeit hinsichtlich der Stellung des Verletzten im Strafverfahrengeprüft werden.

a) Ausgangspunkt: Interessendefinition und Normativierung

Erst in den letzten Jahren liegen ausführlichere Ausarbeitungen vor, welche dieEinbindung von Verletzteninteressen in die präventiven Strafzwecklehren durchderen umfassende verletztenorientierte Modifizierung unternehmen110. Sautnersieht im Strafverfahren insbesondere die Interessen an Anerkennung als Ver-letzter einer strafbaren Handlung, an Schonung und Schutz im Zuge sämtlicherVerfahrensabschnitte sowie an der Möglichkeit, aktiv am Verfahren mitzuwir-ken, als erheblich an111 – wie eingangs erläutert, alles Interessen, die durch dasInstitut der Nebenklage umgesetzt werden sollen. Es handelt sich um Feststel-lungen aus Befragungen von Verletzten zu ihrem Verhalten und zu ihren Wün-

106 Murmann, GA 2004, 65 f., 68f.107 Anders (Anm. 86), 181 ff.; von Freier, ZStW 122 (2010), S. 117, 136; Köhler,Inquisitionsprinzip und autonome Beweisvorführung (§ 245 StPO), 1979, S. 41 f.108 Jung, ZStW 93 (1981), S. 1147, 1151.109 Terminologie nach Holz (Anm. 9), S. 176, 190.110 Es handelt sich insbesondere um die Arbeiten von Holz (Anm. 9) und Sautner (Anm. 3).Holz übernimmt in seiner originär verfassungsrechtlichen Arbeit den viktimologischenAusgangspunkt empirisch feststehender Verletztenbedürfnisse bei der Begründung rechtlich zuberücksichtigender Verletzteninteressen ohne weitere Begründung, vgl. S. 125, und legt denstrafrechtlichen Schwerpunkt in die Transponierung dieser Interessen in die Strafzwecklehren,vgl. S. 176ff.111 Sautner (Anm. 3), S. 263.

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schen im Zusammenhang mit der Durchführung des Strafverfahrens112. Die vikti-mologische Forschung transponiert und transformiert nun in einem erstenSchritt diese festgestellten Bedürfnisse und Interessen im Sinne einer isoliertenVordefinition von Aufgaben, die mit der Bestrafung erfüllt werden sollen, ineinen letztlich normativen Bereich, um dann in einem weiteren Schritt die Straf-theorien entsprechend zu modifizieren. Die Begründungszusammenhänge bewe-gen sich dabei zwischen den Begriffen des „Genugtuungsinteresses“ des Ver-letzten113 und einer dem Strafrecht attribuierten Aufgabe der „Restitution desNormgeltungsschadens“114. In diesem Sinne soll das Genugtuungsinteresse desVerletzten als Oberbegriff für alle oben genannten Verletztenbedürfnisse115 sowieals empirische Grundlage für den beim Verletzten eingetretenen Normgeltungs-schaden verstanden sein116. Man mag der empirischen Orientierung der Viktimo-logie noch zugeben, den Begriff des „Genugtuungsinteresses“ als Faktum,gleichsam als innere Tatsache beim Verletzten aufzufassen. Insoweit ist manindes sorgfältig bemüht, diesen Begriff von dem der Rache zu trennen, um nichtin die Nähe einer als archaisch verstanden Vergeltungstheorie zu geraten117. Aberauch dem Restitutionsbegriff, dem eine von dem empirisch verstandenen Be-dürfnis des Verletzten abgehobene normative Bedeutung zukommen dürfte, wirdverstärkt eine empirische Grundlage unterlegt118. Denn der Normgeltungsscha-den soll beim Verletzten einen viel stärker erfahrenen Bezug als bei der All-gemeinheit aufweisen, weil dort die Traumatisierung charakteristisch sei119. DasBestreben geht jedoch nicht nur in die Richtung der Beibehaltung einer hinrei-chend empirischen Anbindung der Aufgabe der Verletztenorientierung. Viel-mehr dient die aus den tatsächlichen Befunden nahezu zwingend gefolgerte

112 Vgl. Sautner (Anm. 3), S. 143; Kilchling, Opferinteressen und Strafverfolgung, 1995, S. 8 f.113 Auch der BGH sieht in der Nebenklage das Recht auf Wahrnehmung des persönlichenInteresses auf Genugtuung verwirklicht; allerdings sei der Nebenkläger nicht zur Wahrung desöffentlichen Interesses an der Strafverfolgung berufen, vgl. BGHSt. 28, 272, 273.114 Velten, in: SK-StPO (Anm. 7), Vor §§ 374–406h Rdn. 9 ff.; Holz (Anm. 9), S. 134; Sautner(Anm. 3), S. 288, jedenfalls mit Blick auf das Sanktionierungsinteresse des Verletzten; Beulke,Strafprozessrecht, 11. Aufl. 2010, Rdn. 593.115 Sautner (Anm. 3), S. 288, beschränkt dies auf das Sanktionierungsinteresse desVerletzten.116 A.A. insoweit Prittwitz, Opferlose Straftheorien?, in: Schünemann/Dubber (Hrsg.) (Anm. 2),S. 51, 68, der strikt zwischen „Genugtuung“ und „Resozialisierung“ trennt.117 Velten, in: SK-StPO (Anm. 7), Vor §§ 374–406h Rdn. 9; dies., in: SK-StPO (Anm. 5), Vor§§ 395 Rdn. 6; Holz (Anm. 9), S. 133f.118 Holz (Anm. 9), S. 179: „Die Einbuße an sozialer Wirksamkeit durch den Bruch derVerhaltensnorm (der ‚Normgeltungsschaden‘) spielt sich nicht im luftleeren Raum ab“.119 Sautner (Anm. 3), S. 288f.

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Aufgabenstellung der Normgeltungsrestitution beim Opfer in gegenläufiger Rich-tung gleichsam als systemtheoretische „Veredelung“, um Strafrechtslegitimati-onsfragen mit Verletztenbezug überhaupt erst angehen zu können. Diese norma-tiv verfasste stärkere Einbindung des Verletzten bildet sich in einem übergeord-neten staatskritischen Verständnis des Rechtsbruchs als „Realkonflikt“120 ab. DieRede ist von der „Repersonalisierung des Rechtskonflikts“121 bzw. von der „Rück-gabe des Konflikts“ nach dessen „Enteignung“ in der Geschichte der Entwick-lung des staatlichen Gewaltmonopols122.

Es kommt hinzu, dass die empirische Grundannahme der Restitutionslehren,jeder Verletzte habe ein Genugtuungsinteresse und ein Sanktionsinteresse, je-denfalls fraglich ist, was zwangsläufig auch die normative Adaption dieserInteressenlage erfassen muss. So soll es als gesichert gelten, dass die Strafbe-dürfnisse von Verletzten moderater seien als erwartet und in der Öffentlichkeitvielfach unterstellt123. Die veröffentlichten Werte und Schlussfolgerungen sindjedoch höchst schwankend: Frehsee hatte 1987noch formuliert, dass weniger dieLaien und „Rechtskonsumenten“ retributive Tendenzen bewahrten als vielmehrdiejenigen, denen die „Kriminalitätsverarbeitung“ als Beruf übertragen sei unddaraus gefolgert, dass „Strafbedürfnisse der Öffentlichkeit“ eher als „Zuschrei-bungsartefakt auf der Grundlage professioneller Erhaltungsinteressen“ erschie-nen124. Auch die Studie von Sessar aus dem Jahre 1992 stützt noch FrehseesBefund, nach dem ein Großteil jedenfalls der Nichtjuristen Schadenswiedergut-machung der punitiven Behandlung vorziehen würde125. Sautner kommt unterEinbeziehung insbesondere der Untersuchung von Kilchling126 zu dem Schluss,dass Verletzte sich seltener als Nichtverletzte die Bestrafung des Täters wünsch-ten, als Sanktionszweck häufiger die Resozialisierung des Täters präferiertenund daher in der Tendenz weniger punitiv eingestellt seien127. Jedoch zeigt schon

120 Walther (Anm. 72), S. 250ff., 280; dies., ZStW 111 (1999), S. 123, 130f. Vgl. zur Traditionder Interpretation einer Straftat als Konflikt: Peters, MSchKrim 1966, 49; Schüler-Springorum(Anm. 72), S. 229.121 Welke, Die Repersonalisierung des Rechtskonflikts. Zum gegenwärtigen Verhältnis vonStraf- und Zivilrecht, 2009.122 Christie, The British Journal of Criminology 17 (1977), S. 1, 3; Schüler-Springorum(Anm. 72), S. 230.123 Velten, in: SK-StPO (Anm. 7), Vor §§ 374–406h Rdn. 29 m.w.N.124 Frehsee, Schadenswiedergutmachung als Instrument strafrechtlicher Sozialkontrolle,1987, S. 107.125 Sessar, Wiedergutmachung oder Strafen. Einstellungen in der Bevölkerung und in derJustiz, 1992, S. 219 ff.126 Kilchling (Anm. 112), S. 350f.127 Sautner (Anm. 3), S. 235 f., 257.

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die Untersuchungen von Schwind u.a. aus dem Jahre 2001 eine gegenläufigeTendenz; daraus ergibt sich, dass sich von 1975 bis 1998 das Bedürfnis nachabschreckenden Strafen verdoppelt, der Wunsch nach Resozialisierung des Tä-ters halbiert hatte128.

Zu fragen ist, ob diese viktimologische Konstruktion in die relativen Straf-theorien integrierbar ist; denn bisher war man sich in diesem Kreis darin einig,dass die relativen Straftheorien schon auf Grund ihrer Zukunftsgewandtheit denVerletzten ignorieren würden129. War bei Rieß die Beziehung zwischen einerStärkung der Verfahrensrolle des Verletzten und den Straftheorien noch eherunvermittelt130, lehnen sich die neueren verletztenorientierten Straftheorien na-hezu ausnahmslos an die Präventionstheorien an. Sie nehmen modifizierenddie präsumtiven Verletzten über die Theorie der positiven Generalpräventionund die realen Verletzten über die Spezialprävention in den Blick. Die sog.„absolute“ Straftheorie findet in diesen Modifizierungsbemühungen keinenRaum131.

b) Zur Theorie der positiven Generalrestitution als Modifikation der Theorieder positiven Generalprävention

Sog. „Wiederaufhebungs“- bzw. „Restitutionstheorien“ im Strafrecht gab esschon bei Welcker. Ihr Ziel war es, den „intellektuellen Verbrechensschaden“,der im Gegensatz zu dem allein dem Zivilrecht vorbehaltenen materiellen Scha-den stehen soll, nicht nur beim Verbrecher, sondern bei den Bürgern aufzuhe-ben132. Freilich waren diese Ansichten noch nicht von der für das heutige Ver-ständnis der positiven Generalprävention charakteristischen Affirmation derkognitiven Seite der Normgeltung sowie einem auch empirischen Verständnisdes gesellschaftlichen Sicherungszecks133 geprägt, sondern von vornehmlich

128 Schwind/Fetchenhauer/Ahlborn/Weiß, Kriminalitätsphänomene im Langzeitvergleich amBeispiel einer deutschen Großstadt. Bochum 1975–1986–1998, 2001, S. 204.129 Prittwitz, Opferlose Straftheorien?, in: Schünemann/Dubber (Hrsg.) (Anm. 2), S. 51, 60;Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 1990, S. 72.130 Rieß, Die Rechtsstellung des Verletzen im Strafverfahren, Gutachten C zum 55. DeutschenJuristentag, 1984, C 50 f.131 Exemplarisch Sautner (Anm. 3), S. 372: „Auf absolute Strafrechtsheorien, die dieGerechtigkeit von Strafrecht und Strafe ohne Bezug auf einen sozialen Nutzen zu begründensuchen, wird an dieser Stelle nicht mehr eingegangen“. Vgl. auch Holz (Anm. 9), S. 174 f.132 Welcker, Über die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 257. Vgl. denÜberblick über die älteren Restitutionstheorien bei Frehsee (Anm. 124), S. 50 ff.133 Dazu Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band I, 4. Aufl. 2006, S. 83.

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ideellem Charakter. Immerhin fand sich in ihnen ein enger Bezug zum Sicher-heitsgefühl möglicher weiterer Verletzter134.

Nach Holz hat der Verletzte einer Straftat ein legitimes Interesse an derWiederherstellung der individualrechtsgutschützenden Strafnorm in Form desAusspruchs eines Unwerturteils gegenüber dem Täter zur Restitution des durchdie Straftat lädierten Normvertrauens135. Holz bezeichnet dieses Interesse an derWiederherstellung der individualrechtsgutschützenden Strafnorm als „Genugtu-ung“ im Sinn der „symbolische(n) Restitution des beeinträchtigten Normver-trauens“, als „nichts anderes als die strafgesetzliche Ausprägung des Interes-ses des einzelnen an der Gewährleistung von subjektiver Sicherheit“136. Diesergenuin verfassungsrechtlichen Bewertung liegt die systemtheoretisch unterlegtePerspektive eines funktionalen Verständnisses von Strafrecht, das im Wesentli-chen der kognitiven Untermauerung normkonformer Erwartungen bei Anderendient, zu Grunde137. Es handelt sich um die Strafzwecklehre der positiven Ge-neralprävention, deren Restitutionsinteresse sich nun nicht mehr auf die All-gemeinheit als solche bezieht, sondern vielmehr die präsumtiv Verletzten alsihre Adressaten ausdrücklich hervorhebt und daher als Theorie der General-restitution bezeichnet wird138. Einen ähnlichen Weg geht Sautner, die allerdingsdiese Modifizierung der positiven Generalprävention unter den Oberbegriff „Op-ferprävention“ fasst, um den Verletzten als alleinigen Adressaten herauszuhe-ben139. Die Aufspaltung in potenzielle Täter und potenzielle Verletzte folgt demJakobsschen Verständnis der Gesellschaft als „praktizierte personale Kommuni-kation“140, in deren Zusammenhang in späteren Schriften nunmehr ausdrück-lich in einem empirischen Verständnis141 die Verletzten als Kommunizierendemit einbezogen sind: „Es geht im Strafrecht nicht primär um Verbrechensver-hütung (…), vielmehr um eine Reaktion auf das Verbrechen, die sicherstellt,daß die Rechtstreue als selbstverständliche Haltung der Mehrzahl aller Per-sonen erhalten bleibt und potentielle Opfer deshalb gewiß sein können, ihreRechte nicht nur ausüben zu dürfen, sondern auch unbeschadet ausüben zukönnen, jedenfalls soweit sie sich nicht an den Rand der Gesellschaft be-

134 Vgl. die Nachweise bei Holz (Anm. 9), S. 176 in Fn. 278.135 Vgl. Holz (Anm. 9), S. 133ff.136 Holz (Anm. 9), S. 134.137 Holz (Anm. 9), S. 128f.138 Holz (Anm. 9), S. 176.139 Sautner (Anm. 3), S. 371.140 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft. Vorüberlegungen zu einer Rechtsphilosophie, 2008,S. 52.141 Roxin, Allg. Teil, Band I (Anm. 133), S. 82.

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geben“142. Die entsprechende verletztenorientierte Modifizierung der Theorie derpositiven Generalprävention weist sich in folgenden Punkten auf: Mit Hervor-hebung der präsumtiven Verletzten wird das eigentliche Ziel der Verbrechens-verhinderung durch die bezweckte „Einübung in Rechtstreue“ und damit dieOrientierung an der unmittelbaren Schutzaufgabe des Strafrechts143 verlassen.Ziel ist nun nicht mehr Kriminalprävention im Sinne des Unterlassens delikti-scher Handlungen mit dem Bezugspunkt des äußeren Handelns, sondern Sozi-alprävention im weiteren Sinne, die sich nun zudem auf das forum internumder potenziellen Verletzten, auf ein nicht bewusstes „Rund-um-Vertrauen“ feh-lender (Kriminalitäts-)Risikoberücksichtigung bezieht144. In diesem Sinne kannvon „Verhaltenskontrolle“ jedoch kaum mehr die Rede sein. Der Unterschied istnicht etwa nur marginal145; markiert er doch noch eindringlicher die Aufgaben-überfrachtung des Strafrechts als Allheilwerkzeug der gesamtgesellschaftlichenSteuerung146. Warum auf das entsprechende Verhalten gerade mit der Übel-szufügung „Strafe“ reagiert werden soll, ist dann nicht mehr zu erklären147.Schutzwürdig wäre danach schon das subjektive Sicherheitsgefühl der Bürger,das eindeutig über ein verfassungsrechtlich konsentiertes, jedoch objektiv ge-prägtes „Grundrecht auf Sicherheit“ hinausschießen dürfte148. Richtig ist viel-mehr, dass das Präventionsdenken kein „Genug“ kennt, ihm eine Expansions-logik immanent ist149. Grund und Maß staatlichen Strafens sind so nicht mehrzu begrenzen. Somit sind die gegen die Integrationsprävention vorgetragenenEinwände auf die Theorie der Generalrestitution übertragbar. Es bietet sich ausstraftheoretischer Sicht auch hier, nunmehr in einem verfeinerten Bezug, dasgesamte instrumentalisierende Dilemma des generalpräventiven Ansatzes, näm-lich die Ablösung der Strafe und des Strafmaßes von Tat und Täter durch dievorgebliche Motivierungsbedürftigkeit Anderer – verstanden als auf natur-

142 Jakobs, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004, S. 31; vgl. auch dens. (Anm. 140),2008, S. 113.143 Zu diesem eigentliche Zweck der „Integrationsprävention“: Roxin, Allg. Teil, Band I(Anm. 133), S. 81.144 Amelung, Festschrift für Eser, S. 3, 9.145 Amelung, Festschrift für Eser, S. 3, 10, bezweifelt die gleiche Wirksamkeit einerAppellfunktion an die Verletzten im Vergleich zu derjenigen, die sich an die potenziellen Täterrichtet.146 Köhler, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1997, S. 46; ders. (Anm. 107), S. 31 f.147 Hörnle/von Hirsch, GA 1995, 261, 266; Köhler, Allg. Teil (Anm. 146), S. 46.148 Holz (Anm. 9), S. 74.149 Pawlik, Staatlicher Strafanspruch und Strafzwecke, in: Eva Schumann (Hrsg.), Dasstrafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, 2010, S. 59, 79.

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wissenschaftlich kausale Reiz-Reaktions-Schemata reduzierte Appelladressatenund nicht als selbstbewusst geltungsreflektierende freie Wesen150.

c) Zur Theorie der Spezialrestitution als Modifikation der Theorieder Spezialprävention

Spezialpräventive Ansätze mit Blick auf den Verletzten gibt es seit Reemtsma,der eine Restitution der subjektiven Sicherheitseinbuße des Verletzten fordert:„Es ist das (traumatisierte) Opfer, das der Resozialisierung bedarf“151. Die Be-strafung könne dem Verletzten keine Genugtuung verschaffen, Strafe habejedoch die Pflicht zukünftigen Schaden vom betroffenen Verletzten dadurchabzuwenden, dass anerkannt werde, beim Erlebten handele es sich nicht Un-glück, sondern um Unrecht152. Hörnle knüpft daran an und sieht in dem Bedürfnisdes tatsächlich Verletzten nach Anerkennung ein normativ berücksichtigungs-fähiges Verletzteninteresse, auf das in Form eines Übel zufügenden Unwert-urteils zu reagieren sei153. Zur Legitimation dieses Interesses verweist Hörnleunter Berufung auf von der Pfordten154 auf den sog. Normativen Individualis-mus155. Damit ist zwar ein subjektiver Bezug auf den Verletzten im Ansatzdargetan; jedoch verbleiben die Voraussetzungen einer Rechtslegitimation imVerständnis intersubjektiver freier Personalität unausgewiesen: Zwar wählt auchvon der Pfordten den Ausgangspunkt, dass das Recht, insbesondere das Straf-recht, personal und damit eben nicht objektivistisch begründet sein müsse. Errekurriert jedoch in erster Linie auf ein politisches Prinzip156 und nimmt dieausstehenden rechtlichen Begründungszusammenhänge daher ebenfalls nichthinreichend in den Blick. (Verfahrens-)rechtsbegründene und – limitierendeFolgerungen für ein Zwangsrecht sind aus dem Prinzip des Normativen Indivi-dualismus insbesondere mit Blick auf den Verletzten daher nicht möglich.

Weitere spezialpräventive Ansätze, die den konkreten Verletzten als Adres-saten einer Resozialisierung durch strafrechtliche Reaktion gegen den Täter

150 Köhler, Allg. Teil (Anm. 146), S. 42; ders., Über den Zusammenhang vonStrafrechtsbegründung und Strafzumessung erörtert am Problem der Generalprävention, 1983,S. 31 f.151 Reemtsma, Das Recht des Opfers auf Bestrafung des Täters – als Problem, 1999, S. 26 f.152 Reemtsma (Anm. 155), S. 25 f.153 Vgl. Hörnle, JZ 2006, 950, 955 f.154 Vgl. von der Pfordten, JZ 2005, 1069.155 Vgl. Hörnle, JZ 2006, 950, 952.156 Vgl. von der Pfordten, JZ 2005, 1069, 1078ff.

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betrachten, finden sich bei Rössner157. Auch Günther erkennt ein Genugtuungs-bedürfnis des Verletzten ausdrücklich an158. Zudem sieht er die Notwendigkeitder Verletztenresozialisierung159, wenn er die vom Verletzten erlittenen Demüti-gungen zentral stellt160. Auch wenn seine Forderung nach einer symbolisch-expressiven Reaktion auf die Zufügung eines Übels verzichtet161, handelt es sichdoch im Kern um eine Reaktion des Strafrechts. Man kann in Günthers Auf-fassung daher durchaus Elemente einer spezialrestitutiven Straftheorie (ohneÜbelszufügung) sehen162. Von einigen Autoren werden die zu leistenden Resti-tutionsanstrengungen zu Gunsten des konkreten Verletzten verengt und damitbegründet, dass die „Deligitimation von Selbstjustiz“163 bzw. die Vermeidung der„Erosion der stabilisierenden Normgeltung (…) (Opfer-Täter-Karriere)“164 im Mit-telpunkt stünde; der Verletzte wird danach bei unterlassener oder fehlgeschlage-ner Resozialisierung also als präsumtiver Täter begriffen.

Bei der Spezialrestitution geht es nicht um die Besserung des Täters im Wegeder Resozialisierung, sondern um die Befriedigung des Genugtuungsinteressesdes konkreten Verletzten insbesondere durch Sanktionierung des Täters165. DerResozialisierungsgedanke oszilliert selbst zwischen sozialstaatlich-solidarischemEingehen auf die Schwäche des Täters einerseits, andererseits dessen Instru-mentalisierung im spezialpräventiven Sicherungsinteresse der Gesellschaft. Wirddem nun noch das Genugtuungsinteresse des Verletzten hinzugefügt, dürfte sichzwar zum einen die ohnehin schon bestehende Prognoseungewissheit166 kaumweiter erhöhen. Denn das Ausmaß der Forderung nach persönlicher Genugtu-ung, die sich in der Sanktion niederschlagen soll, wird sich aus den Äußerungen

157 Vgl. Rössner, Gedächtnisschrift für Keller, 2003, S. 213, 221 f.158 Vgl. Günther, Festschrift für Lüderssen, S. 205, 207ff.159 So wie hier Prittwitz, Opferlose Straftheorien?, in: Schünemann/Dubber (Hrsg.) (Anm. 2),S. 51, 71.160 Günther, Festschrift für Lüderssen, S. 205, 211.161 Günther, Festschrift für Lüderssen, S. 205, 219.162 Insoweit ähnlich wie hier Prittwitz, Opferlose Straftheorien?, in: Schünemann/Dubber(Hrsg.) (Anm. 2), S. 51, 71; Holz (Anm. 9), S. 193.163 Velten, in: SK-StPO (Anm. 7), Vor §§ 374–406h Rdn. 11. Velten lehnt generalrestitutiveErwägungen zur Verletztenorientierung ab, vgl. Rdn. 70.164 Kilchling, NStZ 2002, 57, 59.165 Vgl. Schüler-Springorum (Anm. 7), S. 225: „Ganz nahe liegt nunmehr der Einwand, warumin aller Welt das Tatopfer im nachhinein auch noch für die Resozialisierung des Tätersherhalten solle, und allzu evident ist seine Berechtigung“. Vgl. auch Lüderssen, Der öffentlicheStrafanspruch im demokratischen Zeitalter – Von der Staatsräson über das Gemeinwohl zumOpfer?, in: Prittwitz/Manoledakis (Hrsg.), Strafrechtsprobleme an der Jahrtausendwende, 2000,S. 63, 68.166 Vgl. dazu Pawlik (Anm. 149), S. 59, 71; Köhler, Allg. Teil (Anm. 146), S. 45 f.

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des Verletzten in der Hauptverhandlung ergeben. Zum anderen hat aber dieprinzipielle Maßlosigkeit des Zweckparadigmas eine neue Dimension, indem siesich auf den Verletzten bezogen versubjektiviert hat. War die Gefährlichkeit desTäters noch eine Größe, zu der man sachverständigenseits jedenfalls objektiviertAngaben machen konnte, ist das subjektive Sanktionsbedürfnis des Verletztentendenziell bodenlos. Hinweise auf zudem nicht sichere anderslautende statisti-sche Werte167 führen in jedem Einzelfall, dem Gerechtigkeit geschuldet ist, nichtweiter. Der bloße Hinweis auf die Limitierungsfunktion des Schuldgrundsatzes168

kann diesen Einwänden solange nicht ernsthaft begegnen, als die Schuld nichtkonstitutiver Teil der Straftheorie ist.

c) Verfahrensrechtliche Folgerungen

In ihrem verfahrensrechtlichen Bezug tendieren die Restitutionslehren praxis-logisch dazu, den in ihren Grundlagen festgeschriebenen empirischen Interessenund Bedürfnissen der Verletzten dadurch Rechnung zu tragen, dass diesen imVerfahren effizienzorientiert auch Geltung eingeräumt wird. Soweit es den In-teressen des Verletzten denn dienen würde, könnte danach grundsätzlich jedesVerfahrensinstitut umgesetzt werden, würde auch VIS akzeptiert werden kön-nen.

Der Grund für diese affirmative Tendenz liegt in dem Verständnis der Resti-tutionslehren vom Rechtsbruch als allgemeine Rechtsfriedensstörung. Dabeiwird der Rechtsfrieden als ein unbewusstes „Rund-um-Vertrauen“ der Bürgerbegriffen, welches dessen bloße Interessen als bedeutsam ansieht; die Erschütte-rung des Rechtsvertrauens gilt als sozialpsychologischer Befund169. Resultiertdaraus für die Bestimmung der Zwecke des Strafrechts, die zur Beseitigungdieser Rechtsfriedensstörung benannt werden, eine allein folgenorientierte Be-liebigkeit und sind so inhaltliche Bestimmungen nicht mehr ableitbar, so mussnun auch diese größere „Beweglichkeit“ der Restitutionslehren im Verfahrens-recht greifen, denn für die Beseitigung des Konflikts kann jedes vermeintlicherfolgreiche Mittel recht sein, das den Beteiligten billig ist170. Dementsprechendist auch aus den Restitutionslehren ein Maß der Einräumung von Mitwirkungs-rechten für Verletzte im Strafverfahren nicht begründbar. Die Grenzen – und dasgilt auch für die Frage nach der Implementierung des VIS – werden letztlich

167 Vgl. dazu oben S. 396f.168 Sautner (Anm. 3), S. 371.169 Sautner (Anm. 3), S. 376 unter Hinweis auf Amelung, Festschrift für Eser, S. 3, 12.170 Murmann, GA 2004, 67, 71, 81.

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allein aus den empirischen Befunden und nachfolgenden diffusen Güterabwä-gungen gefolgert.

Das dem Verletzten unter Berufung auf den Strafzweck einer ihm geltendenNormgeltungsrestitution zugestandene Recht auf Äußerung von subjektiven,zum Teil höchst emotionalisierten und nicht mehr schuld- und strafzumessungs-relevanten Tatsachen und Wertungen im Sinne des VIS tendierte in seinenFolgen zur Maßlosigkeit. Das Genugtuungsinteresse würde als Rache auftreten.Wenn die Geschichte des deutschen Strafrechts aufgewiesen hat, dass staatli-ches Strafrecht erst mit der Neutralisierung des Opfers entsteht171, so liegt darinder gute Sinn, dass „der Träger des Strafverfolgungsanspruchs aus Gründeneiner intrinsischen Zivilität, Rationalität und Fairness des Verfahrens nicht derVerletzte selbst sein kann“172. Das positive Recht stützt diese Annahme, wenn esin § 400 Abs. 1, 1. Alt. StPO das Anfechtungsrecht des Verletzten wegen fehlen-der Beschwer gesetzlich einschränkt.

VI. Das Gegenmodell: Der Verletzte in derfreiheitlichen Strafrechtsbegründung

Prittwitz sagt den sog. „absoluten“ Straftheorien die „radikalste Entfernung desOpfers aus straftheoretischen Legitimationszusammenhängen“ nach173. AuchSautner kommt zu dem Ergebnis, dass sich in der Vergeltungstheorie mit ihrermetaphysischen Strafrechtsbegründung kein Raum für die Belange des Verletz-ten finden lasse174. Nach Hassemer dagegen hat die sog. „absolute“ Theoriedurch ihre Rückwärtsgewandtheit sogar die größte Verletztennähe, sie „blicktauf die Verletzung beim Opfer“175. Diese „verletztenfreundliche“ Lesart der Ver-geltungstheorie wird jedoch verworfen, indem der sog. „absoluten“ Straftheorieallein eine Nähe zur Rache, jedoch nicht zur aktuellen und zukünftig zu bewälti-genden Traumatisierung des Verletzten bescheinigt wird176. Diese Kritik setzt dasWort „absolut“ jedoch fehlerhaft mit einer irrationalen Metaphysik eins undübersieht, dass damit im Kern – negativ – die Ablösung von einem empirisch-

171 Siehe die Nachweise unter Anm. 91.172 Bung, StV 2009, 430, 437.173 Prittwitz, Opferlose Straftheorien?, in: Schünemann/Dubber (Hrsg.) (Anm. 2), S. 51, 59.174 Sautner (Anm. 3), S. 47.175 Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 1990, S. 72.176 Prittwitz, Opferlose Straftheorien?, in: Schünemann/Dubber (Hrsg.) (Anm. 2), S. 51, 59 f.;Sautner (Anm. 3), S. 47.

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mechanistischen Personenverständnis gemeint und – positiv – der Selbstzweckdes Subjekts als rechtskonstitutiv gesetzt wird177. Es ist hier weiter antikritisch zuhinterfragen, ob diese Kritik die Verletztenrelevanz der „absoluten“ Theorieüberhaupt zutreffend erfassen kann; anzusetzen ist beim freiheitlichen Straf-rechtsbegriff, der sich zentral über die Rechtskonstituierung durch das intersub-jektive Anerkennungsverhältnis definiert.

1. Das intersubjektive Anerkennungsverhältnis

Das freiheitliche Rechtsprinzip nimmt den Verletzten über die im materiellenVerbrechensbegriff angelegte Interpersonalität in einen strafrechtsbegründen-den Zusammenhang auf. Die Personen konstituieren selbstzweckhaft und gel-tungsreflektierend die Rechtsverhältnisse in Form wechselseitiger Anerken-nung178. Die Wechselseitigkeit des Anerkennungsverhältnisses stellt sich alsEinheit der privaten Existenz des Einzelnen und der ihm zugeordneten Rechts-positionen mit dem ebenso bestimmten Anderen als zunächst persönliches vor-staatliches Verhältnis dar179; durch die staatsrechtliche Verfasstheit mensch-lichen Handelns tritt die Allgemeinbezüglichkeit der Rechtsverletzung hinzu.Der besondere Bereich des Strafrechts unterscheidet sich vom allgemeinen Rechtdurch seinen besonderen Regelungsbereich: Es bezieht sich auf Verletzungen,auf die sich der Einzelne nach der Rechtsordnung als Sozialordnung bei einemselbstorientierten Leben aus eigener Kraft nicht einstellen kann, das Verbrechenist somit die Verletzung des öffentlichen Basisvertrauens180.

Ohnehin steht für die Rechtsverletzung die konkrete Verletzung einer Per-son. Der Verletzte ist damit (ebenfalls) konstituierend im Begriff des Verbrechensund damit in der Strafunrechtsbegründung mit aufgehoben. Der Begriff desAnerkennungsverhältnisses, der zuerst von Seelmann mit Blick auf die Verletz-tenorientierung im Strafrecht in Ansatz gebracht wurde181, hebt dieses Verhältnis

177 Umfassend Köhler, in: Franz von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht (1882/83), 2002,Einführung, S. XIV.178 Vgl. zu Fichtes Formulierung des Anerkennungsprinzips: E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), 786,811 ff., und zu Hegels Bestimmung dieses Prinzips: Siep, Anerkennung als Prinzip derpraktischen Philosophie, 1979, S. 54 ff.; dens., Die Bewegung des Anerkennens in derPhänomenologie des Geistes, in: Köhler/Poggeler (Hrsg.): G. W. F. Hegel, Phänomenologie desGeistes, 1998, 107, 111 f.; Gadamer, Hegels Dialektik des Selbstbewußtseins, in: Fulda/Henrich(Hrsg.), Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“, 1992, S. 217, 218.179 E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786, 819.180 E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786, 819.181 Seelmann, JZ 1989, 670, 675 f.; ders., in: Karsten Schmidt (Hrsg.) (Anm. 40), S. 159, 171.

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in seiner Konkretheit hervor. Aus der genannten Verbrechensdefinition als sol-cher ergibt sich schon, dass der Verletzte aus der freiheitlichen Rechtsbegrün-dung nicht hinweggedacht werden kann; wird doch das Verbrechen über seineSchutzbedürftigkeit definiert. Das Anerkennungsverhältnis ist demnach tri-polar182.

Dieses Verständnis der Verletzung des intersubjektiven Anerkennungsver-hältnisses in Form des öffentlichen Basisvertrauens hat Konsequenzen, diesystematisch-widerspruchfrei für den gesamten Vorgang des Bestrafens durch-zuhalten sind183.

2. Bedeutung für das Strafprozessrechtsverhältnis

Das Strafprozessrechtsverhältnis bezieht sich auf das erst noch zu klärende sub-jektmitkonstituierte, insoweit auch Täter und Verletzten einbeziehende materiel-le Strafrechtsverhältnis und verwirklicht es unter der Bedingung der Unsicher-heit des Erkenntnisprozesses184. Aus der Verletzung des Strafrechts als öffent-liches Basisvertrauens ergibt sich somit zunächst zwingend ein staatlicherStrafanspruch185, verstanden als hoheitliche Befugnis zur Bestrafung in Abgren-zung zum Gegenstück des zivilrechtlichen Anspruchs:186 „Das Anklagerecht istdas Recht, die Erfüllung der staatlichen Strafpflicht zu verlangen“187. Über das

182 Sarhan, Wiedergutmachung zugunsten des Opfers im Lichte strafrechtlicherTrennungsdogmatik, 2006, S. 216f.183 Ausgehend von einer freiheitlichen Strafbegründung ist etwa die materielleSchadenswiedergutmachung als Sanktion insbesondere deshalb untauglich, weil sie nicht überdas ohnehin zivilrechtlich Geschuldete hinausgeht und eine Wiederherstellung allgemeinerRechtsgeltung über das Verhältnis von Täter und Verletztem hinaus nicht im Blick hat,Noltenius, GA 2007, 518, 523ff. Man mag auf der materiell-rechtlichen Ebene mit demAusschluss von Bagatellen aus dem Strafrecht in Abgrenzung zum Zivil- und Ordnungsrecht,sprich: mit Entkriminalisierung, reagieren, da hier das öffentliche Basisvertrauen und damit dieMöglichkeit, sich auf die Verletzung aus eigener Kraft einzustellen, noch nicht verletzt ist,Köhler, Allg. Teil (Anm. 146), S. 33.184 Murmann, GA 2004, 65, 72 ff., 76; von Freier, ZStW 122 (2010), S. 117, 136f.185 Vgl. auch Safferling, ZStW 122 (2010), S. 87, 89: „Das entscheidende Kriterium scheint mirdabei die Antwort auf die Frage zu sein, wer die Anklage vertritt. Das Strafverfahren derAufklärung ist ein öffentliches und eben kein privates“. Vgl. auch Jahn (Anm. 46), S. 30;Dölling, Festschrift für Jung, 2007, S. 77, 81 f.186 Roxin/Schünemann (Anm. 29), § 12 Rdn. 7 in Fn. 1.187 Goldschmidt, Der Prozess als Rechtslage. Eine Kritik des prozessualen Denkens, 1925,S. 244 in Fn. 1327. Zur Pflichtenkomponente des Strafanspruchs vgl. auch Wolfslast, StaatlicherStrafanspruch und Verwirkung, 1995, S. 97 f.

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öffentliche Basisvertrauen ist wegen des in ihm enthaltenen Allgemeinheitsbezu-ges zunächst nur die Repräsentanz der Allgemeinheit durch den einzelnen Ver-letzten ausgewiesen – Günther hat dies als den Status des Verletzten als „einesGleichen unter Gleichen“ bezeichnet188. Die Aufgabe der Restitution des Rechtsbezieht sich jedoch auf die Wiederherstellung „jeder einzelnen solcher Anerken-nungsbeziehungen“189 und bedeutet daher auch und insbesondere die Wieder-herstellung des Anerkennungsverhältnisses zwischen Täter und Verletztem alsGleiche, die im Strafprozessverhältnis zu reflektieren ist. Daraus resultiert einebesondere Stellung des Verletzten: Ihm ist über die bloßen Zeugenpflichten, diesich wie bei jedem Zeugen auf eine allgemeine Justizpflicht, an der Klärung desTatverdachts mitzuwirken, zurückführen lassen190, eine Sonderstellung als Ver-fahrenssubjekt einzuräumen. Jedoch kann seine Subjektstellung nicht so weitgehen, dass der öffentliche Strafanspruch dadurch in Frage gestellt würde. Denndie Wiederherstellung der Anerkennungsbeziehung ist notwendig für alle Betei-ligten, sie kann mithin nicht zur Disposition des einzelnen Verletzten stehen191.Es ginge daher nicht an, dass dem Verletzten im Verfahren etwa unter Wegfalldes Offizialprinzips und – bezogen auf die Sachverhaltsfeststellung – der In-struktionsmaxime192 eine Parteistellung zuerkannt würde oder aber, dass derStaat die Verletzteninteressen gleichsam als Agentur umsetzen würde193; derStaat würde sich so letztlich aus der Verantwortung stehlen. Es gibt in diesemVerständnis des Strafverfahrens als öffentliches Recht keine „strafrechtlicheKontrolle einer außerstrafrechtlichen Konfliktregelung“194. Aus der Teilhabe andem tripolaren Anerkennungsverhältnis resultiert zudem kein prozessualer„Gleichstand“ mit dem Angeklagten, wie er etwa mit dem unklaren Begriff der„Waffengleichheit“ suggeriert werden könnte. Dies wird an dem Fehlen der pro-zessualen Wahrheitspflicht des Angeklagten195 in Abgrenzung zur sanktioniertenWahrheitspflicht des Zeugen deutlich.

188 Günther, Festschrift für Lüderssen, S. 205, 217.189 Seelmann, in: Karsten Schmidt (Hrsg.) (Anm. 40), S. 159, 171.190 Köhler ZStW 107 (1995), S. 10, 22f. Reine Schutzrechte des Verletzten im Strafverfahren(vgl. nur §§ 58a, 247a StPO, § 172 Nr. 1a und Nr. 4 GVG) dürften ihre Legitimation schon in derin die Justizpflicht eingelassenen Aufopferungsgrenze finden.191 Seelmann, in: Karsten Schmidt (Hrsg.) (Anm. 40), S. 159, 171.192 Der Grundsatz der Ermittlung der materiellen Wahrheit sichert das Offizialprinzip nach dertatsächlichen Seite hin ab, Roxin/Schünemann (Anm. 29), § 15 Rdn. 8.193 Lüderssen, Festschrift für Hirsch, 1999, S. 879, 888: „(…) die Befangenheit würde danngleichsam übertragen“.194 Schädler, NStZ 2005, 366, 368, mit Bezug zum TOA.195 Vgl. dazu nur Rogall, in: SK-StPO, Band II, 4. Aufl. 2010, Vor §§ 133 ff. Rdn. 72.

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Für die konkrete Ausgestaltung der Mitwirkungsrechte des Verletzten an derSachverhaltsermittlung gilt daher, dass auch diese sich an dem vorgängig ge-meinsamen Ziel des Verfahrens, ein wahres und gerechtes Urteil zu finden,messen lassen müssen. Dieses Verfahrensziel reflektiert im Strafprozessrechts-verhältnis den intersubjektiven Konstitutionsprozess der (Straf-)Rechtsverhält-nisse. Für das Ziel der Ermittlung der materiellen Wahrheit hatte ich allein mitBlick auf den Angeklagten den „dialogischen“ Begriff der Strafe, dem im Er-kenntnisverfahren im Wege eines gemeinschaftlich begründeten Prozessrechts-verhältnisses zur Restitution des Rechts entsprochen werden muss, schon früherentwickelt196. Da dieses freiheitliche Prozessmodell auf dem allgemeinen Grund-satz beruht, dass Wahrheit und Gerechtigkeit auch die Bedingungen der Mög-lichkeit einer konkreten Einbeziehung der je betroffenen Willenssubjekte voraus-setzen197 – ich hatte dies als den Grundsatz der „verfahrenszielbezogene(n)Loyalität der Prozeßbeteiligten“ bezeichnet198 –, bestehen m.E. keine Bedenkendagegen, den Verletzten in diese Wahrheitsfindungsbedingungen in ein trialogi-sches Profil des Strafprozessrechtsverhältnisses einzubinden.

Daraus resultiert zweierlei: Ein Recht zum Vortrag, das dieses im Anerken-nungsverhältnis enthaltenen Ziel gemeinsamer Richtigkeitserfahrung verlässt,kann nicht legitimierbar sein. Die über VIS mögliche ungebremste Subjektivitätdes Verletzten verfehlt das vorgängig gemeinsame Ziel der Ermittlung der mate-riellen Wahrheit. Gemessen an diesem intersubjektiv verbindlichen, d.h. auchdurch den Verletzten konstituierten Prozessziel würde dieser „schon nach seinereigenen Voraussetzung nicht mehr gehört“199. Es gibt kein „therapeutisches“Recht auf Gehör; soweit es dem Verletzten daher um Solidarität, Selbststand undSanktionierung des Angeklagten als Grundlagen seines Genugtuungsbedürfnis-ses geht, werden diese Interessen nicht im vorgängig gemeinsamen Ziel desVerfahrens reflektiert.

Zum anderen bestehen m.E. keine Bedenken, auch dem Verletzten über seinebisherigen aus § 397 Abs. 1 StPO folgenden Erklärungs-, Frage-, Antrags- undRechtsmittelbefugnisse hinaus ein Recht auf autonome Beweispräsentation zu-zusprechen, wie es § 245 StPO a.F. bis zum Jahre 1979 zu Gunsten des Angeklag-ten vorsah. Die Norm ermöglichte es dem Angeklagten, eine Beweiserhebungohne vorherigen förmlichen Beweisantrag auch gegen das Instruktionsermessendes Tatgerichts durchzusetzen, wobei dies jedoch auch mit der Verantwortung

196 Anders (Anm. 86), S. 200ff.197 Köhler (Anm. 107), S. 41.198 Anders (Anm. 86), S. 21.199 Köhler (Anm. 107), S. 71. Vgl. Anders (Anm. 86), S. 217.

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für die Beibringung des Beweismittels verbunden war200. Der positive Sinn derüber § 245 StPO a.F. vorgesehenen Rechts zur autonomen Beweispräsentationwar es, dass der Angeklagte die Richtigkeit des Urteils für sich annehmenkonnte201. Diese Situation besteht für den Verletzten ebenfalls, jedoch in abge-schwächter Form, da er durch das Urteil keine Minderung seines Freiheitsstatus’zu befürchten hat. § 245 StPO a.F. stellte zwar gemessen an der Instruktions-maxime durchaus einen Fremdkörper in der Verfahrensstruktur dar. Darauskann jedoch nicht gefolgert werden, dass die Vorschrift letztlich zur Struktureines Parteiverfahrens führen würde202. Denn schon die Existenz des § 245 StPOa.F. allein zu Gunsten des Angeklagten bedeutete nicht, dass die unstreitigbestehende Dominanz der gerichtlich ausgeübten Instruktion überhaupt nur inFrage gestellt worden wäre203; Gleiches würde auch dann gelten, wenn de legeferenda ein Recht auf autonome Beweispräsentation zusätzlich dem Verletzteneingeräumt wäre. Dies bedeutete jedoch nicht, einer ungebremsten Partizipationdes Verletzten im Strafverfahren das Wort zu reden: Vor dem Erfordernis seinerZustimmung etwa zum „deal“ gemäß § 257c StPO oder aber zu den Opportuni-tätseinstellungen sei gewarnt, da die lediglich scheinbare204 „Demokratisierung“dieser Entscheidungsprozesse die grundlegende Kritik an den Institutionen –der Schuldspruch steht nicht zur Disposition der Beteiligten205 – als solche nichtzu beseitigen vermag. Es kommt hinzu, dass eine Einräumung solch weitgehen-der Offensivrechte wie § 245 StPO a.F. eine Beschränkung auf den Nebenklägersowie zudem des Deliktekatalogs der Nebenklage in § 395 StPO auf Sexual- undAggressionsdelikte zur Folge haben müsste: Denn es ist auf dem Hintergrundeiner Verbrechensdefinition als Verletzung basalen Vertrauens kaum begründ-bar, dass der Verletzte etwa eines Ladendiebstahls über autonome Beweisrechteverfügen müsste, um die Richtigkeit eines Urteils für sich überhaupt annehmenzu können.

VII. Ergebnis

Die bisherige Reformgeschichte der StPO hat insbesondere anhand der Neu-regelung zu den Verfahrensabsprachen aufgewiesen, dass auch strukturfremde

200 Umfassend Köhler (Anm. 107), S. 51 ff.; Anders (Anm. 86), S. 232ff.201 Köhler (Anm. 107), S. 45.202 So Gössel, GA 2001, 347, 351.203 Anders (Anm. 86), S. 241.204 Köhler, Allg. Teil (Anm. 146), S. 618.205 Vgl. Köhler, Allg. Teil (Anm. 146), S. 617 f.

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Institute in das Verfahrensrecht integriert werden. Die bloße Prüfung der Maxi-menkonvergenz neuer Vorschriften ist somit nicht hinreichend, um die Sinn-haftigkeit von Verfahrensreformen zu erfassen. Gleiches gilt mit Blick auf relativoffene verfassungsrechtliche Bestimmungen, die zur Legitimierung insbesonderevon verletztenorientierten Verfahrensrechtsänderungen in Anspruch genommenwerden.

Die bislang allein rechtspolitisch wirkmächtige Verletztenorientierung imStrafverfahrensrecht wird seit kürzerer Zeit durch in ihrem Kern viktimologisch-empirisch fundierte Restitutionslehren in der Strafzwecklehre gestützt. Danachwerden die Berücksichtigung eines Genugtuungsinteresses des Verletzten, dasein Sanktionsinteresse an Bestrafung des Täters enthalten soll, und eine Notwen-digkeit der Wiederherstellung von durch die Straftat zerstörten Normvertrauensbei den Verletzten als eigenständige Ziele des Strafens anerkannt. Die sog.„absolute“ Straftheorie spielt in der Diskussion der Verletztenorientierung bis-lang keine Rolle.

Wenngleich die Mediatisierung des Täters in diesen Lehren auf einen ver-feinerten Adressatenkreis, nämlich den konkreten Verletzten bei der Spezial-restitution und die präsumtiven Verletzten in der Gesellschaft im Rahmen derpositiven Generalrestitution zielt, begegnen die Restitutionslehren wie auch diePräventionstheorien der kategorialen Instrumentalisierungskritik. Insbesonderelassen sich aus den Restitutionslehren in ihrer Umsetzung auf das Verfahrens-recht keine Grenzen einer Mitwirkung des Verletzten an der prozessualen Wahr-heitsfindung ableiten. Sie sind strafrechtlich unterbestimmt und tendieren, ver-stärkt durch entsprechende rechtspolitische Sogwirkungen, somit auch zurMaßlosigkeit in der Gewährung strafprozessualer Rechte zu Gunsten des Ver-letzten.

Der freiheitlich-intersubjektive materielle Verbrechensbegriff definiert sichüber die Verletzung eines tripolaren Anerkennungsverhältnisses in Form desöffentlichen Basisvertrauens und bindet den Verletzten in Reflexion dieser Straf-rechtsbegründung auch in ein intersubjektiv gefasstes Strafprozessrechtsverhält-nis konstituierend ein. Das Verfahrensrecht auf Gehör lässt sich daraus in Grundund Grenzen angemessen erfassen. Danach sind Mitwirkungsrechte des Verletz-ten in Form des sog. Victim Impact Statement (VIS), das die Subjektivität desVerletzten in „kathartisch“ wirkender Aufarbeitung und nicht mit vorgängigemBezug zur Tatsachenfeststellung vor Gericht aufweisen soll, vom gemeinsamenVerfahrensziel des wahren gerechten Urteils nicht mehr erfasst.

Die These von der „Opferlosigkeit“ der sog. „absoluten“ Theorie ist nicht zuhalten; entgegen dem Zeitgeist, welcher der freiheitsgesetzlichen Strafbegrün-dung in einem verkürzten und falschen Verständnis eine alleinige Rache- undVergeltungslegitimation vorwirft, ermöglicht es gerade das tripolare Anerken-

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nungsverhältnis in der Konstitution des materiellen Verbrechensbegriffs, denVerletzten auch im Strafverfahrensrecht als Subjekt zu erfassen. Aufgewiesenwird dies durch die in ein freiheitlich begründetes Strafprozessrechtsverhältniseingelassene, allein am vorgängig gemeinsamen Ziel der Wahrheitsfindung allerVerfahrensbeteiligten orientierte Befugnis auch des Verletzten zur autonomenBeweispräsentation. Umgekehrt tendieren die Präventionslehren in ihren ver-fahrensrechtlichen, prinzipiell maßlosen Umsetzungen zur nicht ausschließ-baren Realisierung von Racheinteressen des Verletzten gegenüber dem Ange-klagten.

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