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Leseprobe
Seiler, Lutz
pech & blende
Gedichte
© Suhrkamp Verlag
edition suhrkamp 2161
978-3-518-12161-0
Suhrkamp Verlag
edition suhrkamp 2161
Lutz Seilers Gedichte sind »Erkundungen der Kindheitslandschaf-ten zwischen Abraumhalden und paramilitärischen Formierungen,sie überzeugen durch ihre Intensität der sinnlichen Ausdruckskraftund ihre vielschichtige Bilderwelt. Seine ganz eigene, suggestiveStimme eröffnet einen glaubwürdigen poetischen Raum, wie er inder Gegenwartsdichtung selten zu finden ist«, heißt es in der Be-gründung zur Verleihung des Kranichsteiner Literaturpreises 1999an den Autor. In einer gehärteten Sprache außerhalb aller Modensucht Seiler nach dem Essentiellen, nach den Spuren unseres Her-kommens. Seine Gedichte rufen die dunklen Seiten unseres Daseinsauf, graben tief im Vergangenen, legen dessen Schichten frei.Lutz Seiler wurde 1963 in Gera/Thüringen geboren, heute lebt er inPeter Huchels Wilhelmshorst bei Berlin. 1995 erschien sein Debütberührt/geführt (Oberbaum Verlag), pech & blende ist sein ersterBand im Suhrkamp Verlag. Lutz Seiler wurde mit zahlreichen Prei-sen ausgezeichnet, u.a. mit dem Kranichsteiner Literaturpreis, demDresdner Lyrikpreis, dem Lyrikpreis Meran und dem Ingeborg-Bachmann-Preis.
Foto: Renate von Mangoldt
Lutz Seilerpech & blende
Gedichte
Suhrkamp
edition suhrkamp 2161© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2000ErstausgabeErste AuflageAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunkund Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie,Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigungdes Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischerSysteme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimUmschlag gestaltet nach einem Konzeptvon Willy Fleckhaus: Rolf StaudtPrinted in GermanyISBN 978-3-518-12161-0
4 5 6 7 8 9 – 12 11 10 09 08 07
Jeder hat nur ein Lied.
Paul Bowles
I
mechanik der bildwelt
die schaukel herunterschrauben im herbst & heraufim april. täglich
pendelt der vorort unterden bäumen stündlichfallen am himmel der höfe
zerriebene schwalben & saubergestopfte kommen herauf: die schwerkraft ihrer augen hängt
roh wie ein eiüber dem globus über dem mann am tisch nebenan
(das gesicht stellt er schlafend gegen die lampe) und überden schmalen tieren hier
die abends die promenade herunterschleichen & leise
n’abend sagen ins dunkel alslegten sie diesen gruss zurückin ihre warmen fast
schlafenden körper
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latrine
einmal, es hiess, die wurzel ihres hustensleuchtete unsdie stiege herunter, schwächliche kinder
mit kaltenurinen, fleischers enkel in der nacht, die
das licht im radio liebten & die botschaftendes uhrwerks, deckbettkinder, dampfende
vögel, das warihr haus gewesen, auch ihre müdigkeit, wennes regnete, war das der hof und dasder hund und
es war der strick des fleischers als
mutter leis die wirbel auseinanderknackten, standich noch immer in der küchehinter ihrem schrankund wusste nicht, ob ich dawo ich war, noch jemalsgefunden werden konnte oderich selbst bereits gestorben war oder dochdie anderen, draussen gestorben warenmutter, vater, gagarin & heike oder
mutter vorn nicht leis bereitstandzu müde für die feuchtigkeit der luft &die hand erhoben hielt, als
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wollte jetzt das tiervon ihr ein letztes
mal besänftigt sein, dochauch das hatte sie vollbracht undwar noch einsamer gewesen
mit einer passstraße im rückeneinem brotwagen im hof, dem öffnen & schliessen der tränen …
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es gab eine verwandtschaft unserer häuser
es gab enten auf entengrützeund ihre, fräulein, schneidereizwischen silber weidenköpfen. es gab
ihr basilikumlachen mit nähe maschinemit massband und einigen torsi. wasgab es zu lachen? es gab
nichts zu lachen, es gab, verzeihungauch nichts zu reden, esgab enten auf entengrütze
und ihre, fräulein, schneiderei
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fin de siècle
ich ging im schnee mit den nervösennachkriegs peitschen lampen im genicküber die wiener mozart brücke dorthockte noch an einem strick ein müder
irish setter er
war tot und wartete auf mich dasheisst ich band den strickvom sockel des geländers und beganndas tier ein wenig hin & herzu schwenken haut & knochenleichtesglocken läuten schnee gestöber
setzte ein ich sang
ein kleines lied über die donau hin& z’rück (ich war ein kind) der totesetter kreiste jetzt an meinemrechten arm über die schönebalustrade er rotierteleicht & gross in das nervösenachkriegs lampen licht ein rissam hals vertiefte sich ein pfeifen
kam in gang und seine steifenaugen schalen klapptenmüde auf & zu: du
hättest die mechanik dieses blicks geliebtund wärst noch einsamer gewesenüber dem schnee, der brücke & dem alten lied
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grossraum berlin, ein
letzte-kolonien-geruch & schwerer einsatz an den lauben: manche
hängten schlitten glocken, anden taschen hart & gross gestossne spät- heimkehrer mäntel, wirhatten noch stanniol, mal stores in den kirschen, flaschen, wo man hintrat, auf
die kurzen, braunen hälse. dort
hockten wir zu tisch mit überspreiztem scheitel paarpfund augen welpen unterm lid: jägerzäune, wellasbest für immer oder ein der-tut-nichts-pitbull im luden
gewirr & kristall-
klare flaschen, erst schwer vom körper zu trennen, doch leer in die löcher der ratten
zu graben, die pfeifenden hälse
gegen den westmond. wie guttat dann das ratten-klatschen bei
nordwest & waswir hier jetzt immer haben: dieses
patrouillieren aus den schädel spitzen, tagswenn unser sinnen sorgsam seine schläfenbettet in der luft lamellen, blankenerven an den rinden, wenn
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im frühlicht kopf & leben eines vogels auf einander schlagen
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haldenglühn
hiess physikalisch: havarien, scheintot, plötzlichpurpur schläfen-schächte; haldenglühnwar trinkbranntwein, akzisefrei
für troglodyten, dann»heraus zum ersten mai«.
und abends das sakko aus polyakryl, im sperrsitz die steinzeit-operetten, das viehzeugim schuppen, abendsdas oster-karnickel-zucken; windig
das bündel am balken vergleichemit krätze-erloschenen hasen: alszuerst deine füsse erblinden, alsdeine augen langsam verschwinden; weiss
wie an der lampe meines lichtes kegel springtdas überleben inden fellen, falten, anden wänden innender chaussee voraus: du
liebtest, wenn die schafe oszillierten, ihr lausiges zucken im schlaf, der leichtespasmus im glück auf! – alles
erinnert einen an etwasunter spänen, unter-
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graben stehtein wind auf augenhöhe hoch
aus der vergangenheit; in jedem blickwechseln die seiten, jeder lidschlag schaufelt
deine höhle in der zeit
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kölnisch wasser schere licht
ich ging knietief mit einer strömung dassmich leichen überholten eine weicheweisse schulter stiesshorizontal auf die verspanntekehle meines knies ich schwankte vor
seit an & tep mit einem wasserwalzer schritt entglittein grosser toter schwimmer längsvorbei stiess aber gleichein andrer wasserkopfmir zwischen meine beine dass
ich stürzte ja doch neinich tanzte jenes nächsteviertel drehgebein nach linkszurück seit an & tep den toteneine freie bahn sie zogen steifwie schweine zwischen inseln schwimmenden boulevard herab wohin das
weiss ich nicht es regnete ich tanzte mitden grossen schweren wellen bisder abend glanz abwarf für messergabel schere lichtunter ihren dünn verglasten fontanellen
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