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Leseprobe Harbsmeier, Martin / Möckel, Sebastian Pathos, Affekt, Emotion Transformationen der Antike Herausgegeben von Martin Harbsmeier und Sebastian Möckel. Mit Abbildungen © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1908 978-3-518-29508-3 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Harbsmeier, Martin / Möckel, Sebastian

Pathos, Affekt, Emotion

Transformationen der Antike

Herausgegeben von Martin Harbsmeier und Sebastian Möckel. Mit Abbildungen

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1908

978-3-518-29508-3

Suhrkamp Verlag

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suhrkamp taschenbuchwissenschaft 1908

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Glück oder Trauer, Furcht oder Mitleid, Zorn oder Liebe: Die Kultur derAntike bietet zahlreiche Zeugnisse für die Macht der Emotionen. Sie liefertzugleich die Muster und Ausdrucksformen, die bis heute unsere Wahrneh-mung und Deutung von Emotionen prägen. Die Spuren, die diese in dernachantiken Welt hinterlassen haben, sind Gegenstand dieses Buches. Esdiskutiert den geschichtlichen Wandel von Begriffen und Auffassungen gro-ßer Gefühle im allgemeinen und anhand einzelner Emotionen sowie ausder Perspektive so unterschiedlicher Disziplinen wie Literaturwissenschaft,Kunstgeschichte, Theologie, Musik-, Theater- und Kulturwissenschaft. MitBeiträgen u.a. von Hartmut Böhme, Klaus Herding, David Konstan, HilgeLandweer, Ernst Osterkamp, Christof Rapp und Christiane Voss.

Martin Harbsmeier ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Klas-sische Philologie der Humboldt-Universität zu Berlin.Sebastian Möckel ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deut-sche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin im Rahmen des Sonder-forschungsbereiches »Transformationen der Antike«.

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Pathos, Affekt, EmotionTransformationen der Antike

Herausgegeben vonMartin Harbsmeier und

Sebastian Möckel

Suhrkamp

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1908Erste Auflage 2009

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag nach Entwürfenvon Willy Fleckhaus und Rolf StaudtSatz: TypoForum GmbH, Seelbach

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimPrinted in Germany

ISBN 978-3-518-29508-3

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Martin Harbsmeier und Sebastian MöckelAntike Gefühle im Wandel. Eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . 9

Teil I: Theoretische Grundlagen

David KonstanHaben Gefühle eine Geschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27Jakub Krajczynski und Christof RappEmotionen in der antiken Philosophie.Definitionen und Kataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47Hilge Landweer und Catherine NewmarkSeelenruhe oder Langeweile, Tiefe der Gefühleoder bedrohliche Exzesse?Zur Rhetorik von Emotionsdebatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79Christiane VossDie narrative Transformation aristotelischer undmoderner Emotionstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Teil II: Fallstudien

Katharina GreschatÜber den Tod hinaus.Aspekte heidnischer und christlicher Hoffnung mitihren Personifikationen in der römischen Antike . . . . . . . . . . 1 3 3Hartmut BöhmeVom phobos zur Angst.Zur Transformations- und Kulturgeschichte der Angst . . . . . 1 54Verena Olejniczak LobsienGlückseligkeit: »Enjoy the world!«Poetisch-platonische Lebenskunst im 17. Jahrhundert . . . . . . . 1 8 5Frank Wittchow»Pallidus amaro aspectu«. Der Neid. Ein häßliches Gefühl? . . 2 17

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Ursula Rombach und Peter SeilerEleos – misericordia – compassio.Transformationen des Mitleids in Text und Bild . . . . . . . . . . 250Werner Röcke»Schadenfreude ist die schönste Freude«.Formen aggressiven Gelächters in der Literatur der Antikeund des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277Silke Leopold»Mourn, All Ye Muses!«. Formeln der Trauer in derdramatischen Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297Jens RoseltTo feel, or not to feel? Emotionalität im Theater . . . . . . . . . . 3 1 8Klaus HerdingBegriff und Gestalt der Melancholie in der Kunstder Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 38Ernst OsterkampSeelenliebe und antiker Amor in der deutschen Liebeslyrikdes 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390

Über die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 8Über die Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422

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Vorwort

»Pathos – Affekt – Emotion. Wie die Antike unser Denken über dieEmotionen beeinflußt« – unter dieser Themenstellung veranstalteteeine interdisziplinäre Arbeitsgruppe des Berliner Sonderforschungs-bereiches »Transformationen der Antike« im Wintersemester 2006/2007 eine Vorlesungsreihe an der Humboldt-Universität zu Berlin.Ausgehend von der Annahme, daß die griechisch-römische Antikebei der Entstehung und Entwicklung neuzeitlicher und modernerMuster und Ausdrucksformen von Emotionen konstitutiv gewirkthat und immer noch wirkt, wurde im Rahmen der Vorlesungsreiheeine Auswahl der bereits in der Antike kanonisierten »großen Ge-fühle« aus unterschiedlichen disziplinären, epochalen und methodi-schen Perspektiven exemplarisch untersucht. Dabei zeigte sich nichtnur, daß die fruchtbare Auseinandersetzung mit der Antike ein brei-tes Spektrum an Formen aufweist, die von mechanischer Aufnahmeüber kritische Anpassung bis hin zur rigorosen Ablehnung reichen,sondern auch, daß die Antike selbst dabei immer wieder neu be-stimmt wird.

Untersucht wurden die Gefühle Hoffnung (Katharina Greschat),Furcht und Angst (Hartmut Böhme), Glück (Verena Lobsien), Neid(Frank Wittchow), Mitleid (Ursula Rombach und Peter Seiler),Schadenfreude (Werner Röcke), Trauer (Silke Leopold), Grimmig-keit (Jens Roselt), Melancholie (Klaus Herding) und Liebe (ErnstOsterkamp).

Diese Fallstudien sind im zweiten Teil dieses Buches dokumen-tiert. Der erste Teil ist einer Reihe von allgemeineren historischen undsystematischen Aspekten von Emotionen gewidmet, die für die Fragenach dem Ineinander von Kontinuität und Wandel emotionaler Aus-drucksformen aufschlußreich sind. Zuerst wird die grundlegendeFrage, ob Gefühle überhaupt eine Geschichte haben, diskutiert (Da-vid Konstan). Anschließend werden die antiken Definitionen vonEmotionen in ihren jeweiligen Kontexten besprochen und die Emo-tionskataloge und Systematisierungsversuche der antiken Philoso-phenschulen vorgestellt (Jakub Krajczynski und Christof Rapp). So-dann werden die Debatten über Emotionen von der Neuzeit bisin die Gegenwart untersucht und deren besondere Rhetorik aufge-zeigt (Hilge Landweer und Catherine Newmark). Schließlich wird

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auf Grundlage einer Analyse der narrativen Dimension des Emotio-nalen ein synthetisches Beschreibungsmodell emotionaler Vorgängepräsentiert (Christiane Voss).

Die Herausgeber möchten neben allen Beiträgerinnen und Bei-trägern auch den weiteren Mitgliedern der Arbeitsgruppe »Invarianzund Transformation emotionaler Typen seit der Antike«, PhilippBrüllmann, Naomi Kubota, Nina Mindt, Wiebke-Marie Stock undCornelia Wilde, herzlich danken. Ein besonderer Dank geht eben-falls an Herrn Christian Syperek für seine Hilfe bei der Einrichtungdes Manuskripts sowie an den SFB 644 »Transformationen der An-tike« für dessen finanzielle und ideelle Unterstützung des Projekts.

Martin Harbsmeier und Sebastian Möckel

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Martin Harbsmeier und Sebastian MöckelAntike Gefühle im Wandel

Eine Einleitung

Ìçíéí áåéäå èåá ÐçëçúÜäåù ’Á÷éëçïòï ’õëïìÝíçí, ç ìõñé’ ’Á÷áéïéò áëãå’ åèçêå.

Den Zorn singe, Göttin, des Peleus-Sohns Achilleus,den verderblichen, der zehntausend Schmerzen über die Achaier brachte.1

1 Homer, Ilias 1, 1 f., übers. von Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt/M. 1975.

Die europäische Literatur beginnt mit einer monumentalen Refle-xion über Emotionalität. Menis, was wir gewöhnlich mit »Zorn«oder »Groll« übersetzen, ist das erste Wort der Homerischen Iliasund zugleich das Thema des gesamten Epos. Der »verderbliche Zorn«des Achill, entstanden durch einen erbitterten Machtkampf zwi-schen ihm und Agamemnon, führt dazu, daß Achill, um sich anAgamemnon für die empfundene Schmähung zu rächen, das ganzegriechische Kriegsunternehmen boykottiert und über seine Mutter,die Göttin Thetis, dafür sorgt, daß das Heer der Griechen in äußer-ste Bedrängnis gerät. Erst als Achill vom Tod seines Freundes Pa-troklos erfährt, läßt er ab von seinem Groll. Dieser wird nunmehrdurch eine wilde Rachsucht gegen die Trojaner ersetzt, die schließ-lich in der Tötung Hektors und der wochenlangen Schändung vondessen Leiche gipfelt, bevor sie endlich in der Zwiesprache mit Pria-mos, dem Vater Hektors, gelöst wird.

So erforscht, beschreibt und kritisiert die Ilias den Zorn des Achillin seiner Entstehung, seiner Wirkung und seinen Folgen. Das Ho-merische Epos ist das erste überlieferte Zeugnis einer langen Tradi-tion von künstlerischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzun-gen mit großen Gefühlen – einer Tradition, die bis in die Gegenwarthineinreicht und zweifelsfrei auch über sie hinausreichen wird.

Die griechisch-römische Antike bildet in dieser langen Traditionvon Auseinandersetzungen mit dem Phänomen der Emotionalitätfreilich nicht nur den chronologischen Ausgangspunkt. Die Antikeist vielmehr in einer grundsätzlichen Art und Weise für den Emo-tionsdiskurs der Nachantike konstitutiv geworden. Ein wesentlicherTeil der mittelalterlichen, neuzeitlichen und modernen – theoreti-

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schen und künstlerischen – Beschäftigung mit diesem Phänomen isteine teils explizite, teils implizite, teils bewußte, teils unbewußte Aus-einandersetzung mit den antiken Darstellungen, Diskussionen undTheorien der Gefühle.

Gemeint ist damit freilich nicht, daß antike Definitionsversucheoder Darstellungsmuster von nachantiken Denkern, Schriftstellernoder bildenden Künstlern einfach in ihrer bestehenden Form über-nommen wurden. In jedem einzelnen Akt der Aneignung antikerEmotionsdiskurse wurden vielmehr gemäß oder – bewußt – entgegenzeitgenössischen kulturellen Regeln und Praktiken antike Aussagenüber emotionale Phänomene immer wieder aufs neue konstruiertoder in neue Zusammenhänge eingepaßt. Die antiken Ausdrucks-formen, Beschreibungen, Bestimmungen und Einschätzungen vonEmotionen unterlagen im Laufe ihrer Rezeptionsgeschichte mithineinem vielfachen Wandel.

Diese Geschichte der Transformation antiker Emotionsdiskurseexemplarisch und interdisziplinär zu untersuchen, hat sich das vor-liegende Buch zur Aufgabe gestellt in der Hoffnung, damit einenBeitrag zum besseren Verständnis der antiken und neuzeitlichenAuseinandersetzungen mit Emotionen, aber auch zum Verständnisdes Emotionalen selbst zu leisten.

Was sind überhaupt Emotionen? Sind sie überzeitliche Phäno-mene, die unabhängig davon, wie wir mit ihnen umgehen, im-mer dieselben sind? Oder verändern sich auch die Emotionen selbstvon Epoche zu Epoche, von Situation zu Situation, von Mensch zuMensch? Solche Fragen zeigen die grundsätzlichen Probleme, denensich jeder, der sich mit Emotionen beschäftigen will, stellen muß.

Die Schwierigkeiten fangen bereits bei der Begrifflichkeit an. Diedeutsche Sprache kennt keine scharfen Grenzen zwischen »Emo-tion«, »Gefühl«, »Affekt«, »Stimmung«, »Leidenschaft« usw. Ande-rerseits werden solche Begriffe auch nicht wie Synonyme verwendet.Die vermeintlich entsprechenden Begriffe und Bezeichnungenanderer Sprachen haben wiederum häufig andere Konnotationenoder decken sogar ganz andere Bedeutungsspektren ab. Die Schwie-rigkeit beschränkt sich aber nicht auf die begriffliche Unschärfe dereinzelnen Sprachen und auf die Inkommensurabilität der Begriffs-systeme unterschiedlicher Sprachen. Es ist vielmehr fraglich, ob manin einer fremden Kultur wie z.B. der griechisch-römischen über-haupt eine allgemeine Vorstellung vom Phänomen des Emotionalen

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hatte, die mit unserer Vorstellung vergleichbar wäre. Das griechischeWort pathos etwa kann zwar viele Phänomene bezeichnen, die wirebenfalls als Emotionen betrachten, wie z.B. Zorn, Neid, Liebe u.a.,aber das Wort kann neben solchen – für uns – emotionalen Erfah-rungen auch jede weitere Art von passiven Widerfahrnissen oderEindrücken bezeichnen, wie z.B. die Wahrnehmung von Licht oderWärme, die wir nicht als emotionales Phänomen betrachten wür-den.

Die Schwierigkeit, das Phänomen des Emotionalen zu erfassen,besteht nicht minder, wenn es um einzelne Emotionen geht. Menis,das erste Wort der Ilias, war bereits in der Antike nicht ohne weiteresverständlich und mußte in den Homer-Ausgaben der alexandrini-schen Philologen als »dauerhafter« oder »langwieriger Zorn« (epimo-nos orge, kotos polychronios) erläutert werden. Der offensichtlich alskonstitutiv empfundene anhaltende Charakter der menis bedeutetdabei freilich nicht, daß es sich hier um ein beständiges Phänomenhandelt. Die menis des Achill wandelt sich vielmehr im Laufe desEpos vom Jähzorn in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit Aga-memnon über schmollenden Groll am Strand abseits der Kämpfehin zur wilden Rachsucht in der abschließenden Schlacht und derSchändung der Leiche Hektors. »Der Groll«, so eine Formulierungvon Joachim Latacz, »hat Folgen, die ihn einholen und verändern.«2

2 Joachim Latacz, »Die Erforschung der Ilias-Struktur«, in: ders. (Hg.), ZweihundertJahre Homer-Forschung, Stuttgart, Leipzig 1991, S. 381-414, hier S. 405.

Als emotionaler Vorgang besteht Achills menis also (auch) aus einerKette unterschiedlicher Zustände, Reaktionen oder Ausdrücke undläßt sich daher wie viele andere emotionale Phänomene im Grundeerst als komplexe Erzählung hinreichend erfassen.

Worin besteht also ein Gefühl? Auch die Frage selbst hat einelange Geschichte, die in der griechischen Antike ihre Wurzeln hat.

In seiner Rhetorik bietet Aristoteles eine systematische Erklärungfür das Zustandekommen verschiedener pathe wie Zorn, Scham,Neid u.a., indem er ihnen vier Elemente zuschreibt. Damit ein pa-thos zustande kommt, muß eine Person zunächst registrieren, daßetwas für sie Positives oder Negatives geschieht. Auf diese Registrie-rung folgt – je nach Charakter des Ereignisses – eine Empfindungvon entweder Lust oder Schmerz. Diese Wahrnehmung geht ihrer-seits mit einem Handlungsantrieb und einer körperlichen Veränderungeinher.

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Aristoteles’ Analyse ist aufschlußreich – nicht nur für das Phäno-men der Emotionen selbst, sondern auch für die Geschichte der Aus-einandersetzung mit ihnen. Denn jede Diskussion über Emotionenwird davon abhängig sein, inwieweit man eine solche komplexe Auf-fassung von Emotionen teilt oder vielmehr meint, die Emotionenbestünden nur aus einem oder mehreren einzelnen dieser Elemente.

Neigt man dazu, den Kern einer Emotion allein in der reinenEmpfindung von Lust und Schmerz sowie in dem entsprechendenunmittelbaren Handlungsantrieb zu sehen, erscheinen Emotionenals Teil der physischen Grundausstattung des Menschen und somitals vom historischen und kulturellen Kontext unabhängig. Was derantike, der mittelalterliche oder der neuzeitliche Mensch empfindet,wenn er zornig, eifersüchtig oder traurig wird, ist demnach grund-sätzlich dasselbe, und lediglich die Art und Weise, wie er dieses Ge-fühl beschreibt, bewertet usw., ändert sich je nach historischem undkulturellem Kontext.

Betrachtet man dagegen auch das bewertende Registrieren einesgegebenen Geschehens als zentrales Element einer Emotion, wird siezu einem Erzeugnis ihres jeweiligen historischen und kulturellenKontexts, weil die Beurteilung eines bestimmten Ereignisses stetsvon diesem Kontext abhängen wird. Die Art und Weise, in der je-mand über die Welt und sich selbst befindet, wird somit auch kon-stitutiv dafür, wie er empfindet. Weil der antike, der mittelalterlicheund der neuzeitliche Mensch die Ereignisse ihrer Umwelt jeweilsanders registrieren und bewerten, sind aus dieser Sicht auch ihreEmotionen nicht dieselben.

Der Naturwissenschaftler, so schreibt bereits Aristoteles in seinerAbhandlung Über die Seele (403a), wird dazu neigen, orge (Zorn) alsein Sieden des Blutes, das um das Herz fließt und warm wird, zubeschreiben, während der sprachlich orientierte Begriffstheoretiker– ein Vorläufer des modernen Geisteswissenschaftlers – den Zorn alsein Streben nach Vergeltung für einen empfundenen Schmerz defi-nieren wird. Aber wie bereits Aristoteles andeutet, ist es wenig sinn-voll, den wesentlichen oder eigentlichen, definitorischen Kern einerEmotion entweder in ihren körperlichen oder in ihren geistigenKomponenten bestimmen zu wollen. Emotionen sind – diese Auf-fassung hat sich auch in der modernen Emotionsforschung durchge-setzt – komplexe Phänomene, die komplexe Betrachtungsweisenerfordern, um ausschöpfend erfaßt zu werden.

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Eine solche komplexe Betrachtungsweise, die alle – physischenwie kognitiven – Aspekte gleichermaßen berücksichtigen will, mußallerdings von vornherein auf universale Definitionen einzelner Emo-tionen verzichten und akzeptieren, daß Emotionen, weil sie immerauch Bewertungen und Urteile implizieren, stets in spezifischenhistorischen und kulturellen Kontexten verankert sind. Um dieEmotionen selbst wie auch unser Verständnis von ihnen wirklich zuverstehen, ist es also notwendig, auch die Kontexte, aus denen her-aus sowohl die Emotionen selbst als auch die künstlerische undtheoretische Auseinandersetzung mit ihnen hervorgehen, mit in denBlick zu nehmen.

Diese Kontextualisierung emotionaler Phänomene könnte frei-lich zu der radikalen Behauptung führen, es gäbe gar keine Emotio-nen im Sinne überindividueller Phänomene, weil jede emotionaleÄußerung immer ein historisch und kulturell bedingtes und somitstets neues Ereignis sei: Die menis des Achill und der Zorn des Mi-chael Kohlhaas aus der gleichnamigen Novelle von Kleist etwawären durch nichts anderes als durch die sprachliche Gepflogenheit,menis mit »Zorn« zu übersetzen, miteinander verbunden. Eine sol-che – formal korrekte – Behauptung würde allerdings den Umstandignorieren, daß wir im alltäglichen Leben Identität und Nichtiden-tität zusammengesetzter Phänomene, die sich verändern, unter-schiedlich wahrnehmen, sei es, weil wir unterschiedliche Kriteriender Identität anlegen, sei es, weil wir die Grenzen zwischen Identitätund Nichtidentität als fließend betrachten. Die Legende vom Schiffdes Theseus kann diese Problematik veranschaulichen: Nach The-seus’ Rückkehr aus Kreta wollten die Athener sein Schiff für immererhalten. Sie ersetzten deshalb nach und nach alte, morsche Plankendurch neue und bewahrten so der Legende nach das Schiff über vieleJahrhunderte hinweg.3

3 Siehe Plutarch, Leben des Theseus 22 f.

Unter den Sophisten und Philosophenwurde dieses Schiff in Diskussionen schnell zu einem beliebten Bei-spiel für das Verhältnis von Dauer und Wandel bei zusammengesetz-ten Phänomenen: Ist das Schiff bereits nach dem ersten Plankenum-tausch ein anderes geworden? Wenn nicht, wie viele Planken kannman dann umtauschen, bevor das Schiff nicht länger dasselbe ist?Oder ist das Schiff vielmehr selbst dann, wenn alle Planken ausge-wechselt worden sind, immer noch das Schiff des Theseus, weil der

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Austausch nach und nach stattgefunden oder weil das Schiff dieganze Zeit über eine Reihe von wesentlichen Eigenschaften wie z.B.seine Form bewahrt hat?

Auch bei emotionalen Phänomenen läßt sich nicht immer leichtsagen, wann zwei Emotionen hinreichend gemeinsame Eigenschaf-ten aufweisen, um als dieselbe Emotion gelten zu können, und wannsie sich in so vielen Aspekten unterscheiden, daß wir eher von zweiverschiedenen Emotionen sprechen würden. So ließe sich einerseitsbehaupten, die menis des Achill und der Zorn des Michael Kohlhaasz.B. seien wegen einer gewissen strukturellen Identität – wilde Rach-sucht aufgrund eines verletzten Gerechtigkeitsgefühls – grundsätz-lich dieselbe Emotion; andererseits könnte man ebensogut daraufhinweisen, die Unterschiede in Motivation und Reaktion – Achills(zunächst) passiver Groll rührt aus persönlicher Kränkung, Kohl-haas’ alsbald aktive Wut entwickelt sich aus einem verletzten allge-meinen Gerechtigkeitsgefühl – seien so wesentlich, daß es sich umzwei verschiedene emotionale Vorgänge handele. Auch bei emotio-nalen Phänomenen sind also die Grenzen zwischen Identität undAlterität in höchstem Maße fließend, und nicht zuletzt aus diesemGrund ist eine historische Betrachtungsweise von Emotionen sinn-voll, weil hierdurch sowohl das Gemeinsame als auch das Singuläreeinzelner emotionaler Phänomene erkennbar wird.

Die beiden Beispiele, Homers Ilias und Kleists Michael Kohlhaas,weisen auf einen weiteren Aspekt hin, der für die Beschäftigung mitdem Phänomen des Emotionalen eine zusätzliche Herausforderungbildet, nämlich das komplizierte Verhältnis zwischen real erlebtenEmotionen auf der einen und ihrer künstlerischen Darstellung aufder anderen Seite. Um dieses Verhältnis zu beschreiben, hat man seitPlaton häufig auf den Begriff der Mimesis zurückgegriffen. Aberdiese problematische Vorstellung, Kunstwerke seien »Nachahmun-gen«, »Abbildungen« oder »Repräsentationen« der realen Welt, ver-deckt den Umstand, daß Kunst und Realität nach unterschiedlichenRegeln funktionieren. Das betrifft auch die Art und Weise, in derEmotionen im jeweiligen Bereich gestaltet bzw. gelebt werden. Wennwir z.B. vom »biblischen Zorn« reden, meinen wir damit nicht einallgemeines emotionales Reaktionsmuster, sondern speziell die altte-stamentarische Darstellung des vor Wut und Zorn schnaubendenund zerstörenden Jahwe. Auch das charakteristische »Lächeln« grie-chischer archaischer Skulpturen entspricht nach allem, was wir wis-

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sen, nicht etwa der Emotion »Freude«, die eine solche Mimik imrealen Leben zum Ausdruck bringen würde, sondern ist in der Iko-nographie des 7. und 6. Jahrhunderts v. Chr. ein etabliertes Zeichengöttlicher Gelassenheit.

Diese einfachen Beispiele zeigen zugleich, daß die Semantik desEmotionalen sowohl in der künstlerischen als auch in der realenWelt in hohem Maße historisch und kontextuell verankert ist. Wirerkennen Emotionen anhand bestimmter Zeichen oder Symptomewie z.B. eines heftig schlagenden Herzens oder eines glühendenWunsches, das Gegenüber zu vernichten. Aber solche physischen,sprachlichen, kognitiven oder narrativen Zeichen emotionaler Vor-gänge reichen an sich meistens nicht aus, um eine bestimmte Emo-tion zu identifizieren, weil sie nicht eindeutig sind, sondern erst ausdem Kontext sowie aus der Verbindung miteinander ihre spezifischeBedeutung beziehen. Sowohl der heftige Herzschlag als auch derTrieb nach Zerstörung des Gegners können Zeichen von Zorn oderWut, aber ebenso Zeichen von Furcht sein. Die Deutung und An-wendung bestimmter Zeichen emotionaler Vorgänge beruhen alsoin hohem Maße auf dem jeweiligen realen oder künstlerischen Kon-text, und damit wird erneut deutlich, wie wichtig es ist, emotionalePhänomene historisch zu betrachten, wenn man sie richtig verste-hen will.

Die Semantik des Emotionalen und ihre Deutung sind darüberhinaus mit der besonderen Schwierigkeit verbunden, daß der äußer-liche Ausdruck eines Gefühls keineswegs immer mit der innerenEmpfindung übereinstimmen muß. Während der schnaubende Gottdes Alten Testaments aus seinem Unmut keinen Hehl macht, ent-scheiden sich Achill und Kohlhaas zunächst, ihrem Zorn nichtfreien Lauf zu lassen. Obwohl dem Roßhändler bei Kleist »das Herzgegen den Wams« schlug und es ihn drängte, sein Gegenüber »inden Kot zu werfen und den Fuß auf sein kupfernes Antlitz zu set-zen«,4

4 Heinrich von Kleist, Michael Kohlhaas, in: ders., Werke und Briefe, Bd. 3, hg. vonSiegfried Streller in Zusammenarbeit mit Peter Goldammer u.a., Berlin 1993, S. 13.

zeigt er sich nach außen hin beherrscht; und auch Achillurteilt, daß es besser sei, »ob man auch noch so sehr im Mutezürnt«,5

5 Homer, Ilias (Anm. 1) 1, 217.

dem Rat der ihm erscheinenden Athene zu folgen und seinSchwert wieder in die Scheide zu stecken. Die Möglichkeit, emp-fundene Emotionen nach außen hin zu unterdrücken oder nicht

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empfundene Emotionen vorzutäuschen, ist ein ganz wesentlicherAspekt unseres realen und künstlerischen Umgangs mit dem Phäno-men des Emotionalen.

Zu all dem kommt noch hinzu, daß wir Emotionen nicht nurwahrnehmen können, indem wir sie an Kunstwerken oder anderenMenschen anhand bestimmter Zusammensetzungen von Zeichenund Kontext »ablesen«. Wir können Emotionen ebenso wahrneh-men, indem etwa Kunstwerke in uns bestimmte Emotionen hervor-rufen, wobei es sich hier offensichtlich um andere – freilich auchhistorisch und kulturell bedingte – Mechanismen handelt. Wir er-kennen etwa in der Ilias oder bei Michael Kohlhaas einerseits denZorn der Figuren im Text, werden aber bei der Lektüre nicht unbe-dingt selbst zornig, sondern empfinden vielleicht eher Empörungoder Mitleid.

Entsprechend gestalten sich Emotionsdiskurse höchst unterschied-lich, je nachdem, ob die Frage ist, wie man Gefühle abbildet, wieman sie hervorruft oder wie man selbst mit ihnen umgeht. In derAntike machten sich etwa Poetik und Rhetorik die ersten beidenFragen zu eigen, während sich die Philosophie intensiv mit der drit-ten beschäftigte.

Jeder emotionale Vorgang ist als komplexes Phänomen gleichzei-tig ein einmaliges, individuelles Ereignis und ein Erzeugnis seineshistorischen und kulturellen Kontexts. Dadurch entsteht ein hi-storisches Kontinuum von emotionalen Erscheinungen und derenAusdrucksformen und Wahrnehmungen, in dem gleichzeitig Ver-änderungen und Konstanten erkennbar werden. In diesem histori-schen Kontinuum wechselnder Beschreibungen, Bewertungen undAusdrucksformen von großen Gefühlen, so der Ansatz dieses Bu-ches, spielt die griechisch-römische Antike eine besonders frucht-bare Rolle, weil man – bis heute – immer wieder ihre Bestimmun-gen, Darstellungen und Bewertungen des Emotionalen in Anspruchgenommen hat.

Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Emotionalenbegegnet in fast allen Bereichen der griechisch-römischen Antike,die mithin der Nachantike sowohl einen umfassenden Katalog ein-zelner Emotionen als auch eine Fülle verschiedenster Ausdrucks-und Beschreibungsformen sowie theoretischer Definitionsversucheund unterschiedlicher Bewertungen dieser Emotionen zur Verfü-gung gestellt hat. Nach dem Homerischen Epos des Zorns themati-

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siert die frühgriechische Lyrik und später die römische Elegie immerwieder die Liebe; Sappho, Anakreon und Catull sind Chiffren derLiebesdichtung geworden. Seit Hippokrates ist die antike Medizinbestrebt, emotionale Vorgänge als Ausdruck körperlicher Zuständezu diagnostizieren; die Melancholie z.B. erhält ihren Namen vondem Übermaß an schwarzer Galle, das angeblich zu dieser besonde-ren Stimmung führt. Für den Geschichtsschreiber Herodot ist dasAuf und Ab der menschlichen Geschicke ein Zeugnis für den Neidder Götter, der durch das Zuviel an Wohlstand und Erfolg einesMenschen ausgelöst werde. Eine eigene Gattung, die allein demGefühl der Trauer gewidmet ist, bildet die Trostschrift. In der anti-ken Musiktheorie versucht man, die Zusammenhänge zwischenRhythmen und Harmonien in der Musik und den Stimmungen inder Seele zu erklären. Auf den tragischen Bühnen von Griechenlandund Rom werden ganze Register emotionaler Zustände und Affektedurchdekliniert und im gesellschaftlichen und politischen Kontextproblematisiert. Die antike Komödie lebt nicht nur von einer ele-mentaren Schadenfreude im Publikum, sondern sie thematisiertauch dieses Gefühl, wenn ein Komödiendichter wie Aristophanesseine Figuren über die Form und den Effekt seiner Komödien aufder Bühne reflektieren läßt. Die emotionale Wirkung der Redeim Theater, auf der Volksversammlung, dem Forum oder im Senathat die griechisch-römische Rhetorik und Poetik von Beginn anbeschäftigt. Für den Sophisten Gorgias ist es ein göttlicher Zug derRede, daß sie fähig ist, dem Zuhörer Gefühle einzuflößen und diesezu verstärken oder zu vermindern, und für Aristoteles ist die zentraleFrage seiner Poetik, wie eine Tragödie beim Zuschauer Furcht undMitleid am besten hervorruft. In seinen Dialogen kreist Platon im-mer wieder um den Stellenwert der Affekte im seelischen Haushaltdes Menschen, und die Philosophie des Hellenismus und des frühenChristentums ist nicht zuletzt ein ausgearbeiteter Versuch, dem Men-schen ein ausgeglichenes Innenleben zu ermöglichen, indem manihn vor unerwünschten Affekten schützt. »Nicht zu unrecht fürch-test du diese Leidenschaft«, schreibt Seneca an seinen Sohn am An-fang seiner drei Bücher starken Diatribe über den Zorn. Die antikeKunst, die von der Leugnung jeder Emotion oder jeden Affekts beiden Skulpturen der archaischen Zeit bis hin zum expressiven Pathosder hellenistischen Kunst reicht, ist ein weiteres Zeugnis dieser in-tensiven Beschäftigung mit der Emotionalität.

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Am Ende der Antike liegt ein umfassender und vielseitiger Dis-kurs über das Phänomen des Emotionalen vor – ein riesiges Reser-voir, aus dem in späteren Auseinandersetzungen mit Emotionenund Emotionalität immer wieder geschöpft wurde. Doch bei jedemSchöpfungsvorgang wird nicht nur etwas Altes aus dem antikenReservoir geschöpft, sondern es entsteht zugleich etwas Neues ausdem Zusammentreffen von Vergangenheit und Gegenwart. Die An-tike wird nicht einfach durch die Geschichte unverändert hindurch-gereicht, sondern vielmehr aus dem Selbst- und Antikeverständnisder jeweiligen Rezipienten heraus neu geschaffen mit all den Verän-derungen, die solche Aneignungsprozesse einschließen können. DieGeschichte der Aneignungen antiker Emotionsdiskurse ist somitzugleich eine Geschichte der vielfältigen Transformationen dieserDiskurse, wobei solche Prozesse der Aneignung und der Transfor-mation nicht erst mit dem Ende der Antike einsetzen, sondern be-reits innerhalb der Antike unablässig stattfinden.

Wieder kann der Zorn des Achill als Beispiel dienen. In seinerRhetorik definiert Aristoteles die Emotion orge (Zorn) als ein vomSchmerz begleitetes Streben nach Rache aufgrund einer wahrge-nommenen Schmähung durch jemanden, dem dies nicht zustehe,und er nennt explizit die menis des Achill als konkretes Beispiel die-ser Emotion.6

6 Rhetorik 1378a31-33. Aristoteles zitiert mehrere Stellen aus der Ilias, an denen AchillAgamemnon vorwirft, er sei durch ihn entehrt worden, und dabei betont Aristote-les, es sei genau dies – der Verlust der ihm zustehenden Ehre –, was seinen Zorn ver-ursache.

Diese Zorn-Definition ist Teil einer größeren syste-matischen Analyse verschiedener Emotionen, die dem Redner dazuverhelfen soll, zu wissen, warum, gegen wen und in welchem Zu-stand Menschen bestimmte Emotionen empfinden, damit jenerdurch seine Rede ebensolche Konstellationen in den Köpfen seinerZuhörer hervorrufen und sie dadurch für ein bestimmtes Urteil dis-ponieren kann. Mit seiner Untersuchung setzt Aristoteles – wie vorihm die Sophisten – also voraus, daß bestimmte emotionale Reak-tionsmuster ausgemacht und systematisch analysiert werden kön-nen, und darum interessiert ihn die Homerische menis nicht in ihrerhistorischen und literarischen Singularität oder Fremdheit, sondernals Beispiel eines allgemeinen emotionalen Komplexes von bestimm-ten sozialen Relationen, Impulsen und Reaktionen.

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Aber ist die Homerische menis wirklich ein Beispiel für den vonAristoteles definierten universalen, Literatur und Realität transzen-dierenden Zorn, oder hat sich der Zorn-Begriff von Homer bisAristoteles vielmehr bereits transformiert? Die einflußreiche Ho-mer-Interpretation Bruno Snells7

7 Bruno Snell, »Die Auffassung des Menschen bei Homer«, in: ders., Die Entdeckungdes Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Ham-burg 31955 (zuerst erschienen 1946), S. 17-42.

läßt auf die zweite Alternativeschließen. Homer kenne noch nicht, so die Grundthese Snells, dieVorstellung von der menschlichen Seele als einer Instanz, die denOrganismus in Bewegung setzen kann; alle geistigen und seelischenWirkungen – darunter auch die menis des Achill – seien für denHomerischen Menschen vielmehr Einflüsse von von außen wirken-den Kräften, die den thymos oder den noos – die entsprechendenmenschlichen Organe – plötzlich durchdringen und ihn zu einembestimmten Handeln antreiben. Wenn Aristoteles also die Homeri-sche menis als Beispiel seiner kognitiv ausgerichteten Definition desZorns verwende, projiziert er, wie sich aus der Analyse von Snell er-gibt, einen bereits transformierten Zorn-Begriff auf die Homerischemenis zurück.

Snells These ist freilich nicht unumstritten geblieben: Sie beruhe,so lautet ein wesentlicher Einwand, auf der neuzeitlichen und mit-hin anachronistischen Vorstellung, daß Entscheidungen immer Be-wußtseinsakte sein müßten. Dadurch verkenne Snell aber, daß seeli-sche Vorgänge bei Homer keineswegs noch nicht, sondern vielmehranders verstanden werden als in der neuzeitlichen Bewußtseinsphi-losophie.8

8 Siehe Arbogast Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns beiHomer. Hermeneutische Untersuchungen zur Psychologie Homers (Abhandlungen derGeistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften undder Literatur Mainz 5), Stuttgart 1990.

Im neunten Buch der Ilias versucht eine kleine Gruppenamhafter Griechen, Achill von seinem Zorn abzubringen. Er solle,fordern sie ihn mit zahlreichen Argumenten immer wieder auf, sei-nen großen thymos »bändigen«, »gnädig stimmen«, in der Brust »fest-halten« u.ä.9

9 Homer, Ilias (Anm. 1) 9, 496, 639 und 255 f.

Phoinix, Achills ehemaliger Erzieher, erklärt nun, erselbst habe einmal im Zorn den eigenen Vater töten wollen, als die-ser ihn um einer Konkubine willen zu Unrecht verflucht hätte. SeinZorn sei aber dadurch »angehalten« worden, daß ein Gott ihm die

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negativen Konsequenzen eines Vatermords im thymos »vorgesetzt«hätte.10

10 Ebd., 444-461.

Sachliche Argumente können also, wie Phoinix mit diesemanalogen Fall deutlich machen möchte, auch den thymos beeinflus-sen und umstimmen. Der thymos ist demnach nicht lediglich Hortirrationaler, emotionaler Strebungen; in ihm werden vielmehr emo-tionale, voluntative und rationale Aspekte vereint.11

1 1 Norbert Blößner, »Thymos«, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch derPhilosophie, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1187-1192.

Auch dem Zornselbst kommt neben voluntativen und emotionalen Aspekten einrationales Element zu, wie Phoinix’ Schilderung des ungerechtenFluchs als objektiver Verursachung seines Zorns erkennen läßt. DieHomerische Auffassung emotionaler Prozesse, so die Konklusionder Snell-Kritiker, habe also erheblich mehr mit der aristotelischenals mit der neuzeitlichen Konzeption gemeinsam, und Snells These,der »Geist« sei erst nach Homer entdeckt worden, erweise sich damitals methodischer Fehlschluß.

Dieses kurze Stück Wissenschaftsgeschichte zeigt, mit welchenmethodischen Herausforderungen die Ermittlung antiker Geistes-und Gefühlskonzeptionen verbunden ist, und demonstriert zugleich,wie die Erforschung der Antike zu radikalen Transformationen derantiken Auffassungen von Emotionen führen kann. Zudem läßt sichan diesem Fall veranschaulichen, wie folgenreich solche Transforma-tionen antiker Geistes- und Emotionsmodelle für die spätere Aus-einandersetzung mit den Emotionen sein können. So wurde dieSnellsche These jüngst von Peter Sloterdijk in dessen Buch Zorn undZeit erneut aufgegriffen.12

12 Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt/M.2006. Siehe zum folgenden S. 9-49.

Von Snell ausgehend, versteht Sloterdijkdie menis des Achill als eine reine, irrationale, allen Provokationenvorausgehende invasive »Primärenergie« oder »Aktionskraft«. DieseForm des Zorns gelte es nun, so Sloterdijk in der Nachfolge Nietz-sches, in der »thumos-vergessenen therapeutischen Kultur« der Ge-genwart zu rehabilitieren, denn der zivilisierte, der Vernunft unter-worfene Zorn der bürgerlichen Gesellschaft sei »auf der ganzen Liniegescheitert«, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts unmißver-ständlich zeige. Sloterdijks Projekt, so könnte man sagen, besteht mit-hin in einer rückgängigen Transformation des nicht zuletzt durchdie antiken Philosophen »domestizierten« Zorns. Das Leitbild die-

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