tango 2008-01
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tango ausgabe 2008-01TRANSCRIPT
Charlotte Germann, 19, aus Altdorf, hat die Matura im vergangenen Sommer geschafft und sich dann erst mal
für mehrere Wochen in einer SAC-Hütte auf 2300 Metern verschanzt. Jetzt studiert sie in Basel Germanistik und
Nordistik. Sie bezeichnet sich als «bewegungsfreudig, produktiv, pflegeleicht, naturlieb und mit schwarzem
Humor ausgestattet».
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Wärst du lieber sympathischer oder intelligenter?
NUR EINE FRAGE!nur eine Frage!
Sabrina Möhn, 17: «Sympathischer. Dann läuft’s besser in der Liebe…»
Sarah Zoller, 17: «Ich bin doch beides…»
Samuel Rutishauser, 20: «Intelligenter, denn Wissen ist Macht, und Macht ist sexy! »
Samuel Galliker, 18: «Soll das heissen, dass ich weder sympathisch noch intelligent bin?!»
Virginia Alder, 18: «Sympathischer, weil mir gute Freunde wichtiger sind als eine steile Karriere»
Was bleibt dir immer ein rätsel?
Marc Lenz, 17: «Warum das Wochenende nur zwei Tage dauert…»
Sebastian Stübinger, 20: «Gibt es Gott?»
Urban Haelg, 17: «Was war zuerst: Das Huhn oder das Ei?»
Marco Walter, 17: «Kornkreisfelder!»
Jennifer Bossi, 18: «Dass Menschen so ignorant, naiv und un-wissend sein können, obwohl sie Augen, Ohren und ein Hirn haben.»
Gion-Ursin Vincenz, 18: «Warum Frauen zu zweit aufs WC gehen.»
Manuela Nickfeld, 18: «Lehrer...»
nenne den peinlichsten moment deines lebens!
Was ist das Ziel der menschheit?
Was ist schöner: sich verlieben oder verliebt sein?
Nora Jahn, 18: «Sich verlieben! Ich mag Schmetterlinge im Bauch…»
Hans Meier, 20: «Also… das kommt auf die Frau an.»
Ariana Tufek, 17: «Verliebt sein! Weil man sich in dieser Phase näher kommt, miteinander viel Zeit verbringt und diese auch geniesst »
Kim Schönborn, 17: «Sich verlieben, denn ein Rückzug ist noch möglich»
Maja Smuc, 18: «Als ich vor den Augen des schönsten Mannes der Welt in eine Laterne lief…»
Abdurrahman Öztürk, 18: «Wohlstand, Ruhm und ewige Jugend.»
Mike Schwarz, 18: «Ich habe einem Typen eine Ohrfeige gegeben, weil er mein Freundin anbaggerte. Erst danach merkte ich, dass er der Falsche war… »
Manuel Gentsch, 17: «Ich habe mal das WC unter Wasser gesetzt…»
Johanna Lechner, 17: «Nicht zu verblöden! »
umfrage
6 7
Christian Hambrecht und Max Mäckler
Auf dem Failed-States-Index für 2006 befindet sich Simbab-
we an fünfter Stelle, direkt hinter dem Irak. Die geschätzte Ar-
beitslosenquote liegt bei 75 Prozent, die Inflationsrate beträgt
mittlerweile 1185 Prozent – Tendenz steigend. Seit 1998 ist
die Wirtschaftskraft des Landes um 40 Prozent geschrumpft,
im Jahre 2005 betrug die Wachstumsrate des Bruttoinlands-
produktes –6,5 Prozent. Über 40 Prozent der Bevölkerung ist
jünger als 15 Jahre. Etwa 8 Prozent dieser sehr jungen Gesamt-
bevölkerung von 13 Millionen sind Halb- oder Vollwaisenkin-
der, denn mehr als 20 Prozent der Menschen sind mit HIV infi-
ziert. Aids ist die Todesursache Nummer
eins. Das ist Simbabwe in Zahlen.
Gerade für Kinder, an denen das Land
so reich ist, ist es nicht einfach, zu leben
oder zu überleben. Doch dies öffent-
lich aussprechen? Man schweigt besser,
möchte man sich nicht der speziellen
Zuneigung des allliebenden Landesva-
ters, Robert Mugabe, aussetzen. Er hängt
gerahmt – nein, er prangt – mit staatsmännisch-saurer Miene
im weiten, hell-weissen Terminal des Flughafens Harare. Sein
Antlitz ist das Erste, was man sieht, wenn man den Fuss auf
simbabwische Erde setzt. Aus der Luft blickt man auf sonnen-
verbrannte Landschaft – eine stete Nuancierung von Braun-
tönen, kontrastiert von blitzenden blauen Seen, die aus der
Kargheit wie versprengte Farbkleckse hervorstechen.
Die afrikanische Sonne versinkt rostig-golden;
fahl und staubig fristen die Jacaranda-Bäume zu
beiden Seiten der Strassen ihr karges
Dasein. Sie warten vergeblich auf
Regen. Der Winter ist Trocken-
periode. Verdorrte Wiesen
wechseln mit kärglichen
Bretterbehausungen.
Der Flughafen ist ein Niemands-
land, hohle Fassade der Moderne»
The world is not yet flat Die politischen und wirtschaftlichen Aussichten von Simbabwe sind düster. Den Kindern in einem von Aids, Korruption und Staatsterror geprägten Land eine Zukunft zu geben, ist ein mühseliges und gefährdetes Unterfangen.
topstory
98
Stallungen. Dazwischen ziehen sich säu-
berlich beschnittene Hecken entlang.
Das ist die Primary School.
Zunächst empfängt uns Mr. Mafunga,
der Direktor der
Schule, mit herzli-
chem Händedruck
und bittet in sein
Büro im kleinen
Administrations-
gebäude. Er gibt
uns einen Über-
blick über die Situ-
ation seiner Schu-
le: Knapp über tau-
send Schüler lernen bei 27 Lehrern, also
40–50 Schüler pro Klasse. Es fehlt min-
destens ein Klassenraum, deshalb findet
immer eine Stunde im Freien statt. An
zehn prähistorischen Computern ler-
nen jeweils fünf Kinder das Arbeiten
mit dem Rechner. Einen Drucker gibt es
nicht, aber ein selbst gemaltes Poster an
der Wand erklärt dessen Funktion. Es
Es ist ein langer Weg bis zur Maize-
lands Primary School, ein zermürben-
der, quälender, wenn man die kleinen
Gestalten mit den wenigen Schulsachen
auf dem Rücken
sieht. Viele Schü-
ler laufen zehn bis
zwölf Kilometer
täglich zur Schule
– hin und zurück.
Nicht alle haben
Schuhe. Ihre El-
tern, sofern sie
noch leben, sind
bitterarme Farmar-
beiter. Unter einer einsamen Baumgrup-
pe in der kahlen, flachen Weite kommen
geduckte Gebäude, von einer niedrigen
Mauer umfriedet, in Sicht. Sie sind weiss
verputzt, haben blaue Fensterläden und
Schrägdächer – entfernt erinnern sie an
Harare ein riesiges Geisterdorf? Der
Verkehr findet an den Strassenrändern
statt: Apathische Gestalten schlappen
durch den Staub; Kinder spielen in
ausgebrannten Autowracks. Leute sit-
zen auf Reifen im spärlichen Schatten
schlanker Gummibäume, lesen vergilbte
Zeitungen, stellen handgefertigte traditi-
onelle Waren zur Schau. Wer kauft hier?
Das SOS-Kinderdorf in der kleinen
Bergbaustadt Bindura, umgeben von
weitem Farmland, ist unser eigentli-
cher Zielort. Es liegt rund zwei Stunden
nordöstlich von Harare. Zusammen mit
unseren zwei grossen Koffern und sechs
unbekannten Erwachsenen, die die sel-
tene Mitfahrgelegenheit nutzen – der
öffentliche Verkehr ist mehr oder we-
niger zum Erliegen gekommen, über ei-
gene Fahrzeuge verfügen die wenigsten
– zwängen wir uns auf die Matratze im
Laderaum des Pick-ups. Es ist eng, sehr
eng.
Apathische Ge-stalten schlappen durch den Staub, Kinder spielen in ausgebrannten Autowracks»
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fehlt ausserdem an Schulbüchern – auch
hier teilen sich mehrere Schüler eines
–, an Stiften, Papier, einfach an allem.
Am schlimmsten aber sind die häufigen
Elektrizitätsausfälle, die die Toiletten
mit ihren elektrischen Wasserpumpen
mehrmals pro Wo-
che für Stunden
unbenutzbar ma-
chen. Nachdem
wir all diese Fakten
erfahren haben,
erhebt sich Ma-
funga und betont
noch einmal, dass
dies die Schule für
die Ärmsten der
Armen sei. Unter
seinen Schülern seien etwa 200 Waisen
und viele Kinder in der Gegend kämen
gar nicht in die Schule, da sich die Eltern
dies nicht leisten könnten.
Man führt uns durch die Klassenräu-
me. Sobald wir hereinkommen, sprin-
gen alle Schüler überstürzt auf – ab und
zu fällt ein Stuhl krachend um. Als wir
glauben, den Rundgang beendet zu ha-
ben, weist Mafunga auf einen schmalen,
hohen Eingang mit der Aufschrift «Sto-
rage room». Ein einladender Schwenk
seiner Hand, wir treten ein und bleiben
sofort stehen. Uns bleibt auch nichts
anderes übrig: Es ist ein äusserst enger
ist er Familienoberhaupt geworden und
muss sich seither um seine kleinen Brü-
der kümmern. Sie sind elf und dreizehn
Jahre alt. Vor Jahren schon ist ihr Vater
an Aids gestorben. Von da an sorgte die
Mutter für alles,
verdiente Geld und
erzog ihre Söhne.
Später stellte sich
heraus, dass auch
sie mit dem Virus
infiziert war. In
Ermangelung der
nötigen Medika-
mente baute sie
körperlich schnell
ab und starb 2004.
Archibald und sei-
ne Brüder waren völlig auf sich gestellt,
Grosseltern hatten sie keine mehr. Al-
lerdings gab es noch ein paar entfernte
Verwandte, die – wie so oft in solchen
Fällen – plötzlich auftauchten und den
Jungen einreden wollten, sie selbst sei-
en die neuen rechtmässigen Besitzer des
Hauses. Offenbar hatte die Mutter ihren
ältesten Sohn noch vor ihrem Tod aber
genau darauf vorbereitet. Er wandte sich
an das «Social Center», das ihm juris-
tische Beratung und Schutz bot. Neun
ähnliche Fälle sind allein in diesem Vier-
tel bekannt. Und im ganzen Land dürf-
ten es tausende Kinder sein, die ohne
Verwandte vollkommen auf sich gestellt
aufwachsen.
Auf der Rückreise fällt uns im rie-
sigen Terminal des Flughafens Johan-
nesburg in Südafrika eine grossflächige
Anzeige auf. Ein überdimensionierter
David Beckham tritt gegen einen Adi-
das-Ball. Wir erinnern uns an den Di-
rektor der Primary School Maizelands
aus dem Dorf eine kleine Feier vorberei-
tet. Nach dem Abendessen treffen wir
uns vor einem der Jugendhäuser. Die Ju-
gendlichen leben ab 14 Jahren selbstän-
dig zusammen. Sie unterhalten ihren ei-
genen Gemüsegarten und züchten Hüh-
ner, die sie an die Mütter der Häuser ver-
kaufen, um so ein kleines Taschengeld
zu verdienen. Jetzt sitzen sie gemeinsam
um ein Lagerfeuer und rösten Nüsse
und Maiskörner. Sie erzählen, dass es in
Aerodrome, dem benachbarten Viertel,
bereits seit drei Tagen kein Wasser mehr
gebe. Einige ihrer Freunde von dort kä-
men nun herüber, um zu duschen. Auf
die Frage, wie denn die anderen Bewoh-
ner mit diesem Problem zurechtkämen,
zucken sie die Achseln. Wasser- und
Stromausfälle sind mittlerweile auch
hier im Dorf an der Tagesordnung. Tun
kann man dagegen nichts. Die Jugendli-
chen wollen viel lieber mehr über Euro-
pa erfahren, über die kulturellen Unter-
schiede, die Ausbildungsmöglichkeiten,
den Alltag. Bis spät in die Nacht tau-
schen wir uns aus, während Bobby, das
Musiktalent des Dorfes auf dem traditi-
onellen afrikanischen Instrument spielt,
der dem Xylophon ähnlichen Marimba.
Irgendwann fragt Fideline beiläufig, wie
hoch denn die Lebenserwartung bei
uns sei. Wir stocken, denn wir wissen,
dass es etwa 80
Jahre sind – doch
können wir das
antworten in ei-
nem Land, wo die
Menschen durch-
schnittlich 37 Jah-
re alt werden?
Tags darauf fah-
ren wir durch die
Peripherie Bindu-
ras. Kleine Häuser
und Hütten gleiten
vorüber, die Farbe der Wände schon lan-
ge verblichen, der Putz abblätternd. In
den Vorgärten lagert Müll und Schrott
zwischen dürrem, gelbem Gras und
länglichen Erdfurchen, in denen nichts
wächst. Verrostete, teilweise zertretene
Zäune und Gitter trennen die Behausun-
gen.
Unser letzter Besuch in Bindura ist
zugleich der schwerste. Mit einigen Mit-
arbeitern des Zentrums fahren wir zum
Haus von Archibald und seinen zwei
Brüdern. Archibald ist sechzehn Jahre
alt, erzählen die Betreuer des Social Cen-
ters, wirkt jedoch jünger. Mit 14 schon
Raum, an dessen Wänden 40 Kinder in
zwei Reihen zusammengezwängt sind.
Es ist die erste Klasse. Zwei kleine, hoch
gelegene Fenster lassen spärliches Licht
herein, elektrische Beleuchtung Fehlan-
zeige. Im Türrahmen begrüsst uns die
Lehrerin, und in
der Düsternis am
anderen Ende des
Raums ist eine Ta-
fel auszumachen.
Man fragt sich
verblüfft, wie die
Lehrerin durch die
Menge der eng ge-
drängten Schüler
zur Tafel gelangen
soll. Die kalten
massiven Steinwände, deren Quader-
struktur sich unter der dünnen Weis-
stünchung abzeichnet, lassen an eine
Gefängniszelle denken. Die Kinderköpfe
starren unentwegt in unsere Richtung.
Lapidar bemerkt Mafunga, dass ohne
SOS-Kinderdorf diese Kinder schon lan-
ge keine Schule mehr hätten – denn die
staatliche Finanzierung von 10 Millio-
nen ZIM-Dollars pro Jahr reiche gerade,
um 100 Kugelschreiber anzuschaffen.
Am Abend haben die Jugendlichen
Die staatliche Finanzierung
reicht gerade, um 100 Kugel-
schreiber anzu-schaffen»
Irgendwann fragt Fideline beiläufig, wie
hoch denn die Le-benserwartung bei uns sei. Wir
stocken»
the world is not yet flat
Verlag, Redaktion, Anzeigen tango zeitschrift von/für berufs- und mittelschülerInnen Postfach 2133 9001 St. Gallen Telefon 076 513 28 57 Fax 071 310 13 17 [email protected]
MitarbeiterInnen dieser Ausgabe Anina Albonico Kathrin Bauer Charlotte Germann Christian Hambrecht Michael Hochreutener Markus Isenrich Delila Kurtovic Viktoria Kvetanova Marie Francine Lagadec Max Mächler Melissa Müller Johanna Nyffeler Livio Marco Stöckli Corinne Sutter Rachel Weinblum Fabian Weinmann
Korrektorat Peter Litscher
Gestaltung Moni Rimensberger
Bild Titelseite Kevin Russ photocase.com
S.12–13, S. 32 Peeter Viisimaa istock.com
S.18–21 Rudolf Struzyna photocase.com
S. 50–51 Eva Thöni photocase.com
S. 62–63 photocase.com
Druck AVD Goldach Sulzstrasse 10 9403 Goldach
Auflage 26‘000 Exemplare (1‘300 Schulklassen)
Abonnement Einzelausgabe: Fr. 5.– Jahresabonnement: Fr. 10.–
Erscheinungsweise halbjährlich (15. März / 15. September)
Redaktions- und Anzeigenschluss 15. Februar / 15. August
12 13
Farm, Mafunga. Es war ihm noch wichtig, uns zum
Abschluss des Rundgangs ein verdorrtes Stoppel-
feld zu zeigen, den Fussballplatz der Schule. Die
Fläche fiel zur einen Seite hin stark ab. Mafunga
trocken: «You see, there is no level playing field for
these kids.» Kannte er den Pulitzer-Preisträger Tho-
mas Friedman, der seinem letzten Bestseller den
programmatischen Titel «The World is Flat», «Die
Welt ist flach» gab? Das globale Spielfeld ist noch
lange nicht eben, die Chancen sind nicht gleich.
Und der Fussballplatz der Primary School ist eine
traurig-schöne Metapher.
Christian Hambrecht, 20, aus Bamberg, und Max Mäckler,
20, aus Frankfurt, wurden als Preisträger des Schülerzei-
tungswettbewerbs des Nachrichtenmagazins «Der Spie-
gel» eingeladen, sich in Simbabwe ein eigenes Bild vom
Lernen und Leben benachteiligter Kinder und Jugendli-
cher in einem der ärmsten Länder der Welt zu machen.
Christian bezeichnet sich als «Querdenker und Stadtneu-
rotiker» und interessiert sich fürs «Filmen, Texten und
Schauspielern». Max («ich bin weltoffen und liberal») liest
gerne und möchte Geschichte studieren.
the world is not yet flat
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StepUp2_Tango_15.3.08:StepUp2_Tango_15.3.08 14.2.2008 12:44 Uhr Seite 1
jeunesse
jugendgiovent
ùCroix-Rouge suisse
Schweizerisches Rotes KreuzCroce Rossa Svizzera
Michael Hochreutener Gymnasium Appenzell
Hallo, ich bin Sunshine. Eigentlich
bin ich ein ganz normaler Tibet-Terrier.
Doch mit Amanda Ammann als Frau-
chen hab ich alles andere als ein Hun-
deleben. Denn wer darf sich schon mit
Miss Schweiz im Bett kuscheln? Darauf
sind natürlich alle Hunde in der Nach-
barschaft neidisch. Und ich bin mir si-
cher, dasselbe gilt auch für gewisse Men-
schen!
Ich bin so glücklich, dass Amanda
wieder einmal für eine Weile bei mir ist.
Seit ihrer Wahl fehlt sie mir sehr. Und
dann beginnt ihr Studium schon bald
wieder, und sie geht zurück nach Lau-
sanne in ihre Wohnung, die sie mit ih-
rem Freund Sebastian teilt. Am Anfang
war ich ein bisschen eifersüchtig, aber
mittlerweile habe ich mich mit Sebasti-
an angefreundet.
Ich bin schon zehn Jahre alt. Und so
lange wohne ich auch bei der Familie
Ammann. Hier gefällt es mir wunder-
bar. Schliesslich werde ich so richtig
verwöhnt. Amanda meint zwar, ich be-
komme nur «grusiges» Essen. Aber soll
die doch schwatzen, sie hat ja noch nie
davon probiert. Na ja, früher war das
Essen nicht immer gut. Als ich dann
aber herausfand, dass sie mir immer nur
Katzenfutter gaben, war mir schon klar
warum. Also wirklich, wer kommt denn
schon auf die Idee, einem Hund Katzen-
futter zu geben? Aber mittlerweile werde
ich mit richtigem Hundefutter gefüttert.
Noch lieber hätte ich natürlich das, was
bei der Familie Ammann auf den Tisch
kommt. Aber das kriege ich leider nie.
Dabei habe ich schon so vieles auspro-
biert: Zum Beispiel habe ich furchtbar
traurig gejault, so, als ob jemand ge-
storben wäre. Das hat aber leider nichts
geholfen. Deshalb
gehorche ich ihnen
nur noch dann,
wenn ich gerade
will. Das heisst,
wenn ich etwas zu
fressen bekomme.
Seit Amanda Miss Schweiz ist, hat
sie noch weniger Zeit für mich. Dafür
bin ich jetzt ein richtiger Miss-Schweiz-
Hund. Amanda hat mir eigentlich ver-
sprochen, dass ich mit ihr aufs Titelblatt
der Schweizer Illustrierten darf. Übung
im Posieren habe ich ja jetzt...
Michael Hochreutener, 19, aus Gais, entwickelt sich zu unserem flie-
genden Reporter. Im Sommer 2006 berichtete er für tango aus der nor-
disraelischen Stadt Haifa, die von Hisbollah-Raketen getroffen wurde.
Michaels obiger Artikel ist hingegen zuerst in der Jugendzeitschrift
klugscheisser.ch erschienen. Sein Berufsziel erstaunt uns deshalb nicht:
«Wahrscheinlich irgendwas in Richtung Journalismus.»
«Früher bekam ich nur Katzenfut-
ter zu fressen»
Miss Schweiz Amanda Ammann als Frau-chen zu haben, ist schon etwas Besonderes. Jedenfalls hat der Titel das Leben ihres Tibet-Terriers Sunshine ziemlich auf den Kopf gestellt.
Sunshine, der Promihund
porträt
16 17
Johanna Nyffeler Kantonsschule Kreuzlingen
Nachdem ich mich bei der nationalen
Vorausscheidung für die Internationa-
len Physik-Olympiade qualifiziert habe,
bin ich sehr aufgeregt. Weniger wegen
der Physikaufgaben, die mich erwarten,
sondern weil ich in ein sehr umstritte-
nes Land reise: in den Iran. Ich habe viel
Negatives über die Politik des iranischen
Präsidenten gehört, zudem ist mir etwas
mulmig, da ich mich während meines
Aufenthalts verschleiern muss. Ande-
rerseits bin ich auch neugierig auf die
Kultur dieses fernen Landes, denn ich
war noch nie ausserhalb Europas – und
schon gar nicht in einem Land, dessen
Sprache und Schrift ich nicht verstehen
kann.
Am Flughafen in Teheran wird un-
ser siebenköpfiges Team freundlich
begrüsst und in einen Raum für «com-
mercially important persons» gebracht,
Frau, Iran, Physik? Passt irgendwie nicht zusam-men. Oder doch? Johanna Nyffeler nahm als einzige Westeuropäerin an der 38. Physik-Olympiade teil. Und fand es grossartig.
Frau,Iran,Physik?
Während den fünfstündigen Prüfungen... Die Teilnehmer/-innen besuchten auch eine Porzellanfabrik
reportage
18 19
TANGO-FACTS
zwischen Männern und Frauen sind ei-
gentlich nicht erlaubt, und die meisten
jungen Iraner und Iranerinnen scheinen
diese Weisung zu befolgen. Aber es gibt
auch hin und wieder Männer, die mir
zur Begrüssung die Hand geben.
An der Olympiade nehmen
Teilnehmer/-innen
aus über siebzig
Ländern teil, und
ich lerne Jugendli-
che aus so verschie-
denen Ländern wie
Surinam, Schwe-
den, Hongkong,
Brasilien und den
USA kennen. Wir
haben noch immer
Kontakt zueinan-
der, und einige
möchte ich gerne einmal besuchen. Vor-
erst aber beginne ich zu studieren. Aller-
dings nicht Physik, wie man vermuten
könnte, sondern Biomedizin. Denn noch
mehr als für Physik interessiere ich mich
für Heilpflanzen.
gramm zusammenzustellen. An den prü-
fungsfreien Tagen werden die über 300
Jugendlichen in Polizeibegleitung in die
Stadt gefahren, und wir besichtigen ver-
schiedene Moscheen, den Bazar, einen
Blumengarten, ein Forschungszentrum
oder eine Porzellanfabrik.
Am meisten
beeindruckt mich
aber die Freund-
lichkeit der Iraner.
Wenn ich aus dem
Bus schaue, lä-
cheln mir oft Frau-
en zu. Auch wenn
sie oft in schwar-
ze Tücher gehüllt
sind, so erlebe ich
sie als sehr aufge-
schlossen, gebildet
und auch sehr neugierig. Viele Schweizer
denken, die Iranerinnen würden unter-
drückt, doch diesen Eindruck habe ich
überhaupt nicht.
Immer wieder werde ich von den Ira-
nern gefragt, ob ich einen Freund hätte.
Man muss wissen, dass im Iran ausser-
eheliche Beziehungen eigentlich verbo-
ten sind, was aber nicht heisst, dass sich
alle daran halten... Auch Berührungen
wo wir mit Kuchen, Getränken und ira-
nischem Eis bewirtet werden. Mit dem
Bus fahren wir sodann 400 Kilometer
durch die Wüste Richtung Süden. Das
Ziel unserer Reise ist die Millionenstadt
Isfahan, gelegen in einer Oase am Rand
des Zagrosgebirges. Hier werden wir
von zwei iranischen Betreuern in Emp-
fang genommen, die uns während zehn
Tagen begleiten. Die beiden verhandeln
für uns auf dem Bazar und schauen, dass
wir rechtzeitig an den Prüfungen sind.
Besonders zu Beginn macht mir die
Hitze sehr zu schaffen. Bei Temperaturen
weit über 30 Grad muss ich mich als Frau
stets mit langen Ärmeln kleiden und ein
Kopftuch tragen. Zudem macht mir das
Essen Schwierigkeiten, das hauptsäch-
lich aus Reis, Kebab und Poulet besteht.
Doch die Organisatoren geben sich sehr
viel Mühe, uns ein erlebnisreiches Pro-
«Auch wenn sie oft in schwarze
Tücher gehüllt sind, so erlebe ich die
iranischen Frauen als sehr aufgeschlossen,
gebildet und auch sehr neugierig»
Johanna Nyffeler, 19, aus Kaltenbach, studiert
seit letzten Herbst an der Uni Fribourg und
strebt eine Laufbahn in der medizinischen
Forschung an. Ihre Hobbys: Basteln, Program-
mieren, Musik machen, Judo und Lesen.
Physik-OlymPiade die Physik-Olympiade findet jedes Jahr in einem anderen land statt, nächstes Jahr in Vietnam. in der schweiz werden die fünf Teilnehmer/-innen in zwei ausscheidungsrunden bestimmt. infos zu der schweizer Physik-Olympiade gibt’s bei: www.swisspho.ch
Prüfungen die Prüfungen dauern zweimal fünf stunden. es gibt einen theoretischen Teil mit drei aufgaben, im praktischen Teil mussten 2007 mit hilfe eines spektrometers verschiedene messungen durchgeführt werden. eine aufgabe:
Betrachten wir einen Kondensator mit parallelen Platten, wie in Abbil-dung 1 gezeigt. Die Fläche jeder Kondensatorplatte ist A, und der Ab-stand zwischen den beiden Platten ist d. Der Abstand zwischen den Plat-ten ist sehr klein im Vergleich zu den Abmessungen der Platten. Eine Platte ist durch eine Feder (Federkonstante k) mit einer Wand verbunden. Die andere Platte ist fixiert. Bei einem Plattenabstand d ist die Feder we-der gestaucht noch gedehnt. D.h. es wird in diesem Fall keine Kraft auf die Feder ausgeübt. Wir nehmen an, dass die Dielektrizitätskonstante (Permittivität) der Luft zwischen den Platten der Dielektrizitätskonstanten
des Vakuums entspricht. Die Kapazität eines solchen Kondensators mit Plattenabstand d beträgt . Wir laden nun die Platten mit +Q and –Q auf und warten bis das System sein mechanisches Gleichgewicht erreicht hat.
1. Berechnen sie die kraft fe, die die Platten aufeinander ausüben.
2. es sei x die Verschiebung der Platte, die mit der feder verbunden ist. Bestimmen sie x.
3. drücken sie die spannung V (elektrische Potentialdifferenz) zwischen den Platten des kondensators in diesem Zustand durch Q, a, d, k aus.
4. sei C die kapazität des kondensators, die als das Verhältnis der la-dung zur spannung definiert ist. Bestimmen sie C/C
0 als funktion von Q,
a, d, k.
5. Berechnen sie die in dem system gespeicherte gesamtenergie u, aus-gedrückt durch Q, a, d, k.
die lösungen und mehr informationen gibt es hier: www.ipho2007.ir
Die Schweizer DelegationBrücke in Isfahan Johanna (rechts) mit Teamguide Zahra
frau, iran, physik?
20 2121
Philipp, in welchem Alter hast du mit der Leichtathletik angefangen?
Ich habe erst mit 17 Jahren begonnen, davor habe ich 10
Jahre Fussball gespielt.
Welches sind deine persönlichen Best-zeiten über 100, 200 und 400 Meter?
Die 100 Meter bin ich in 10,86 Sekunden gelaufen, bei 200
Metern liegt die Bestmarke bei 21,73 Sekunden, und mein Re-
kord über 400 Meter beträgt 47,32 Sekunden.
Worin liegt für dich der Reiz der Sprint-distanzen?
Der Vergleich Mann gegen Mann ist faszinierend, wobei
die 400 Meter besonders reizvoll sind: Wer zu schnell anläuft,
bricht oft ein. Wer sich umgekehrt am Start zu wenig zutraut,
kann den Rückstand meist nicht mehr aufholen. Die Rennen
«Studium und Spitzensport ergänzen sich»
Ist ein Nebeneinander von Leistungs-sport und Ausbildung überhaupt möglich? – Der Windischer 400-m- Läufer Philipp Weissenberger ist seit zwei Jahren Mitglied der National-mannschaft und meint: «Ja, definitiv.»
interview
22 23
werden oft im Kopf entschieden. Wer über 400 Meter ge-
winnt, ist meistens kein Überraschungssieger. In vielen ande-
ren Sportarten spielen das Material oder die Bedingungen eine
Rolle, im Sprint zählt einzig die persönliche Leistung.
Wie oft trainierst du?
Ich trainiere vier- bis fünfmal in der Woche, jeweils zwei
bis drei Stunden. Im Winter stehen Kraft, Schnellkraft (Hügel-
und Treppenläufe, Sprünge) und Ausdauer (Intervalltrainings)
im Vordergrund. Im Sommer spielen Schnelligkeit (30–100
Meter) und Schnelligkeitsausdauer (100–300 Meter) eine
wichtige Rolle.
Welches sind bisher deine grössten sportlichen Erfolge?
Bei den Schweizer Meisterschaften gewann ich in den ver-
gangenen beiden Jahren jeweils Bronze über 400 Meter. Zu-
dem gewann ich mit der Staffel Gold über 4x 400 Meter und
konnte dadurch im Europacup und bei den Militärweltmeis-
terschaften in Indien teilnehmen.
Gab es auch Enttäuschungen?Ja, es gab Rennen, da resultierte eine schlechtere Zeit, als
ich mir zum Ziel gesetzt hatte. Aber das motivierte mich nur,
noch härter zu trainieren. Meistens bin ich nicht enttäuscht,
sondern versuche, die Fehler zu analysieren.
Welche sportlichen Ziele strebst du an?
Eine Teilnahme an den Olympischen Spielen in Peking liegt
im Moment ausser Reichweite. Ein Einzel- und ein Staffelstart
an der EM 2010 in Barcelona scheint ein realistischeres Ziel.
Zudem möchte ich natürlich Schweizer Meister über 400 Me-
ter werden.
Zu deiner Ausbildung: Du hast eine Lehre als Automatiker und begleitend die Berufsmatura gemacht und nun Elektrotechnik an der Fachhochschule Nordwestschweiz studiert. Lehre, Berufs-matura, Studium, Sport – wie bringst du alles unter einen Hut?
Das ist Einstellungs- und Willenssache und erfordert eine
gute Organisation. Das Studium hat Vorrang, rundherum wird
das Training geplant. Doch es bleibt auch Freiraum für ande-
res: Ich klettere und tanze gerne, spiele Fussball oder fahre
Snowboard… Übrigens gehe ich auch gerne einmal einen Kaf-
fee trinken oder ins Kino.
Also sind Studium und Sport auf ho-hem Niveau parallel zu schaffen?
Ja, definitiv, schliesslich kann ich meine Trainingseinhei-
ten individuell festlegen. In den Teamsportarten, wo viele ge-
meinsame Trainingseinheiten absolviert werden müssen, ist
es sicher schwieriger. Die Doppelbelastung ist für mich eine
willkommene Abwechslung, denn ich kann in beiden Berei-
chen völlig abschalten.
Interview: Markus Isenrich
studium und spitzensport ergänzen sich
24
Melissa Müller (Text) Fabian Biasio (Fotos)
Zwei glockenhelle Stimmen steigen
im Kellergewölbe des Jugendheims em-
por und schwellen zu einem vibrieren-
den Klang an. In der Mitte steht Chorlei-
ter Ben Vatter neben einem klapprigen
Klavier. Konzentriert dirigiert er, als zie-
he er an unsichtbaren Seidenfäden.
22 junge Frauen und Männer wippen
zur Melodie. «All for one!», schmettern
sie in den Raum – «Alle für einen!» Ihr
Gesang ist rein und kraftvoll und fährt
durch Mark und Bein.
Niemand würde vermuten, dass es
sich um einen Chor gefallener Engel
handelt. Die neun männlichen 14- bis
19-jährigen Sänger sind sogenannte
Problemfälle, die Jugendanwälte, Poli-
tiker und Psychologen auf Trab halten.
Sie wohnen im kantonalen Jugendheim
Aarburg und absolvieren dort eine Leh-
re oder ein Berufsvorbereitungsjahr. Die
Öffentlichkeit hat keinen Zutritt zum
Jugendheim, das in einer Trutzburg
untergebracht ist. Die Festung thront
auf einem Fels über dem Städtchen
Aarburg. Erstmals wirft das Schweizer
Fernsehen einen Blick hinter die me-
terdicken Mauern: mit der Doku-Soap
«Chor auf Bewährung», die 13 privile-
gierte Gymnasiastinnen mit 9 Heimbe-
wohnern aus zerrütteten Verhältnissen
zusammenbringt. Zdravko ist einer von
ihnen. Er wurde als Baby in ein Heim
gebracht. «Die Aarburg ist mein neun-
tes Heim», sagt der 14-Jährige. Sein Ziel:
den Schulabschluss hinter sich bringen.
Gymnasiastin Jasmin hat dagegen ande-
re Perspektiven: «Nach der Matura will
ich in St. Gallen Jus und Internationale
Beziehungen studieren.» Auch Annina
will Akademikerin werden – in Recht
oder Publizistik. Im Chor singt sie mit,
«weil bei uns in Zofingen oft von den
‹bösen Buben der Festung› die Rede ist.
Ich will genauer hinschauen.»
Vor den Proben machen sich die
Jungs fein. «Mit den Frauen gibt es ei-
nen geilen Klang», sagt Raffaele, der sich
mit einem der Mädchen gut versteht:
«Annina will alles über mich wissen.
Sie fragt Sachen wie: ‹Häsch e Fründin?
Häsch Problem?›» Luiyi sieht die Sache
«Die Frauen und der Chor gehören zum Heim. Eines Tages gehe ich hier weg und fange neu an.»
Luiyi, KochlehrlingSingen verbindet. In der TV-Doku-Soap «Chor auf Bewährung» kamen sich Gymnasiastinnen und
Bewohner des Jugendheims Aarburg näher.
Chor der gefallenen Engel
reportage
26 27
Am Anfang hätten sich die Jugendlichen schwer
getan bei den Proben. Sie lümmelten gelangweilt
auf den Stühlen oder tauchten erst gar nicht auf.
Ben Vatter redete ihnen ins Gewissen, bis sie sich
aufrappelten. «Die ganze Gruppe verhält sich im
Alltag engagierter, seit wir singen», sagt Sozialpä-
dagoge Heinz-Günther Sussdorf.
Auch Ramon taut beim Singen auf. Und er hat
mit einer Sängerin angebandelt: In der Chorpause
sieht man die beiden händchenhaltend. In seinem
Zimmer faucht ein Leopard von einem Poster neben
Plakaten der Böhsen Onkelz. «Die Böhsen Onkelz
singen von Kummer und Schmerz», erklärt Ramon.
Später will er als Friedhofsgärtner arbeiten. Marco
will DJ werden. «Hey, das ist das Schönste: wenn
in einem Club alle zu meiner Musik tanzen.» In der
Aarburg absolviert er eine Lehre als Koch – falls
es mit der DJ-Karriere nicht klappt. Und Harrison
denkt darüber nach, Kleinkind-erzieher zu werden.
«Letztes Jahr haben zwölf Jungs ihren Lehrab-
schluss geschafft», sagt Heimleiter Neuenschwan-
Nesanthan schaut neckisch unter sei-
ner Kapuze hervor. Wenn ich nicht in
der Aarburg wär', würde ich in ein Loch
fallen», sagt er. Im Chor singt Nesanthan
den «Schwan» von Gölä. Der schlanke
Tamile zuckt mit den Schultern: «Das
Problem ist nur» sagt er, «dass der
Schwan weiss ist – und ich bin schwarz.»
Dass sieben der neun Chorsänger aus-
ländische Wurzeln haben, ist Zufall: Die
Hälfte der Bewohner der Aarburg sind
Schweizer. Die meisten Jugendlichen
mögen Rap und ahmen die coolen Posen
ihrer Vorbilder nach. Im «Chor auf Be-
währung» üben sie dagegen Mundartlie-
der und Schweizer Rocksongs ein. «Das
ist für diese Hip-Hop-Fans etwa so weit
weg wie eine Sinfonie von Mozart», sagt
Chorleiter Ben Vatter. Er windet den
Jungs ein Kränzchen: «Sie haben keine
Hemmungen, lauthals zu singen.»
Dardan bittet in sein Zimmer. «Nach
dem Singen fühle mich aufgeputscht»,
sagt der sportlich aussehende Albaner.
An einer Wand kleben Fotos von einem
Säugling. «Das ist der Sohn meines Bru-
ders», sagt der 18-Jährige. «Letzte Wo-
che hatte er seinen ersten Geburtstag.»
Ein zärtliches Lächeln breitet sich auf
Dardans Gesicht aus. Nicht im Traum
käme man auf den Gedanken, dass
man mit einem Straftäter plaudert, der,
wie die Mehrheit der 48 in der Aarburg
wohnhaften Jugendlichen, in seiner
Vergangenheit gewalttätig war. «Das ist
aber nicht bei allen der Fall», relativiert
Heimleiter Hans Peter Neuenschwan-
der und verweist auf das Phänomen der
Wohlstandsverwahrlosung: In der Aar-
burg landen auch Jugendliche aus gut
betuchtem Haus die von ihren Eltern
nur mit Geld zufriedengestellt wurden.
«Auch das sind desolate Zustände, ob-
wohl die Familie den Schein wahrt.»
Die Straftaten anderer Heimbewohner
sind sehr unterschiedlich: Töfflidieb-
stahl, Gewalt gegen die Eltern oder in
der Freizeit, vereinzelt auch Sexual- oder
Tötungsdelikte.
mit den Frauen nüchterner. «Ich bin ein
Typ, der vorausdenkt», sagt der fein-
gliedrige Kochlehrling. «Ich grenze klar
ab zwischen dem Heim und dem Leben
draussen. Die Frauen und der Chor ge-
hören zum Heim. Eines Tages gehe ich
von hier weg und fange neu an.» Sajidan
doppelt nach: «Die Frauen gehen nach
der Aufführung wieder, und wir bleiben
hier», sagt er lakonisch. «Unsere Jugend-
lichen legen manchmal ein Machogeha-
be an den Tag. Sie haben ein verzerrtes
Frauenbild», sagt Heimleiter Hans Peter
Neuenschwander. «Sie müssen lernen,
Frauen zu respektieren und sich auch
von unseren Sozialpädagoginnen etwas
sagen zu lassen.»
«Nach dem Singen habe ich immer gute Laune. Das putscht mich auf.»Dardan, 18, Landschaftsgärtnerlehrling
«Hey, das ist das Schönste. Wenn in einem Club alle zu meiner Musik tanzen»
Marco, 17, Kochlehrling
«Die Böhsen Onkelz singen von Kummer und von Schmerz. Das passt zu meiner Situation»Ramon, 19, Zierpflanzengärtner
«Endlich mal Frauen, das find ich gut. Ich möchte Kleinkinderzieher lernen oder Behindertenbetreuer.»Harrison, 17, Schnupperlehrling
chor der gefallenen engel
28 29
der stolz. «Alle fanden eine Stelle und
konnten fürs Erste in die Gesellschaft in-
tegriert werden.» Eine Studie über dau-
erhafte Erfolge der Resozialisierung gibt
es nicht. «Es kommt jedoch vor, dass ein
Jugendlicher eine Freundin findet, die
ihn weiterbringt als alle professionelle
Pädagogik», sagt er. «Andere erleben ei-
nen Schlüsselmoment, der ihrem Leben
ein überraschende Wendung gibt: Ein
Gespräch. Ein Buch. Erfolg in der Lehre.
Oder eben ein Projekt wie ‹Chor auf Be-
währung›. Darauf hoffen wir.»
Ende der Singprobe: Die Rockschnul-
ze «Heaven» von Gotthard ist verklun-
gen. Die Jugendlichen stürmen ins Freie.
Die Mädchen werden mit dem Auto ab-
geholt. Die Jungs bleiben hinter verrie-
gelten Türen zurück. Auf dem dunklen
Innenhof glühen zwei Zigaretten auf. Es
sind Raffaele und Ramon, sie sind aufge-
wühlt und singen in den Nachthimmel:
«Let me find my piece of Heaven…»
«Wenn ich nicht in der Aarburg wär', würde ich in ein Loch fallen.»
Nesanthan, 17, Malerr
«Die Aarburg ist mein neuntes Heim. Mein Ziel: den Schulabschluss hinter mich bringen.»Zdravko, 14, Schüler
Melissa Müller, 29, brach einst die Kanti nach drei Jahren ab, machte
verschiedene Praktika und entschied sich für den Journalismus. Im Mo-
ment arbeitet sie als Volontärin für die «Schweizer Familie», wo die-
ser Beitrag zuerst erschien. «Wenn ich an die Mittel- und Berufsschule
zurückdenke, dann kommt mir spontan Folgendes in den Sinn: Pickel,
Prüfungsstress, Frontalunterricht – zum Glück habe ich das hinter mir.»
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31
Livio Marc Stöckli Wirtschaftsmittelschule Liestal
Im Dienst ohne Waffe. Ein Lachen, mehr ein Schluchzen,
drang aus seiner Gasse in die noch dunklere Stadt. Kaum merk-
bar und ohne Einfluss lagen Geldstücke, Fetzen vom Reichtum
Krankhafter und Reicher, um ihn verstreut in alle Himmelsrich-
tungen, in denen, auch wenn’s nur der Gütige, der Stille und
Furchtlose sahen, seit geraumer Zeit die Sonne missfiel, sogar
sich selbst. In seinem braunen Mantel beschaute er die grosse
Welt und war und blieb froh, dass er ihr nie wirklich anver-
traut wurde, auch wenn es ihn fror. Noch Zeit.
Marschierende Massen, Paradengang, Einklang erseh-
nend, immer noch, wo er doch schon längst übertrieben war.
Die Gasse vermochte das hypnotisierende Trommeln zu ver-
schlingen in ihrer Einzigartigkeit, die sie prägte und so wun-
dervoll erscheinen liess. Diese Gasse beherbergte ihn wie
eine Mutter es zu tun pflegte, schütze ihn vor den Bomben
und der Mitteilungswelt, die grob durch die breiten Strassen schritt und diese noch breiter pflügte. Er konnte nicht mehr
gehen, lag blutend, halb totgetrampelt in der schützenden
Gasse und obwohl es Zeit war, hörte er keine Kirchenglocke.
Noch war Zeit.
Es war jemand in der Nähe, denn die Leute schrien; ein
Magier musste es sein, jemand, der einst auf eine Wiese kam
und einen Wald hinterliess und nun im Jubel tauchte und
seine Schätze zu werten wusste. Zitternde, abgemagerte Hän-
de küssten seit Tagen den Grund des Gassengrabens. Eine
Abend-Serenade tänzelte durch seine Gasse und umhüllte ihn
mit Schweigen, stützte ihn, schwebte mit ihm über Köpfe von
Singenden, und sein Blut befleckte ihre Hemden, deren Weiss
grau war. Von weit läutete die Totenglocke. Die Zeit war nicht
mehr.
Livio Marc Stöckli, 19, aus Pratteln, liebt es, den Soundtrack seines
Lebens zusammenzustellen und auf Bänken die Welt zu betrachten.
Berufsziel: «den Regen umzudrehen.» Selbstcharakterisierung: «Kaum
kann ich mich vom Winde unterscheiden, der vergesslich die Höhen
über der Stadt streichelt. Der Rest wurde verweht.»
GassenweltEr konnte nicht mehr gehen, lag blutend, halb totgetrampelt in der schützenden Gasse und obwohl es Zeit war, hörte er keine Kir–chenglocke. Noch war Zeit.
«The dwarf with his hands on backwards sat, slumped like a half-filled sack on tiny twisted legs from which
sawdust might run, outside the three tiers of churches built
in honour of St Francis, brother of the poor, talker with birds, over whom
he had the advantage of not being dead yet.»
Assisi, Norman MacCaig
kurzgeschichte
3332
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Der Frühling
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TANGO-FACTS
LES FLEURS DU MAL Vor 150 Jahren erschien in Paris der erste Gedicht-band von Charles Baudelaire mit dem Titel «Les Fleurs du Mal» («Die Blumen des Bösen»). Das Echo auf den schmalen Band war gewaltig – nur kam es nicht vonseiten der Literaturkritik, sondern von der Staatsanwaltschaft. Baudelaire wurde we-gen «Gotteslästerung und Beleidigung der öffent-lichen Moral» zur Streichung von sechs Gedichten und zur Zahlung einer Geldstrafe verurteilt.
Heute gelten «Die Blumen des Bösen» als ein zentrales Gründungsdokument der literarischen Moderne. «Wer dieses Buch öffnet», schreibt der Schriftsteller Michael Krüger, «sollte alle Hoffnung fahren lassen: Es ist ein Brevier der Negativität, in dem nichts von dem ausgelassen ist, was der Lauf der Welt an Unrat und Verderbnis an die Oberfläche gespült hat».
Marie Francine Lagadec Kantonsschule Oerlikon
Im Französischunterricht behandel-
ten wir einige Gedichte von Charles Bau-
delaire, die mir – obwohl ich natürlich
nicht alle Nuancen verstand – gefielen
und mich faszinierten. Das Besondere
war, dass wir die Gedichte auch in Zu-
sammenhang mit anderen Künsten be-
trachteten – beispielsweise mit Musik
und (zeitgenössischen) Illustrationen.
Ich entdeckte so die Poesie ausserhalb
des gewöhnlichen Schulunterrichtes
und wusste nun, dass Baudelaires Ge-
dichte ein Teil meiner Maturarbeit sein
würden.
Da ich jedoch nicht nur die Gedich-
te analysieren wollte, beschloss ich, sie
zu illustrieren. Somit vereinigte ich zwei
meiner Leidenschaften und machte
mich voller Enthusiasmus an die Arbeit.
Um nicht am Aufwand zu scheitern, be-
schränkte ich mich auf die drei Gedichte
«Bénédiction», «L‘invitation au voya-
ge» und «Danse
macabre». Dabei
ging ich vom fran-
zösischen Original
aus.
Für diesen Ar-
tikel habe ich das
Gedicht «Bénédic-
tion» ausgewählt, da es in der Gedicht-
sammlung am Anfang steht und es Bau-
delaires Auffassung von sich als Künst-
ler sowie seine Pflichten zum Thema hat.
Im Gedicht ist die Diskrepanz zwischen
dem Schönen, Künstlerischen und Er-
habenen – also den «fleurs» – und dem
Verdorbenen, Niederträchtigen und Dä-
monischen – dem «mal» – besonders
deutlich gezeichnet. Das Gedicht hin-
terliess bei mir, durch die zahlreichen
kräftigen Bilder, die es hervorruft, einen
starken und bleibenden Eindruck.
Die Illustrationen, die ich dazu an-
fertigte, sind von Hand überarbeitete
Fotografien. Die meisten stammen von
einem dreitägigen Aufenthalt in Paris
während meiner Sommerferien und hal-
ten meine Eindrücke vom «Spleen de Pa-
ris» sowie die Hinterlassenschaften Bau-
delaires fest. Die Überarbeitung machte
ich in den meisten Fällen mit Tipp-Ex,
K u g e l s c h r e i b e r
und Buntstiften.
Die von mir selbst
konzipierten Bilder
begann ich direkt
mit Kugelschrei-
ber oder einem
Tuschestift. Des
Weiteren verwendete ich auch Bilder
von beispielsweise Henri Matisse, die
bereits Illustrationen zu den ausgewähl-
ten Gedichten sind, und überarbeitete
sie so, dass sie meiner Interpretation
entsprachen. Ich wollte mich bezüglich
der Arbeitstechniken und Materialien
nicht auf dünnes Eis begeben, da schon
die Aufgabenstellung genügend an-
spruchsvoll war.
«Im Gedicht wird die Diskrepanz
zwischen dem Schönen, Künstle-rischen und Erha-
benen und dem Verdorbenen, Nieder-trächtigen und Dämo-
nischen spürbar»
In ihrer Maturitätsarbeit setzt sich Marie Francine Lagadec künstlerisch mit Gedichten von Charles Baudelaire auseinander. Innovativ verbindet sie verschiedene Gestaltungstechniken so miteinander, dass reale Wirklich-keiten kombiniert mit imaginären Vorstellungen neue poetische Welten ergeben.
Les Fleurs du Mal
report
36 37
Wenn nach des Himmels mächtigen Gesetzen
Der Dichter kommt in diese müde Welt,
Schreit seine Mutter auf, und voll Entsetzen
Flucht sie dem Gott, den Mitleid selbst befällt.
«Warum gebar ich nicht ein Nest voll Schlangen,
Statt dieses Spottgebilds verwünschter Art!
Verflucht die Nacht, in der mein Bauch empfangen,
Da flüchtiger Lust so bittre Strafe ward!
Was wähltest du mich aus von allen Frauen,
Dem blöden Mann zur ekelvollen Wut,
Was werf ich nicht die Missgeburt voll Grauen
Gleich einem Liebesbrief in Feuersglut!
Doch ich will deinem Hasse nicht erliegen,
Ich wälz ihn auf das Werkzeug deines Grolls
Und will den missratnen Baum so biegen,
Dass keine Frucht entspringt dem faulen Holz.»
So presst sie geifernd ihren Grimm zusammen,
Nichts ahnend von des Himmels Schluss und Rat,
Und schürt sich in Gehenna selbst die Flammen
Für ihre mütterliche Freveltat.
Segen
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2
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4
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1 2 3
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5
6
les fleurs du mal
3938
Indessen zieht ein Engel seine Kreise,
Und der Enterbte blüht im Sonnenschein,
Und zu Ambrosia wird ihm jede Speise
Und jeder Trank zu goldnem Nektarwein.
Zum Spiel taugt Wind ihm, Wolken und Gestirne,
Berauscht von Liedern zieht er durch sein Reich,
Und traurig senkt der Engel seine Stirne,
Sieht er ihn sorglos, heitern Vögeln gleich.
Berauschen will ich mich an Weihrauch und Essenzen,
An Wein und Huldigung mich trinken satt,
Und da er göttergleich mich will bekränzen,
Werd ich beherrschen ihn an Gottes Statt!
Und will die Posse mir nicht mehr gefallen,
Pack ich ihn mit der schwachen, starken Hand,
Mit meinen Nägeln wie Harpyenkrallen
Zerfleisch ich ihn, bis ich sein Herze fand.
Gleich einem jungen Vogel fühl ichs zittern,
Zuckend und rot wirds meiner Hände Raub,
Und um mein Lieblingstier damit zu füttern,
Werf ich es voll Verachtung in den Staub!»
Zum Himmel, zu dem ewigen Strahlensitze
Hebt fromm der Dichter seine Hände auf,
Und seines lichten Geistes weite Blitze
Verhüllen ihm des Volks blindwütigen Häuf:
«Dank, dir, o Gott, der uns das Leid liess werden,
Das uns erlöst aus tiefer Sündennacht,
Das reine Elixier, das schon auf Erden
Die Starken deiner Wonnen würdig macht!
Dem Dichter wahrst du deiner Sitze besten
Inmitten seliger Legionen Schar,
Ich weiss, du lädst ihn zu den ewigen Festen
Der Herrlichkeit und Tugend immerdar.
Ich weiss, nicht Welt noch Hölle macht zum Hohne
Den einzigen Adel, den der Schmerz verleiht.
Ich weiss, auf meinem Haupt die Wunderkrone
Muss leuchten über Welt und Ewigkeit.
Ich weiss, dass Schätze, die versunken schliefen,
Dass Gold und Edelstein aus finstrem Schacht,
Dass Perlen, die du hebst aus Meerestiefen,
Nicht würdig sind für dieser Krone Pracht.
Denn sie ward aus dem reinsten Licht gesponnen,
Das der Urflamme heiliger Herd besass,
Des Menschen Blick, die leuchtendste der Sonnen
Erlischt vor ihrem Glanz wie mattes Glas.»
Denn alle, die er liebt, voll Scheu ihn messen;
Weil seine Sanftmut ihren Groll entfacht,
Versuchen sie ihm Klagen zu erpressen,
Erproben sie an ihm der Rohheit Macht.
Sie mischen eklen Staub in seine Speisen,
Beschmutzen jedes Ding, dem er sich naht.
Was er berührt, sie heuchelnd von sich weisen,
Und schreien «wehe», kreuzt er ihren Pfad.
Auf öffentlichem Markt, wie eine Dirne,
Höhnt laut sein Weib: «Da mir sein Beten gilt,
So will ich auch vom Sockel bis zur Stirne
Vergoldet sein gleich einem Götzenbild.
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Marie Francine Lagadec, 18, aus Regensdorf,
besucht die Kantonsschule Oerlikon. Sie zeich-
net leidenschaftlich gerne, tanzt, liest und
besucht oft Museen und Theater. «Ich bin
charakterstark und scheue vor Anstrengung
nicht zurück. Ich entscheide mich meist sehr
schnell, bin aufbrausend, launisch, verletz-
lich und anspruchsvoll», sagt die zukünftige
Kunststudentin.
les fleurs du mal
4140
Kathrin Bauer Gymnasium Mühldorf am Inn
«Ich will dich nicht erschrecken, aber du bist schwan-
ger!» Nadine kann es nicht glauben, will es nicht glauben.
Sie starrt auf den Bildschirm. Dieses Ultraschallbild soll ein
Baby zeigen? In ihrem Bauch?! Aber... sie ist doch erst 14!
Gedanken und Gefühle überfluten sie. Reissen sie mit. Krei-
sen um das Baby, ihre Eltern und landen schliesslich bei Lex
(Name geändert), dem Vater des Babys. Wie
sie ihn in Mühldorf kennen lernte. Wie sie
sich in ihn verliebte – in den 24-Jährigen
mit den vielen Tattoos und Piercings.
Wie sie zum ersten Mal bei ihm in der
Wohnung war und… wie er ihr Druck
machte: «Komm, is’ doch nichts dabei.»
Nadine wollte eigentlich nicht mit ihm
schlafen. Aber sie musste ihn unbedingt ha-
ben, also tat sie es
doch. Irgendwann
fand sie heraus, dass Lex fremdging,
und machte Schluss. Die grosse Liebe
war vorbei, nicht aber die Angst: Die
Angst, die sie seit jener Nacht verfolg-
te, die Angst schwanger zu sein.
Nadine starrt immer noch auf die
weissen Flecken am Monitor. «Soll ich
es deiner Mutter sagen, wenn sie zum
Putzen kommt oder möchtest du?»,
fragt Dr. Karsten. Aber Nadi-
ne kann es nicht. Sie soll
dann halt erst einmal in die
Schule gehen und nachher
wiederkommen, meint der
Arzt. Wie betäubt verlässt sie die
Praxis. Auf dem Weg zur Schule nimmt sie nichts
wahr. Niemanden. Als ob es die Menschen um sie
herum nicht gäbe. Nur noch sie
und dieses Kind in ihrem Bauch.
Und Angst...
In der Schule vertraut sie
sich einigen Freunden an. Ver-
stehen kann sie keiner. «Mit
wem?» «Wann?» «Wenn ich
schwanger wäre, würde ich es
zur Adoption freigeben.» «Ich
würde die Treppe solange rauf-
und runterlaufen, bis ich das
Kind verliere.» «Ich würde abtreiben.» «Sie haben
recht», denkt Nadine, «ich will das Baby nicht. Ich
will es nicht. Ich kann das nicht!»
Als sie am Nachmittag die Tür zum Arztzimmer
öffnet, kauert ihre Mutter auf einem Stuhl und
weint. Nadine fühlt sich schlecht, weil ihre Mut-
ter ihr nicht mehr vertrauen kann. Langsam geht
Nadine zu ihr und stellt sich hinter sie. «Von wem
ist es?» – «Er ist 15, aus Waldkraiburg. Ich kenne
ihn schon lang», lügt Nadine. Sie schafft es einfach
nicht, ihr die Wahrheit zu erzählen: Dass es der Typ
ist, von dem ihr die Mutter immer abgeraten hat.
Der Typ mit den vielen Tattoos und Piercings, der
fast doppelt so alt ist wie sie. An diesem Tag put-
zen sie gemeinsam die Praxis. Nadine staubt gerade
das Fensterbrett mit den Topfblumen ab, als ihre
Mutter meint: «Du, ich werde das Gefühl nicht los,
dass du mir nicht die Wahrheit sagst.» – «Das Baby
ist von Lex.»
In der nächsten Woche geht Nadine nicht in die
Schule. Sie verlässt kaum ihr Zimmer und weint. Sie
hat Angst. Angst vor dem Baby. Angst, dass es ihr
Leben auf den Kopf stellen wird. Noch in derselben
Woche geht sie mit ihrer Mutter zum Aldi, wo Lex
arbeitet. Nadine legt Süssigkeiten auf das Fliess-
band. An der Kasse sitzt er: die Haare zurückgegelt,
Das Ende der Kindheit
reportage
44 45
löst sich die Freundschaft ganz.
Jetzt ist sie 17, hat ihren Schulab-
schluss nachgeholt und sucht Arbeit.
Nicos Vater ist ihr egal. Den Kleinen mit
den rotblonden
Locken und den
dunke lb raunen
Kulleraugen hat er
noch nie gesehen.
Nadine will ihn
ihm auch nicht
zeigen. Bis heute
hat er keinen Unterhalt bezahlt. Er ist
immer wieder umgezogen, um sich da-
vor zu drücken.
Doch Nadine ist froh, dass es damals
zu spät für eine Abtreibung war. Heute
würde sie ihren kleinen Schatz nicht
mehr hergeben. Nie! Sie ist stolz auf Nico
und das Schönste ist, dass er sie braucht.
Sie wünscht sich einen Vater für ihn,
der Verantwortung übernimmt und ihr
hilft, auf eigenen
Beinen zu stehen.
Man sieht ihr an,
dass sie zehn Jah-
re «übersprungen»
hat. Aber diese Zeit
möchte sie jetzt
nachholen. So geht
sie abends wieder
öfter aus oder zu
einer Freundin, ein-
fach um zu reden. Sie wünscht sich, dass
es keine Vorurteile mehr gegenüber jun-
gen Müttern gibt. Dass es nicht heisst:
«Die können sich doch nicht um ein
Kind kümmern!»
Als ich sie noch frage, ob ich in mei-
ner Reportage ihren Namen ändern soll,
sagt sie bestimmt: «Nein. Es ist passiert
und ich stehe dazu.»
stützt sie. Dank ihrer Hilfe kann sich
Nadine im siebten Monat auf ihr Baby
freuen. Sie hat jetzt auch einen Namen
für ihr Kind: Nico.
Kurz vor der Geburt trifft sie Lex
zufällig noch einmal. Er steht an einer
Tankstelle, die Hände in den Hosenta-
schen. Seit er von ihrer Schwangerschaft
erfahren hat, versteckt er sich. Nadine
ist mit einer Freundin unterwegs. Sie
schreit ihn an. Er schaut ihr nicht in die
Augen. Nicht einmal auf ihren Bauch.
Vier Wochen später wird Nadine ins
Krankenhaus gebracht. Vor der Entbin-
dung hat sie sich gewünscht, dass Nico
bald kommt. Aber als es so weit ist, geht
ihr alles zu schnell.
Nach der Geburt
registriert sie nicht
einmal, wie die
Krankenschwester
Nico in ein Tuch
wickelt und ihr auf
den Bauch legt. Es
ist 21 Uhr. Sie will
nur noch schlafen.
Zwei Tage später
möchte sie ihn neben sich haben. Noch
hat Nadine Angst, ihn auf den Arm zu
nehmen. Er wirkt so zerbrechlich.
Nico stellt Nadines Leben auf den
Kopf. Sie hat keine Freizeit mehr, kann
ihre Freunde nicht treffen. Vormittags,
wenn ihr Vater babysittet, paukt sie in
der Schule, nachmittags muss sie Nico
füttern, wickeln und sich um ihn küm-
mern, abends lernt sie, und oft raubt
der Kleine ihr den Schlaf. In der Schule
denkt keiner daran, auch ihre Freunde
nicht. «Hey Mann, was geht denn mit
dir ab, du Loserin!», hört sie oft. Nicht
einmal ihre beste Freundin Isabelle, die
ihr einst Hilfe versprochen hatte, kann
sie verstehen. Sie hört auf einmal auf,
Nadine anzurufen. Nach einem Streit
seine Lederjacke lässig über den Stuhl geworfen,
cool wie immer. Wut kommt in Nadine auf. «War-
um hast du mir bloss Druck gemacht? Warum? We-
gen dir bin ich schwanger. Wegen dir!», brüllt sie
ihn an. «Das macht 6.25», lautet seine Antwort.
«Und du willst 24 sein, du Feigling», denkt sie und
verlässt wortlos den Laden.
Nadine weiss, dass es für eine Abtreibung zu spät
ist. Eine Woche später sitzt sie wieder in der Schu-
le. «Die Klasse kriegt Zuwachs, Nadine ist schwan-
ger.» Obwohl sie findet, dass ihr Klassenlehrer das
gut rübergebracht hat, möchte Nadine einfach auf-
stehen und abhauen. Nicht die Schwangere sein.
Nicht wie ein Tier im Zoo von ihren Mitschülern
angegafft werden. Als sie in der Pause ihre Schuhe
anziehen will, kommen Mädchen zu ihr, die Nadine
nicht leiden können. «Heb mal dein T-Shirt hoch,
sieht man schon was?» – «Warum kümmern sich
diese Idioten nicht um ihren Dreck?», schiesst es
Nadine durch den Kopf. «Warum hilft mir keiner?
Warum?»
Nadine will reden. Mit jemandem, der sie
versteht, versteht, wie sie sich fühlt. So
jemanden findet sie bei der Schwan-
gerschaftsberatung. Die Frau
dort hört ihr zu, verurteilt
sie nicht, sondern unter-
Kathrin Bauer, 16, aus Neumarkt Sankt Veith, bezeichnet sich als «neu-
gierig, unternehmungslustig, gern unter Leuten» und möchte später
einmal Journalistin werden. Sie schreibt bereits heute fleissig Artikel
für die Schülerzeitung, liest, reitet und spielt gerne Klavier. Sie würde
gerne ein halbes Jahr nach England oder in die USA gehen.
das ende der kindheit
46 47
Anina Albonico Kantonsschule Küsnacht
Anna stand im Regen. Einfach so. Sie stand da, allein, völlig
allein und versuchte die kalten Tropfen zu fühlen. Es war kein
Sommergewitter. Das Wasser war eiskalt, als wollte es die Käl-
te in ihrem Herzen verstärken. Annas Lippen glichen einem
Eisblock, doch sie nahm es nicht wahr. Alles, was sie fühlte,
war die Kälte. Diese ungewohnte, vernichtende Käl-
te mitten im Sommer.
Ein paar Tage zuvor hatte es die Sonne noch ge-
geben. Anna wusste das,
doch sie konnte sich nicht
mehr erinnern. Vergessen
waren alle warmen Momen-
te und die feinen Strahlen
des Lichts. Sie sah und fühlte
nur noch die dunkle Nässe um sich herum. Der
Regen half ihr, ihren Körper zu beruhigen. Er fuhr in sie, durch-
nässte die kleinsten Stellen ihres Daseins und verhinderte das
Ausbrechen von Gefühlen, die sie noch nicht zulassen konnte.
Aber das Wichtigste war, dass er ihr Herz gefrieren liess.
Er hatte gesagt, sie sei es. Sie sei diejenige, die er an seiner
Seite haben wolle. Für immer. Bis August. Dann aber war der
Regen gekommen, und alles war anders geworden.
Anna wusste nicht, was sie hätte besser machen können.
Sie hatte ihm alles gegeben. Sie würde ihm auch jetzt noch
alles geben, auch wenn es falsch war. Der Regen schaffte es
nicht, alles von ihr wegzuwaschen. Sie konnte seine Hände
überall auf ihrem Körper spüren.
Die Stränge, die sie beide zusammengehalten hatten, schie-
nen stark. Wetterfeste Seile, die, wie es ihr damals schien, je-
dem noch so wilden Gewitter hätten entgegenwirken können.
Doch es war nie eines gekommen. Der Himmel war stets blau
gewesen. Natürlich hatte es ab und zu eine Wetterveränderung
gegeben, doch zu mehr als einem leichten Regen war es nie
gekommen. Der Himmel war unnatürlich blau und auf keine
Gewitter vorbereitet. Einzig der Wind hatte angefangen, leicht
und leise an den Blättern der Bäume zu rütteln, war zuerst
sanft durch die Hügel geweht und hatte die Seile ins Flattern
gebracht. Schliesslich hatte er Wolken aufziehen lassen und
die Gefühle davongetragen.
Und dann machte sie den entscheidenden Fehler.
Er sagte, es täte ihm leid. Ein Blick von ihm, und vergessen
waren der Regen, die Schmerzen und die Kälte. Zu verführe-
risch war die Aussicht gewesen, ihn wieder spüren zu können.
Nicht mehr diese endlose Leere in sich dulden zu müssen. Zu
sehr hatte sie sich danach gesehnt, nicht mehr allein auf ihre
Träume warten zu müssen.
Sie versuchte sich erneut einzureden, das sei das Glück. Zu
sehr in ihrer Traumwelt ver-
strickt, wollte sie nicht sehen,
was anderen unübersehbar
schien.
Das Glück blieb nicht lan-
ge. Anna sass da und zähl-
te die Tage. In ihrem Kopf
herrschte Chaos. Der Sommer
am Strand. Das unterkühlte
Hotelzimmer. Das leuchtend
farbige Riesenrad. Die Rosen.
Sie versuchte, einen Grund zu finden und alle Fragen aufzuklä-
ren, für die nur er allein die Antwort kannte.
Irgendwann würde sie sehen können, dass es einen Sinn
hatte. Alles.
Sie hatte ihm alles gegeben. Sie würde ihm auch jetzt noch alles geben, auch
wenn es falsch war.
Anina Albonica, 19, aus Erlenbach, hat sich
nach der Matura an der Kantonsschule Küs-
nacht nach Neuseeland aufgemacht und will
bald Geschichte und Soziologie studieren.
Anina: «Ich kann nicht ohne meine Freunde,
TV-Serien, die Farbe Türkis und labellos sein
und bin auf der auf der Suche nach einer Auf-
gabe im Leben.»
Er hatte gesagt, sie sei es. Sie sei diejenige, die er an seiner Seite haben wolle. Für immer. Bis August. Dann aber war der Regen gekommen, und alles war anders geworden.
Im Regenkurzgeschichte
49
Ich war ein Jahr mit meinem Freund zusammen, doch vor zwei Monaten hat er Knall auf Fall Schluss gemacht. Weil er die Schule wechseln müsse und viel Zeit mit Fusball verbringe, habe er keine Zeit mehr für mich! Meine Freundin rief ihn an und fragte ihn, ob er mich noch liebe, was er bejahte, aber dennoch habe er keine Zeit. Ich möchte ihm irgendwie sagen, dass er mir sehr viel bedeutet, und mit ihm vernünftig sprechen, aber ich weiss nicht, wie ich das anstellen soll. Bitte helft mir.
Ich bin mit meiner Freundin seit sechs Monaten zusammen, und ich liebe sie wirklich sehr. Wir hatten bisher noch keinen Sex und auch sonst kaum Zärtlichkeiten. Ich bin 20, sie ist ein Jahr jünger. Am Anfang dachte ich, es liege daran, dass sie einfach noch nicht so weit ist. Natürlich versuche ich es immer wieder, zärtlich zu werden, indem ich sie streichle oder so. Wenn ich sie darauf anspreche, sucht sie nach Ausreden… Ich getraue mich schon fast nicht mehr, sie zu berühren, weil ich Angst vor ihrer abweisenden Reaktion habe. Was ist los mit ihr? Was kann ich machen? Kann es sein, dass sie schlechte Erfahrungen machte oder gar vergewaltigt wurde? Wie soll ich mich verhalten?
Ich verstehe, dass du deinen Ex-Freund zurückhaben möchtest. In einer Beziehung kommen bei den Partnern manchmal die Gedanken oder die Gefühle auf, dass man für den Partner nicht der Richtige sei, sei dies, weil man zu wenig «gut» ist oder nicht das geben kann, was das Gegenüber scheinbar verdient. Vielleicht hilft es, wenn du ihn bittest, sich mit dir an einem neutralen Ort zu treffen. So kannst du ihm deine Situation und deine Gefühle mitteilen. Vielleicht kannst du ihm auch sagen, dass du nicht verlangst, dass er sich jede freie Sekunde mit dir beschäftigt, und dass du es verstehst, dass er viel Zeit mit Fussball verbringt. Wenn er abblockt, so versuche, mit einer Kollegin oder einem Kollegen über deine Situation zu sprechen. Unternimm etwas, geh fort, ins Kino, lenke dich ab. Alle Menschen entwickeln verschiedene Rituale, um mit negativen Erlebnissen trotzdem auf eine gute Weise abzuschliessen und so das Leben wieder geniessen zu können. Alles Gute, dein tschau
Versuche, mit deiner Freundin zu reden und ihr zu sagen, dass du sie liebst, dass du dich danach sehnst, sie zu berühren, mit ihr zu schlafen, und dass du dir Sorgen machst um sie, aber auch um eure Beziehung. Du kannst sie fragen, ob sie eine Erklärung hat für ihr Verhalten und ob sie etwas Schlimmes erlebt hat. Sollte sich dein Verdacht bestätigen, könntest du deiner Freundin Mut machen, sich bei einer Opferberatungsstelle zu melden und sich dort Unterstützung und Hilfe zu holen. Sollte sich dein Verdacht nicht bestätigen, weil nichts dergleichen passiert ist oder sich deine Freundin nicht bewusst daran erinnert oder es auch verdrängt, kannst du sie fragen, wie sie sich denn eure Beziehung weiter vorstellt. Was sie sich wünscht, was sie für Vorstellungen hat und ob sie vor etwas Angst hat. Liebe Grüsse vom tschau
Beziehungen
Sexualität
MEIN EX-FREUND LIEBT MICH NOCH, ABER…
WARUM BLOCKT SIE IMMER AB?
Meine Schwester leidet an Ess-Brechsucht. Bei jeder Mahlzeit schlägt sie sich so richtig den Bauch voll, und sie isst auch laufend nebenbei Süssigkeiten. Danach geht sie immer ins Bad und erbricht. Sie braucht wohl ernsthaft Hilfe, um ihre Essgewohnheiten in den Griff zu bekommen. Wenn ich sie frage, ob es ihr gut gehe, sagt sie immer ja, ab und zu meckert sie über bestimmte Vorfälle in der Schule, aber sonst sagt sie nichts. Sie spricht zwar sehr viel, aber nicht über ihre Emotionen... Ich möchte ihr gerne helfen, aber ich weiss nicht wie, da sie sich ja nicht helfen lassen will. Habt ihr eine Idee, was ich beziehungsweise unsere Familie tun kann, um meiner Schwester zu helfen?
Es ist verständlich, dass du und deine Eltern euch um eure Schwester Sorgen macht. Viele junge Frauen leiden an Essstörungen, und es ist meistens so, dass sie dies so lange wie möglich vor ihrem Umfeld und auch vor sich selbst verstecken. Daher ist das Gespräch und die Konfrontation von aussen ein wichtiger, oft entscheidender Anstoss für die Betroffenen, sich Hilfe zu holen. Versucht dabei nicht vorwurfsvoll oder wertend zu sein. Du kannst ihr mitteilen, dass ihr euch Sorgen macht. Ihr könnt aber auch versuchen, ihr bei den verschiedensten Gelegenheiten ein positives Feedback zu geben, das nicht im Zusammenhang mit dem Essen steht («Du siehst heute sehr schön aus», «Du hast das super gemacht», etc.). Für mehr Informationen und Tipps zum Thema kannst du ausserdem die Arbeitsgemeinschaft Essstörungen (www.aes.ch) kontaktieren. Viel Mut und Kraft und alles Gute, dein tschau.
MEINE SCHWESTER LEIDET AN BULIMIEWohlsein
Was kann ich tun, um meiner Schwester, die an Ess-Brechsucht leidet, zu helfen? Ab welchem Alter ist es erlaubt, Wasserpfeife zu rauchen? Warum blockt meine Freundin immer ab, wenn ich zärtlich werden möchte? Wie sollen wir ein Gespräch mit unserem Lehrer führen? – Das Beratungsteam von tschau.ch beantwortet deine Fragen.
Mein Ex-Freund liebt mich noch, aber...
beratung
50 51
TANGO-FACTS
Auf der Beratungsplattform www.tschau.ch findest du viele Antworten, Informationen und Tipps zu den Themen Beziehungen, Sex, Wohlsein, Lebenswelt, Schule und Job. Wenn du keine Antwort findest, kannst du auf der Website deine persönliche Frage anonym stellen und erhältst innerhalb von drei Tagen eine Antwort.
Mit deinem Einverständnis werden einzelne Fragen und Antworten auf tschau.ch veröffentlicht und im tango abgedruckt. tschau.ch wird neu von der Schweizer Kin-der- und Jugendförderung Infoklick.ch betrieben und finanziell unterstützt von der Gesundheitsförderung Schweiz, dem Bundesamt für Gesundheit sowie mehre-ren Kantonen.
Wir haben ein Problem mit einem Lehrer. Er ist sicher fachlich kompetent, allerdings ist er eine pädagogische Niete. Wie können wir ein Gespräch mit ihm vorbereiten und uns bei der Schulleitung beschweren, sodass wir ernst genommen werden?
Eine Person zu kritisieren ist nicht immer einfach, vor allem wenn die Rollen so verteilt sind wie bei Schülern und Lehrern. Grundsätzlich ist wichtig, dass ihr zusammentragt, was mit der Lehrperson nicht gut ist, aber auch das, was sie gut macht. In einem nächsten Schritt könnt ihr eure Wünsche an sie zusammentragen. Beim Gespräch selber ist es wichtig, dass ihr in sogenannten Ich-Botschaften Rückmeldung gebt («Ich fühle mich nicht wohl, wenn Sie...», «Ich kann dem Unterricht nicht folgen, wenn Sie...»). Es ist gut, wenn dies verschiedene Schüler/-innen übernehmen und nicht nur eine Person spricht, damit die Lehrperson merkt, dass es viele unter euch gibt, die Schwierigkeiten mit dem Unterrichtsstil haben. Versucht am Schluss des Gesprächs ganz konkrete Abmachungen zu treffen und schreibt sie gemeinsam auf. Hilfreich ist, wenn ihr den Lehrer vorinformiert, über welche Themen ihr mit ihm sprechen möchtet und in welchem Rahmen, damit er sich vorbereiten kann. Falls das Gespräch und die Abmachungen keine Früchte tragen, solltet ihr zur Schulleitung. Auch hier bittet ihr zuerst um ein Gespräch und bringt dann eure Kritik, euer Lob und eure Wünsche an. Vielleicht gibt es bei euch im Schulhaus einen Schulsozialarbeiter oder einen Schulpsychologen. Falls ja, könnt ihr diese Person fragen, ob sie euch beim Gespräch unterstützt. Liebe Grüsse, dein tschau
Beziehungen
WIE SOLLEN WIR EIN GESPRÄCH MIT UNSEREM LEHRER FÜHREN?
Ab welchem Alter ist Shisha-Rauchen eigentlich erlaubt?
Es gibt keine gesetzlichen Bestimmungen, die vorgeben, ab welchem Alter das Rauchen von Tabak (egal, ob in Form von Zigaretten oder Wasserpfeife) erlaubt ist. Es gibt aber gesetzliche Bestimmungen, welche den Kauf bzw. den Verkauf von Tabak einschränken. Diese Bestimmungen sind jedoch von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Im Kanton Zürich beispielsweise wurde das Mindestalter für den Verkauf von Tabakprodukten bei 16 Jahren festgesetzt. Übrigens: Das Wasserpfeifenrauchen ist zwar erst seit Kurzem Gegenstand der Tabakforschung. Doch eindeutig ist, dass die gesundheitsgefährdenden Rauchpartikel und Nikotin keinesfalls im Wasserbad der Pfeife verschwinden. Zählt man die Probleme der Mund- und Zahnhygiene hinzu, so sollte man sich die Teilnahme am genüsslichen Dampfritual besser zweimal überlegen. Liebe Grüsse, dein tschau
AB WELCHEM ALTER IST SHISHA-RAUCHEN ERLAUBT?Sucht und Drogen
mein ex-freund liebt mich noch, aber...
bei der Stadtpolizei Zürich.
Ich bin Polizist
Polizistin oder Polizist in der grössten SchweizerStadt zu sein, ist spannend und anspruchsvoll – imStreifenwagen, auf dem Motorrad, auf dem See, inUniform oder in Zivil. Für diese aussergewöhnlicheAufgabe brauchen Sie Motivation, Besonnenheit undeine gute Ausbildung.
Aufgeweckte, kontaktfreudige 20- bis 35-jährigeSchweizerinnen und Schweizer mit Berufsabschluss,Matur oder anerkanntem Diplom bilden wir währendzwei Jahren bei vollem Lohn zu verantwortungsbewuss-ten, kompetenten Polizistinnen und Polizisten aus.Unsere künftigen Mitarbeitenden sollten körperlich fitund mental belastbar sein.
Tag für Tag an vorderster Front dabei sein. Ein ange-sehener, vielseitiger und fordernder Beruf! Wenn Sie dieHerausforderung annehmen möchten, bestellen Sie dieBewerbungsunterlagen bei der Stadtpolizei Zürich:Personalwerbung Polizeischule, Postfach, 8023 Zürich,Telefon 044 411 92 16/17 oder über www.stadtpolizei.ch
Pirmin 31,Handballer
RZ_Persins_2332_Handballer 29.8.2006 8:34 Uhr Seite 1
Bleistift oder Laptop?Sie wünschen sich eine pädagogische Ausbildung, die Tradition und Innovation verbindet? An der Pädagogischen Hochschule des Kantons St.Gallen erwartet Sie nicht nur in dieser Beziehung ein bestens ausgewogenes Studium.
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LUST, BEI
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MEHR INFOS SEITE 34 UND 35
53
Ziemlich viele Obdachlose treiben
sich hier herum. Irgendwie unheimlich.
Einer spricht mich an, wir reden über
das Wetter und die Schweiz. Nach lan-
gem Schweigen sagt er: «We’re not dan-
gerous, we’re just humans. Just like you.
Don’t go to Switzerland and tell them
that there are that many homeless peo-
ple. We are not homeless, we are free.”
Mit diesen Worten verabschiedet er sich,
ich bleibe noch eine Weile sitzen.
Clubbing«Copacabana», unser erster Club. Eine
einzige Katastrophe. Anstehen, Aus-
weiskontrolle, Einlass. Ich fühle mich
wie am Zoll: Metalldetektoren und Se-
curity. Sie kontrollieren die Taschen und
nehmen uns die Zigaretten weg. «Will
I get them back?», will ich aufgebracht
wissen. Keine Antwort. Okay, Eintritt
zahlen. Für 18- bis 20-Jährige 25 Dollar
Eintritt, ab 21 Jahren 15 Dollar! Der Club
sieht edel aus, in der Mitte Tanzfläche,
drumherum DJ-Pult und
Bar. Wir wollen uns
etwas zu trinken
holen. Was?! Keine
Getränke an Gäste
unter 21. Nicht einmal Wasser…
Langsam werde ich sauer, ich will
eine rauchen gehen. Und da, der Hö-
hepunkt des Desasters: An der Aus-
gangstüre steht ein übergrosser Sicher-
heitsmensch und versucht mir klarzu-
machen, dass «Gäste» unter 21 nicht
mehr hereinkommen, wenn sie einmal
draussen waren! Ich bin stinksauer und
motze herum. Er sagt, der Staat habe das
so verschärft, um den Zigarettenkonsum
von «Minderjährigen» zu verhindern.
Aufgebracht verlassen wir den Club.
Draussen werden wir von einem Trans-
vestiten gefragt, ob wir Girls
mögen, da gäbe
es so einen Club... Schnell, Taxi neh-
men, schlafen gehen.
Chinatown / Little ItalyMan könnte jeden Block in ganz
New York nach seinem Geruch erken-
nen. Chinatown
riecht komisch.
Naja, Chinatown
ist komisch. Al-
les mit chinesi-
schem Schriftzug,
schräge Shops mit
undefinierbarem
Verkaufsgut, end-
lose Strassen mit
gefälschter Ware.
Wir werden oft an-
gesprochen: «Miss,
Gucci Bag?»
Staten IslandAnkunft auf Staten Island. Neue
Welt. Keine Hochhäuser, keine geraden
Strassen, keine Menschen. Sieht alles
ziemlich verlassen aus. Mit dem Bus zu
einer Bekannten.
Begrüssung, Smalltalk bis zum Haus.
Der Weg ist sehr steil, die Häuser ziem-
lich klein. An der Ecke ein kleiner Sto-
re, davor ein Jeep, aus dem laute Musik
dröhnt. Ein paar Männer stehen da he-
rum und rauchen.
Wir gehen ins Haus. Sehr dunkel hier
drin. Unaufgeräumt, klein. Sie hat vier
Kinder, zwei Jungen, zwei Mädchen.
Was mir zuerst auffällt, ist der riesi-
ge, extrem moderne Fernseher, der die
Hälfte des Raumes ausfüllt. Kika bringt
uns «Soda» in Plastikbechern.
Der Raum der Jungs besteht
nur aus Spiderman-Möbeln, Spi-
Delila Kurtovic, Kantonsschule am Brühl
Remember, remember… zwei Wochen New York. Dreizehn
Stunden Flug, ein flaues Gefühl in der Magengegend, arger Ni-
kotinentzug. Endlich Ankunft, 12:04 pm. Verschlafen, total
überfordert, steigen wir aus, lassen uns unsere Fingerabdrücke
nehmen, die Augen durchlasern und nehmen ein Taxi zum
Hotel. Schnelle Dusche, umziehen. Here we go!
Time Square9:00 pm. Ich steige aus dem gelben Taxi, kann es
kaum fassen. Wie ein Jahrmarkt, nur viel grösser,
riesig. Überall farbige Lichter, Menschenmassen.
Unbeschreiblich. Ich halte die Hand meiner besten
Freundin. Sie schaut mich an: «Glaubst du das?
Daaamn!»
Wir staunen und staunen, laufen ein Stück,
setzen uns dann auf eine riesige Treppe und re-
den, beobachten die Leute. Stunden vergehen,
und es wird einfach nicht langweilig. Men-
schen, Hektik, Polizeisirenen, Gerüche,
Plakate, Werbung, Styles. Ich weiss gar
nicht, worauf ich meine Aufmerksamkeit
richten soll.
Central ParkEs wird langsam dunkel, ich gehe ein
langes Stück, setze mich dann auf eine
Bank. Eichhörnchen, so weit das Auge
reicht. Ich bin entzückt. Es wird
langsam dunkel.
Stunden verge-hen, und es wird
einfach nicht langweilig: Men-schen, Hektik, Polizeisirenen, Gerüche, Pla-
kate, Werbung, Styles
So viele Menschen, so viel zu tun: NYC
Von Brooklyn nach Staten Island, vom Battery Park Manhattans über die 125th Harlems zur Queensbridge. Abstrakt, dieser Ort. Unglaublich, diese Menschen.
reportage
54 55
derman-Postern
und einem Fern-
seher. Das Zimmer
der Mädchen ist
ganz in rosa. Prin-
zessinnen-Betten,
Prinzessinnen-Pos-
ter, und nicht zu
vergessen: das TV-
Gerät. Auch das Schlafzimmer hat einen
riesigen Fernseher und ein riesiges Bett.
Die Kinder essen «Jellybread» (Toast
mit seltsamem glibberigen Zeug drauf)
und fragen uns, ob wir auch welches
wollen. Sieht nicht sehr appetitlich aus.
Es ist gegen neun. Kika trommelt
die Kinder zusammen. Jeder bekommt
einen Löffel von irgendwelchem Sirup,
die Älteste muss Tabletten schlucken.
Vitamine, die Krankenkasse bezahle es.
Wofür? Die Kinder hätten zu wenig von
diesem, zu wenig von jenem.
Subway
Mit der Subway nach Hause, es ist
etwa 7:00 pm. Komisch, aber ich mag die
Stimmung in der U-Bahn. Kahle, weisse
Wände, Werbung, aufdringlich weisses
Licht, überall Verbotstafeln.
Die Fahrt ist lärmig, und selten redet
jemand. Ich spüre die Anonymität. Nie-
mand kennt irgendjemanden, niemand
interessiert sich für irgendjemanden. So
viele Menschen, so viel zu tun. Keine
Zeit für irgendetwas, keine Zeit für ir-
gendjemanden. Die müden Augen mei-
den Blickkontakt. Jeder will seine Ruhe
nach einem harten Arbeitstag.
In der 52th Street steigt ein älterer
Afroamerikaner in den Wagen und be-
ginnt, Psalme vorzutragen. Alles aus-
wendig. Kaum jemand hört ihm zu.
Er wird immer aggressiver, schreit
und verkündet: «You’re all sin-
ners, you will burn in hell!»
45th Street, drei Jugendliche
betreten den Wagen, schalten
ihren Ghettoblaster ein und
beginnen zu breakdancen.
In diesem engen Gang,
der überall Stangen zum
Festhalten hat, break-
dancen sie. Ich bin hin und weg.
Vor mir steht immer noch der alte,
graubärtige Afroamerikaner in seinen
zerfetzten Hosen und predigt, übertönt
von der lauten Hip-Hop-Musik. Einer
der Breakdancer macht zum Schluss
einen Salto. Dann gehen sie mit ihren
umgedrehten Mützen und wollen Geld.
Sie sammeln ein paar Dollars, bedanken
sich und steigen aus, gefolgt vom alten
Prediger. Es ist wieder ruhig im Wagen.
Eine ganze Weile später steigt ein
richtig alter Mann mit einer Gitarre ein.
Langes, graues Haar, langer, grauer Bart.
Er beginnt zu singen. Kaum zu glauben,
doch es klingt wirklich schön: «Guan-
tanamera…»
Ich sehe eine wunderschöne junge
Frau mit riesigem Afrolook an, die lä-
chelt und mitsingt.
Delila Kurtovic, 18, aus St. Gallen, liest und schreibt gerne.
Sie geht oft in den Ausgang, mag es aber auch, einfach
nichts tun. Sie bezeichnet sich als «laut, lustig, ver-
rückt, kreativ und stur». – «Berufs- und/oder Studi-
enziel? Keine Ahnung!»
Vor mir steht immer noch der alte, graubärtige Afroamerikaner in seinen zer-fetzten Hosen und predigt,
übertönt von der lauten Hip-Hop-
Musik
so viele menschen, so viel zu tun, so viel ruhm: nyc
5756
Viktoria Kvetanova Kantonsschule Frauenfeld
Ich sehne mich nach einem Ort, an
dem meine Familie ist. Ich sehne mich
nach einem Ort, an dem man meinen
Namen richtig ausspricht. Ich sehne
mich nach einem Ort, an dem alle Os-
tern gleich feiern wie ich. Ich sehne
mich nach meiner Heimat. Ich sehne
mich nach der Slowakei.
Meine Kindheit, ganze elf Jahre mei-
nes Lebens, verbrachte ich dort, in der
Hauptstadt, in Bratislava. Und fünf
Jahre schon lebe ich in der Schweiz. Ei-
gentlich hätten es nur zwei sein sollen.
Inzwischen wurden es dann aber drei,
vier, fünf… und das Ende ist noch lange
nicht in Sicht.
Als mein Vater sagte, dass wir um-
ziehen, habe ich nur genickt und „okay»
gesagt, als würde ich es verstehen. Doch
das tat ich nicht. Ich war nur ein Kind
und verstand die Welt der Erwachsenen
samt ihren Problemen nicht. Ich wusste
nur, dass meine eigene Welt auf einmal
zusammenbrach. Der Gedanke, alles,
was ich hatte, zu verlassen, jagte mir
schreckliche Angst ein. Ich hatte damals
kein Verständnis für die Situation mei-
ner Eltern. Alles, was für mich zählte
und was ich wahrnahm, war, dass ich
alle meine Freunde verlassen musste.
Am schlimmsten war der letzte
Schultag. Plötzlich waren alle gegangen,
und ich stand ganz alleine da mit meiner
Zwischen zwei Welten
Wenn mir die Frage gestellt wird, wo ich hingehore, kann ich sie nicht beantworten. Fruher hatte ich so fort gesagt: «in die Slowakei», heute bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich sehne mich nach einer Heimat.
reportage
6160
de, in denen sie mir schrieben, wie sehr
sie mich vermissten. Ich las sie jeden Tag,
und immer liefen mir Tränen die Wangen
hinunter. Die Briefe waren die Verbindung
zur alten Heimat.
In der Schule lief es nicht schlecht,
meine Noten waren gut. Doch was mir
fehlte, waren Freunde. In der Pause stand
ich meistens allein, nur manchmal ka-
men Mädchen, jünger als ich, und fragten
mich aus Mitleid, ob ich mit ihnen spielen
möchte. Natürlich empfand ich es als un-
angenehm, mit Schülerinnen aus tieferen
Klassen zu spielen. Oft wurde ich mitten
im Unterricht traurig, ging auf die Toilet-
te und weinte. Wenn meine Augen nicht
mehr rot waren, kehrte ich zurück. Auch das Tur-
nen war mir eine Qual. Mussten wir Zweierteams
bilden, wollte niemand mit mir zusammen sein.
Als dann eines der Mädchen übrig blieb und diese
Last auf sich nehmen musste, wurde sie von allen
gefragt, ob das in Ordnung sei. Sie dachten wahr-
scheinlich, ich würde es nicht hören. Doch ich hör-
te es. Und ich verstand.
In der 6. Klasse beherrschte ich die Sprache
inzwischen so gut, dass die Gespräche einfacher
wurden und ich mich als Teil der Klasse zu fühlen
begann. Als mich dann einmal eine Mitschülerin fragte: «Wieso hast du
dich eigentlich so verändert?», wusste ich, dass ich es geschafft hatte.
In der Sekundarschule dann fand ich richtig gute Freunde, wofür ich
sehr dankbar war. Als ich die Klasse verliess, um an eine andere Schule zu
gehen, musste ich weinen. Je wohler ich mich in der Schweiz fühlte, desto
mehr schien ich mich jedoch meiner eigentlichen Heimat zu entfremden.
Die Freunde, die früher so wichtig für mich gewesen waren, entfernten
sich immer mehr. In den Ferien bemerkte ich, dass ich die Leute, über
die sie redeten, nicht kannte
und dass ich die Wörter, die
sie benutzen, nicht verstand.
Es wurde immer schwieriger,
gemeinsame Themen zu fin-
den.
Noch immer allerdings
sind die Ferien in der Slowa-
kei sehr schön. Bloss wird der
Abschied allmählich nüchterner. Was sich früher immer in Begleitung
von Tränen abspielte, nehme ich heute problemlos hin. Nur bei meiner
Grossmutter fällt es mir schwer. Wenn sie mich umarmt und fragt: „Wer-
de ich dich je wieder sehen?», kann ich die Tränen nicht zurückhalten.
„Klar sehen wir uns wieder, in ein paar Monaten sind wir ja wieder da»,
sage ich ihr zwar. Doch wenn sie am Fenster steht und mir zuwinkt, bis
ich aus ihrer Sicht verschwinde, schleicht sich die Frage auch in meinen
Kopf ein. Und wenn ich in der Schweiz ankomme und Postkarten von
Freunden im Briefkasten finde, denke ich, dass mein Zuhause doch in der
Schweiz ist. Ich bin hier glücklich, was will ich mehr?
Die Schweiz ist zu meiner zweiten Heimat geworden. Früher mussten
wir jedes Jahr eine Aufenthaltsbewilligung einholen. Jetzt haben wir sie
für fünf Jahre. Auch das betrachte ich als Zeichen, dass wir im Moment
hierher gehören.
Wenn mir die Frage gestellt wird, wo es mir besser gefalle, kann ich
sie nicht beantworten. Früher hätte ich sofort gesagt: «in der Slowakei»,
heute bin ich mir nicht mehr
so sicher. Ich weiss, irgend-
wann wird der Moment kom-
men, wo ich mich zwischen
den zwei Staaten und auch
zwischen meiner Familie und
meinen Freunden entschei-
den muss. So lebe ich zwi-
schen zwei Welten.
Trauer und dem Gefühl von vollkom-
mener Leere. Ich bemühte mich, nicht
zu weinen, lächelte stattdessen und tat
so, als wäre alles in bester Ordnung.
Ich versuchte, mich selbst davon zu
überzeugen, wie schnell die Zeit verge-
hen würde, bis ich zurückkehren wür-
de. Schliesslich würde ich ja bereits in
drei Monaten Ferien haben…
In der Schweiz kam ich in die fünfte
Klasse. Schon vom ersten Tag an fühlte
ich mich fremd. Mein Vater begleitete
mich dahin, übergab mich dann mei-
nem Klassenlehrer, und schon war er
weg. Ich sass allein im Schulzimmer,
bis die Schulglocke läutete. Dann kam
die Klasse herein. Sie redeten wild durcheinander, in einer Sprache, die
mir nichts sagte. Niemand setzte sich neben mich. Erst am nächsten Tag
nahm ein Mädchen, das vorher krank gewesen war, diesen Platz ein. Ich
habe an diesem Tag nicht viel mit den anderen gesprochen. Ich wusste
nicht worüber, und wenn mir etwas einfiel, wusste ich nicht, wie ich es
sagen sollte.
So richtig eingelebt habe ich mich in diese Klasse nicht. Ich hatte stets
das Gefühl, fehl am Platz zu sein. Doch ich muss auch zugeben, dass ich
in dieser Zeit ziemlich verschlossen war. Ich hing noch immer an der
Slowakei, an meinen alten Freunden. Ich wartete darauf, die zwei Jahre
hinter mich zu bringen. Zuhause stapelten sich die Briefe meiner Freun-
«Sie redeten
wild durch-
einander, in
einer Spra-
che, die ich
nicht ver-
stand. Nie-
mand setzte
sich neben
mich.» «Ich bin hier
glucklich,
was will ich
mehr?»
«Die Briefe
waren die
Verbindung
zur alten
Heimat»
Bratislava an der Donau Viktorias Familie und Bekannte in Bratislava
Viktoria Kvetanova, 16, aus Bussnang, liebt Sprachen und Sport. Sie bezeichnet
sich als «aktiv, offen für Neues, manchmal leider ziemlich zickig».
Hobbys: Musik, Freunde, Shopping, Tanzen, Jogging.
zwischen zwei welten
62 63
Fabian Weinmann Bündner Kantonsschule
Ein lauer Frühlingsmorgen in einem Vorort von Zürich, die
Wiesen und kleinen Vorgärten waren mit Frost bedeckt. Die
Knospen begannen sich langsam durch die aufgehende Sonne
zu öffnen und nach einer Weile bedeckten verschiedene Far-
ben das eintönige Grün.
Herr Sander kuschelte sich tiefer unter die warme Bettde-
cke, die mit einem spiessigen Muster geschmückt war. Ein
schriller Ton erklang. Er quälte seinen schweren Körper Rich-
tung Wecker, hob seinen Arm an und schlug auf den Stören-
fried, dieser kippte auf die Nachttisch-
kante und fiel auf den Laminatboden.
Der Apparat zerbrach in seine kleinsten
Einzelteile.
Herr Sander schwang die Decke zur
Seite, raffte sich auf und sass müde auf
der Bettkante. Er blickte sich um, um zu
sehen, ob seine Frau noch schlief, aber
sie war nicht mehr im Schlafzimmer.
Herr Sander schlenderte ins nahelie-
gende Klo und machte dort seine Routineabläufe. Einige Zeit
später kam er schlaff aus dem Bad heraus, noch immer trug er
einen weissen Badeanzug, auf dem links auf Brusthöhe seine
Initialen eingenäht waren: «PS» für Peter Sander.
Er trat in das Wohnzimmer ein, das durch eine Bambus-
wand von der Küche getrennt war und erblickte seine Frau
mit einer Zeitung in den Händen. Sie hielt die Zeitung genau
auf Augenhöhe. Als er näher trat, wandte sich von der Lektüre
ab, schaute ihn an und sagte: «Hast du gut geschlafen?» Er
antwortete: «Es war ein bisschen kalt diese Nacht, fandest du
nicht auch?» Frau Sander erhob sich und sagte: «Ich konnte
mich ja an dich heranschmiegen.» Er nickte und liess sich in
den braunmelierten Sessel fallen, der sich vor einem grossen
Wintergartenfenster befand, links daneben ein kniehohes
Tischlein mit einer Glasplatte.
Gertrud verschwand schnell hinter
der Trennwand und kam nach ein paar
Minuten mit frisch gebrühtem Kaffee
zurück, inzwischen stand Peter vor dem
Fenster und blickte die Landschaft an.
Er nahm seinen Kaffee entgegen und
bedankte sich mit einem Kopfnicken bei
seiner Gattin. Der Kaffeegeruch stieg in
seine Nasenhöhle,
er blickte hinab
in seine rötliche
Tasse, starrte auf
die hellbraune
Flüssigkeit, die am
Tassenrand schon
eine feine Kruste
bildete, und über-
legte sich, ob die-
ses Getränk überhaupt trinkbar sei. Herr
Sander drehte seinen Kopf Richtung
Gertrud, die gerade einen Artikel fertig
gelesen hatte, er blickte sie verwundert
an und murmelte: «Was ist denn das für
ein Getränk!?» Seine Frau blickte ihn
verständnislos an und sagte: «Mensch,
Peter, das ist Kaffee, das trinkst du jeden
Tag zum Frühstück.»
Herr Sander setzte sich hin und starr-
te aus dem Fenster hinaus.
«‹Mensch, Peter, das ist Kaffee, das trinkst du jeden Tag zum Frühstück›, sagte sie»
Fabian Weinmann, 18, aus Davos, besucht in Chur die FMS. Seine Hob-
bys sind Snow- und Skateboarden, Gitarrespielen und mit Freunden an
Konzerte gehen.
Gertrud verschwand hinter der Trennwand und kam nach ein paar Minuten mit frisch gebrühtem Kaffee zurück, inzwischen stand Peter vor dem Fenster und blickte die Landschaft an. Er nahm seinen Kaffee entgegen und bedankte sich mit einem Kopfnicken bei seiner Gattin.
Das braune Getränk
kurzgeschichte
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Corinne Sutter, 22, hat soeben ihre Ausbildung zur Primarlehrerin been-
det. Sie fertigt gerne Karikaturen an, spielt Geige und Klavier, schreibt,
tanzt, singt und sagt von sich: «I’m a liveaholic».
Schule 2020
das hört ja gut auf
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