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Tanja Heitmann Schattenschwingen Zeit der Geheimnisse

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Tanja HeitmannSchattenschwingen

Zeit der Geheimnisse

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Tanja Heitmann

Schatten-schwingenZeit der Geheimnisse

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cbt ist der Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House

Verlagsgruppe Random House FSC® N001967Das für dieses Buch verwendeteFSC®-zertifizierte Papier Holmen Book Creamliefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden.

1. AuflageErstmals als cbt Taschenbuch März 2014Gesetzt nach den Regeln derRechtschreibreform© 2012 cbt Verlag, MünchenIn der Verlagsgruppe Random House GmbHAlle Rechte vorbehaltenDieses Werk wurde vermittelt durch dieLiterarische AgenturThomas Schlück, 30287 Garbsen.Umschlaggestaltung: Hanna Hörl unter Ver-wendung eines Motivs von © Shutterstock,dpaintMG • Herstellung: mhSatz: KompetenzCenter MönchengladbachDruck: GGP Media GmbH, PößneckISBN: 978-3-570-30893-6Printed in Germany

www.cbt-jugendbuch.de

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Für Edith undden Engelsfänger Klaus

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I lost my heart, I buried it too deepUnder the Iron Sea.

Keane

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PrologMeine Finger sind blutrot.

Wie in Trance führe ich sie an meine Lippen. Ein metalli-scher Duft geht von der Substanz aus, die meine Haut be-deckt.

Blut?Die Vorstellung stört mich nicht. Nein, sie beunruhigt

mich nicht einmal.Ich horche in mich hinein. Kein Widerhall. Es ist, als wäre

ich versteinert. Aber das bin ich nicht. Ich bewege mich, ichdenke. Nur fühlen tue ich nicht. Darüber muss ich lachen.Der Klang meines Lachens ist fremd.

»Hör auf damit, Mila«, bittet eine mir vertraute Stimme.Ich versuche, die Stimme einem Namen oder einem Ge-

sicht zuzuordnen, es will mir jedoch nicht gelingen. Alsodrehe ich mich um und halte nach ihrem Besitzer Ausschau.

Zuerst sehe ich nur Silberstaub, überall um mich herumerfüllt er die Luft, zieht Schlieren. Dann blicke ich nach un-ten, sehe meine nackten Füße, die von einem blutrotenSaum umspielt werden.

Neben meinen Füßen kauert eine Gestalt. Sie hebt denKopf. Ich erschrecke nicht, obwohl sich anstelle des Gesichtsnur ein weißes Oval zeigt. Langsam strecke ich die Hand aus,meine blutüberströmte Hand, und male einen Mund und dieAndeutung einer Nase auf das Oval. Bei den Augen ange-kommen, zögere ich einen Moment. Dann male ich sie ge-

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schlossen, denn so bleibt mir die Entscheidung erspart, eineFarbe für sie zu wählen.

»Schlaf«, sage ich sanft zu der Gestalt.»Wenn ich schlafe, wirst du niemals mehr erwachen.«Diese Entgegnung löst eine Gefühlswallung in mir aus, so

heftig wie die aufbrandende Flut. Was meint die Gestaltdamit? Wovon redet sie?

Als würde die Heftigkeit meiner Empfindung den Silber-staub aufwühlen, wallt er hoch und verdichtet sich, bis ichnicht einmal mehr meine roten Hände sehen kann.

Nur flirrendes Silber.Das ist alles, was bleibt.

Behutsam zog er sich aus Milas Traumwelt zurück und die Ver-bindung zwischen ihnen zerriss wie ein Spinnenwebfaden.

Es fühlte sich seltsam an, sie auf diese Weise zu berühren. Un-gewohnt. Daran würde er sich erst gewöhnen müssen, und nachdem, was er soeben gesehen hatte, war die Vorstellung nichtbesonders angenehm.

Ein Blick in die Zukunft war das gewesen, da war er sich sicher.Dass sie so etwas vermochte … Eigentlich sollte ihn das nicht

weiter überraschen, schließlich sah sie mehr als andere Menschen,auch wenn sie nicht begriff, wie viel sie wirklich sah. Noch nicht.

Eine Zukunft aus Blut und Silber.Ihre gemeinsame Zukunft.

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MomentaufnahmenMilaIch hielt beide Hände vor meine Augen, sah meine Lebens-linie, die auf diese kurze Distanz hin ganz verschwommenwar. Durch die Spalten zwischen meinen Fingern leuchtetedas weiche Septemberlicht, in das unser Wohnzimmer ge-taucht war. Sogar einige Schemen waren auszumachen, aberdie wollte ich nicht sehen, deshalb presste ich meine Fingerenger zusammen. Jetzt war nichts mehr zu erkennen. Ich ver-harrte einen Moment und blendete die Geräusche um michherum aus, so gut es ging, obwohl es vertraute und geliebteStimmen waren. Dann erst ließ ich meine Hände auseinan-dergleiten, sodass sie sich wie ein Vorhang teilten. Bei demBild, das sich mir bot, begann ich zu lächeln. Vielleicht hatteich das aber auch schon vorher getan. Gelächelt. Das tat ichnämlich bereits den ganzen Nachmittag lang. Genau wie inden letzten Tagen, seit Sam wieder ein offizieller Bewohnerwar von St. Martin, unserer kleinen Küstenstadt.

Und da war er, exakt im Mittelpunkt des Bildes, das vonmeinen Händen umrahmt wurde: Sam. Er saß auf dem Sofaneben meinem Vater, und obwohl er sich merklich wohlfühlte, lag doch eine gewisse Anspannung auf seinen Schul-tern. Egal wie gut er sich mit Daniel verstand, richtig lockerwar er in seiner Gegenwart nicht. Daran würde sich vermut-lich auch so schnell nichts ändern – der einzige Wermuts-tropfen bei dem Bild, das sich mir bot. Mein Vater hingegen

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war vollkommen in seinem Element und wedelte mit derBroschüre, die den meeresbiologischen Studiengang des In-stituts beschrieb, an dem er lehrte. Rufus, der es sich auf derSofalehne gemütlich gemacht hatte, schnappte die Bro-schüre und ließ sie hinter seinem Rücken verschwinden.

»Mensch, Dad. Nun akzeptier doch endlich, dass Sam kei-nen Bock hat, das Abi nachzuholen. Da bringt auch diesespenetrante Rumgeprotze mit deinem Superinstitut nichts. Esist eben nicht für alle wichtig, die Uni zu besuchen.«

Daniel winkte ungerührt mit der Hand ab. »Du musstnicht von dir auf andere schließen. Außerdem geht es mirkeineswegs darum, Samuel ein Studium aufzudrängen, son-dern ihm dabei zu helfen, seine Zukunftspläne seiner Bega-bung entsprechend auszurichten. Dich haben wir schließ-lich auch mit der Nase auf das Haus der Jugend gestoßen,worüber du im Nachhinein ja ziemlich glücklich zu seinscheinst. Dir liegt die Arbeit mit Kindern, die genau so vielUnsinn im Kopf haben wie du, und Samuel liegen halt dieNaturwissenschaften ungewöhnlich gut. Man könnte fastglauben, dass Meerwasser durch seine Adern fließt. Die per-fekte Grundlage für ein Studium hier in St. Martin. Dafürkann er doch ruhig noch ein paar Monate die Schulbankdrücken.«

Wie auf Kommando verdrehte Rufus die Augen. »So einQuark. Los, sag’s ihm, Kumpel. Die Schule ist für uns beidevorbei, game over. Falls es dir bei der Surfschule zu langweiligwird, kannst du mich ja im Haus der Jugend besuchen kom-men. Bei uns ist wenigstens was los, im Gegenteil zu diesenWeißkitteln, die ihr Leben damit verbringen, alle ganz auf-geregt um eine Probe mit grünem Schleim herumzustehen.«

Daniel schnaufte missbilligend durch die Nase, mehrnicht, denn er hatte es längst aufgegeben, auf Rufus’ Kom-mentare zu kontern oder ihn gar vom Wert seiner Arbeit als

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Meeresbiologe zu überzeugen. »Samuel, was sagst du dennnun dazu? Du erkennst die Notwendigkeit des Abiturs dochwohl. Du bist schließlich ein kluger Kerl.«

Die beiden Levander-Männer sahen ihn erwartungsvollan, jeder der festen Überzeugung, Sam könnte gar nicht an-ders, als ihrer jeweiligen Meinung zuzustimmen. Anstelle dererhofften Antwort lehnte Sam sich erst einmal zurück undschaute zu mir hinüber.

Ich liebte diesen Blick. Als gäbe es auf der Welt nur einsfür ihn, das zählte, und das war ich. Ein Schauer lief mir überden Rücken, nicht nur, weil das für mich immer noch soüberwältigend war, sondern auch, weil ich bei seinem An-blick genau dasselbe empfand. Als hätte ich meine Hände soweit geschlossen, bis nur noch Samuel Bristol zu sehen undder Rest ausgeblendet war.

Sam legte den Kopf schief, dann formte er mit den Lippenlautlose Worte. Ich tippte auf »Was machst du denn da?«,obwohl ich »Lass uns irgendwo hingehen, wo wir allein sindund ich dir beweisen kann, dass du das Wichtigste für michbist« eindeutig bevorzugt hätte.

Mit einem Stöhnen drehte Rufus sich um und warf dieBroschüre nach mir. »Herrgott, Mila! Das ist eine wichtigeKiste, also hör auf, ihn abzulenken.«

»Dazu müsste sie sich schon in Luft auflösen«, erklärteSam mit einem Grinsen, um meinem Vater sofort einen ent-schuldigenden Blick zuzuwerfen.

»Ist schon gut.« Daniel, der unsere Beziehung akzeptierte,seitdem Sam mich vor einer Woche nach einem Bad imMeer klitschnass zurückgebracht hatte, suchte angesichtsvon so viel Reue seinen Vorteil. »Wenn du wieder zur Schulegehen würdest, könntest du übrigens noch mehr Zeit mitMila verbringen. Denk mal nach: die Pausen, die sich über-schneidenden Freistunden …«

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»Fantastische Idee! Für die beiden würde der Schulalltagnur noch aus Freistunden bestehen«, fügte Rufus mürrischhinzu. »Wahlweise in der Sporthalle hinter den aufgestapel-ten Turnmatten oder in der Dunkelkammer des Kunsttrakts.«

»Deine alten Lieblingsplätze, was, Rufus?« Ich spielteernsthaft mit dem Gedanken, meinen Beobachtungspostenaufzugeben, um meinem Bruder eine Kopfnuss zu verpassen.

Dann stand jedoch Sam vom Sofa auf, um die am Bodenliegende Broschüre aufzuheben. Die Eleganz, mit der er diesesimple Bewegung ausführte, lenkte nicht nur mich ab, son-dern auch die beiden Levander-Männer. Seit Sam seine Aurazu einer Waffe geformt hatte, um Nikolai zu richten, war vonseinem einstigen Strahlenkranz nicht mehr als ein Glimmengeblieben. Es sah allerdings ganz danach aus, als ob es keines-wegs seiner überirdischen Ausstrahlung bedurfte, damit erdie Aufmerksamkeit auf sich zog. Seine Anmut reichte dafürvollkommen aus.

Niemand konnte sich Samuel Bristols Anziehungskraftentziehen, daran hatte sich nichts geändert.

Während wir alle Sam anstarrten, als wäre er eine Erschei-nung und kein achtzehnjähriger Junge, der gerade ein paarSeiten Papier aufgehoben hatte, sagte er: »Ist gut möglich,dass Meeresbiologie das Richtige für mich ist, Herr Levander.Irgendwann. Vorläufig reicht es mir jedoch, bei der Surfschulezu jobben, so wie ich es mit Toni vereinbart habe, den ich aufkeinen Fall hängen lassen werde. Ich schulde ihm nämlichetwas dafür, dass er mir, ohne eine Frage zu stellen, einen Jobgegeben hat und mich im Wohnwagen wohnen lässt. Wennwir im November bei der Surfschule alles abgebaut undwinterfest gemacht haben, werde ich mich am Hafen nacheinem Gelegenheitsjob umhören. Da findet man eigentlichimmer was. Darüber hinaus möchte ich jetzt noch nichtsplanen. Mir ist es wichtig, anzukommen, mich wieder als

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Bestandteil dieser Welt wahrzunehmen. Alles andere musswarten.«

Meine Mutter kam mit einem Arm voll Astern zur Terras-sentür herein, das Haar so leuchtend rot, als wäre sie selbsteine Herbstblume aus ihrem liebevoll gehegten Garten. So-fort nahm sie meinen Vater ins Visier, der gerade zu weitererÜberzeugungsarbeit ansetzen wollte.

»Der Junge hat vollkommen recht, Daniel. In Sams Lebenist in den letzten Monaten so viel passiert, dass er jetzt ersteinmal eine Besinnungsphase braucht, in der er sich neu sor-tieren und die Dinge überdenken kann. Dafür kann er denSchulalltag mit seinen Anforderungen und Prüfungen nichtgebrauchen. Genauso wenig wie er Tipps von einem Luftikuswie dir braucht, mein werter Herr Sohn.« Rufus zog eineGrimasse, wovon sie sich jedoch nicht beeindrucken ließ.»Also hört auf, auf Sam einzureden, und zwar alle beide.«Reza breitete ihre Beute auf dem Esstisch aus, dann kniff sieeine der blutroten Blüten ab und warf mir einen Blick zu.»Wenn überhaupt jemand Einfluss auf Sams Entscheidungennehmen darf, dann bist du das als seine Freundin. Waswünschst du dir denn für seine Zukunft?«

Nachdenklich hielt ich inne, während meine Mutter dieBlüte hinter mein Ohr steckte. Obwohl Sam das Thema Zu-kunft beharrlich mied und ich ihn nicht bedrängte, weil ichschon zufrieden war, ihn bei mir zu haben, hatte ich mirnichtsdestotrotz den Kopf darüber zerbrochen. Es lag mir aufder Zunge zu sagen, dass ich wünschte, er würde einen hieb-und stichfesten Zehn-Jahres-Plan vorlegen. In der Hinsichtwar ich ganz Daniels Tochter, wobei dieser Wunsch vor allemmeinem Bedürfnis geschuldet war, Sam an St. Martin gebun-den zu sehen. Wer eine Freundin, ein Zuhause und einStudium in Aussicht hatte, kam hoffentlich nicht in Versu-chung, sich woanders umzusehen … etwa in der Sphäre.

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Meine Angst, Sam zu verlieren, war so groß, dass ich ihn amliebsten in Ketten gelegt hätte. Was von Grund auf verkehrtund egoistisch war. In schwachen Momenten, wenn ich inmeinem Bett lag und Nikolais kalte Augen so dicht vor mirsah, dass ich unwillkürlich zu zittern begann, oder wenn dieschrecklichen Albträume von Blut und Silber mich heim-suchten, mochte eine solche Denke in Ordnung sein. An-sonsten war ich es sowohl Sam als auch mir schuldig, ihnseine Entscheidungen frei treffen zu lassen.

Mir das vor Augen haltend, antwortete ich: »Ich möchtefür Sam, dass er glücklich ist. Am liebsten natürlich anmeiner Seite, aber falls er sich für ein Leben außerhalb vonSt. Martin entscheiden sollte, würde ich das akzeptieren.«

»Und das ist der Moment, in dem ich mich verabschiede,um kotzen zu gehen.« Rufus sprang von der Sofalehne, alshätte er auf einer Sprungfeder gesessen. Auf dem Weg zurTreppe griff er noch rasch nach seinem Handy, das auf demBeistelltisch lag.

»Ist das eine Umschreibung dafür, dass du dich verziehenwillst, um meine beste Freundin mit einem deiner Stalker-anrufe zu belästigen?«, rief ich ihm nicht sonderlich beleidigthinterher. Inzwischen war ich an Rufus’ genervte Reaktionenauf meine Liebesbeziehung zu Sam gewöhnt. Immer nochnicht gewöhnen konnte ich mich hingegen daran, dass erauffällig oft mit Lena telefonierte. Obwohl er es vor mir zuverheimlichen versuchte, wusste ich genau, was er vorhatte,wenn er sich mit seinem Handy in die unmöglichsten Eckenverzog. »Richte ihr aus, dass ich sie anrufe, sobald Samzurück zu seinem Kurs muss. In einer Dreiviertelstunde istnämlich Flut.«

Rufus blieb mitten auf der Treppe stehen und ich konnteihm vom Gesicht ablesen, wie er die Möglichkeiten abwog,mir eine Retourkutsche zu erteilen, ohne dabei etwas über

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sein Verhältnis zu Lena zu verraten, das ich ihr anschließendauf die Nase binden könnte. Die beiden hielten sich nämlichnicht nur bedeckt, was ihre Beziehung zueinander anbelang-te, es machte sogar den Eindruck, als wären sie selbst un-sicher, was da genau ablief. Also begnügte sich Rufus miteinem bissigen »Sehe ich aus wie der Nachrichtendienst?«,ehe er sich schleunigst verzog.

Unterdessen wechselte Sam noch ein paar Sätze mit Danieldarüber, dass die Leute heutzutage bei Wind und Wetter aufdie Bretter stiegen. Dass eine Surfschule bis in den Herbsthinein geöffnet hatte, war vor einigen Jahren noch undenk-bar gewesen, aber mittlerweile kamen rund ums Jahr Besu-cher. Mein Vater wirkte betreten, vermutlich war es ihmunangenehm, dass er Sam wegen seines versäumten Abitursbedrängt hatte. Dabei zeigte Daniels Verhalten nur, dass ihmetwas an meinem Freund lag. Sam machte den Eindruck, alswäre ihm das durchaus bewusst, denn seine Schultern sahenplötzlich viel lockerer aus. Als er auf mich zuhielt, strahlte ervon innen heraus, ganz ohne Schattenschwingen-Magie. Erblieb so nah vor mir stehen, dass ich tief einatmete, umseinen Geruch nach Salz, warmer Haut und dem typischenMila-in-den-Wahnsinn-treib-Duft einzufangen.

»Die Farbe steht dir.« Behutsam streifte Sam die Blumehinter meinem Ohr.

Es war eine schlichte Bemerkung und mit der ihm eigenenSelbstverständlichkeit vorgetragen. Trotzdem brachte siemich aus dem Gleichgewicht und ich war ernsthaft froh, dassich auf dem Esstisch saß, so schwindelig war mir plötzlich.Warum konnte er solche Dinge sagen, ohne auch nur einenHauch rot zu werden, während ich – für jedermann sichtbar –vor mich hin glühte?

»Schade, dass die Flut sich nicht auf später verlegen lässt.Ich würde gerne noch bleiben«, fuhr Sam fort, während seine

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Fingerknöchel sanft meine Wangenknochen entlangfuhren.Zu größeren Zärtlichkeiten würde er sich in Gegenwart mei-ner Eltern niemals hinreißen lassen. Auch so eine süße, fastaltmodische Seite an ihm.

In meinem Kopf schwirrte es aufgeregt, als mir immer wei-tere Dinge einfielen, die mich mit einer solchen Gewalt zuihm hinzogen, dass es schon nicht mehr normal war. MeineGefühle waren wie ein Fallschirmsprung aus 3000 Metern inden blauen Himmel, wunderschön und erschütternd zu-gleich.

Kurz entschlossen stand ich trotz meiner Puddingknie aufund zog Sam in die Diele. Als ich die Tür hinter mir schloss,fing ich mir ein vielsagendes Grinsen von Reza ein. Gut,dass es Sam entgangen war, ansonsten würde diese Tür näm-lich ruckzuck wieder offen stehen, damit meine Eltern bloßnicht auf falsche Gedanken kamen. In dieser Hinsicht warer übertaktvoll – einmal abgesehen davon, dass diese Rück-sichtnahme zumindest Reza gegenüber längst nicht mehrangebracht war. Bei Gelegenheit musste ich ihm gestehen,dass ich meiner Mutter brühwarm von unserem ersten Zu-sammensein in Lucas Wohnwagen erzählt hatte, sogar nochvor Lena.

Wie erwartet hatte meine Mutter mich in die Arme ge-nommen und mir »mein großes Mädchen« ins Ohr geflüs-tert. Dann hatte sie sich über die Augen gewischt, einenKeks genommen und gesagt: »Wohnwagenromantik … dubist wirklich zu beneiden. Ich könnte dir eine Geschichteüber ein gammeliges WG-Zimmer erzählen, die du aufkeinen Fall hören möchtest, wenn ich deinen entsetztenGesichtsausdruck richtig interpretiere. Dann plaudere icheben ein anderes Mal aus dem Nähkästchen meines jugend-lichen Sexlebens … sofern dir bei der Vorstellung, dass dei-ne Mutter auch ein Sexleben hatte und hat, nicht mehr

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übel wird. Jedenfalls bin ich sehr glücklich zu wissen, dassSam und du auch in dieser Hinsicht wunderbar zusammen-passt. Und dass ihr aufpasst … Aber davon bin ich eh ausge-gangen, schließlich bist du ganz meine Tochter. Im Bade-zimmer liegen übrigens Kondome, die hatte ich für deinenBruder dort deponiert, aber Rufus verschmäht sie ja. Nurdamit du Bescheid weißt: An Verhütungsmitteln herrschtbei uns kein Mangel, brauchst nicht erst nachzufragen. Nunverdreh nicht gleich die Augen, Mila, ich will doch nur,dass du … Gut, ich hör ja schon auf. Ach, ich bin einfach soerleichtert, dass dein erstes Mal schön war. Sam ist eben eintoller und liebevoller Junge, das habe ich von Anfang angewusst.«

Ja, das war er. Deshalb wollte ich es ihm jetzt auch gleich-tun, indem ich meine Gefühle frei und offen kundtat.Während Sam nach seiner Jacke griff, sagte ich deshalb dasErstbeste, was mir durch den Kopf ging.

»Habe ich dir eigentlich schon einmal gesagt, dass deinegeradezu schwerelosen Bewegungen mir den Atem rauben?Allein wie du dich vorhin nach dieser Broschüre gebückthast, hat mich umgehauen. Ich kenne absolut niemanden,der sich mit einer solchen Anmut bewegt.«

Zunächst zog Sam die Augenbrauen hoch, wohl in derÜberzeugung, ich würde ihn veralbern. »Großartig, dass esendlich mal jemandem auffällt, schließlich bemühe ichmich unentwegt darum, als Ballerina durchzugehen.« Alsihm dämmerte, dass ich es ernst meinte, sank er kurzerhandin die Hocke und begann seine Chucks zu binden. EineTätigkeit, die er ansonsten immer möglichst lang hinaus-zögerte, weil er die Beengung durch Schuhe nicht ausstehenkonnte.

Nachdenklich nagte ich an meiner Unterlippe. Das war sogar nicht die Reaktion, die ich mir erhofft hatte, wie etwa

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ein strahlendes Lächeln oder sogar ein stürmischer Kuss.Stattdessen ein Ausweichmanöver.

»Es muss dir doch nicht peinlich sein, dass du dich so en-gelsgleich bewegst. Es sieht wunderschön aus, grazil und …«

»Mila, mach bitte mal eine Pause.« Sams Wangen warendunkelrot verfärbt. Ihn so weit zu bringen, gelang mir selten,dafür war er einfach zu ausgeglichen. »Was du eben gesagthast … also, das ist sehr süß von dir. Aber können wir unsdarauf einigen, dass nur ich diese Art von Komplimenten ma-che? Es sei denn, du legst es darauf an, mich zu quälen. Daraufläuft es nämlich hinaus, wenn du behauptest, ich würde …«Sam kniff die Augen zusammen, als würde ihm allein bei derErinnerung an meine Worte schummerig werden.

Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, seineGefühle genauso kräftig durcheinanderzuwirbeln, wie er esmit meinen stets tat. Ein bisschen Strafe musste schließlichsein für diese Ich-bin-hier-der-Mann-Tour.

»Du willst also nicht hören, dass du hinreißend aussiehst,wenn du verlegen bist? Exakt in diesem Moment ist das näm-lich der Fall. Ach, übrigens: Wenn du deine Augen zu Schlit-zen verengst, weil du mir ein bisschen böse bist, dann nimmtdein Aussehen geradezu Hollywoodausmaße an. Göttlich.Und ich werde ganz verrückt, nur weil deine Lippen diesesleicht verblüffte ›O‹ formen. Das willst du also auch nichthören. Na, dann kann ich dir noch etwas drüber erzählen,dass du …«

Schnell legte Sam seinen Zeigefinger auf meinen Mund,sodass ich vor Überraschung verstummte, obwohl ich eigent-lich gerade erst durchstartete mit meiner Aufzählung. »Dabeilassen wir es jetzt bewenden, okay?«

Widerwillig nickte ich, denn ich hätte gern noch die klei-ne Falte auf seiner Stirn beschrieben, die seine Sorge verriet,ich könnte ihm seine Technik übelnehmen, mit der er mich

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zum Schweigen brachte. Schweren Herzens riss ich mich zu-sammen. Ich konnte es halt nicht ändern: Ich fand einfachalles an ihm fantastisch und hätte problemlos von morgensbis abends über jede noch so kleine Winzigkeit an seinemÄußeren, der Art, wie er lachte oder Dinge äußerte, schwär-men können.

»Tut mir wirklich wahnsinnig leid, dass ich dich in einesolch peinliche Situation bringe«, lenkte ich ein und ließdemonstrativ den Kopf hängen. »Ich bin eben verrückt nachdir und nach so langer Zeit darf ich es endlich ausleben. Kei-ne Geheimnisse, keine getrennten Welten mehr. Du gehörstmir und ich darf diesem Glücksgefühl hemmungslos nachge-ben. Ach, komm, jetzt werde doch nicht schon wieder rot.«

Und da war es plötzlich: dieses spezielle Sam-Lachen. Un-beschreiblich. Ich ließ es auf mich niedergehen wie einenwarmen Sommerregen.

»Nichts liegt mir ferner, als dich daran zu hindern, deineGefühle auszuleben. Wenn du mir unbedingt Nettigkeitensagen willst, kannst du mir erzählen, dass ich ein Mordskerlbin, einen super Humor habe und du die Aufdrucke auf mei-nen T-Shirts klasse findest. Aber über schöne Augen zureden, das ist mein Job.«

»Und wie steht es mit Küssen, gehören die auch zu deinemJob?«

Sam blickte an die Decke, als müsse er sich diese Frage ersteinmal gründlich durch den Kopf gehen lassen. »Ich denkeschon«, sagte er sanft, dann küsste er mich so, dass ich nichteinmal dazu kam, zu denken, dass er diesen Job sensationellbeherrschte.

Als ich Sam verabschiedet hatte und auf meinen Wackelbei-nen ins Wohnzimmer zurückkehrte, war von meinen Eltern

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Page 20: Tanja Heitmann Schattenschwingen Zeit der Geheimnisse · PDF fileUnder the Iron Sea. Keane. Prolog Meine Finger sind blutrot. Wie in Trance führe ich sie an meine Lippen. Ein metalli-scher

und Rufus nichts zu sehen, was mir durchaus recht war. Sokonnte ich hemmungslos vor mich hin strahlen und fing mirnicht auch noch Bemerkungen über mein glühendes Gesichtein. Das Glas Wasser, das ich mir bei der Anrichte einge-schenkt hatte, trank ich in einem Zug leer. Mir war sommer-lich heiß, obwohl der Herbstwind durch die offen stehendeTerrassentür hineinströmte.

Nach jedem Zusammensein mit Sam verblieb ein rot-warmes Pochen in meiner Brust, das bis in meine Fußspitzenhinabstrahlte. Als würde seine Nähe eine kleine Sonne inmich pflanzen, die mich auch dann noch wärmte, wenn erlängst gegangen war. Sie war von Anfang an da gewesen, dawar ich mir sicher, aber ich nahm sie mit jedem Tag stärkerwahr, seit … Ich ging in meiner Erinnerung zurück, und alsich bei dem Moment angelangte, nach dem ich suchte, hobich meine linke Hand und betrachtete den Bernsteinring.Einem goldroten Band gleich umschlang er meinen Ring-finger, doch er fühlte sich keineswegs wie ein Schmuckstückan. Dafür war er trotz seiner Glätte zu lebendig – ein Lebe-wesen der Sphäre mit einer Seele, die ihm auf magischeWeise eingehaucht worden war. Ein Ring, der nicht bloß dieBindung zweier Herzen symbolisierte, sondern sie auf eineWeise stärkte, die ich nicht einmal ansatzweise verstand.Man konnte den Ring nur tragen, wenn man liebte, unddann verstärkte er die Bindung. Allerdings nach seiner eige-nen Vorstellung, nicht nach der seines Trägers. So viel hatteich begriffen, als der Ring Sam gegen meinen Willen durchein tosendes Meer zu mir geführt hatte.

Ich schluckte schwer.Ja, dieser Bernsteinring war deutlich mehr als ein Liebes-

beweis.Nikolai hatte ihn und sein Gegenstück, das Sam jetzt trug,

in seinem früheren Leben als Schatten nicht nur erschaffen,

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sondern ihn nach seinem Willen umgeformt, damit ich ihndamit zeichnete. »Ihr gehört beide mir«, hatte Nikolai ge-sagt. Nicht nur die Ringe, sondern auch Sam und ich. Daswar gewesen, bevor Sam ihn getötet hatte. »Seine eigeneWaffe gegen ihn gerichtet«, war seine Formulierung dafürgewesen. Eine Umschreibung, die außer Acht ließ, was ertatsächlich getan hatte und wozu es ihn machte. Seitdemschwiegen wir das Thema tot, genau wie so vieles andere.

Es war Sams Entscheidung, die Sphäre mit allem, was zuihr gehörte – sowohl die schrecklichen Ereignisse als auchdie Freunde, die wir in ihr gefunden hatten –, aus unseremLeben zu verbannen. Darin war er so rigoros, wie nur er essein konnte, und ich hatte zugestimmt, verstört von NikolaisTaten und dem Glauben, dass dies eben der Preis dafür war,Sam in der Menschenwelt zu halten. Die Frage, ob diese Ent-scheidung richtig war, vermied ich, denn es gab niemanden,mit dem ich darüber sprechen konnte. Und allein wagte ichmich nicht einmal in die gedankliche Nähe der Sphäre, dasie in meiner Erinnerung zu einem Eiland geworden war, andessen Rändern das brausende Meer wie ein Ungeheuer riss,während ein Schatten über mich fiel, der die Person, die icham meisten liebte, zum Töten gezwungen hatte.

Das warme Pochen in meiner Brust wurde schwächer, undich umfasste den Bernsteinring, als wäre er eine Bucht, diemir im Sturm Zuflucht gewährte. Nur langsam beruhigtesich mein Herzschlag wieder, und die erschreckenden Bil-der, die sich mir unablässig aufdrängten, wichen anderenEindrücken. Ich hörte Sams gelassene, geradezu beruhigen-de Stimme, mit der er mir vor ein paar Stunden Mathe er-klärt hatte. Spürte die federleichten Berührungen seinerHand auf meiner, wenn ich wieder einmal die Flinte insKorn schmeißen wollte. All diese winzigen Dinge, die zueinem ganz gewöhnlichen gemeinsamen Nachmittag gehör-

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ten. Ein Nachmittag, an dem alles echt war, der nicht durchGeheimnisse überschattet wurde. Wenn Sam sich von mei-nen Eltern verabschiedete, weil er noch an der Surfschule zutun hatte, dann handelte es sich um die Wahrheit und nichtetwa um einen erdachten Vorwand, weil er in Wirklichkeitin die Sphäre wechselte, um dort eine Schattenschwinge zusein.

Sobald Sam die neugierigen Blicke endgültig abgeschüt-telt hatte, die ihm seine Rückkehr eingebracht hatte, wür-den wir ein ganz normales Paar sein. Als hätte es die Spannezwischen Mai und September niemals gegeben. Vermutlichlag er richtig mit seinem Entschluss, die Sphäre resolut alsVergangenheit zu betrachten, sie endgültig loszulassen undnach vorn zu blicken. Doch allein der Gedanke an dieSphäre sorgte dafür, dass ich einen Blick zurückwarf, dorthin,wo Shirin neben Kastor stand und Ranuken seinen Unsinntrieb. Wo Lichtwandlerinnen zwischen uralten Bäumen spa-zierten und Salzwasser über Sams Haut lief wie ein silbrigerStrom. Wo für mich alles schwarz-weiß war, obwohl ich mitt-lerweile wusste, dass sich dahinter Farben von einer Intensitätverbargen, an die selbst das leuchtendste Feuerwerk inmeiner Welt nicht heranreichte.

Polternde Schritte auf der Treppe rissen mich aus meinenGedanken.

Rufus hielt mit dem Handy am Ohr direkt auf mich zu.»Ja, ich stehe jetzt genau vor ihr«, erklärte er dem Gerät.»Nein, sie hat nichts Wichtigeres zu tun, als ein Wasserglasin ihrer Hand anzustarren. Sie gehört voll und ganz dir. Ichleg jetzt auf.« Was Rufus auch prompt tat. Dabei schaute ermich so anklagend an, als habe ich ihn dazu gezwungen. »Dahast du deinen Willen, du wolltest doch unbedingt mit Lenasprechen.«

Ich nickte lediglich, unsicher, wie ich mit seiner offen-

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sichtlichen Eifersucht umgehen sollte. Dankbar über dieAblenkung holte ich mein klingelndes Handy aus der Rock-tasche.

»Hey, wie geht’s, wie steht’s?«, flötete Lena in mein Ohr.Rufus verschränkte die Arme vor der Brust und starrte

mich finster an.»Ich werde gerade von meinem Bruder mit Blicken getö-

tet.«»Ach, der. Gib ihn mir mal.«Das war wohl kaum ihr Ernst. »Wieso denn? Du hast doch

gerade erst mit ihm geredet.« Weiter kam ich nicht, weilRufus mir bereits das Handy entwand, um mich dann mitausgestrecktem Arm auf Abstand zu halten. »Das ist meinsund Lena gehört auch mir, du elender Dieb!«

»Wer von uns beiden hat als Erstes mit dem Stehlen vonbesten Freunden angefangen? Das warst du, meine Liebe,wenn ich dich daran erinnern darf«, zischte er mich an, dannsprach er betont cool ins Handy: »Hi, was willst du denn vonmir?«

Was auch immer Lena von ihm wollte, es sorgte dafür, dassRufus’ schwarze Augenbrauen sich zusammenzogen. »Duhast echt einen Knall, Grünschopf.« Er gab mir das Handyzurück. »Ähem … das mit dem Stehlen, so gesehen …«

Plötzlich nahm mein Bruder mich in den Arm, gab mireinen Kuss auf die Wange, ehe er sich umdrehte und kom-mentarlos abzog.

»Hat er es gemacht?«, schall Lenas Stimme aus dem Off.»Hä?«»Na, dir einen Kuss von mir gegeben. Denn Menschen,

die man küsst, kann man in der Regel nicht mit Blickentöten, oder? Außerdem habe ich ihm gesagt, er soll lieb zu dirsein, dann bin ich es auch zu ihm.«

»Das ist doch schön«, sagte ich reichlich dusselig.

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»Find ich auch. Sag mal, hat Rufus dich wirklich bloß um-armt, oder hat er dir gleich die Luft abgedrückt, bis dein Hirnunter mangelnder Sauerstoffzufuhr gelitten hat? Du klingstnämlich reichlich neben der Spur. Oder geht das auf SamsKonto?«

»Mich schafft das Leben im Speziellen und Allgemeinen.«Womit ich nur die Wahrheit aussprach. »Du musst mir nachdiesem befohlenen Bruderkuss übrigens gleich noch einenGefallen tun.«

»Klar doch, obwohl ich meine Pfadfinderpunkte für denheutigen Tag schon beisammen habe.«

»Lass uns so tun, als ob wir zwölf Jahre alt sind und Jungsnicht mehr als Sterne am fernen Himmelszelt, unbekannteWesen, mit denen wir nichts zu schaffen haben. Ich willmich wenigstens für ein Telefongespräch frei und unbe-schwert fühlen. Wir tun so, als ob die Welt übersichtlich ist,die Schule langweilig und die Zukunft nicht aus Pflichtenund Sorgen, sondern lediglich aus einem größeren Klamot-tenbudget besteht. So wie damals, als wir uns kennengelernthaben.«

»Bin dabei«, kam es von Lena wie aus der Pistole geschos-sen. »Können wir dabei Unmengen von Smartieseis essen?«

»Das ist geradezu zwingend.«Während wir über unsere Lieblings-Fernsehserien von da-

mals zu schwadronieren begannen, die schon lange nichtmehr im Programm liefen, steuerte ich den Gefrierschrankan, um den Eisvorrat zu plündern. Wenn man Gemütszustän-de nur genauso leicht konservieren könnte wie Leckereien,dann hätte ich die Sorglosigkeit, die mich während des Tele-fonats mit Lena umfing, in großen Dosen eingefroren.

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Geister der VergangenheitSam

Nach einem endgültig letzten Kuss von Mila und demVersprechen, nach dem Surfkurs noch einmal durchzurufen,zog ich die Haustür hinter mir zu. Ich war ziemlich spät dran,trotzdem mochte ich die Türklinke nicht loslassen.

Es war mir schon immer schwergefallen, mich von Mila zulösen. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass dieserWiderwille nach jedem Treffen stärker würde. Und das wurdeer. Unentwegt verspürte ich den Wunsch, den gemeinsamenMoment festhalten, die Zeit zum Erliegen zu bringen, dafürzu sorgen, dass sich nichts zwischen uns änderte. Wenn wirhingegen zusammen waren, verschwendete ich keinen Ge-danken daran, sondern war ganz und gar bei ihr. Ich fühltemich unsäglich wohl, ob nun allein mit Mila oder gemein-sam mit ihrer Familie. Dann gab es nur diese Menschen, beidenen ich mich angekommen fühlte. Die Levanders wecktendie Hoffnung in mir, zu guter Letzt noch richtig heimisch zuwerden in dieser Welt, von der ich mich wie durch eineNebelwand abgeschnitten fühlte. Meine Sinne flüstertenmir unentwegt zu, dass die Farben stumpf, die Gerüche schalund die Geräusche gedämpft waren im Vergleich zur Sphäre,die vor Leben pulsierte. Sogar der Wind auf meinem Gesichtfühlte sich unecht an. Vielleicht hing ich deshalb so an Mila,weil ihre Wirkung auf mich das Einzige war, mit dem es dieSphäre nicht aufnehmen konnte. In ihrer Gegenwart vergaß

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ich das Gefühl, ein Fremdkörper zu sein, sondern war einfachnur da und alles war perfekt. So wie eben. Echter fühlte ichmich auch in der Sphäre nicht.

Unwillkürlich blickte ich in den Abendhimmel. DunklesBlau und rasch ziehende Wolken, ein Himmel, wie gemachtfür einen Nachtflug.

Mit einem Ruck gab ich die Türklinke frei und schnapptemir das klapprige Fahrrad, das ich mir von meinem erstenWochenlohn gekauft hatte. Kaum schob ich es auf die Straße,wurde einige Meter hinter mir ein Wagen angelassen.

Ich kannte dieses Motorengeräusch mittlerweile recht gutund spielte mit dem Gedanken, es auf eine kleine Wettfahrtankommen zu lassen. Ich hatte schon ein paar Rennengewonnen, was mit diesem Schrottbike gegen einen Klein-wagen eigentlich unmöglich sein sollte. Allerdings war ichnicht nur ein ziemlich halsbrecherischer Fahrer, sondern mirauch nicht zu schade, notfalls die eine oder andere Abkür-zung zu nehmen, selbst wenn ich dabei ein Blumenbeet inMitleidenschaft zog. Hauptsache, ich schüttelte meinen Ver-folger ab. Heute Abend entschied ich mich jedoch gegen dieFlucht, denn leider hatte ich auch die Erfahrung gemacht,dass ich den Wagen zwar abhängen konnte, sein Fahrer michfrüher oder später trotzdem stellte. St. Martin war eben ziem-lich übersichtlich. Auf die scheinheilig gestellte Frage diesesspeziellen Autofahrers, ob ich denn nicht an meinem geradeerst wieder aufgenommenen Leben hinge und ob man sichangesichts meiner verrückten Fahrweise wohl Sorgen ummeinen Geisteszustand machen musste, konnte ich lockerverzichten.

Also setzte ich mich aufs Rad, fuhr im normalen Tempolos und hielt die Geschwindigkeit auch dann, als der staubigeRenault an Höhe aufschloss. Ich hörte, wie die Fensterschei-be sich senkte und Radiogedudel samt Zigarettenrauchwolke

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ins Freie drängten. Mühsam unterdrückte ich das Verlangen,den Fahrer anzubrüllen oder ihm durchs geöffnete Fensterkräftig eine zu langen. Verdient hätte es Joffe Kraachten,dieser Möchtegernjournalist, allemal.

»Einen schönen Abend gehabt, Sam? Ist garantiert ange-nehm bei den Levanders, so gutbürgerlich, ganz anders alsdeine alte Heimat im Sozialbau. Sieht ja echt nett aus, deineErsatzfamilie, obwohl ich ehrlich erstaunt bin, dass jemandwie Daniel Levander einen Burschen mit so einem üblenFamilienhintergrund willkommen heißt. Ich würde mir alsVater ja ein paar Gedanken darüber machen, vor allem wennes um mein kleines Töchterchen geht. Immerhin hat deinVater gern einmal zugeschlagen, und so was färbt ja bekannt-lich ab. Vermutlich sind die so verpeilt, dass sie keineAhnung haben, was ihnen mit dir noch alles blüht. DieLevanders leben halt in ihrer Spießerwelt. Wundert mich eh,dass du es bei denen aushältst, wo du doch mehr der frei-heitsliebende Individualist bist und der Levander als domi-nante Persönlichkeit gilt. Uniprof halt, die können nichtanders, ist ja allgemein bekannt.«

Über diese Aneinanderreihung von aus der Luft gegriffe-nen Behauptungen schüttelte ich nur den Kopf. KraachtensProvokationen drehten sich immerzu um denselben Müll,mit dem er mich aus der Reserve locken wollte. Ich begannzu pfeifen, was mit angespanntem Kiefer gar nicht so leichtist.

»Das sind keine leeren Behauptungen, was ich da geradegesagt habe, sondern das Ergebnis meiner Recherche!«, ver-teidigte Kraachten sich lautstark, offenbar aufgebracht übermein kleines Pfeifkonzert. »Ich weiß aus sicherer Quelle,dass Daniel Levander ziemlich streng ist und einen gern vonoben herab behandelt. Das liegt vermutlich am Professoren-titel. Und warum sollte er dich als zukünftigen Schwieger-

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sohn seine Überheblichkeit nicht auch spüren lassen, Sam?Ich darf bestimmt Sam zu dir sagen, so nennen dich deineFreunde doch?«

Es kostete mich enorme Überwindung, weiterhin beharr-lich geradeaus zu blicken. Mit dem Pfeifen war es jetzt aller-dings vorbei, stattdessen knirschte ich mit den Zähnen.

»Habe ich da vielleicht etwas Falsches gesagt? War dasMittagessen bei den Levanders nicht nett? Hast du deshalbso eine miese Laune? Ach, komm schon, Sam, hör auf, michzu ignorieren, und quatsch ein paar Takte mit mir. Du machstes uns beiden ganz schön schwer mit deiner Sturheit. Schaumal, wenn du mich ständig nur anschweigst, dann muss ichmir meine Infos eben von woanders herholen. Und dannreime ich mir zwangsläufig einiges selbst zusammen. Das istmein Job, verstehste? Ich muss nun einmal was bei meinerZeitung abliefern. Mir schwebt gerade folgender Artikel fürsmorgige Blatt vor: ›Nach der ersten Willkommensfreude, dieSamuel Bristol (18 J.) nach seiner Rückkehr entgegengebrachtwurde, kippt die Stimmung. Denn der junge Mann hält gegen jedeVernunft daran fest, über die Monate seiner Abwesenheit zuschweigen, obwohl er vielen Menschen damit Kummer zufügt.Sogar vonseiten der Familie seiner Freundin Jessica schlägt ihmmittlerweile Verdruss entgegen.‹«

»Sie haben vergessen, hinter ›Jessica‹ eine Klammer mitder Anmerkung ›Name von der Reaktion geändert‹ einzu-fügen. So gut haben Sie Daniel Levander doch bereits ken-nengelernt, dass Sie weder seinen Namen noch den einesFamilienmitglieds in Ihren Lügenmärchen erwähnen dürfen.Sie hätten besser auf Ihre sichere Quelle hören sollen, dassder Mann ein harter Brocken ist, dann wäre Ihnen eineAbmahnung erspart geblieben, Kraachten.«

Kaum hatte ich den Satz zu Ende gebracht, da hätte ichmich auch schon in den Hintern beißen können. Warum

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hielt ich nicht meinen Mund? Das war nämlich die einzigeMöglichkeit, wie man mit diesem schmierigen Lokalreporterfertigwurde.

Seit der Pressekonferenz, die nach meinem unverhofftenWiederauftauchen von Polizei und Staatsanwaltschaft abge-halten worden war, hatte ich einiges an Journalisten kennen-gelernt. Die meisten waren professionell und ließen von mirab, sobald sie merkten, dass ich außer der offiziellen Versionder Ereignisse an der Klippe nichts erzählen würde. Vermut-lich war meine Geschichte für ihre Blätter ohnehin nichtspektakulär genug, und sie wollten lieber noch einenStrandspaziergang machen, als sich mit einem einsilbigenKerl wie mir herumzuplagen, der vermutlich gar kein Ge-heimnis verbarg, sondern sich lediglich mit Schwarzarbeitüber Wasser gehalten hatte, bevor ihn das Heimweh zurück-trieb. So klangen dann auch die meisten ihrer Artikel undich war ausgesprochen froh darüber.

Nur Joffe Kraachten von St. Martins »Treibgut«, einem ge-wöhnlichen regionalen Wochenblatt, das hauptsächlich überSchultheateraufführungen und die Verwüstungen bei unan-gemeldeten Strandpartys berichtete, wollte sich mit so einerlangweiligen Story nicht zufriedengeben. Vielmehr hattenach meiner Wiederkehr ein ansonsten brachliegender jour-nalistischer Instinkt bei Kraachten angeschlagen. In meinerGeschichte sah er seine große Chance auf einen Karriere-sprung. Den Kontakt zu einer größeren Zeitung gab es schon,wie er nicht müde wurde, mir unter die Nase zu reiben. Obdas nun stimmte oder nicht, er hing jedenfalls an meiner Spurwie ein Bluthund, und wenn ich ihn nicht rasch abschüttelte,würde er am Ende noch etwas herausfinden, das wirklich überdie Grenzen von St. Martin hinaus für Wirbel sorgte.

Da ich mich weigerte, mich mit Kraachten zu unterhalten,geschweige denn seine aufdringlichen Fragen zu beantwor-

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ten, hatte er so ziemlich jeden einzelnen Menschen ange-sprochen, der jemals etwas mit mir zu tun gehabt hatte. Daseindrucksvollste Ergebnis seiner Recherche bestand in einemInterview mit meiner Schwester Sina, die mir später unterTränen erzählte hatte, wie Kraachten sie vorm Kindergartenabfing, als der vierjährige Kasper gerade, von einem Wut-anfall heimgesucht, auf dem Gehweg lag und um sich trat.Obwohl Sina ihm lediglich steckte, dass ich mich ihr gegen-über niemals über meinen Vater beklagt und auch ansonstenkeinerlei Anzeichen eines Problems hätte erkennen lassen,kamen ihre Äußerungen in dem Artikel, der angeblich denHintergrund von Jonas’ Tat beleuchten sollte, vollkommenanders rüber. Darin war Sina eine labile Frau aus sozialschwachen Verhältnissen, die die Gewalttaten ihres alko-holkranken Vaters an ihrem jüngeren Bruder willentlich ver-heimlicht hatte und damit Verantwortung an dem trug, wasschließlich in einer nächtlichen Messerstecherei endete.

Allein die Unterstellung war komplett hirnrissig. WederSina noch ich hatten eine Ahnung davon gehabt, dassJonas so weit gehen würde. Wie auch? Erst als Schatten-schwinge hatte ich herausgefunden, dass es die Einflüste-rungen des Schattens gewesen waren, die meinen Vaterdazu getrieben hatten. Es war also nicht einmal seine eigeneEntscheidung gewesen, aber ich würde einen Teufel tun undKraachten gegenüber auch nur eine entsprechende Andeu-tung machen.

Davon einmal abgesehen war es schon ein starkes Stück,ausgerechnet Sina, die mich nach der ersten Messerattackeunseres Vaters bei sich aufgenommen hatte, Blindheit fürdessen Taten zu unterstellen. Schließlich hatte sie oft genugam eigenen Leib erfahren, wozu Jonas in der Lage war. Nurgehörte das jetzt der Vergangenheit an, während ihre Gegen-wart aus jeder Menge Arbeit und ihren beiden Kindern be-

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stand, die sie in Ruhe aufziehen wollte. Im Großen und Gan-zen war es also kein Wunder, dass Sina null Interesse zeigte,Jonas’ Gewalttätigkeit in der Öffentlichkeit zu diskutieren.Darüber hinaus sagte sie die Wahrheit: Ich hatte mich ihrgegenüber niemals auch nur mit einem Sterbenswörtchenüber unseren Vater beschwert, sondern seine gewaltsamenÜbergriffe stets für mich behalten.

Als tags darauf im »Treibgut« ein Artikel über die herun-tergekommen Ecken von St. Martin erschienen war, illus-triert mit einem Foto des Hauses, in dem Sina lebte, hatte siemir kurz und knapp mitgeteilt, dass sie künftig nicht mehrmit mir in Verbindung gebracht werden wollte. Dass es sobestimmt das Beste für uns wäre, vor allem für die Kleinen.Mit Kraachten auf den Fersen konnte ich ihr Verhalten ver-stehen, obwohl es wehtat, neben meinem Vater nun auchnoch meine einzigen leiblichen Verwandten zu verlieren. Ichnahm mir allerdings vor, zu Kasper und Nele Kontakt aufzu-nehmen, sobald Gras über die Sache gewachsen war … fallsdie Kinder dann überhaupt noch wussten, wer ich war.

Während meine Familie und ich Kraachtens Aufdeckungs-wut hilflos über uns ergehen lassen mussten, zeigte DanielLevander dem Schmierfink seine Grenzen auf: Er verhinder-te einen Aufmacher über Mila, der auf reiner Spekulationund einigen Aussagen meiner Ex-Mitschülerin Jette beruhte,die mir mein Desinteresse an ihren Avancen offenbar übelnahm. Die Überschrift hatte »Samuels Engel« lauten sollen.Wie originell.

»Was ist, Kraachten? Haben Sie bei der Erinnerung anihren eingestampften Schmutzartikel die Sprache verloren?War allem Anschein nach eine krasse Erfahrung, an DanielLevander zu geraten, wo Sie doch ansonsten nur überlasteteMütter anschwärzen. Im Gegensatz zu denen kann HerrLevander sich offensichtlich ohne Schwierigkeiten zur Wehr

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setzen. Na, hoffentlich hat Ihnen Ihr Chef ordentlich dieHölle heiß gemacht für die geschwärzte Ausgabe. Damit sindIhre ehrgeizigen Träume, zu einer größeren Zeitung zu wech-seln, wohl erst einmal begraben. Da können Ihre Kontaktezu diesem überregionalen Blatt, mit denen Sie ständigprotzen und wegen denen Sie mir hinterherschnüffeln, nochso fantastisch sein.« Einmal Nachtreten musste ich mir indiesem Fall einfach gönnen.

Kraachten verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitronegebissen. »Man sollte es nicht für möglich halten, dass einZugezogener wie dieser Meeresforschungsheini über so guteKontakte verfügt, dass ihm eine solche dreiste Beeinflussungder vierten Gewalt in diesem Land gelingt. Die Presse solltefrei und nicht der Bestimmungswut eines Herrn Professorsausgeliefert sein. Aber Schwamm drüber, die Story überdeine Süße hat eh nicht viel hergemacht. Ist nicht viel losmit dem Mädchen, was?«

Ich zeigte Kraachten den Mittelfinger und beschloss, ihmmit einem Fußtritt die Fahrertür seiner Schrottkarre zuverzieren, falls er bei der nächsten roten Ampel neben mirhalten sollte. Daraus konnte er dann gern eine Geschichtestricken. »Samuel Bristol läuft Amok. Opfer: ein unschuldigerRenault.«

Noch immer ließ Kraachten nicht locker. »Es ist ganz ein-fach: Wenn du mich loswerden willst, brauchst du mir nurein kleines Interview zu geben, danach siehst du mich niewieder. Na ja, insofern man sich in diesem Kaff halt aus demWeg gehen kann«, fuhr er im Plauderton fort. »Solange dujedoch den Mund hältst, muss ich halt zusehen, wie ich aufanderem Weg hinter dein Geheimnis komme.«

»Was macht Sie denn so verdammt sicher, dass es ein Ge-heimnis gibt? Sämtliche Ihrer Kollegen haben sich mit deroffiziellen Version zufriedengegeben, und das ganz bestimmt

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nicht, weil die alle zu faul sind, einer heißen Spur zu folgen.Die haben im Gegensatz zu Ihnen schlicht begriffen, dass esbei mir nichts zu holen gibt.«

»Die haben ja auch nicht mit deinem Vater gesprochen.«Ich trat so scharf auf die Bremse, dass ich beinahe die

Gewalt über das Fahrrad verlor.»Niemand spricht mit Jonas, weil Jonas mit niemandem

spricht. Das hat mir sein Arzt ziemlich genau erklärt.«Die Erinnerung an meinen Besuch in der psychiatrischen

Klinik, in der Jonas untergebracht war, lag mir schwer imMagen. Herr Levander hatte mich begleitet, obwohl icheigentlich hatte allein gehen wollen. Wir waren exakt bis insSprechzimmer des behandelnden Arztes, Dr. Felsenbruck,gekommen, der mir eröffnet hatte, dass Jonas auf keinerleiAnsprache reagierte. Obwohl der Arzt mich ermutigt hatte,den Kontakt zu ihm zu suchen, hatte ich auf die Begegnungmit einem mit Medikamenten ruhiggestellten Vater, derschweigend vor sich hin stierte, verzichtet. Zu tief lastete dieErinnerung an unser letztes Zusammentreffen auf mir.

Das gerissene Grinsen auf Kraachtens hageren Zügen jagtemir einen Stich zwischen die Schulterblätter.

»Zugegeben, es war nicht gerade ein Schwätzchen unteralten Kumpels mit Bristol Senior, aber ich hatte Gelegenheit,ihm zuzuhören, denn reden tut dein Vater unentwegt. Wenndu den Mumm aufgebracht hättest, ihm gegenüberzutreten,wüsstest du Bescheid. Aber du meidest deinen Daddy ja sogardann, wenn er in einer Gummizelle sitzt. Wirklich sehrinteressant, was deinen alten Herrn so alles umtreibt. Sollich dir was verraten? Du bist nach wie vor ein Topthema fürdeinen Vater. Du und das, was ihm die Stimme darüber zu-flüstert, wer du in Wirklichkeit bist.«

»Und das wäre?«Kraachten kümmerte sich nicht darum, dass er mit seinem

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mitten auf der Fahrbahn parkenden Wagen den Verkehrblockierte und entsprechend angehupt wurde. Stattdessenfixierte er mich wie ein Raubtier, das auf den richtigen Mo-ment wartete, um zuzuschlagen. Genüsslich leckte er überseine Lippen. »Kann ich dir leider nicht verraten. Berufs-geheimnis. Aber du weißt ja, wie das ist: Eine Hand wäschtdie andere. Lieferst du mir eine Geschichte, dann muss ichder deines Vaters nicht länger nachgehen und kann endlichden Artikel schreiben, der bundesweit zur Sensation werdenwird.«

»Wow, ich glaube, dass nennt man Erpressung.«»So funktioniert die Erwachsenenwelt, Kleiner. Du wirst

schon noch dahinterkommen.«»Bin schon dabei«, sagte ich, dann trat ich in die Pedale.»Hey, was ist nun: Interesse oder nicht?«, rief Kraachten

mir hinterher, aber ich warf ihm nicht einmal mehr einenBlick zu. Mit meinen Gedanken war ich bei Jonas und derFrage, warum er immer noch nicht zur Ruhe kam, obwohlihn keine Stimme aus der Sphäre mehr heimsuchte. DerSchatten war tot und Tote reden bekanntlich nicht.

Der Surfkurs war anstrengend, aber nicht anstrengend ge-nug, um mich von meinen düsteren Gedanken abzulenken.Während ich das Lager für die Bretter dichtmachte, grübelteich unentwegt weiter. Vorhin war ich drauf und dran gewe-sen, in Kraachtens Spatzenhirn einzudringen und mir dieAntwort zu holen, die er mir freiwillig nicht geben wollte: alswas mein Vater mich bezeichnet hatte. Vermutlich hätte iches sogar getan, wenn ich ohne großes Aufhebens dazu in derLage gewesen wäre.

Seit ich jedoch Nikolai, hinter dessen äußerer Hülle sichder Schatten verbarg, besiegt hatte, war meine Aura so gut

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wie erloschen. Sogar meine rund um die Uhr eingezogenenSchwingen kribbelten bestenfalls milde, als besäßen sie kaumnoch die Kraft, hervorzubrechen. In diesem Zustand war ichdem Sam nicht unähnlich, der vor fünf Monaten das letzteMal als Mensch von der Klippe aus das nächtliche Meer be-trachtet hatte. Der Sieg über Nikolai hatte mich einiges vonmeinem Schattenschwingen-Wesen gekostet, und darübersollte ich verdammt noch mal glücklich sein. Je wenigerSchattenschwinge ich war, desto leichter würde es mir fallen,mich in der mir fremd gewordenen Menschenwelt einzu-leben. Leider schätzte ich mich deswegen nicht sonderlichglücklich, sondern sinnierte bei jeder Gelegenheit darüber,wie ich meine Aura aufleben lassen könnte. Ihr schwachesGlimmen setzte mir mehr zu, als wenn ich ein Bein verlorenhätte.

»Hey, Sammy. Hast du Lust, noch was mit deinen Kolle-gen trinken zu gehen?«

Bevor ich auch nur einen klaren Gedanken fasste, wirbel-te ich herum und packte denjenigen, der so völlig unbemerktund viel zu dicht hinter mich getreten war, an der Trainings-jacke. Es war Max, einer der Surflehrer. Im Moment er-schreckte man mich besser nicht – ich war verdammt gereizt,auch so eine Nebenwirkung meiner erloschenen Aura. Ichnahm meine Umgebung nicht einmal mehr ansatzweise mitder gleichen Klarheit wahr wie zuvor. Ich kam mir vor wieeine Raubkatze, der man die Sinne genommen hatte und dieentsprechend angriffslustig war.

Mit einem entschuldigenden Achselzucken gab ich Max’Jacke frei und klopfte ihm auf die Schulter, wobei mich seinerschrockener Gesichtsausdruck verlegen machte. »Tut mirleid, ich war mit meinen Gedanken woanders und habe michtierisch erschrocken, als du plötzlich hinter mir standest.«

»Schon okay. Mann, du bist echt verflucht schnell, weißt

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du das? Hast wohl besonders ausgeprägte Überlebensinstink-te nach deinem Roadtrip. Jeder, der sich von hinten an-schleicht, ist ein Feind … oder so ähnlich.«

Max lächelte schief. Er war einer von diesen Kerlen, dieSurfen für eine Religion hielten und entsprechend entspanntdurchs Universum glitten. Obwohl er bestimmt schon An-fang zwanzig war, kam ich mir irrwitzigerweise wie der Älterevon uns beiden vor. Auf einem Surfbrett zu stehen und dieWellen zu spüren, war zweifelsohne eine feine Sache, aber esgab Wichtigeres im Leben. Diesen väterlichen Tipp verkniffich mir allerdings tunlichst.

»Hör zu, Sammy: Was du brauchst, ist ein Bier oder wasAnständiges zu rauchen, damit du runterkommst. DieseDaueranspannung, unter der du stehst, ist doch nicht ge-sund. Du bist schließlich keine Stromleitung.« Max lachtebeglückt über seinen eigenen Witz.

»Ein anderes Mal, einverstanden? Ich will noch meineFreundin anrufen.« Demonstrativ holte ich Rufus’ Zweit-handy hervor, das er mir geliehen hatte, und wählte MilasNummer. Ich schaffte es gerade einmal, »Na, du. Allesbestens bei dir?« zu sagen, da hatte Max mir das Teil auchschon abgenommen.

»Hallo, Sammys Freundin«, flötete er. »Hier spricht Max,ein Kollege von der Surfschule. Ein paar von uns Nasen wol-len jetzt zusammen auf einen Absacker los. Und wie immerwill dein Freund sich drücken. Also, falls du heute Abendnicht vorhast, persönlich für seine Entspannung zu sorgen,könnten wir den Job ja mal ausnahmsweise übernehmen.Eine ganz lockere Veranstaltung mit ein paar Bierchen,nichts Aufregendes.«

Max lauschte konzentriert und ich ebenfalls, aber ichkonnte nur Milas Stimme, jedoch nicht ihre Worte hören.Sie klang bestens gelaunt.

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»Sammy muss ja keinen Alkohol trinken, wenn er daraufnicht kann. Macht Babette, Tonis Freundin, auch nicht unddie kommt trotzdem mit. Es geht darum, beisammenzusitzenund zu quatschen. Der Bursche kann doch nicht immer nurschuften oder bei dir hocken, verstehste? Der muss dochauch mal ein wenig leben.«

Ich konnte mir Milas Antwort denken, denn Max nicktezufrieden und gab mir das Handy.

»Für die dreiste Nummer wässere ich morgen früh deinenNeoprenanzug«, drohte ich ihm, dann wendete ich michdem Handy zu, aus dem ein fernes Lachen schall. »Hey, Mila.Vergiss den Komiker von eben und erzähl mir, was du gerademachst.«

»Mich von dir verabschieden.« In Milas Stimme wirkteihr Lachen nach.

»Warum verabschieden?«»Weil du jetzt mit ein paar Leuten um die Häuser ziehst,

und ich nicht. Ich wünsche dir ganz viel Spaß dabei.«Spaß? Von wegen. Ich winkte Max zum Abschied zu und

marschierte in Richtung Wohnwagen los. »Unsinn, ich ziehenicht um die Häuser, sondern telefoniere mit dir. Das ist es,was ich tun will.«

»Nein, heute Abend nicht. Hör auf Max und probier aus,wie sich das normale Leben anfühlt. Das wird dir guttun.Dann habe ich auch die Zeit, noch einmal in Ruhe dieMatheaufgaben durchzugehen, damit Frau Olsen mich mor-gen nicht in meine Bestandteile zerlegt und unsere ganzeArbeit für umsonst gewesen ist. Also, tu dir selbst einenGefallen und hab einen schönen Abend.«

»Ich will keinen schönen Abend, ich will mit dir sprechenund mir dann zum Schlafen die Decke über den Kopf ziehen.Mehr nicht.«

Leider bekam sie nichts von meinem Entschluss mit, denn

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sie hatte das Gespräch bereits weggedrückt. Als ich erneutihre Nummer wählte, ging die Mailbox dran. Es war ihr of-fenbar ernst.

Mit einem Knurren steckte ich das Handy weg und blicktezu Max, der sich in aller Ruhe eine Zigarette drehte. SeinGrinsen konnte ich selbst in der Dunkelheit erkennen. Milawollte also, dass ich mal echtes Leben spielte. Bitte, konntesie haben.

Ich stampfte auf Max zu. »Wehe, ich amüsiere mich nicht,dann kannst du dich auf was gefasst machen. Und ich redehier nicht vom falschen Wachs auf deinem Brett, meinFreund.«

Max legte mir seinen Arm um die Schulter. »Alter, es istwirklich höchste Eisenbahn, dass du dich mal lockermachst.«

Der Weg durch die Dünen zurück zum Wohnwagen war allesandere als ein Spaziergang. Nicht bloß, weil es mittlerweilestockfinstere Nacht war und vom Meer Nebel aufzog, son-dern auch, weil der Boden unter meinen nackten Füßenschaukelte. Gezwungenermaßen blieb ich immer wieder ste-hen und widerstand dem Bedürfnis, mich an Ort und Stellefallen zu lassen und ein Schläfchen zu halten. Noch dringen-der war das Verlangen, meinen Oberkörper frei zu machen,die Schwingen auszubreiten und eine Runde zu fliegen. Ichbrachte gerade noch genug Verstand auf, um mir einzuge-stehen, dass ich mir in diesem Zustand vermutlich schonbeim Start das Genick brechen würde.

»Nie wieder trinke ich auch nur einen einzigen verfluch-ten Tropfen Alkohol«, schwor ich mir, während meine tau-ben Lippen die Worte mehr schlecht als recht formten. Wasich da von mir gab, klang arg vernuschelt. Um meine Aura

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musste es wirklich schlecht bestellt sein, wenn sie einensolchen Rausch zuließ, denn für gewöhnlich zeigte Alkoholbei mir kaum eine Wirkung.

Dabei war der Abend nach dem ersten Bier, das ich regel-recht runtergezwungen hatte, ganz annehmbar geworden.Die Leute von der Surfschule waren lässig, kein einziger vonihnen versuchte, mich über meine Geschichte mit Jonas aus-zuhorchen. Stattdessen redeten sie übers Surfen und dasMeer, über das Meer und übers Surfen. Irgendwann nachdem dritten Bier hatte ich dann ebenfalls mitgemischt undnach dem fünften eine flammende Rede über die Magie derWelle gehalten. Damit war endgültig der Zeitpunkt gekom-men, an dem mein bisschen Restgehirn beschlossen hatte,nach Hause zu gehen. Oder vielmehr zu wanken. Am nächs-ten Morgen würde ich mich vermutlich dafür verachten, dassich aus reinem Trotz gebechert hatte, aber im Augenblickfühlte ich mich angenehm vom Sender genommen.

Die Welt war verschwommen, aber nicht etwa, weil ich einFremdkörper in ihr war. Ich fühlte mich auch gar nicht fremdund verloren und hoffnungslos, sondern … keine Ahnung,irgendwie okay.

Alles war okay.Gut, dass ich diese Wirkung von Alkohol zuvor nicht ken-

nengelernt hatte, ansonsten wäre ich die letzten Jahre ver-mutlich selten nüchterner gewesen als mein Vater. Nur mitdem Unterschied, dass ich keineswegs den Drang verspürte,jemanden zusammenzuschlagen. Vielmehr konnte ich nurmit Müh und Not meine Finger vom Handy lassen. Ansons-ten hätte ich Mila meine Liebe erklärt, was zu dieser spätenStunde und mit meiner schweren Zunge nur bedingt ange-kommen wäre.

Als sich endlich der Wohnwagen in der Dunkelheit ab-zeichnete, war ich erleichtert. Nur noch ein paar Schritte,

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und ich würde in die Koje kippen wie ein Toter. Leider kames nicht so weit, denn außer dem Umriss des Wohnwagensschälte sich noch ein weiterer heraus: der eines athletischenMannes, umgeben von rotem Glimmen.

Schlagartig fühlte ich mich nüchtern.»Kastor?«»Das war eine interessante Schlangenlinie, mit der du

über die Düne gekommen bist. Ich dachte, du trinkst nicht.«»Und ich dachte, du sprichst nicht.«Mit so viel Würde wie möglich setzte ich mich auf den

Tritt des Wohnwagens. Kastor ins Innere zu bitten, schienmir nicht das Richtige. Außerdem überkam mich eine plötz-liche Beklemmung in Anbetracht der Enge dort, die in denletzten Tagen ausgeblieben war. Unwohlsein in Räumen, indenen man die Schwingen geschlossen halten musste, wareine Schattenschwingen-Empfindung – und damit nichts,das mir zu schaffen machen musste.

Kastor blieb vor mir stehen, als würde er den Platz nebenmir erst dann einnehmen, wenn ich ihn dazu einlud. Was ichnicht vorhatte. Er steckte in ausgesprochen schicken Kla-motten, soweit sich das in der Dunkelheit beurteilen ließ.Fast sah er aus wie ein Mensch, wenn man von seinen rotflammenden Augen absah. Und reden konnte er mittlerwei-le auch einwandfrei.

»Ich hatte genug Gelegenheit, mich um dieses kleineProblem mit der Verständigung zu kümmern, während Shirinsich in unserem Versteck langsam von ihrer Verletzung er-holt. Ich würde dir übrigens auch raten, dich mit deinemProblem auseinanderzusetzen, auch wenn es keineswegs einkleines ist. Deine Aura wiederherzustellen, dürfte vielmehreine echte Herausforderung darstellen.«

Ich überhörte, was Kastor über meine Aura sagte. Es spielteschließlich keine Rolle mehr. Genau wie es keine Rolle

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spielte, dass ich mich freute, Kastor zu sehen. »Es geht Shirinalso wieder besser?«

»Besser? Ja. Gut? Nein. Ich bin kein Heiler und auch nichtihr Vertrauter. Jedenfalls nicht die Art Vertrauter, die siebitter benötigt.«

Tausend Fragen jagten mir gleichzeitig durch den Kopf,denn seit ich Kastor bei der schwer verletzten Shirin zurück-gelassen hatte, waren wir einander nicht mehr begegnet. Ichhatte ihm lediglich eine Nachricht geschickt, dass der Schat-ten, der uns alle gefährdet hatte, ausgelöscht war. Kastorwusste also, dass ihnen in der Sphäre keinerlei Gefahr mehrdrohte, und war trotzdem in der Menschenwelt geblieben.

»Wenn Shirin Hilfe benötigt, die sie von dir nicht bekom-men kann, frage ich mich ernsthaft, warum du sie nicht indie Sphäre zurückbringst. Irgendeine von den alten Schatten-schwingen wird sicherlich wissen, was ihr Besserung bringt.«

»Die älteren Schattenschwingen, sagst du. Die würdensich gewiss darum reißen, ausgerechnet Shirin zu helfen,nachdem sie alles daran gesetzt haben, sie zu vertreiben.Nein, von deren Seite ist keine Hilfe zu erwarten, außerdemist ein Wechsel in ihrem Zustand unmöglich. Shirin ist bei-nahe erloschen durch die Verletzung, die der Schatten ihrzugefügt hat, und ich bin außerstande, die Klinge herauszu-ziehen, die weiterhin in ihrem Körper steckt und ihn zugrun-de richtet. Mir ist es lediglich möglich, sie für eine kurzeDauer anzufassen – und das kostet mich schon fast die gesam-te Kraft, die mir zur Verfügung steht. Diese Klinge in ShirinsLeib … Niemand weiß, was diese Waffe noch anrichtet,wenn sie nicht bald rausgezogen wird.«

Wut stieg in mir auf und ich missachtete ihren wahrenAuslöser: mein schlechtes Gewissen, meinen beiden Freun-den nicht beizustehen, obwohl ich es mir sehnlichst wünsch-te. Die Angelegenheiten der Schattenschwingen durften

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Tanja Heitmann

Schattenschwingen - Zeit der GeheimnisseBand 3

Paperback, Klappenbroschur, 448 Seiten, 13,5 x 20,6 cmISBN: 978-3-570-30893-6

cbt

Erscheinungstermin: Februar 2014

Hoch spannend und unsagbar romantisch Nach seinem Sieg über den Schatten beschließt Sam, der Sphäre auf immer den Rücken zukehren. Endlich können Sam und Mila ein ganz normales verliebtes Paar sein. Doch beidehaben Geheimnisse voreinander, die ihre Beziehung auf die Probe stellen: Zwar hält Samsich der Sphäre fern, aber heimlich suchen die Schattenschwingen Sams Gesellschaft. Milawiederum verschweigt Sam, dass der Schatten in ihren Träumen erscheint. Und dann steht derSchatten Mila plötzlich auf einer Party gegenüber! Sein Ziel: Er will Mila unter seinen Einflussbringen …