tee erlesen

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Verse und Prosa von André Klein und Maria Antoniades, illustriert von Jan Schröder

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Page 1: Tee Erlesen
Page 2: Tee Erlesen

© André Klein, Maria Antoniades, Jan Schröder1. Auflage, Berlin-Göttingen 2007

teelanovela.de.vu - Der Tee für‘s Tv!

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Desorientierungslauf (kulturelles Erbe)

Es war eines Abends im Kreise der Götter ein heftiger Streit losgebrochen,denn sie waren sich uneinig darüber, wie sie wohl das Geheimnis des Lebensam besten vor den Menschen verstecken könnten. Das Geheimnis mussteunter allen Umständen bewahrt werden, da die Götter ihre göttliche Positionzu behalten trachteten und ein Mensch, der vom Geheimnis des Lebenswüsste, weder fromm noch furchtsam sondern frank und frei zwischenden Welten wandeln würde und somit eine Gefahr für alle Erhabenendarstellte.

Einer der Götter sagte:“So lasst uns das Geheimnis des Lebens unter einemBerg verstecken. Die Menschen werden es nie vollbringen darunter zublicken.“

Ein anderer entgegnete:“Nein, Nein. Es ist bloß eine Frage der Zeit, bis sieMittel und Wege finden, die Erde zu spalten und die Berge zu bewegen.“Daraufhin sagte ein anderer Gott:“Lasst uns das Geheimnis des Lebens ander tiefsten Stelle des größten Ozeans verwahren. So werden die Menschenes nimmer finden.“

Doch ein anderer Gott antwortete:“Auch werden die Menschen sich dieseStelle bald begehbar gemacht haben. Wir brauchen ein besseres Versteck!“Die Götter schwiegen, bis plötzlich ein Lichtblitz die Himmelsauenblendete.

“Ich hab’s!“, rief einer der Götter. „Wir verstecken das Geheimnis desLebens in den Menschen selbst! Darauf kommen die nie!!!“ Und so wardder Plan beschlossen, das Geheimnis hinabgesandt in Herz und Hirn, aufdass die Menschen für immer und ewig ihres Erbes unbewusst, aufentzauberten Geraden in Alltagsquadraten lebten.

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An einem Tag im Herbst

Ich glaub es war an einem Tag im Herbst,da trafen sich zwei Seelen.

Heut ist ein solcher Tag im HerbstUnd vieles ist verschieden.

Ich meine nicht die feuchte Luft,auch nicht die Blätter, wie sie fliegen.Ich meine nicht die Farbe des Lichtes,

auch nicht den Nebel, wie er auf den Dächern liegt.Es ist in dir und auch in mir.

Das Leben hat es dort platziert.Ob’s gut ist oder schlecht vermag ich nicht zu entscheiden.

Vertrauen können wir darauf, der nächste Herbst wird’s zeigen.

*

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jours de la cuisine

Dieser Tage Last-MinuteAlles-egal-Mentalität ist uns auferlegt

wie digitale Stummfilmevon längst vergangenen Prüfungen

die sich nicht ablegen lassen

der Mensch ein Mantel am Hakenim Rigips vom lieben Gottder irgendwo da draussen

die Welt in seiner Pfanne brät

well dones’il vous plait

wohin Augen sichin Diskos dreh’n er weiß es

Dekolletés und BlitzlichterFarbenflut und rasende Herzen

wo der Bass gegendas Schweigen

aufbegehrt er weiß es

Guitarrenriffs, SexGesangsschluchten - keine Zigarette

Wessen Generationdelegiert hier wen?

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Wessen Informationüberflutet dort

die anderendie anderen

immer sind’s die anderen!

Wessen Willesoll hier

wem oder waserzählen, dass

diese Zeit nichtskeptisch machtwenn nicht der

der aus HyperlinksWebringe schweißteund den Glühbirnen

des Irrtums denGar aus machte

der Sturm der

den Willen treibtdie Brise die

den Nacken packt

und wir brutzeln

well dones’il vous plait

Wie als sich damals

einundzwanzigtausendTeilzeitpropheten demPharao als Opfer gaben

Big-Mäc-BräterU-Boot-Christen und

Heringsbändigerihr Leben an irgendwen

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abgaben wie Steuererklärungenwährend lautlos die Engelin allen Kellern wachen

die Zeit im Visierohne Zweifel

alles zweifelhaftallein das hier

und was bleibtist die Richtungdie sich niemals

linkenlässt

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Als die Nacht am tiefsten war

Als die Nacht am tiefsten war,wurde ich erweckt

und es warmittten am Tag.

Der Orient war greifbar nahund ich machte mich auf die Reise

in das Land der aufgehenden Sonne.Die Retrospektive hinterließ ich

am Rande des Weges.Die Fessel von der es sich

zu emanzipieren gilt,der ungebetene Begleiter,

von dem es Zeit ist,sich zu trennen.

Es ist die Unionvon mir und mir,von mir und dir,

die mich weiter gehen lässt,die mich Frieden finden lässt.

Es ist der Frieden, den ich liebe,weil er Liebe ist,

zwischen mir und mir,zwischen mir und dir ´

*

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I am the Sign

I am the signwir sind das Zeichen

representingwas wir sind

you are the arrowdu bist der Pfeilclick the buttonklink dich ein

We are the wordStriche auf Papiermarks on wood

Telegramme aus Überseeemails out of prison campsKrakeleien an Klowänden

recollecting truth from fictionden Sechsten im Sinnwe become the story

we ascribe

you are the meaninginterpretierbar

giving birth to starsweil immer hier

we re-createAtomabfälle zu Gold

bliss transformed from frightened dreamsin Mythen, die wir selber setzen

in stories that we tellum Schleier dieser Welt zu lüften

knowledge we become

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Das Paradox

Ich bin die Hürde und der Springer,ich bin der Rhythmus und der Tänzer,ich bin die Hand und der Gehaltene,ich bin der Spross und bin das Licht.

Wer ist der Vereiner?Wie ist die Vereinigung?

Wann werden Weg und Ziel eins sein?Enthält die Frage nicht bereits die Antwort?

Ist es nicht an mir, die Vereinigung zu vollziehen?Ich verspüre eine Ahnung und eine Hoffnung.

Hier bin ich schon nicht mehrUnd dort nicht nicht ganz.

*

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Nachtsicht

Sie steht dort am Fenster. Ohne Zigarette hinaus in die Nacht blickend. Abund zu fährt ein Auto vorbei. Ihre Hand auf dem Fensterbrett vibriert leise.Es ist kein Wunder, dass sie nicht schlafen kann. Kein Wunder, dass siesich in den Kissen windet und wendet. Sie wurde Opfer eines Gefühlsohne Rahmen. Eines Traums von der Wirklichkeit. Von der Nachtüberwältigt. Einfach so. Ohne Vorwarnung. Ohne zu wissen, wie ihr geschah oder gar fähig, Bilder zu behalten.Ihre Hand dreht nun Strähnen zu Spiralen. Wie Telefonkabel. Aber es ist spät. Sie kann dich nicht mehr anrufen. Du schläfst.Niemand will Offenbarungen hören, wenn er nicht dafür bezahlt hat. Inder Nacht sind alle Sensationen grau. Kriegsnachrichten. Sportergebnisse.So hoch die Totenzahl auch sein mag. Es muss schon verdammt persönlichsein. Nah sein so wie eine Bombendrohung oder ein verstorbener Vetter.Ein Lottogewinn oder die Ergebnisse des Aids-Tests von vorgestern. Du, allen anderen voran, würdest ihre Worte nicht einmal unterbewerten.Du würdest bloß Gähnen, vorrausgesetzt du hörst das Klingeln. Du würdestschlaftrunken schmatzen und gähnen „Alles wird gut“, vorrausgesetzt dudrehst dich nicht auf die andere Seite. Und sie lehnt mit beiden Händengestützt auf der Fensterbank. Zwischen zwei Motorenbrummen nimmt die Stille sie in denSchwitzkasten. Die Heizung ist aus. Und ihre Kniescheiben fühlen sichan, wie mit Gelee unterspritzt. Ein Arm erhebt sich zum Fenster aber dasSeufzen ist stärker. An ihrem linken Auge zeichnet das Mascara eine Linienach unten, während die Wirbelsäule an der Wand zu rutschen beginnt.Die Fingernägel gegen die Raufaser gedrückt, leckt sie das Salz von denLippen. Zwölf Tränen später klingelt das Telefon.Und du sagst „Ich weiß nicht wie ich es sagen soll aber ich hatteeine…eine…“ Vision sagt sie. Und die nächste schmeckt süßsauer.

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Wie aus der Spirale ein Sog wird

Das Prisma bricht die Energie und bündelt sie, wie die Lupe das Licht.Das Fenster zur Welt eröffnet dieselbe.

Das Auge des Inneren eines jeden blickt aus sich heraus.Die Mannigfaltigkeit der Perspektiven

gerichtet auf dass, was es zu entflammen gilt.Das Herz eines jeden, schlägt in dem einen Rhythmus

in sich ergänzenden Sequenzenin sich umarmenden Schleifen.

Koste von der Kraft, die das Kollektiv entwickeltund gib die deine

so dass aus der Spirale ein Sog wird.

*

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perspicere

Flüssig in Verwandlungvergangener Tage

gebe ich die Hornhaut aufund sehe michals Spiegel hier

Die Blickelinks rechts

vorn Gegenübersind eingeklinkt

in Alltagder sich eben

noch regteals Resonanz

von Sicherheitenzu befreien

wo Offenheitden Tag regiert

und schon wiederstehe ich demZiel entgegen

den Rücken zur Nachtim Aufbegehrengegen Grenzen

Der Rückzug istnoch unvollkommen

das Mondgesichtnicht makellos

denn wenn mein Willewirklich wäre

würd ich dem anderenda draussen

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nie mehr widersteh’nals mir

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Im Traum

Mitten im Traumwar ich schon wach,war ich noch wach,

hatte ich geträumt zu leben.Mitten im Traum,war Wahrheit da,

war die Erinnerung schwach.Mitten im Traum

Waren Dinge wirklich,die wirklich sonst ein unmöglich Ding sind.

*

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Unanständige Vertr etung

Bei Sonnenaufgang kommen die neuen Bänder rein.Rein technischgesehen: Rohmaterial.Der erste Sonnenstrahl. Das erste Band. Mein erster Tag. DerBundesinnenminister lispelt und ich schick ihn in Raum 303.Die Kanzlerin hat verriebene Schminke im Gesicht. Ob sie geweint hatoder nur gestresst ist, macht keinen Unterschied. Ab geht die Post.

Das heißt nicht mehr Arbeit für mich sondern für die Jungs im Vierten.Das wird ihnen gut tunen, den scheiß Kreativen. Anständige Arbeit! Diefaulen Schweine. Seit der Welle von chinesischen Maskenbildnerinnenhaben die doch nichts mehr zu tun. Meine Therapeutin sagt: Wer heutzutageArbeit hat, hat sie nur, weil er jemanden kennt, der auch Arbeit hat.Auf dem großen Monitor an der Wand flattert der Berliner Bürgermeistermit den Armen über seinem Podest auf und ab wie eine Fledermaus aufSpeed.

Ich drücke einen Knopf. Langsam, gemächlich wie ein Karpfen hebt erseine Mundwinkel, als ich mit dem Knie einen kleinen Schalter umlege,dessen Effekt mich flachlegt.

Es schießt mein Rückgrad in die Senkrechte.Ein Düsenjäger startet in meinem Gehörgang und ein Wummern lässt

die Wände wackeln. Alles auf dem Kopf einer Stecknadel namens ich.Und der winzige Raum ist schallverstärkt.Meine Hand saust auf das Schaltpult und erwischt gleich fünf Knöpfe aufeinmal. Hatte die Chefin mir nicht gezeigt, welcher der richtige ist?

Mein Hirn ist Staub durch den Schlägel in der gußeisernen Glocke namensich.Durch den hämmernden Druck in meinen Bewegungen eingeschränkt,versenke ich ein paar Kippschalter weiter oben. Hier ein Dutzend mit beidenHänden. Dort eine handvoll mit der Schulter. Ein paar Fußpedale zumAusgleich.

Meine Therapeutin sagt bei einer großen Anzahl von Möglichkeiten undeinem akuten Fall wie dem meinen ist es besser, auf alle Pferde gleichzeitigzu setzen. Und meine Finger drücken weiter Knöpfe.

Hatte die Chefin mir nicht eine Anleitung gegeben? Ich ziehe einePizzaschachtel unter meinem Sessel hervor und öffne sie. Ja, da schwimmtdas Ding, eingelegt in Kaffee, Öl und Cola-Resten. Als ich mein Gesicht

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in der Soße gespiegelt sehe, werfe ich den Müll auf das Schaltpult undhalte mir die Ohren zu.

Durch den Aufprall ist meine ganze Hose versaut.Als ich aufatme,ist auch das Video am Ende. Es ist still. Und ich höre die Chefinsagen: „Also, ab an die Arbeit!“Als ob ich ihr Angestellter bin. „Drei Wochen“ hat mein Bruder gesagt.

Drei Wochen. Das heißt einen Scheiß.Einer der Schalter nah meinem Daumen kommt mir bekannt vor. DerFilzstift auf dem kleinen Etikett ist leider verwischt. Mit dem Fingernagelpule ich ein wenig verbrannten Teigrand aus der Fassung des großenDruckknopfs.

Einen kräftigen Schlag später er leuchtet er. Grün. Wenn das kein gutesZeichen ist.

Der Bürgermeister spricht wieder leise und undeutlich und auch die Armebewegen sich wieder in der Art normalsterblicher Tütensuppen.

„Es ist ein Skandal.“, sagt er. „Ein Aufbegehren größter Sorte!“ SeinKopf ist rot. Es geht um die Ermordung zweier Jung-Pandabären.Todesursache: Innere Blutung durch Pommesgäbelchen. Täter unbekannt.

„Auch wenn“, sagt der Bürgermeister. „Auch wenn es sich bei den Täternum Minderjährige handeln sollte, ist eine Schonung durch das Landsgerichtin keinem Falle angebracht.“Er stützt sich mit beiden Armen auf demRednerpult ab.

Ob er es ausreißen will, oder nur eine Standhilfe braucht, macht keinenUnterschied. Die Kamera zeigt sein Gesicht im Großformat als er sich denSchweiß von der Stirn wischt, seinen Brustkorb bläht und spricht: “MeineDamen und Herren. Wie sie alle wissen, waren die Eltern der beiden Opferein Geschenk der Ehefrau des chinesischen Verteidigungsministers. Wenndiese jüngsten Greueltaten nicht ebenso wie der vereitelte Anschlag aufdas Brandenburger Tor sich als dem Geist gnostischer Fundamentalistenentstammend erweist, da verwette ich meinen Arsch drauf, trete ich ohneWiderruf endgültig zurück.“

Ich stöhne in meiner schallgeschützen Kammer und reibe die Birnenamens ich.

„Kleine Korrekturen können Sie eigenmächtig vornehmen.“ höre ich dieChefin sagen.

„Ich vertraue da ganz der Empfehlung ihres Bruders. Er ist ein so guterZensor.“

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Tatsächlich finde ich auf den trockeneren Rängen unter demBildschirm.gleich einen Haufen Schalter und Knöpfe, die mir etwas sagen,das ich verstehe.

Vorwärts. Rückwärts. Start. LöschenMeine Fingerkuppe passt sich der Drehscheibe an. Ich drehe sie gegen

den Uhrzeigersinn und drücke ein paar Mal die Löschen-Taste. Dann starteich das Band wieder und die Arme des Bürgermeisters reißt es zurück.

„Meine Damen und Herren.Wie Sie alle wissen,“, sagt er und sein Kopfwird von einer Sekunde zur nächsten feuerrot „trete ich ohne Widerrufendgültig zurück.

Die Sesselpolster saugen mich auf wie einen Schluck Wasser. Das wareinfach. Halb so wild. Ich spule zurück und sehe mir mein Werk nocheinmal mit verschränkten Armen an. Und noch einmal.

Als ich es so oft gesehen habe, dass ich die Armbewegungen desBürgermeisters fehlerfrei imitieren könnte, kommt mir seine Redeirgendwie komisch vor.

Die Betonung fällt in der Mitte ganz plötzlich, kurz bevor sein Kopfaufleuchtet, als ob er noch etwas sagen wollte. Aber dann ist das Bandvorbei.

Hatte er nicht etwas von chinesischen Terroristen gesagt?Ich biege eins der schwanenhalsenen Mikrofone von der Wand zu mir

herunter: „Eins, Eins! Eins, Eins! Verfluchte Wichser!“Es funktioniert. Der Job beginnt Spaß zu machen. Meine Stimme ähneltder des Bürgermeisters mehr, als ich gedacht hatte. Auf Band, zumindest.Ich nehme noch einmal auf, diesmal aber kopiere ich nur die rauchigenRaspelgeräsuche tief aus dem Kehlkopf und ein paar Räuspern darüber.

Dann mach ich Feierabend.

„Scheiße!“, höre ich mich schreien..„Hab ich das laut gesagt?“, frage ich.Meine Therapeutin macht einen Strich auf ihrer Liste und nickt.

„Verdammt, wie lang soll ich denn noch mit meiner verfickten Familie insReine kommen?“

Sie addiert zwei Striche, lächelt und blinzelt, geblendet von einemSonnenstrahl, der durch ein kleines Fenster in den weißen Raum fällt. IhreBluse ist weiß.

Ihre Jeans ist weiß. Der Lippenstift auch. Wie immer. Die Haare grau.

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„Sie sehen blass aus, Herr Oslovski.“, sagt sie und ihre grünen Pupillenfangen den Sonnenstrahl ein wie eine Kamera.

„Wie kommen Sie denn mit der Agenda Achtsamkeit zurecht?“, fragtsie. „Zeigen sich schon erste Fortschritte?“

„Häh?“, sage ich.„Herr Oslovski!“, ruft sie und beugt sich aus dem Licht zu mir ins Weiße.„Verfluchte Fotze!“, hör ich mich schreien und sage dann:“Habe ich das

laut gesagt?“Meine Therapeutin addiert zwei Striche und fragt hinter einem faltigenLächeln hervor:“Aber die Medikamente, die nehm’ sie regelmäßig ein,ja?Herr Oslovski? Die Medikamente!“

Die Medikamente. „Ich habe sie auf der Arbeit vergessen.“, sage ich.Meine Therapeutin macht keinen Strich. Ihre Kiefermuskulatur

arbeitet schwer. Sie legt den Stift nieder und sagt:„Sie hatten mir doch versprochen ehrlicher zu sein. War das nicht geradeeine kleine Notlüge, Herr Oslovski? Sie wissen genau so gut wie ich, dassIhnen mit diesem sprachlichen Defekt, von dem Ohr einmal ganzabgesehen, in nächster Zeit niemand einen Arbeitsplatz zur Verfügungstellen wird. Ihr loses Mundwerk ist keine Nichtigkeit! Es steht auf ihremPass, Herr Oslovski. Schau’n Sie nach!“

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Der Unterschied

Kennst du den Unterschiedzwischen dem Zeitraum davor

und dem danach?Der Stein kennt ihn nicht,und auch nicht das Meer.

Der Unterschied ist in dir, der Unterschied bist du!Du machst den Augenblick zum Unterschied.Der Unterschied, der dein Leben verändert,

einen Tag, eine Stunde eine Sekunde.Laß ihn den Anfang deines Weges sein,

des Weges,auf dem sich Licht neu definiert,

sich die Dunkelheit wohlwollend relativiert.Hier und jetzt ist alles da,du bist der Unterschied!

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Wer stirbt?

Wer stirbt?Wenn der letzte Atem weicht

der letzte Zug verschwindet in die Nacht

Wer stirbt?wenn Hass versickert

Neid dem Geben nachgibtLiebe das Leben von Lasten erlöst

Wer stirbt?wenn mein Ich Urlaub machtEin Ich-Bin sich verwandelt

entwickelt, werdend zum Wir-Sind

Wer stirbt?wenn Vernunft sich wegerklärt

Kritik in eigenen Schlingen ersticktund ein Meinungsmechanismus

auf Glatteis gerät

Wer stirbt?beim Lesen dieser Zeilen

beim Lauschen dieser LauteEcho zu EchoStaub zu Staub

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Die Infinitheit des Kr eises

Irgendwo auf dem Weg von dort nach hierhabe ich mich verloren,

und habe mich dennoch nie zuvor so sehr um mich gedreht.Unabdingbar wie mein Schatten ist diese Idee.

Und manchmal fragt sie mich,ob sie gehen soll,

aber sie weiß um die Wage meiner Antwortund bleibt.

Liebe und Hass sind nicht zweierleiUnd so lässt sich auch meine Zukunft nicht eindeutig benennen.

Was ich tue, ist nicht mein Wille,und was ich will, ist nicht was ich tue.

Der Kreis ist endlos,das macht ihn zum Kreis.

Ich sehne mich nach dem Schwert,das ihn seiner Ewigkeit beraubt und ihn zur Linie formatiert.

°

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Vor der Müritz

Ich bin ihrunterlegenim Reisen

ohne Richtung

All mein Ergründender sieben Seenund das Grübeln

hin zu fernen Uferngemessen am Gangerfolgter Schritteist dem Erreichen

unterworfen

Und sie ereilterwartungslosdie große weite

Weltweil sie versteht

Reißaus zu nehmen

unüberlegt

in der Gunstdes Augenblicks

vom Wennohne Abervereinahmt

°

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Mehr als das

Wir werden geboren und sterben im selben Augenblick.Von jeher und für immer,

Ein jeder und die Gesamtheit.Wir alle tragen eine Scherbe bei uns,

die sich nach der Einung sehnt.So sind wir getrennt und doch eins,

verschieden und doch gleich.Wir zerschlagen und verwerfen uns,ebenso erheben und befreien wir uns.

Doch wir sind mehr als das wir,sind mehr als unsere Scherben:

Wir bist du!

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Inhalt

- Desorientierungslauf°- An einem Tag im Herbst*- jour de la cuisine°- Als die Nacht am tiefsten war*- I am the Sign°- Das Paradox*- Nachtsicht°- Wie aus der Spirale ein Strom wird*- perspicere°- Im Traum*- Unanständige Vertretung°- Der Unterschied*- Wer stirbt?°- Die Infinitheit des Kreises°- Vor der Müritz°- Mehr als das*

° André Klein* Maria Antoniades

vielen Dank an: Alistair, Hanna Antoniades und tausend mehr

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Tee la Novela, Berlin-Göttingen 2007Kontakt: [email protected]