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Thomas B. Morgenstern / Jörgen Habedank Thomas B. Morgenstern / Jörgen Habedank R R evo evo der Traumfänger der Traumfänger Der kleine Circus Fata Morgana ist in großer Not. Aquamarina, die Tochter des Circusdirektors, kann nicht mehr träumen und wird jeden Tag trauriger. Alle Artisten des Circus geben ihr Bestes, um Aquamarina aufzuheitern – aber vergebens. Schließlich wird ein Traumfänger gesucht. Erst als Revo auf- taucht und die Träume der Zuschauer in der Manege einfängt, wendet sich das Blatt. Thomas B. Morgenstern schrieb dieses poetische Circusmärchen für Kinder und Erwachsene gleicher- maßen. Jörgen Habedank schuf die Illustrationen. Der kleine Circus Fata Morgana ist in großer Not. Aquamarina, die Tochter des Circusdirektors, kann nicht mehr träumen und wird jeden Tag trauriger. Alle Artisten des Circus geben ihr Bestes, um Aquamarina aufzuheitern – aber vergebens. Schließlich wird ein Traumfänger gesucht. Erst als Revo auf- taucht und die Träume der Zuschauer in der Manege einfängt, wendet sich das Blatt. Thomas B. Morgenstern schrieb dieses poetische Circusmärchen für Kinder und Erwachsene gleicher- maßen. Jörgen Habedank schuf die Illustrationen. Morgenstern / Habedank Revo der Traumfänger Morgenstern / Habedank Revo der Traumfänger

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Page 1: Thomas B. Morgenstern / Jörgen Habedank · Signora Marina Basta nickte. „Wir müssen unserer Aquamarina schnell helfen, sonst wird sie vielleicht später keine Artistin, sondern

Thomas B. Morgenstern / Jörgen HabedankThomas B. Morgenstern / Jörgen Habedank

RRevoevo

der Traumfängerder Traumfänger

Der kleine Circus FataMorgana ist in großer Not.Aquamarina, die Tochterdes Circusdirektors, kannnicht mehr träumen undwird jeden Tag trauriger.Alle Artisten des Circusgeben ihr Bestes, umAquamarina aufzuheitern –aber vergebens. Schließlichwird ein Traumfängergesucht. Erst als Revo auf-taucht und die Träume derZuschauer in der Manegeeinfängt, wendet sich dasBlatt.

Thomas B. Morgensternschrieb dieses poetischeCircusmärchen für Kinderund Erwachsene gleicher-maßen.

Jörgen Habedank schuf dieIllustrationen.

Der kleine Circus FataMorgana ist in großer Not.Aquamarina, die Tochterdes Circusdirektors, kannnicht mehr träumen undwird jeden Tag trauriger.Alle Artisten des Circusgeben ihr Bestes, umAquamarina aufzuheitern –aber vergebens. Schließlichwird ein Traumfängergesucht. Erst als Revo auf-taucht und die Träume derZuschauer in der Manegeeinfängt, wendet sich dasBlatt.

Thomas B. Morgensternschrieb dieses poetischeCircusmärchen für Kinderund Erwachsene gleicher-maßen.

Jörgen Habedank schuf dieIllustrationen.

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Das Werk einschließlich aller Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Autors und des Verlages

unzulässig und strafbar. Insbesondere gilt dies für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und das Einspeichern undVerarbeiten in elektronischen Medien.

1. Auflage Oktober 1999Copyright © 1999 Thomas B. Morgenstern und HannaH-Verlag GmbH & Co. KG

Illustrationen: Jörgen HabedankAlle Rechte vorbehalten

Satz und Einbandgestaltung: HannaH-Verlag

Druck: Digi-Druck BremenPrinted in GermanyISBN 3-931735-09-5

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Thomas B. Morgenstern

REVOder Traumfänger

Ein Circus-Märchenfür Erwachsene

und Kinder

Illustrationen Jörgen Habedank

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Fur meine Mutter Charlotte Böttiger

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Der Circus Fata Morgana war ein sehr kleinerCircus. Aber trotzdem gab es natürlich einenCircusdirektor, der mit freundlicher Strenge über

den Circus wachte. Er hieß Signore Basta. Er hatte eineFrau, Marina Basta, die so biegsam war, dass man sie inder Circusarena glatt mit einer Schlange hätte verwech-seln können.

Und er hatte eine Tochter, Aquamarina, die sohieß, weil ihre Augen so tiefblau waren, wie ein Fjord in

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Norwegen. Wen wunderte es, denn schließlich war siedort geboren, als der Circus einmal in Norwegen gastierthatte. Sie vollführte mit ihrer Mutter im höchsten Circus-zelt die akrobatischsten Kunststücke auf dem Seil. IhreSchönheit glich der ihrer Mutter, wie der Mond seinemSpiegelbild in einem See.

Aquamarina träumte jede Nacht davon, selbst eineso berühmte Artistin zu werden, wie jene, die jeden Abendin der Manege ihr Bestes gaben, um das Publikum zu un-terhalten.

Der Löwenbändiger war der Bruder des Circus-direktors. Er hieß natürlich auch Basta, aber er fand denNamen nicht schön. Deshalb nannte er sich FriedemannLeonidas, der Löwenmann. Er hatte drei Löwen und einenTiger, die er in der Manege fauchend durch die Feuer-reifen springen ließ.

Signore Maldini war der Pferdedresseur. Seine feu-rigen Araberhengste konnten sich auf die Hinterbeine stel-

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len und mit den Vorderhufen auf einem Klavier spielen.Am besten aber gefiel den Besuchern, wenn SignoreMaldini »Ungarische Post« vorführte. Dann stand er, jedesBein auf einem Pferderücken, auf zwei Pferden, die wieein Gewittersturm durch die Arena brausten.

Zu jedem Circus gehört ein Clown. Im Circus FataMorgana war der Circusdirektor der Clown.

So ein Circusdirektor hat viele Aufgaben. Er mussden Aufbau des Zeltes überwachen, für ausreichend Futterfür die Tiere sorgen, die Trecker und Lastwagen reparierenkönnen und die Artisten trösten, wenn mal etwas schief-gegangen ist.

Das alles machte und konnte Signore Basta natür-lich auch. Aber am liebsten war er der Clown. DasSchönste am Circusleben war für ihn, die Besucher im Zeltjeden Abend zum Lachen zu bringen. Und der ClownBasta war im ganzen Land und darüber hinaus berühmt.Viele andere Circusdirektoren hatten schon seine Nummer

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gesehen und ihm das Angebot gemacht, er solle doch mitihnen durch die ganze Welt ziehen. Von Tasmanien nachRio de Janeiro, von Spitzbergen bis nach Borneo. Aber derClown und Circusdirektor Basta wollte das nicht. Auchdann nicht, als die anderen Circusdirektoren ihreteuren Füllfederhalter zückten und dicke Schecksausschreiben wollten.

Die Leute lachten jeden Abend Tränen überSignore Basta, den Clown,der so unschlagbar lustigwar. Seine beste Nummeraber war, wenn er als Clownimmer trauriger wurde. Über nichts in der Weltlachen die Leute mehr als über einen traurigen Clown.Und so merkte niemand im Publikum, dass der Clownauch in Wirklichkeit traurig war und immer traurigerund trauriger wurde …

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Aquamarina war der Grund für die tiefe Traurigkeitvon Signore Basta. Nein, sie bereitete ihm keineSorgen, wie das manche Kinder tun. Sie war sogar

sehr brav, fast zu brav, wie Signora Marina Basta manch-mal sorgenvoll bemerkte. Aquamarina lernte jeden Mor-gen fleißig in der Circusschule und übte am Nachmittagunentwegt, um in der Manege immer besser zu werden.Aber seit einiger Zeit konnte sie, wenn sie nach deranstrengenden Vorstellung ins Bett ging, einfach nicht

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einschlafen. Sie lag mit offenen Augen im Bett und starrtean die Decke des Circuswagens.

„Warum schläfst du nicht, mein Täubchen?“ fragteSignore Basta seine Tochter.

„Ich habe Angst vor dem Schlaf“, erwiderte sie leise.„Vor dem Schlaf muss man keine Angst haben“,

tröstete sie ihr Vater.„Ich habe auch eher Angst vor dem Erwachen“, sagte

sie. „Ich wache auf und habe nichts geträumt.“ Sie begannzu weinen. „Ich kann nicht mehr träumen.“

Signore Basta war wie vom Donner gerührt. „Dukannst nicht mehr träumen? Das kann überhaupt nichtsein!“ bestimmte er. „Du bist ein Kind! Und Kinder träu-men!“ Damit machte er das Licht aus und wünschte sei-ner Tochter in die Dunkelheit hinein: „Gute Nacht!“

Aber er war nachdenklich geworden. Wenn einArtist nicht mehr träumt, dachte er, kann er niemals gutwerden. Nur wer das Unfassbare träumt, kann das

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Und war es nichtso, dass Artisten jeden Tageigentlich Unmögliches voll-brachten?

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Unmögliche wahr machen. Und war es nicht so, dassArtisten jeden Tag eigentlich Unmögliches vollbrachten?

So begann Signore Basta, der Circusdirektor, sichSorgen um seine Tochter zu machen. Er sprach mit seinerFrau darüber und da sie sehr praktisch veranlagt war,wechselte sie das Kopfkissen ihrer Tochter aus.

„Kein Wunder“, sagte sie liebevoll, „auf einem der-art harten Kissen kann niemand träumen. Da bekommtman in der Nacht höchstens Beulen am Kopf.“

Sie nähte Aquamarina ein wunderbar wolkenwei-ches Kopfkissen, das sie mit den feinsten und weichstenGänsedaunen füllte. Aber Aquamarina träumte auch indieser Nacht nicht.

„Blanker Unsinn“, mischte sich die Großmutterdes Mädchens ein. Signora Basta La Basta war ihr ganzesLeben lang mit dem Circus durch die Welt gefahren. Sieglaubte, Bescheid zu wissen. „Wovon soll ein Kind nochträumen, wenn es in Watte gepackt wird?“ fragte sie. „Da

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hat man doch gar nichts mehr, wovon man träumenkönnte.“ Und so schenkte sie ihrer Enkelin ein besondershartes Kissen.

Doch auch in der darauffolgenden Nacht träumteAquamarina nicht. Der besorgte Circusdirektor grübelteimmer mehr und zerbrach sich den Kopf, wie seinerTochter wohl zu helfen sei. Schließlich beschloss er, siejeden Abend vor dem Schlafengehen mit guten Ratschlä-gen, was sie träumen solle, zu versorgen:

„Heute Nacht träumst du, dass du im größten Cir-cus der Welt auftrittst“, schlug er ihr vor. Aber Aqua-marina schüttelte am nächsten Morgen nur schweigendden Kopf.

„Heute nacht träumst du, dass du mit einemTablett voller Gläser auf dem Kopf auf dem höchsten Seileinen Kopfstand machen kannst!“

Aber Aquamarina schüttelte auch am nächstenMorgen nur den Kopf. So ging das jeden Abend und der

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Circusdirektor wurde immer trauriger über das Schicksalseiner Tochter. Und in jeder Vorstellung wurde er mehrumjubelt. Bis Signore Basta eines Tages beschloss, dass esnun genug sei.

„Marina“, sagte er zu seiner Frau, „so kann dasnicht weitergehen“.

Signora Marina Basta nickte. „Wir müssen unsererAquamarina schnell helfen, sonst wird sie vielleicht späterkeine Artistin, sondern Verkäuferin oder Steuerberaterinoder Kammerjägerin.“

„Wir müssen die anderen Artisten einweihen“,sagte ihr Mann, „vielleicht wissen die Rat“.

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A ls erster wurde Friedemann Leonidas, der Löwen-mann, gefragt. Er war schließlich der Onkel desMädchens. Leonidas schlug die verrücktesten

Dinge vor. Dinge, die so verrückt waren, dass ich sie hiernicht zu erzählen wage – aus Rücksicht auf die Gesund-heit von nervenschwachen Lesern. Immerhin kannteLeonidas keine Angst und konnte sich überhaupt nichtvorstellen, dass andere Menschen so etwas wie Angst emp-finden könnten.

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Signore Maldini, der Pferdedresseur, hingegen schlugvor, Aquamarina jeden Abend eine spannende Geschichtevorzulesen und einfach den Schluss wegzulassen. Dann,so vermutete er, würde sie sich sicher das Ende selbsterträumen.

Aber leider war auch dieser Ratschlag nicht erfolg-reich. Die arme Aquamarina schlief weiterhin traurig undtraumlos.

Der Verknotungskünstler »Monsieur Le Cle« schlugvor, ihr einen Knoten in die Nase zu machen. Als Erinne-rungshilfe, damit sie das Träumen nicht vergesse. Ihrkönnt euch denken, wie empört Signore Basta über diesenVorschlag war. Wäre Monsieur Le Cle nicht eine derHauptattraktionen im Circus Fata Morgana gewesen, er hät-te ihn sicher sofort entlassen.

Dann war da noch »The Knife«, der Mann mit denfliegenden Messern mit seiner schweigsamen Frau. Siesagte nie ein Wort und viele hielten sie für stumm. Aber

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es verschlug ihr nur jeden Abend aufs Neue die Sprache,wenn sie die Messer, die ihr Mann auf sie schleuderte, her-anfliegen sah.

„Das ist doch ganz normal“, schloss »The Knife«messerscharf, „Aquamarina wird erwachsen. Regen Siesich nicht so auf. Erwachsene haben keine Träume mehr.“

Der Circusdirektor holte tief Luft. Die beiden lagenschon lange miteinander im Streit, aber nun reichte esihm. War er nicht auch erwachsen? Und hatte er nichteinen Traum, den er sein ganzes Leben zu verwirklichensuchte? Er wollte den schönsten Circus der Welt aufbauenund von solchen Miesepetern wie diesem Knife ließ ersich nicht unterkriegen, beschloss er.

Signore Basta und seine Frau fragten schließlichnicht nur die Artisten und die Musiker des Circus-orchesters, auch die Tierpfleger und die Arbeiter wurdenum Rat gebeten. Sie waren alle starke Männer, mitOberarmen, so dick, wie die Taille der armen Aquamarina.

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Der Zauberer.hatte die Angewohnheit,zu verschwinden, wennes niemand vermutete.

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Alle hatten sie die Tochter des Direktors sehr gern. Aberkeiner wusste Rat, keiner konnte ihr helfen. So wurdenauch sie traurig über das Schicksal des armen Mädchensund über den ganzen Circus legte sich die Traurigkeit wieeine Decke über einen Schlafenden.

Nur einer war nicht um Rat gefragt worden: derZauberer. Er hatte die Angewohnheit, immer zu ver-schwinden, wenn es niemand erwartete. Er zauberte sich,so vermuteten alle, in ruhige Ecken, um seine Zauberkunst-stücke zu proben. Wenn man ihn aber brauchte, stand erurplötzlich, wie aus dem Erdboden gewachsen, vor einem.

Er hatte keinen Namen, jeder nannte ihn nur »DerZauberer«. Als er sich im Circus Fata Morgana vorstellte,wollte ihn Signore Basta erst gar nicht einstellen.

„Einen Artisten ohne Namen“, schnaubte erwütend, „das können wir nicht gebrauchen. Was soll ichdenn in das Programmheft schreiben?“

Er sah von seinem Schreibtisch auf, aber da war

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der enttäuschte Zauberer schon verschwunden. SignoreBasta war beeindruckt.

„In Ordnung“, rief er, „Sie können anfangen!“ Und schon war der Zauberer wieder da, stand leib-

haftig vor ihm, als wäre er nie weg gewesen.Seinen Vertrag unterschrieb er mit »Zauberer« und

er arbeitete nun schon seit vielen Jahren im Circus vonSignore Basta.

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S ie müssen einen Traumfänger suchen“,sagte eine Stimme. Signore Bastafuhr herum. Hinter seinem Schreib-

tischstuhl stand der Zauberer. Unddabei hatte Signore Basta doch die ganzeZeit allein in seinem Circuswagen gesessen!Die Tür war verschlossen! Er selbst hatte denSchlüssel zweimal herumgedreht, weil er mitseinem Kummer allein sein wollte.

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Und nun stand der Zauberer hinter ihm! Bastaschüttelte den Kopf. So etwas hatte er noch nie erlebt. Aberwelcher Circusdirektor wäre nicht begeistert gewesen vondiesem hervorragenden Trick.

„Einen Traumfänger?“ fragte er gedehnt, als er sichvon seinem Schrecken erholt hatte. „Wie sind Sie über-haupt hereingekommen?“ fügte er noch hinzu.

Der Zauberer zuckte leicht mit den Schultern, sagteaber nichts.

„Woher soll ich denn einen Traumfänger bekom-men? Gibt es denn so jemanden überhaupt?“ fragteSignore Basta.

Der Zauberer nickte. „Es gibt Traumfänger. Aber esleben auf der ganzen Welt nur sehr wenige. Und einenvon denen müssen sie finden, wenn sie Aquamarina hel-fen wollen.“

„Und wie finde ich …“ fragte der Circusdirektornoch. Aber da war es schon zu spät. Der Zauberer war ver-

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Page 25: Thomas B. Morgenstern / Jörgen Habedank · Signora Marina Basta nickte. „Wir müssen unserer Aquamarina schnell helfen, sonst wird sie vielleicht später keine Artistin, sondern

schwunden und Signore Basta war wieder allein in seinemCircuswagen. Er stützte den Kopf auf die Hände undbegann zu grübeln. Wo um alles in der Welt sollte er einenTraumfänger finden?

Kurz entschlossen holte er sein bestes Briefpapieraus der Schublade und begann zu schreiben:

„Traumfänger gesucht. Bitte melden bei Signoreund Signora Basta, Circus Fata Morgana.“ Er steckte denBrief in einen Umschlag und schickte ihn an eineKünstleragentur, die in der ganzen Welt Artisten kenntund sie an die verschiedenen Circusse vermittelt.

Die Anzeige erschien in allen großen Zeitungen derWelt. Sie wurde in Kanada genauso gelesen wie in Santia-go de Chile, in Nowosibirsk genauso wie in Patagonien.Chinesische Artisten lasen sie ebenso wie die Eskimos inGrönland. Fakire in Indien blätterten interessiert in derZeitung, während sie sich auf einem Nagelbrett ausruhtenund im tiefsten Urwald übten Artisten mit den Lianen, als

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ihnen die Anzeige vorgelesen wurde.Aber auch in jeder kleinen Zeitung der

Gegend, in der der Circus geradegastierte, war die Anzeige erschie-nen.

Nach vier Wochen brachteder Postbote zwei riesige Körbe

mit Briefen in den Circus. SignoreBasta war begeistert. Er hatte

nicht damit gerechnet, dass sich soviele melden würden.

Er setzte sich voller Er-wartung in seinen Circus-

wagen und begann die Brie-fe zu öffnen. Gleich den

ersten Brief, denSignore Basta öff-

nete, hatte ein

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Witzbold geschrieben, der sich über die Anzeige lustigmachte. Enttäuscht legte er den Brief beiseite. Der zweiteBriefschreiber fragte an, was denn ein Traumfänger über-haupt machen müsse. Man solle ihm doch bitte antwor-ten, vielleicht könne er das ja. Aber da war Signore Bastaschon klar, dass dieser auch nicht der Richtige war. Erbeschloss, ihm nicht zu antworten.

Der dritte schrieb, er sei Tierfänger und würdeLöwen, Affen und Giraffen für die Zoos in aller Welt fan-gen. Aber von einem Tier namens »Traum« habe er nochnie gehört. Wie das denn aussehe, und wie-viel Stück der Circus bräuchte? Wenn erwüßte, wo das Tier lebe, sei das keinProblem. Er würde es sicher fangen undwohlbehalten zu ihm bringen.

Der vierte Briefschreiber warTraumtänzer und bot seine Dienste an.Signore Basta schüttelte verbit-

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Page 28: Thomas B. Morgenstern / Jörgen Habedank · Signora Marina Basta nickte. „Wir müssen unserer Aquamarina schnell helfen, sonst wird sie vielleicht später keine Artistin, sondern

tert den Kopf. So kam er nicht weiter. In keinem der Briefefand er irgendeinen Hinweis auf einen Traumfänger, derAquamarina helfen könnte.

Am Abend, als er alle Briefe gelesen hatte, ging erweinend in die Arena. Seine Tränen verschmierten dieSchminke im Gesicht und ihm war überhaupt nicht nachseiner Clownsnummer zumute.

Das Publikum raste vor Begeisterung. Noch niezuvor wurde er zehn Mal nach seinem Auftritt wieder indie Manege gerufen. Die Menschen trampelten mit denFüßen und schrien sich die Kehlen wund.

Einen weinenden Clown, einen, der nicht nur sotut, sondern richtige, echte Tränen weint, hatten sie nochnie gesehen.

Es war der größte Erfolg, den Signore Basta jehatte. Als die Menschen ihn endlich gehen ließen, fiel erhinter dem Vorhang seiner Frau in die Arme und konntegar nicht mehr aufhören, traurig zu sein.

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Habt ihr das gehört?“ wisperte es durch die kleineCircusstadt. „Habt ihr das gehört?“ fragten sichdie Artisten gegenseitig.

„Ein Traumfänger soll die arme Aquamarina kurie-ren!“ Einige der Artisten schüttelten verständnislos denKopf. Andere konnten die Verzweiflung von Signore undSignora Basta verstehen:

„Alle unsere Ratschläge haben nichts geholfen.Jetzt muss wirklich etwas passieren, sonst geht

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Aquamarina dem Circus verloren.“ Aber so sehr sie sichalle die Köpfe zerbrachen, niemandem fiel etwas ein.

„Ich glaube, ich weiß die Lösung“, platzte plötz-lich Furor, der Feuerschlucker, in die ratlose Stille. Fasthätte er sich vor Aufregung verschluckt, was ihm übrigensbeim Feuerschlucken noch niemals passiert war.

„Wir sind gute Artisten“, sagte er leise und blicktein die Runde. „Wir sind sogar sehr gute Artisten.“ Allenickten zustimmend.

„Aber um Aquamarina zu helfen, müssen wir nichtnur gut oder sehr gut sein. Nein! Wir müssen traumhaftgut sein! In jeder Vorstellung. Und wenn uns das gelingt,wird Aquamarina jede Nacht von uns träumen.“

Abgesehen davon, dass der Vorschlag dem SignoreMaldini ein bißchen zu eitel war, fand er die volle Zustim-mung der Artisten des Circus Fata Morgana. So kamSignore Basta, ohne es zu wissen, seinem Traum eingroßes Stück näher, den schönsten Circus der Welt zu

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besitzen. Die Artisten waren so gut wie noch nie. AlleCircusvorstellungen waren von jetzt an wirklich traum-haft schön, der Erfolg des Circus Fata Morgana wuchs undwuchs …

… Aquamarina aber schlief weiterhin traumlos undtraurig.

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Kann ich den Circusdirektor sprechen?“ fragte derJunge. Signora Basta, die wie immer an der Kassesaß, musterte ihn misstrauisch. Er wirkte schüch-

tern und linkisch, hatte sehr große Füße und wusste nicht,wohin mit seinen Händen, die voller Schwielen waren.

„Was willst du von ihm?“ fragte sie kurz angebunden.„Ich komme wegen der Anzeige“, sagte der Junge.„Wir brauchen keine Arbeiter, wir haben genügend

davon“, sagte sie noch und wandte sich dann lächelnd an

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den Nächsten in der Warteschlange. „Für wie vielePersonen? Zwei Erwachsene und drei Kinder? Bitte sehr.“Damit reichte sie die Karten aus ihrem Kassenhäuschenund nahm das Geld entgegen. Schon wieder war derCircus ausverkauft.

„Du bist ja immer noch da“, bemerkte sie, als alleZuschauer im Zelt verschwunden waren. „Ich habe dirdoch gesagt, wir brauchen keine Arbeiter.“

„Ich komme wegen der Anzeige“, wiederholte derJunge noch einmal, „die mit dem Traumfänger und so …“

Erstaunt sah Signora Basta ihn an. „Und?“ fragtesie. „Willst du auch wissen, was man da machen muss?Oder dich darüber lustig machen?“ Sie begann, gegen dieTränen zu kämpfen. „Wie alle anderen, die auf dieAnzeige geantwortet haben. Saubere Artisten sind das!“

Der Junge schüttelte heftig den Kopf.„Nein!“ sagte er bestimmt. „Ich will mich nicht

darüber lustig machen. Ich muss auch nicht erklärt bekom-

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Page 34: Thomas B. Morgenstern / Jörgen Habedank · Signora Marina Basta nickte. „Wir müssen unserer Aquamarina schnell helfen, sonst wird sie vielleicht später keine Artistin, sondern

men, was man damachen muss. Ichkann das. Ich kannTräume fangen.“

Signora Bastariss die Augen auf.Schnell wie der Blitzschoss die Frau des

Circusdirektors aus ihrem Kassenhäuschen, packte denJungen an der Hand und rannte mit ihm durch die kleineCircusstadt zu ihrem Wagen.

„Basta!“ rief sie, „Basta!“ – sie nannte ihren Mannimmer so – „Komm raus, aber basta!“

„Was ist denn los?“ brummte er unwillig und sahdurch die halb geöffnete Tür. „Die Vorstellung fängtgleich an. Hilf mir lieber, meinen Frack zu säubern, ichhabe keine Zeit.“

Enttäuscht wollte sich der Junge zum Gehen wen-

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den, aber Signora Basta ließnicht locker: „Komm heraus!“rief sie laut. „Der Traumfänger ist hier!“

So schnell war der Circusdirektornoch nie aus seinem Circuswagen gekom-men.

„Du?“ fragte er ungläubig, als er denJungen sah. „Du willst ein Traumfänger sein?“

Er hatte sich einen Traumfänger irgendwieanders vorgestellt. Vielleicht, hatte er gedacht,kommt er aus Arabien und hat viel von den altenZauberern und Derwischen gelernt. Oder eskönnte auch ein Inder sein, mit einer Flöte, dieSchlangen und Träume beschwört. Eines aberwar ihm von vornherein klar gewesen: Aufjeden Fall musste der Traumfänger ein Artistsein!

Aber dieser Junge, der vor ihm stand, sah

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Page 36: Thomas B. Morgenstern / Jörgen Habedank · Signora Marina Basta nickte. „Wir müssen unserer Aquamarina schnell helfen, sonst wird sie vielleicht später keine Artistin, sondern

aus wie ein Bauerntölpel, der keinen Jonglierteller voneinem Schweinetrog unterscheiden konnte. Mit seinen lin-kischen Bewegungen war er nie und nimmer ein Artist,das sah man gleich.

„Hast du schon einmal in einem Circus gearbei-tet?“ fragte er ihn misstrauisch.

Der Junge schüttelte den Kopf. „Ich wohne hier inder Stadt und habe die Anzeige zufällig gelesen.“

Der Circusdirektor Signore Basta verstand die Weltnicht mehr. In dieser Stadt! Der Traumfänger wohnte hierin dieser Stadt! Nicht in New York oder Kathmandu?

„Aber warum nicht?“ sagte Signore Basta plötzlichunvermittelt. „Was sind deine Bedingungen?“

„Bedingungen?“ fragte der Junge ratlos. „Was fürBedingungen?“

„Wieviel willst du haben? Wieviel Gage? WievielGeld pro Auftritt?“ Signore Basta wurde ungeduldig. DasPublikum wartete, die Leute wurden unruhig. Das spürte

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er durch die Zeltplane und durch seinen Frack hindurchwie ein Kribbeln direkt auf der Haut.

„Ich weiß nicht …“ zögerte der Junge aber derCircusdirektor unterbrach ihn: „Du bist eingestellt!“ Erdachte an seine kleine Aquamarina, die nicht mehr träu-men konnte. „Über den Rest sprechen wir später …“

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Der Junge schlich sich zum Vorhang, hinter demdie Artisten auf ihren Auftritt warteten. Er fielnicht auf. Mit seinen schwieligen Händen sah er

aus wie ein neuer Arbeiter. Und immer, wenn es etwas zutun gab, packte er mit an.

Der Circusdirektor Basta beobachtete ihn aus denAugenwinkeln und war sehr unsicher. Was sollte er nuntun? Schließlich entschloss er sich, dem Jungen denGrund für die Anzeige zu erzählen.

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Nachdem Aquamarina und ihre Mutter die gefähr-liche Nummer auf dem Seil beendet hatten, trat SignoreBasta als Clown auf, so wie jeden Abend.

Der grandiose Erfolg des Vorabends hatte sich her-umgesprochen und so warteten die Menschen gespanntauf den weinenden Clown. Aber sie wurden ein bißchenenttäuscht. Das erste Mal seit langer Zeit schien von demCircusdirektor die Traurigkeit abzufallen. Er selbst wun-derte sich am meisten, wie leicht und beschwingt, so ganzohne Tränen in den Augen, er in die Arena trat. SeineNummer war gut, sicher, aber ich kann euch erzählen,dass das Publikum diesmal nicht vor Begeisterung raste.Sie waren zufrieden, so wie jeden Abend und wundertensich, was wohl die Leute am Abend zuvor so in den gren-zenlosen Jubel getrieben hatte, dass es heute in der ganzenStadt nur ein Thema gegeben hatte: den Clown.

„Schlafe, mein Täubchen“, sagte der CircusdirektorBasta nach der anstrengenden Vorstellung zu seiner

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Niemand im Zeltbemerkte, wie genau Revodas Publikum beobachtete.

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Tochter, der traurigen Aquamarina. „Ich glaube, bald wirdes dir besser gehen.“

Aber Aquamarina schüttelte nur traurig den Kopf.Sie hatte die Hoffnung fast aufgegeben, jemals wiederträumen zu können.

„Komm herein!“ Signore Basta winkte dem Jungen,der geduldig vor der Tür stand. „Komm herein, ich willdir etwas erzählen.“

Und der Circusdirektor Basta schüttete vor demJungen, den er eigentlich immer noch für einen Bauern-tölpel hielt, sein Herz aus. Er erzählte, wie Aquamarinageboren wurde, wie ihre Augen an die tiefblauen Fjordeim kalten Norwegen erinnerten, wie sie wuchs und immerfröhlich und fleißig war, wie sie lernte und arbeitete und… wie sie schließlich nicht mehr träumen konnte.

„Ein Artist, der nicht träumen kann“, sagte er leise,

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„der hat den falschen Beruf. Und unsere Tochter möchteso gerne beim Circus bleiben!“

Der Junge, der die ganze Zeit aufmerksam zugehörthatte, nickte.

„Kannst du ihr helfen?“ fragte Signora Basta. „Wirgeben dir alles, was du nur haben willst!"

Der Junge nickte wieder. Auch diesmal sagte er nichts.„Wie heißt du überhaupt?" Dem Circusdirektor fiel

ein, dass er den Jungen noch gar nicht nach seinem Na-men gefragt hatte. Und wenn man einen Vertrag schließt,muss man ja schließlich den Namen wissen. Noch einmalso einen Vertrag wie mit dem Zauberer wollte er nicht.

„Revo.“ Sehr gesprächig war der Junge nicht.„Revo …“ wiederholte Signore Basta, „und weiter?“„Weiter nichts. Nur Revo.“„Das genügt!“ sagte der Circusdirektor. „Dann kün-

digen wir dich an als Revo, der Traumfänger. Das klingtgut!"

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Der Junge schüttelte den Kopf: „Ich will nicht inder Manege auftreten. Ich würde lieber die Vorhänge auf-und zumachen und die Podeste und Gitter herein- undheraustragen. Das andere, das Träumefangen, das gehtganz anders."

Der Circusdirektor wusste, dass man im Circus nie-mals einen Artisten fragen darf, wie er seine Kunststückefertigbringt. Also war er mit dieser Antwort zufrieden.

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Wer schon einmal in einem Circus war, weiß, dasses Zuschauer gibt, die sich gern langweilen. Diedas Programm, auch wenn es noch so wunder-

bar ist, noch so viele Sensationen enthält und noch soviele gefährliche Kunststücke, langweilig finden. Das istleider schon immer so gewesen und die Menschen schei-nen unverbesserlich zu sein. Statt zu Hause vor ihremFernsehgerät einzuschlafen, gehen sie lieber für teuresGeld in den Circus, um sich dort zu langweilen.

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So geschah es leider auch im wunderbaren CircusFata Morgana. Selbst bei dem rauschenden Erfolg des wei-nenden Clowns Basta gab es ein paar Zuschauer, die erstvom Beifallgetrampel wieder aufwachten.

Manchmal, aber das geschah nicht oft, schliefenauch Kinder ein. Nur das hatte andere Gründe. Meistenswaren sie einfach noch zu klein, um die ganze Vorstel-lung durchzuhalten. Sie schliefen dann selig auf demSchoß der Mutter oder des Vaters, während sich die Elternvon den Artisten und Tieren begeistern ließen.

Revo, der Traumfänger, wusste das. Woher er daswusste, verriet er niemandem. An seinem ersten Arbeitstagbat er den Circusdirektor, die Nummer mit Aquamarinaund ihrer Mutter, der biegsamen Signora Basta, direktnach der Pause zu bringen, damit das Mädchen danachgleich ins Bett gehen könne.

Der Circusdirektor wollte erst widersprechen, dennschließlich war die Nummer mit Aquamarina der

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Höhepunkt des Programms und den wollte er möglichstspät zeigen. Doch Revo ließ keinen Widerspruch zu.

Revo stand in seiner Uniform aufmerksam nebendem Vorhang und niemand im Zelt bemerkte, wie genauer das Publikum beobachtete. Er half beim Auf- und beimAbbauen, schob für die Araberhengste das Klavier in dieManege, öffnete den Vorhang für die Artisten undschließlich für den Clown Basta.

Dies war die letzte Nummer an diesem Abend undder Circusdirektor, der unter der Maske des Clowns steck-te, fragte sich insgeheim, was Revo, der sich »der Traum-fänger« nannte, wohl vorhaben mochte.

Revo beobachtete weiter das Publikum und ent-deckte schließlich drei Zuschauer, die eingeschlafenwaren. Ein Erwachsener und zwei Kinder. Er trat einenwinzigen Schritt nach vorn und … sah sie.

Er sah, wie drei ganz unterschiedliche Träume vor-sichtig durch das tobende Circuszelt schwebten, nach den

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Schläfern Ausschau hielten und wie sich jeder Traum füreinen entschied.

Aufmerksam sah Revo den Träumen zu und betrach-tete ihre Form. Einer war eckig und voller Zacken. Derschwebte zu dem Erwachsenen und schlüpfte durch dasrechte Ohr in dessen Kopf. Der Mann schreckte ein wenighoch, kratzte sich am Ohr und schlief unruhig weiter. Dashatte Revo, der Traumfänger, dem Traum schon an derForm angesehen. Der war sowieso nichts für Aquamarina!

Der zweite Traum war wolkig und voller sanfterFormen. Er war aber nervös und aufgeregt – vielleicht wares noch ein ganz junger Traum – und er fand die Kindernicht. Plötzlich löste er sich auf und war verschwunden.

Der dritte Traum hingegen war für Aquamarinawie geschaffen. Er war groß, rund und dunkelblau.Freundlich schwebte er durch das Cirkus-Zelt und legtesich sanft auf den Kopf eines Mädchens.

Wollte sich legen, muss man sagen, denn der

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Der dritte Traum war fürAquamarina wie geschaffen. Er war groß,rund und dunkelblau. Der Traumfängersprang durch die Manege, packte denTraum so schnell, dass niemand etwasbemerkte und rannte mit ihm auf leichtenSohlen zu Aquamarina.

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Traumfänger sprang durch die Manege, packte den Traumso schnell, dass niemand etwas bemerkte, und rannte mitihm auf leichten Sohlen durch die ganze Circusstadt zumCircuswagen des Direktors. Vor dem Fenster, hinter demAquamarina traumlos schlief, ließ er ihn frei.

Träumen kann man nicht befehlen, zu wem siegehen sollen, aber dieser Traum war so schnell im Fensterverschwunden, dass Revo sicher war, der Traum hattesich für Aquamarina entschieden.

Niemand im Circuszelt hatte Revos Abwesenheitbemerkt. Der Clown zog das Publikum so in seinen Bann,dass sie nur Augen für ihn hatten. Und als der Clown sei-ne Nummer beendete, hielt Revo ihm, als sei nichtsgeschehen, den Vorhang auf.

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Aquamarina saß strahlend am Frühstückstisch. Ihrefjordblauen Augen blitzten, als sie ihren Elternatemlos ihren Traum erzählte:„Ich habe geträumt! Ich habe geträumt, dass ich

allein auf einem Berg saß und über die ganze Welt sehenkonnte. Dann bin ich aufgestanden und war plötzlichmitten in einer Stadt …“

Signora und Signore Basta traten Freudentränen indie Augen. Ihre Tochter konnte wieder träumen! Sie konn-

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ten gar nicht richtig zuhören, was ihnen Aquamarina alleserzählte, so sehr freuten sie sich.

„Ich frage dich nicht, wie du das gemacht hast“,der Circusdirektor umarmte Revo, den Traumfänger.„Ichdanke dir nur, wie ich noch nie jemanden gedankt habe.“

Von nun an stand Revo jeden Abend in glitzernderUniform in der Manege und wartete auf die Träume.Manchmal schlief niemand ein und ein Traum sah nurkurz zum Zelt herein. Revo packte ihn dann nicht. Ein sounreifer Traum, der noch nicht fertig war, schien ihm fürAquamarina nicht passend. Und es gab auch Tage, dageschah es, dass jemand mit offenen Augen träumte,wenn er die Artisten am Trapez sah. So mancher träumtedann, selbst dort oben in der Circuskuppel die waghalsig-sten Kunststücke zu vollführen.

Diese Träume waren die schönsten für Aquama-rina. Sie waren alle wohlgerundet und fein, ohne Ecken

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und Kanten. Wenn Revo einen solchen Traum zu Aqua-marina brachte, einen Traum, in dem sich das Mädchenwiedererkennen konnte, dann dankte sie es ihm am näch-sten Tag mit dem strahlendsten Lächeln, das ihm jegeschenkt wurde.

Mitunter geschah es aber auch, dass es keineTagträumer gab und auch keine Kinder, die einschliefen.Zu Beginn hatte Revo dann manchmal einen eckigen odergezackten Traum zu Aquamarina gebracht. Aber damithatte er bald aufgehört. Sie mochte diese Träume nichtund wachte von ihnen nachts angstvoll und schweiß-gebadet auf.

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Das Gastspiel des Circus Fata Morgana in der klei-nen Stadt näherte sich dem Ende. Der Erfolg warriesengroß gewesen und es gab kaum jemanden,

der sich nicht die Artisten, den Zauberer und dieDompteure angesehen hatte.

In der Nacht vor der Abreise schlief Aquamarinaschlecht. Revo, der Traumfänger, hatte sich bemüht, einenbesonders schönen und leichten Traum einzufangen undihn vorsichtig unter ihr Fenster getragen. Aber als er ihn

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losgelassen hatte, konnte der arme Traum nicht durch dasFenster zu Aquamarina schlüpfen. Verzweifelt suchte derTraum einen Durchgang, drehte und wand sich und löstesich ganz plötzlich mit einem leichten Seufzer auf.

Revo stand traurig vor dem Circuswagen. Er wuss-te, warum der arme Traum sich aufgelöst hatte:Aquamarina wollte ihn nicht. Sie wollte ab jetzt keinenTraum mehr träumen, denn morgen sollte der Circus denOrt verlassen und Revo würde hier bleiben.

Revo stellte sich auf Zehenspitzen und klettertezum Fenster. Er nahm allen Mut zusammen und rief leise:

„Aquamarina, hörst du mich?“Im Fenster tauchte der Kopf des Mädchens auf.

Revo warf ihr eine Kusshand zu. Leider konnte er sich da-bei nicht mehr festhalten und fiel rücklings ins Gras.Aquamarina lachte hell auf.

Revo sprang auf die Beine, zog sich wieder zumFenster empor und flüsterte Aquamarina etwas ins Ohr.

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Sie schlang die Arme um den Hals ihres Traum-fängers und wollte Revo von nun an überhaupt nichtmehr loslassen. Denn, was der Junge ihr ins Ohr flüsterte,war genau, was sie gehofft hatte, von ihm zu hören …

Revo, der Traumfänger wollte Aquamarina nie mehrallein lassen und Aquamarina konnte sich nicht vorstel-len, einen Tag ohne die Träume und ohne ihren Revo zuleben.

So fuhren beide viele Jahre mit dem Circus Fata Mor-gana durch alle Länder der Erde.

In einem Ort in Spanien heiratete Revo, derTraumfänger, seine Aquamarina und er schenkte ihr zurHochzeit einen wunderschönen Traum.

Diesen hatte er schon ein paar Jahre zuvor einge-fangen und es war ihm gelungen, ihn über die ganze Zeitaufzubewahren, ohne dass der Traum etwas von seinerSchönheit eingebüßt hätte.

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Sie schlang ihre Arme umseinen Hals. Was er ihr ins Ohr flü-sterte, war genau, was sie gehoffthatte, von ihm zu hören …

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Das Werk einschließlich aller Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Autors und des Verlages

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1. Auflage Oktober 1999Copyright © 1999 Thomas B. Morgenstern und HannaH-Verlag GmbH & Co. KG

Illustrationen: Jörgen HabedankAlle Rechte vorbehalten

Satz und Einbandgestaltung: HannaH-Verlag

Druck: Digi-Druck BremenPrinted in GermanyISBN 3-931735-09-5