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Michael Nerlich UMBERTO ECO DIE BIOGRAPHIE

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Michael Nerlich

UMBERTO ECODIE BIOGRAPHIE

Inhalt

Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVIII

Kindheit im faschistischen Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Erweckung zum Lesen und religiöse Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

Studium und Promotion an der Universität Turin . . . . . . . . . . . . . . . 26

Zwischen Wissenschaft, Fernsehen, Verlagsarbeit und Kunst . . . . . 37

Eco und die Avantgarde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

Lachen und rationales Engagement: Gruppe 63 und Mai 68 . . . . . . . 61

Journalismus und Kinderbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

Zwischen Philosophie und Belletristik oder Mut zur Vernunft in blutiger Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort . . . . 117

Wie das deutsche Feuilleton einen Aristoteliker „aus dem Bauch heraus“ bekämpft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Das Foucaultsche Pendel oder ein Buch vom Auszug aus dem Piemont. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

Der Sumpf aus dem Berlusconi kam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Die Insel des vorigen Tages oder ein Buch von vielen Autoren über die Ordnung des Universums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

Umberto Eco – politisch-moralische Instanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

Baudolino oder vom piemontesischen Nebel über Paris und Deutschland, Zentrum des Universums, in das gelobte Land des Presbyters Johannes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

VIII Inhalt

Ecos Aufruf zu einem moralischen Referendum und später Beginn eines langsamen Umdenkens im deutschen Feuilleton . . . . . . . . . . 272

Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana oder das Buch vom Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

Vom Hässlichen in der italienischen Politik oder la sua lotta continua . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

Zitatnachweis und Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Bibliographie (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336

Abbildungsnachweis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

Kindheit im faschistischen Italien

Geburt und Familie – 1932, Ecos Geburtsjahr, oder Mussolini, der Mann der göttlichen Vorsehung – Faschismus für Kinder – Umberto Eco Balilla

Geburt und Familie

Dass Umberto Eco zu den berühmtesten lebenden Schriftstellern un-serer Zeit zählt, wird niemand zu bestreiten wagen, und auch daran kann kein Zweifel bestehen, dass Eco nie gezögert hat und immer noch nicht zögert, in der Öffentlichkeit aufzutreten, in den Massen-medien das Wort zu ergreifen und unbefangen und wortgewaltig zu allen brennenden und ihn bewegenden Themen Stellung zu beziehen. Ja, in Italien warten Hunderttausende von Lesern auf Ecos zunächst wöchentliche, inzwischen vierzehntägige politisch-soziologisch-kul-turelle und stets aus aktuellem Anlass verfassten Kommentare, die unter dem Glossen-Titel Bustine di Minerva im römischen Nachrich-tenmagazin L’Espresso erscheinen. Kurz: Eco ist aus dem alltäglichen Bewusstsein der italienischen Zeitgenossen, aber auch der Weltöffent-lichkeit nicht wegzudenken. Umso eindrucksvoller, wie sehr es die-se Persönlichkeit des öffentlich-kulturellen und politischen Lebens verstanden hat, seine Privatsphäre zu wahren und seine deutsch-ita-lienische Familie aus der Klatsch- und Skandalpresse herauszuhalten, was umso bemerkenswerter ist, als nicht selten gerade Menschen, die wie er, einfachen Verhältnissen entstammen, aber zu Ruhm gelangten, der Versuchung nicht widerstehen können, ihr Privatleben in den Massenmedien auszubreiten.

Umberto Eco wird am 5. Januar 1932 als Sohn des dreifachen Kriegsveteranen Giulio Eco, Buchhalter, und dessen Frau Giovanna Bisio, genannt Rita, im piemontesischen Alessan dria, der Stadt des „Borsalino“-Hutes geboren. Giovannas Vater, von Beruf Schneider, war bereits 1918 an der spanischen Grippe gestorben. Giulios Vater war – laut Umberto Eco – ein Findelkind, das von einem Gemeinde-diener nach jesuitischer Tradition den Namen E[x] C[oelo]O[blatus] (vom Himmel geschenkt) erhalten hatte. Von Beruf Buchdrucker und nach seiner Pensionierung Buchbinder, hatte er als Vater von drei-zehn Kindern die Familie kaum über Wasser halten können und war

2 Kindheit im faschistischen Italien

zeitweilig – obwohl (ebenfalls laut Enkel Umberto) Sozialist – auf die Unterstützung durch eine katholische Bruderschaft angewiesen. Giulio und Giovanna hingegen hatten es zu bescheidenem Wohlstand gebracht, was ihnen erlaubte, Umberto und seiner 1935 geborenen Schwester Emilia, genannt Emi, eine materiell weitgehend sorgenfreie Kindheit zu ermöglichen. Da sie von Handwerkern abstammten, sagt Umberto Eco am 15. Dezember 2002 in einem Interview mit Thomas Stauder, waren mein Vater und meine Mutter innerhalb ihrer jewei-ligen Verwandtschaft die erste Generation kleinbürgerlicher Hutträger. Damals spielte der Hut als soziales Unterscheidungskriterium noch eine wichtige Rolle: Nur wer einen Hut trug, war ein Herr oder eine Dame; wer keinen trug, war bloß ein Mann oder eine Frau (G 118).

1932, Ecos Geburtsjahr, oder Mussolini, der Mann der göttlichen Vorsehung

Umberto Ecos Geburtsjahr sieht Benito Mussolini auf dem Höhepunkt seiner Macht. Von den squadre d’azione, den schwarzbehemdeten Schlägertrupps seiner 1919 in Mailand gegründeten Fasci di combati-mento, die sich 1921 zum Partito nazionale fascista (PNF), der Natio-nalen Faschistischen Partei verbinden, an die Macht geputscht, erhält der von Machiavelli, Nietzsche, Vilfredo Pareto, Charles Sorel, Oswald Spengler, Gabriele d’Annunzio inspirierte und von der Idee des Wie-deraufstiegs Roms zur Weltmacht besessene Mussolini am 29. Oktober 1922, dem Tag, da Zehntausende seiner squadre in Rom einmarschie-ren, von König Victor Emmanuel III. den Auftrag, als künftiger Minis-terpräsident ein neues Kabinett zu bilden. Zwar scheint sich Mussolini zunächst an die Spielregeln der liberalen Verfassung von 1848 zu hal-ten, doch während sich der PNF immer neue Satzungen und Organisa-tionsformen gibt, die ihm staatlich-exekutive Funktionen einräumen, werden die parlamentarischen Instanzen, die anderen politischen For-mationen und die Gewerkschaften nach und nach entmachtet, aufge-löst oder für faschistische Zwecke umfunktioniert.

1932 sind die demokratischen Parteien verboten und die Parla-mentswahlen ersetzt durch ein Plebiszit für die Kandidaten des PNF. Die Pressefreiheit ist beseitigt. Radio- und Filmzensur sowie Geheim-polizei kontrollieren öffentliche Meinung und privates Leben. Die Ge-werkschaften sind durch korporatistische Abkommen zwischen dem faschistischen Unternehmerverband und dem faschistischen Syndikat ersetzt. Streiks sind verboten. Missliebige Beamte sind ausgetauscht und alle staatlichen Schlüsselpositionen an Mitglieder des PNF ver-

31932, Ecos Geburtsjahr, oder Mussolini, der Mann der göttlichen Vorsehung

geben. Das Amt des Bürgermeisters ist abgeschafft und ersetzt durch einen vom Staat ernannten Verwalter, den podestà. Aus dem „Minis-terpräsidenten“ Mussolini ist der „capo del governo“, der „Regierungs-chef“ geworden, und die leitende Instanz des PNF, der Große Faschis-tische Rat, der über Minister und Deputierte entscheidet, erhält ein Mitbestimmungsrecht bei allen verfassungsrelevanten Entscheidun-gen einschließlich der Thronfolge des offiziell immer noch monarchi-schen Italiens mit dem König als „Staatschef“. Und am 17. November 1932 verankert der PNF in seinem Statut und in Großbuchstaben die Anrede Mussolinis: DUCE.

Gewiss, da waren Tausende von Faschismus-Gegnern mit Knüp-peln und Rhizinusöl gequält, verwundet oder – wie der sozialistische Abgeordnete Giacomo Matteotti 1924 oder der Linksliberale Piero Gobetti, der 1926 noch nach Paris fliehen konnte, um dort seinen Verletzungen zu erliegen – ermordet worden. Da wurden Tausende unbekannter, aber auch namhafter Italiener, Liberal-Konservative wie Giovanni Amendola, Francesco Nitti, Ernesto Rossi oder Alberto Tar-chiani, Kommunisten wie Palmiro Togliatti oder Giorgio Amendola, Sozialisten wie Giuseppe Saragat, Claudio Treves und Filippo Turati oder Pietro Nenni und sogar Geistliche wie der berühmte Luigi Stur-zo, Gründer des Partito Popolare Italiano, in die Emigration getrieben oder – wie der bedeutendste marxistische Denker Italiens, Antonio Gramsci, oder der konservative Journalist Ernesto Grossi – in Ker-kern oder in confini, der inneritalienischen Verbannung, weggesperrt. Aber das Echo in dem von Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs und sozialen Krisen erschütterten Ausland ist gespalten, hat Mussolini – wegen einiger Wohlfahrtsmaßnahmen, vor allem aber wegen der auf Genie-Kult und Technik-Begeisterung gründenden Moderne-Sympa-thie der faschistischen Bewegung – doch auch in Italien Rückhalt bei namhaften Intellektuellen und Künstlern.

Im April 1925 unterschreiben 400 von ihnen das vom durchaus be-deutenden rechtshegelianischen Philosophen Giovanni Gentile (1875–1944) verfasste Manifest der faschistischen Intellektuellen, in dem Gen-tile seine Theorie vom „reinen Akt“ oder atto puro, dem Denkprozess, der vorgeblich in freier Dialektik und unabhängig von sonstwie Ge-dachtem und materieller Kontingenz das kreativ Neue hervorbringt, auf die faschistische Bewegung überträgt. Der „in das lebendige Gefü-ge des italienischen Volkes“ eingefügte Faschismus, steht im Manifest, sei – „wie jede wahre, d. h. lebendige Idee, welche ihre eigene Kraft ist“– „nicht von den Menschen gemacht“, sondern diese Idee des Fa-schismus – verkörpert im Duce – mache den faschistischen Menschen:

4 Kindheit im faschistischen Italien

„Der Faschismus ist zur gleichen Zeit eine junge und uralte Bewegung des italienischen Geistes“, erklärt Gentile, auf Caesarismus und Rom-Idee sowie auf deren vermeintliche Auferstehung im jugendlichen En-thusiasmus der squadre abhebend, und diese „Bewegung“ müsse sich in Aufopferung für das Gemeinwesen, den Staat als „Tradition“ und „Mis sion“ gleichzeitig verwirklichen. Daraus ergebe sich „der religiö-se Charakter des Faschismus“: „Denn das Vaterland der Faschisten ist […] die Weihe der Traditionen und Einrichtungen, welche in der fließenden Ewigkeit der Überlieferungen die Substanz der Zivilisation sind. Und es ist eine Schule der Unterordnung des Partikularen und Geringeren gegenüber dem Universalen und Unsterblichen, es bedeu-tet Respekt vor Gesetz und Disziplin […].“ Die Lehren dieser „Schu-le“ würden nun von Mussolini umgesetzt, und viele Ausländer hätten „damit begonnen, die öffentliche Ordnung, die heute in Italien regiert, mit Neid zu betrachten“.

Was sollte es da helfen, dass Benedetto Croce (1866–1952), der an-dere große und Gentile durchaus geistesverwandte neo-hegelianische Philosoph der Epoche, eine Antwort verfasste, die am 1. Mai 1925 in Il Mondo erschien und in der er die pathetische Glorifizierung des Fa-schismus durch Gentile als „inkohärentes und bizarres Gemisch von Appellen an die Autorität und von Demagogentum“ und als „chao-tische und unbegreifbare ‚Religion‘“ verurteilte und eine rationale Rückkehr zu demokratisch-liberalen „Ordnungen und Methoden“ einforderte, hatte Croce doch kurz zuvor noch selbst der faschisti-schen Machtergreifung zugestimmt. Gewiss, sein Gegenmanifest wird von Luigi Albertini, Giovanni Amendola, Antonio Banfi, Luigi Ei naudi, Giorgio Levi Della Vida, Attilio Momigliano, Eugenio Mon-tale, Gaetano Salvemini und anderen mehr unterschrieben. Doch diesen Unterschriften stehen die unter dem faschistischen Manifest entgegen: von Curzio Malaparte z. B., Ugo Ojetti, Pirandello, Ardengo Soffici, Ungaretti und von Hunderten mehr wie u. a. – damals war der italienische Faschismus noch nicht offen antisemitisch – der reichen jüdischen Mussolini-Verehrerin Margherita Sarfatti, Verfasserin einer Duce-Biographie, die 1925 zuerst in England erschien und ein Best-seller wurde, und Kunstmäzenin, die die bedeutendsten Avantgarde-künstler um sich sammelte. Dazu gehörten Maler und Architekten, die sich in der von Mario Sironi mitbegründeten Gruppe Novecento (Zwanzigstes Jahrhundert) zusammenfanden, aber auch die Futuristen um Filippo Tommaso Marinetti, der übrigens auch Gentiles Manifest unterzeichnet hatte, Giacomo Ballà, Carlo Carrà, Fortunato Depero, Gerardo Dottori, Julius Evola, Achille Funi, Enrico Prampolini, die

51932, Ecos Geburtsjahr, oder Mussolini, der Mann der göttlichen Vorsehung

„Unabhängigen“ wie Giorgio De Chirico und Giorgio Morandi sowie die Architekten des Movimento Moderno und des Razionalismo Ita-liano wie Giacomo Boni, Adalberto Libera, Marcello Piacentini, Gio Ponti oder Giuseppe Terragni.

1932 jedenfalls triumphieren der Faschismus und Mussolini in der Mostra della Rivoluzione Fascista in Rom, der Ausstellung der Fa-schistischen Revolution, an der leitend Dottori, Libera, Cipriano Efisio Oppo, Prampolini, Sironi und Terragni teilnehmen, alle bis heute an-erkannte Avantgardisten, und im selben Jahr 1932 wird im faschisti-schen Italien ein Festival eröffnet, das bis heute besteht: die Mostra In-ternazionale d’Arte Cinematografica di Venezia, die Filmfestspiele von Venedig, an der im selben Jahr 1932 u. a. Ernst Lubitsch mit Trouble in Paradise und René Clair mit A nous la liberté teilnehmen. Kurz, es ist für die Zeitgenossen in den zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre nicht leicht zu einem Urteil zu kommen, zumal Croce, der in Italien bleibt, auch weiterhin moderate Kritik äußern darf und Genti-les Verweis auf Bewunderung im Ausland durchaus nicht aus der Luft gegriffen ist, woran auch und vor allem die katholische Kirche schuld war, hatte sie doch – zumal nach der Wahl des militant reaktionären Kardinals Ratti zum Papst Pius XI. am 6. Februar 1922 – dem faschis-tischen Regime geradezu rückhaltlose Unterstützung gewährt. In bei-derseitigem Interesse, denn Mussolini war klar, dass er in Italien keine antikatholische Diktatur errichten konnte, und dem Vatikan war klar, dass er keinen engagierteren Bundesgenossen als den PNF und seinen DUCE im Kampf gegen den „Bolschewismus“ finden konnte, wie man damals alle sozialistischen, marxistischen oder auch nur laizistischen Ideen zu nennen pflegte.

Am 11. Februar 1929 fuhr man denn auch die große Ernte ein: für den Vatikan unterschrieben Kardinal Pietro Gasparri und für den italie nischen Staat Mussolini selbst die sogenannten Lateranverträge, mit denen der seit den napoleonischen Kriegen schwelende Streit um den Besitz Roms, Hauptstadt Italiens seit 1870, beendet wurde. Der Va-tikanstaat erhielt politische Souveränität und wurde mit einem Milli-ardenbetrag für die Verluste am übrigen römischen Besitz entschädigt. Im Gegenzug erkannte der Vatikan den offiziellen capo des faschisti-schen Staates, Viktor Emmanuel III., als König Italiens an und erklärte sich bereit, dem Klerus zu verbieten, sich politisch zu betätigen. Der Staat verpflichtete sich seinerseits, kirchliche Eheschließungen zivil-rechtlich anzuerkennen, erhob darüber hinaus den katholischen Glau-ben zur Staatsreligion und vereinbarte, den 1887 abgeschafften obli-gatorischen Religionsunterricht in den Schulen wieder einzuführen.

6 Kindheit im faschistischen Italien

Von da an ist das Regime Mussolinis, den Pius XI. nach Unter-zeichnung der Verträge „den Mann“ nannte, „den uns die Vorsehung“ gesandt hat,* trotz gelegentlicher Differenzen eine vom Vatikan ak-zeptierte faschistische Diktatur mit katholischer Staatsreligion, und Mussolini kann 1932 verkünden: „Im faschistischen Staat gilt die Re-ligion als eine der tiefsten Offenbarungen des Geistes; sie wird daher nicht nur geachtet, sondern auch verteidigt und geschützt.“ Dass dies alles die Verwirrung (nicht nur) im Ausland noch vergrößert und wi-derständige Aktivitäten wie die der – 1929 in Paris von antifaschisti-schen Emigranten um Carlo Rosselli und Nitti gegründeten – Bewe-gung Giustizia e Libertà, Gerechtigkeit und Freiheit, noch schwieriger macht, liegt auf der Hand. Denn dass ein Hitler 1927 in Mein Kampf seine „tiefste Bewunderung für den großen Mann südlich der Alpen“ bekundete, war die eine, logische Seite, dass ein Churchill 1929 von Mussolini als der „Verkörperung des römischen Genius“ und dem „größten Gesetzgeber“ sprechen konnte,** die andere, weniger logi-sche Seite einer Faszination, die verständlich macht, wieso der Bon-ner Romanist Ernst Robert Curtius 1932 in seinem Traktat Deutscher Geist in Gefahr für die Faschisierung Deutschlands nach italie nischem Vorbild plädieren kann. Unter Hinweis darauf, dass Italien in seiner Geschichte „starke Zuströme germanischen Blutes“ empfangen und in seinem „Bildungsideal […] die antike und die eigene nationale Tradi-tion“ bewahrt habe, ruft Curtius, der eine entscheidende Rolle in Ecos geistiger Entwicklung spielen wird, zur Abkehr vom modernen Frank-reich, das diese „Tradition“ verraten habe, und zur Kollaboration mit Mussolinis Italien auf und erklärt: „Seit dem Sieg des Faschismus hat die Romidee eine Renaissance erlebt. […] Je mehr Trennendes sich zwischen Deutschland und Frankreich auftürmt, umso mehr Verbin-dendes taucht zwischen Deutschland und Italien auf.“

Faschismus für Kinder

Ohne der genannten Fakten eingedenk zu sein, ist es unmöglich, Ecos intellektuelle Entwicklung, sein demokratisches Engagement, ja, letzt-lich auch sein literarisches Werk auch nur annähernd zu verstehen. Natürlich könnte man meinen, dass er viel zu jung gewesen sei, als dass jene Zeit von 1932 bis 1944 von größerer Bedeutung für sein wis-senschaftliches und literarisches Schaffen hätte sein können. Das ist jedoch nicht Ecos eigene Meinung, und wer dies – in der Art üblicher Missachtung kindlichen Erfahrens- und Urteilsvermögens, aber na-türlich auch kindlicher Traumata – bezweifelte, den belehrt sein 2004

7Faschismus für Kinder

veröffentlichter fiktiv-autobiographischer Roman Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana eines Besseren, ist eine seiner wichtigsten Dimensionen doch der Suche nach dem vergangenen Ich in der nicht-proustianischen Perspektive des Befragens von Zeugen und vor allem von schriftlichen Zeugnissen aus seiner piemontesischen Kindheit und frühen Jugend gewidmet. Dass Eco, um diese Befragung – spe-ziell der schriftlichen Dokumente aller Art – intensivieren zu kön-nen, nicht nur sein fiktives Parallel-Ich namens Giambattista Bodoni, das er wenige Tage früher als sich selbst im Dezember 1931 in Solara, einem (fiktiven) Ort in den piemontesischen Langhe zur Welt kom-men lässt, zu einem (bedeutenden) Antiquar macht, sondern auch noch mit einem Großvater versieht, der ebenfalls Antiquar gewesen ist und ein Riesenkorpus an Dokumenten und Texten hinterlassen hat, ändert nichts an der Tatsache, dass viele der Bücher, Schulhefte, Manuskripte und Bilder, die jener Bodoni im Roman nach seiner Ver-gangenheit befragt, auch in Ecos Kindheit eine reale Rolle gespielt haben.

Aber zum Verständnis dieser fiktiv-authentischen Befragung der Kindheit und Jugend seines Parallel-Ichs bedarf es noch einer Ergän-zung zur eingangs skizzierten Faschisierung der italienischen Gesell-schaft, trifft diese doch die unschuldigsten und wehrlosesten Opfer am härtesten: die Kinder und Jugendlichen, die – wie in Gentiles Ma-nifest der faschistischen Intellektuellen beispielhaft ausgeführt – im mythisch verbrämten Mittelpunkt der faschistischen Gesellschaftspo-litik standen. Ihre Indoktrination und brutale Integration in eine sich immer mehr militarisierende Gesellschaft fand auf zwei Ebenen statt, die sich bis hin zur totalen Fusion mit einander verbanden: der Schule und der zwangsweisen Eingliederung in die Organisationen der 1926 gegründeten Opera Nazionale Balilla (O.N.B.), des Nationalen Jugend-werks, das sich „Balilla“ nach dem Spitznamen eines Jugendlichen nannte, der 1746 in Genua den Aufstand gegen die Habsburgischen Besatzungstruppen ausgelöst haben soll. Diese Organisation (ab 1937 umbenannt in Gioventù Italiana del Littorio – die Italienische Jugend vom Liktorenbündel: nach dem Emblem des Faschismus ) war – für die männliche Jugend – aufgeteilt in die Altersgruppen der 8- bis 14-Jäh-rigen, die Balilla, der 14- bis 18-Jährigen, die Avanguardisti (bzw. seit 1933 auch, mit Alterseinstieg von 7 Jahren, Balilla Moschettieri – Balil-la-Musketiere) und der 18- bis 21-Jährigen, die Giovani fascisti – Jung-faschisten genannt wurden. Zu diesen Gruppen traten an der Universi-tät seit 1927 die faschistischen Studentenschaften und in Kindergärten und Grundschulen seit 1933 die – in Erinnerung an Romulus und Re-

8 Kindheit im faschistischen Italien

mus, die mythologischen Gründer Roms, bzw. an die Wölfin, die sie gesäugt hatte – sogenannten Figli della Lupa, die Wolfssöhne. Das wa-ren Kindertruppen, denen man zunächst mit sechs, dann bereits mit vier Jahren beitreten konnte und später musste, um unter der Devise Glauben, gehorchen und kämpfen das erste Schwarzhemd und einen Fez (später auch eine blaue Krawatte) zu tragen, den faschistischen „Römergruß“ sowie faschistisch-patriotische Gesänge zu lernen und in der Folge bewaffnet zu werden.

Giovanni Gentiles Name ist auch mit dieser ideologischen Gleich-schaltung der Kinder und Jugendlichen unrühmlich verbunden. Als Unterrichtsminister des faschistischen Regimes zeichnete er 1923 ver-antwortlich für eine Schulreform, die von Mussolini „die faschistischs-te aller Reformen“ genannt wurde. Sie war es insofern, als sie – unter Beibehaltung eines eher konservativen Literatur- und Fächerkanons – strukturell jede weitergehende ideologische Anpassung ermöglich-te. Das betraf zum einen den Religionsunterricht, zum anderen die immer intensiver werdende Infiltration mit faschistischer Ideologie selbst über das Nationale Jugendwerk Balilla, dem zunächst die kör-perliche Ausbildung im Sportunterricht übertragen wurde. Nach und nach wurde sie aber auch über Begleit-Zeremonien wie Fahnenappelle, gemeinsames Absingen faschistischer Lieder und speziell der Partei-hymne Giovinezza in allen anderen Bereichen praktiziert. Seit dem Ende der zwanziger Jahre wurde jegliche Zurückhaltung aufgegeben. War bis dahin die Indoktrination über erläuternde Kommentare der Lehrer erfolgt, was durchaus Formen des Widerstands möglich mach-te, hielt sie nun Einzug in die Schulbücher selbst bis hin zur Einfüh-rung der Staatlichen Einheitstexte, und die Lehrer, die 1931 zum Eid auf den Staat und zum Eintritt in den PNF gezwungen wurden und zum Unterricht uniformiert oder zumindest schwarz-behemdet an-treten mussten, hatten nun kaum mehr Möglichkeiten, andere Dimen-sionen des Denkens als die durch Manuale wie die Nozioni di cultura fascista vorgegebenen auch nur anzudeuten. Sie hatten die faschisti-sche Ideologie direkt zu vermitteln, wobei vor allem der DUCE-Kult, die Verherrlichung der Faschistischen Partei und ihrer „heroisch-jugendlichen“ Kämpfer aus der squadra-Zeit, der Rom-Mythos und der Marsch auf Rom im Mittelpunkt standen: „Der italienische Staat verlangt, dass sich die Schule an den Idealen des Faschismus orientiert [und] die italienische Jugend auf allen ihren Stufen und in allen ihren Unterrichtsfächern zum Verständnis des Faschismus erzieht, damit sie sich im Faschismus erneuert und in dem geschichtlichen Bewusst-sein lebt, das der Faschismus geschaffen hat.“, hatte Mussolini 1925

9Faschismus für Kinder

verkündet, und 1934 wurde dies der neuen Schulreform als Prämisse vorangestellt.*

Im selben Jahr 1934 kommt es zur ersten Begegnung zwischen Hit-ler und Mussolini, womit die deutsch-italienische Annäherung be-ginnt, in Kooperationen überzugehen. Diese werden zwar vom Staats-sekretariat für Propaganda (ab 1937 Ministero della Cultura Popolare, genannt MinCulPop) seit der Ausrufung der „Achse Rom-Berlin“ am 1. November 1936 bis zum Abschluss des sogenannten „Stahlpakts“ (mit wechselseitiger Beistandspflicht im Kriegsfall) am 22. Mai 1939 als Erfolge des Mussolini-Regimes ausgegeben, bilden in gewisser Weise auch einen Schutzwall, hinter dem Mussolini seine kolonialis-tischen Abenteuer unternehmen kann, stürzen Italien aber in Wahr-heit in tiefe Abhängigkeit von Nazi-Deutschland und beschleunigen damit das Ende des faschistischen Regimes in Italien. Der größen-wahnsinnige Mussolini missachtet alle Warnsignale. Im Oktober 1935 lässt er seine Truppen in Äthiopien einmarschieren. Am 9. Mai 1936 wird Italien zum Italienischen Reich Ostafrika und Viktor Emma-nuel III. zum Kaiser von Äthiopien ernannt. Im Jahr danach entsen-det Mussolini Truppen nach Spanien, die aufseiten der falangistischen Franco-Truppen gegen die spanische Republik kämpfen sollen, dort aber u. a. in der Schlacht von Guadalajara Niederlagen gegen die repu-blikanischen spanischen Truppen im Verbund mit italienischen An-tifaschisten erleiden. Das aber hält Mussolini keineswegs von weite-ren katastrophalen Abenteuern in Afrika, aber auch in Albanien und Griechenland ab. Diese werden, in Ausführung der Befehle, die sie von den Erziehungsministern Cesare Maria Del Vecchi (1935–36), dem die italienische Schule ein neues Schulfach, die cultura militare verdankte, und Giuseppe Bottai (1936–1943) erhalten, den Kindern und Jugend-lichen im Schulunterricht nahezu täglich so wie die Kampfeinsätze der Schwarzhemden im Spanischen Bürgerkrieg in Wort und Bild als militärische Triumphe verkauft. Dabei radikalisieren sich auch hier Tonart und Bildstil, ist es den Italienern doch seit 1937 verboten, sich mit Farbigen aus den Kolonien zu verheiraten, und 1938 wird einmal mehr ein faschistisches Manifest vorgelegt, das sogenannte Manifest der Rasse, das von vielen Intellektuellen wie Francesco Biondolil-lo, Mediävist und Dante-Spezialist, Amintore Fanfani, dem großen Christdemokraten der Nachkriegszeit, Agostino Gemelli, Arzt, Psy-chologe, Franziskanerpater, 1920 Gründer der Università Cattolica del Santo Cuore in Mailand, oder Giovanni Guareschi, dem Verfasser der Don Camillo und Peppone-Romane unterschrieben ist. 1938 treten denn auch die Faschistischen Rassegesetze in Kraft, die jüdische Lehrer

10 Kindheit im faschistischen Italien

und Schüler vom Unterricht ausschließen, Schulbücher, die von jüdi-schen Autoren verfasst wurden, verbieten und später Tausende Itali-ener – wie Primo Levi – in die Vernichtungslager der Nazis schicken werden. Sie schlagen sich auch im letzten faschistischen Schulreform-Programm nieder, das am 15. Februar 1939 verabschiedet wird und bereits den Einsatz moderner Massenmedien wie des – damals noch unerschwinglichen – Radios vorsieht. Ihm zufolge soll der Unterricht nun auch „von den ewigen Werten der italienischen Rasse und Zivili-sation“ bestimmt sein, und in der Tat rechtfertigen die Schulmanuale die italienische Kolonialpolitik als zivilisatorische Hilfe für primiti-ve Völker mit der angeblichen Überlegenheit der italienisch-arischen Rasse.

Damit ist der Höhepunkt der Faschisierung von Schule und Jugend-politik erreicht und gleichzeitig überschritten, denn das faschistische Italien verschwindet im Chaos des Zweiten Weltkriegs. Die afrikani-schen Kolonien gehen trotz deutschen Beistands verloren, und nach der Landung der Alliierten in Sizilien und den ersten Bombardierun-gen Roms erinnert sich der Gran Consiglio an seine statutarischen Rechte und zwingt Mussolini am 25. Juli 1943 zum Rücktritt. Er wird verhaftet, und die Regierungsgeschäfte gehen an Generalmarschall Pietro Badoglio über, der den PNF auflöst und nach kurzer Schamfrist in Waffenstillstandsverhandlungen mit den Alliierten tritt, während der größte Teil Italiens noch von der deutschen Wehrmacht besetzt ist und die Bevölkerung Hunger leidet. Doch während das von allen antifaschistischen Kräften gebildete Komitee zur Nationalen Befreiung gegründet und die Resistenza zur Massenbewegung wird, erfolgt der Theatercoup: Mussolini wird am 12. September 1943 von einem SS-Kommando aus dem Gefängnis befreit und darf als Chef eines Mari-o nettenstaats mit Namen Repubblica Sociale Italiana (auch nach der Phantomhauptstadt Republik von Salò genannt) im – von den deut-schen Truppen besetzten – Norditalien, wo die Resistenza immer grö-ßere Erfolge erzielt, noch eineinhalb Jahre mit den Nazis kooperieren, die immer noch Tausende italienischer Bürger jüdischen Glaubens aus den besetzten Gebieten deportieren. Am 27. April 1945 aber ist der fa-schistische Spuk definitiv zu Ende. Mussolini versucht, in die Schweiz zu flüchten, wird aber mit seiner Geliebten Clara Petacci in Dongo am Comer See von Partisanen festgenommen und am folgenden Tag hingerichtet.

11Umberto Eco Balilla

Umberto Eco Balilla

Beim Zusammenbruch des faschistischen Regimes, das seit 1943 eher verächtlich „il ventennio“ genannt wurde, „die Zwei Jahrzehnte“, be-findet sich Eco in Nizza Monferrato, einem Dorf dreiunddreißig Ki-lometer südwestlich von Alessandria, im hügeligen Weinanbaugebiet zwischen den Flüssen Po und Tànaro, wohin seine Mutter mit den Kindern vor den Bombardierungen der Stadt geflüchtet war und wo sie unter großen Anstrengungen bei den Bauern etwas Mehl und biswei-len auch ein halbes Kaninchen beschaffte. Dort bot sich dem Jungen, wie Eco am 15. Dezember 2002 im Gespräch mit Thomas Stauder berichtet (G 119), der Krieg aus drei verschiedenen Blickwinkeln dar: Erstens, aus dem eines bloßen Zuschauers aus der Distanz, der von den Ereignissen aus der Zeitung oder dem Radio erfuhr. Zweitens, aus dem des Opfers; mir ist noch eine Nacht der Bombardierung Alessandrias in Erinnerung, während derer die Geschosse aus den Luftabwehrge-schützen fehlgeleitet in eine Straße in meiner Nähe fielen […]. Drittens, als Beobachter des Partisanenkriegs, den Eco auf dem Land im Monfer-rato miterleben konnte.

Wie weit er sich damals bereits von der faschistischen Indoktrina-tion hatte freimachen können, ist schwer zu entscheiden. Zwar erklärt Eco in einem anderen Interview mit Marie-Françoise Leclère, er habe die Ereignisse von 1943 bis 1945 und speziell die Handlungen der Resistenza mit der Luzidität eines Dreißigjährigen erlebt, aber als er Stauder das Interview gibt, sitzt er an der Königin Loana und versucht (man könnte sagen: verzweifelt) darauf eine Antwort zu geben… wenn auch per Befragung der Dokumente durch sein Analogie-Ich Giam-battista Bodoni. Und mit diesem teilt er Kindheit und Jugend bis hin zur Identität, denn so wie Giambattista war auch Umberto zwangs-weise der kindlich-jugendlichen Faschisierung unterworfen gewesen: da ich 1932 geboren wurde, durchlief ich die damals üblichen Stationen faschistischer Erziehung: ‚Figlio della Lupa‘, ‚Balilla‘, ‚Balilla Moschet-tiere‘. Elfeinhalb Jahre sei er gewesen, als 1943 die Diktatur nach der Verhaftung Mussolinis in Süditalien zu Ende ging, aber im Norden Italiens, in der Republik von Salò war der Faschismus […] weiter mi-litärisch und propagandistisch präsent. Das heißt, dass die Kinder in Norditalien im Gegensatz zu jenen jungen Männern, die bereits un-ter dem Faschismus ihr Studium begonnen hatten und in der Über-gangszeit immerhin den Mussolini-Kritiker Benedetto Croce oder auch Karl Marx hatten lesen können, weiter der faschistischen Propaganda ausgesetzt waren und daher weitgehend unvorbereitet den Übergang

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in eine demokratische Gesellschaft vollziehen mussten, während sich aus der relativen Freiheit des Denkens für die Studenten in der Über-gangszeit erkläre, warum aus ihnen später sowohl Kommunistenführer als auch Soldaten der Republik von Salò hervorgingen, obwohl sie alle in den Gruppi Universitarii Fascisti organisiert gewesen waren. Wie auch immer: nur die Tatsache, dass viele der Jungen den Faschismus innerlich und äußerlich unbeschadet überstanden hatten, könne erklä-ren, dass nicht wenige Vertreter seiner Generation […] trotz einer tota-litären Erziehung zu […] überzeugten Demokraten wurden (G, S. 118).

Allerdings sind die Traumata enorm und der Blick auf die Kind-heit im Faschismus ebenso faszinierend wie schmerzhaft, wie die von Eco in die Königin Loana investierte Arbeit beweist. Sein Lehrer in der Grundschule sei, so erinnert er sich im Gespräch mit Stauder, ein glühender Faschist gewesen, der 1922 an Mussolinis Marcia su Roma teilgenommen hatte und der die Kinder ohrfeigte, wenn sie ihre Haus-aufgaben nicht gemacht hatten. Dass dies nur die Kinder aus den nied-rigeren Schichten erdulden mussten und den anderen (wie Eco selbst) erspart blieb, ist die eine Seite der Erinnerungen, die andere aber das Eingeständnis, dass der junge Umberto selbst trotz oder wegen die-ses Lehrers zu einem begeisterten Mussolini-Anhänger geworden war. Das ist insofern nicht überraschend, als spätestens seit seiner Einschu-lung 1937 die volle Balilla-Walze über ihn hinweggerollt war, und so ist nur zu verständlich, dass er auf die Frage eines anderen Intervie-wers, Alberto Sinigaglia, welches die Texte seien, die ihn am tiefsten beeinflusst hätten, im Mai 2007 die faschistischen Schulbücher nennt. Er erinnere sich noch immer, wie er Seite für Seite sein Lesebuch für die erste Klasse betrachtet habe, die Fibel, die für alle kleinen Italiener Pflicht war, die Bodoni in der Königin Loana vorstellt und in der die Kinder nicht nur den schwachsinnigen, von Gabriele D’Annunzio zum ersten Mal lancierten Kampfschrei „Eja Eja Alalà“ kennenlernen durf-ten, der zusammen mit dem Heilsschrei „Für Mussolini“ als Refrain in die faschistische Hymne Giovinezza aufgenommen worden war, son-dern auch die Symbolik des faschistischen Liktorenbündels. Im Mit-telpunkt freilich stand die Verherrlichung der „Figli della Lupa“ und der „Balilla“: Zuerst eine Seite mit einem Jungen in Uniform […] ‚Mario ist ein Mann‘, stand darunter. Dann ein Text über die ‚Söhne der Wöl-fin‘ […]: ‚[…] Guglielmo zieht die schöne neue Uniform an, die Uniform eines Figlio della Lupa. ‚Papi, auch ich bin ein kleiner Soldat des Duce, nicht wahr? Ich werde ein Balilla sein, ich werde die Standarte tragen, ich werde einen Karabiner haben, ich werde ein Vorkämpfer sein. Ich möchte auch die Übungen machen wie die richtigen Soldaten, ich möch-

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te der tapferste von allen sein, ich möchte mir viele Orden verdienen …‘ Gleich darauf eine Seite, die an die Drucke aus Epinal erinnerte, aber es waren […] die Uniformen der faschistischen Jugendorganisationen […] Um den Laut gl zu lehren, brachte die Fibel als Beispiele gagliardet-to, battaglia, mitraglia – Standarte, Schlacht, Maschinengewehr. Für sechsjährige Kinder (KL 202–203).

Um in den indoktrinierten Kindern keine Zweifel aufkommen zu lassen, war – wie Eco in der Königin Loana berichtet – in den Schul-büchern, die in den folgenden Jahren ediert wurden, das zeitgleiche Kriegsgeschehen ausgeblendet, denn es gehörte sich nicht, in Schulle-sebüchern von den Widrigkeiten des Krieges zu sprechen, und so wich man der Gegenwart aus, um die Ruhmestaten der Vergangenheit zu preisen (206). Dazu gehörten die italienischen Waffentaten des Ersten Weltkriegs, oder Berichte über die faschistischen Kolonisierungen, die als Erfolge ausgegeben wurden, obwohl die Armee längst auf dem Rückmarsch war: Da wir Ostafrika erst Ende 1941 völlig verlieren soll-ten, als dieses Lesebuch schon längst eingeführt war, kommentiert Eco/Bodoni die Edition für die vierte Klasse von 1940–41, taten sich darin noch unsere stolzen Kolonialtruppen hervor, und was ich in einer Ab-bildung sah, war ein somalischer Dubat in seiner schönen […] Uniform, passend zu den Kostümen der Eingeborenen, die wir dort zivilisierten […] Aber Somalia war bereits im Februar 1941 in die Hände der Eng-länder gefallen […] Wußte ich das, während ich las? (206–207)

Diese Frage, die immer wieder aufgeworfen wird, kann keine defi-nitive Antwort finden, auch wenn ihretwegen die Königin Loana ge-schrieben wurde, und es ist keine ausschließlich aus der Romanlogik erwachsene Frage, auf die nur der Protagonist Bodoni keine Antwort zu geben wüsste. Sie zwingt sich vielmehr aus der Logik der realen Geschichte auch dem Individuum Eco auf, der dieser Indoktrination als Balilla ausgesetzt war und seit 1938 auch den brutalsten Rassis-mus und Antisemitismus über sich ergehen lassen musste, denn das Lesebuch der fünften Klasse z. B. bot nicht nur dem fiktiven Bodoni, sondern auch dem wirklichen Eco eine Betrachtung über die Rassen-unterschiede, mit einem Abschnitt über die Juden und die Aufmerksam-keit, die man diesem perfiden Stamm widmen müsse, der, ‚nachdem er sich raffiniert unter die Arier gemischt hat … die nordischen Völker mit einem neuen Geist des Krämertums und der Gewinnsucht verseucht‘ (208).

Die Frage ist selbst dann nicht restlos beantwortet, als Eco bis an die Grenzen der Gewissheit gelangt zu sein scheint, weil z. B. eins der Schulbücher ihn wahrscheinlich trotz versuchter propagandistischer

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Ablenkung durchaus realistisch mit dem schwierigsten aller Themen vertraut gemacht habe, wie Eco im Gespräch mit Sinigaglia, ausführt: mit dem Sterben: Als tapfere Balilla waren wir in jener Zeit dazu erzo-gen, die Vaterlandsliebe als Blutzoll aufzufassen […] im Lesebuch der fünften Klasse hatte ich eine Geschichte mit dem Titel ‚Loma Valente‘ gelesen. Es handelte sich um eine heroische Episode aus dem Spanischen Bürgerkrieg: ein Bataillon der ‚Schwarzen Pfeile‘* stürmt eine Anhöhe, und eine der Abteilungen wird von Valente, einem dunkelhaarigen Ath-leten von vierundzwanzig Jahren geführt, der daheim Literatur studier-te und Gedichte schrieb […] und der sich als Freiwilliger nach Spanien gemeldet hat […] Die Geschichte beschreibt die verschiedenen Phasen dieses heroischen Unternehmens […] Die Roten** […] feuern aus allen Rohren […] Valente ist fast oben angelangt, als ihm ein harter Schlag gegen die Stirn die Ohren mit schrecklichem Lärm füllt: ‚Dann tiefs-te Dunkelheit. Valente liegt mit dem Gesicht auf dem Gras […] Das Auge des Helden […] erblickt zwei oder drei Grashalme, dick wie Pfähle […] was heißt das: sterben? Es ist das Wort, das uns gewöhnlich Angst macht. Jetzt, da er stirbt, und es weiß, fühlt er weder heiß noch kalt noch Schmerz.‘ Er weiß nur, dass er seine Pflicht getan hat […] Diese weni-gen Seiten, fügt Eco hinzu, haben mir zum ersten Mal vom wirklichen Sterben erzählt und mir gezeigt, dass dies nichts Heroisches ist, welche Anstrengungen der Autor auch immer unternehmen wollte. Diese Bil-der von den pfahlgroßen Grashalmen […] hatten mich dermaßen beein-druckt, dass ich mich immer wieder […] mit dem Gesicht nach unten auf Gras gelegt habe, um jene Pfähle zu sehen.

Dies ist ein authentisches Kindheitserlebnis Umberto Ecos, und es ist fast wörtlich so, als Erlebnis Giambattista Bodonis, in der Königin Loana erzählt, wo es Eco dazu dient, Bodoni erneut die Frage aufwer-fen zu lassen, die Ecos eigene Frage ist: ob er zu dieser Zeit bereits begonnen hatte, sich vom Faschismus abzuwenden. Eco/Bodoni mo-bilisiert noch ein anderes Dokument aus jener Zeit, um die Antwort zu finden: die Geschichte von einem zerbrochenen Glas, das die Mutter als unzerbrechlich erstanden hatte, einen Erlebnisaufsatz vom Dezem-ber 1942, der in der Tat auch aus der Feder des kindlichen Umber-to*** stammt und den Eco/Bodoni am Ende des 20. Jahrhunderts sehr metaphorisch als Parabel auf den Verlust des Glaubens an den Duce interpretieren möchte: Es war eine der ersten Geschichten, die wirklich von mir waren, nicht die Wiederholung angelesener Klischees […] In jenen Scherben, die da […] wie Perlen schimmerten, zelebrierte ich […] mein vanitas vanitatum und bekannte mich zu einem kosmischen Pes-simismus (236).

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Tat Eco/Bodoni dies wirklich? Er vermutet es. Er möchte es vermu-ten. Aber ein Zweifel bleibt, denn nur neun Monate zuvor hatte seine Duce-Begeisterung einen makabren Höhepunkt erreicht. Und dies ist erneut ein authentisches Ereignis aus dem Leben des Schülers Eco, das Eingang in den Roman von der Königin Loana gefunden hat. Mit zehn Jahren jedenfalls hatte der kleine Balilla namens Umberto Eco einen Aufsatzwettbewerb gewonnen und war dafür ausgezeichnet worden. In diesem Aufsatz hatte er seinen ganzen Enthusiasmus für den Duce zusammengefasst, für den er sterben wollte, und diese Episode wird ebenfalls in der Königin Loana erinnert. Ja, mehr noch: der gesamte Text wird dokumentiert als Aufsatz, wieder aufgefunden von Eco/Bo-doni in einem Heft aus der fünften Klasse, 1942, Jahr XX der Faschisti-schen Ära (230). Natürlich kann man nicht mit Sicherheit sagen, dass es der Text aus dem Jahr 1942 ist, der in der Königin Loana abgedruckt ist, aber dass der zehnjährige Eco einen solchen Text verfasst hat, ist sicher, und selbst wenn er im Roman Retouchen welcher Art auch im-mer angebracht hätte, dürfte er korrekt wiedergeben, was das Kind von damals empfunden hatte: Schon immer war mein dringlichster Ge-danke: Wenn ich einmal groß bin, werde ich Soldat. Und jetzt, da ich aus dem Radio von den unzähligen Heldentaten […] unserer tapferen Soldaten erfahre, ist dieser Wunsch noch unbändiger in meinem Her-zen geworden und keine menschliche Kraft wird ihn daraus vertreiben können. Jawohl! Ich werde Soldat sein, ich werde kämpfen, und wenn Italien es will, werde ich sterben für seine neue, heroische, heilige Kul-tur, die der Welt Wohlstand bringen wird und die nach Gottes Willen in Italien Wirklichkeit geworden ist. Jawohl! Die fröhlichen […] Balilla werden als Erwachsene zu Löwen werden […] Und mit der belebenden Einnerung an die vergangenen Ruhmes taten […] und mit der Hoffnung auf die zukünftigen, vollbracht von den Balilla, die heute noch Kinder und morgen Soldaten sind, geht Italien weiter seinen glorreichen Gang der geflügelten Siegesgöttin entgegen (231).