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V-5lrttf e3iirdirr3rituiig WIRTSCHAFT
241-023Samstüg/Sonntag, 17./18. Oktober 1998 Nr. 241 23
Ein moderner Vertreter der MoralphilosophieZur Verleihung des Wirtschafts-Nobelpreises an Amartya Sen
Von Gebhard Kirchgässner*
Am Mittwoch dieser Woche ist der diesjährige Nobelpreis ßir Wirtschaftswissenschaften demInder Amartya K. Sen zuerkannt worden. Imfolgenden würdigt Prof. Gebhard Kirchgässner das
wissenschaftliche Werk dieses bedeutenden eigenständigen Denkers. (Red.)
Der indische Nationalökonom Amartya K. Sen,
der heute am Trinity College in Cambridge (Eng-land) lehrt, erhält in diesem Jahr f ür seine Bei-träge zur Wohlfahrtsökonomie den Preis ßir Wirt-schaftswissenschaften in Erinnerung an AlfredNobel. Damit würdigt das Nobel-Komitee seineBeiträge zur ökonomie, die von der axiomati-schen Theorie gesellschaftlicher Entscheidungen
über Definitionen der Wohlfahrt und Armutsindi-katoren bis hin zu empirischen Untersuchungen
von Hungersnöten reichen. Mit ihm erhält einWissenschafter diesen Preis, der strenges ökono-misches Denken mit heute in der Disziplin eherungewöhnlichen Fragestellungen verbindet, diezudem politisch und gesellschaftlich ausser-ordentlich relevant sind.
Freiheit ist nicht immer effizientDas wissenschaftliche Werk von Sen ist nicht
nur sehr umfangreich, es weist auch eine enormeSpannbreite auf. Zunächst wurde er vor allemdurch seine formalen Analysen gesellschaftlicherEntscheidungen bekannt. Die zentrale Frage da-bei ist, welchen Bedingungen (demokratische) ge-
sellschaftliche Entscheidungsverfahren genügen
können. Sen brachte in diese Diskussion dieDimension individueller Rechte ein. Sein wohlbedeutendstes Resultat dazu ist das sogenannteliberale Paradox: Sen hat gezeigt, dass indivi-duelle Freiheitsrechte zu ökonomischer Ineffi-zienz führen können. Werden individuelle Rechtezugelassen, so ist mit Ineffizienzen zu rechnen.Peter Bernholz (Universität Basel) hat zwar dar-auf hingewiesen, dass dies nur gilt, wenn externe
* Der Autor ist Professor für Volkswirtschaftslehre an derUniversität St. Gallen.
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NZZ-l
Effekte vorliegen, aber gerade dann sind indivi-duelle Freiheitsrechte zentral: Wenn jemand -vereinfacht gesagt - etwas tun darf, obwohl es sei-nem Nachbarn nicht gefällt und dieser ihn darannicht hindern kann. Dieser mögliche Konfliktwurde von Sen etwa zur gleichen Zeit aufgezeigt,
in der der amerikanische Philosoph John Rawls inseiner Theorie der Gerechtigkeit den Vorrang derFreiheit in diesem Konflikt postuliert hat. Sen da-gegen hält, auch wenn er sehr starkes Gewicht aufdie liberalen Freiheitsrechte legt, dennoch daranfest, dass die Ausübung solcher Rechte immerauch am Ergebnis ßir andere gemessen werdenmuss. Einen absoluten Vorrang von Rechten, wieihn z. B. Robert Nozick postuliert, lehnt er ab.
Bei der Analyse gesellschaftlicher Entschei-dungsverfahren wird üblicherweise davon ausge-gangen, dass keine interpersonellen Nutzen-vergleiche möglich sind. Diese weitgehend unbe-strittene Annahme schränkt die Möglichkeit vonAussagen erheblich ein. Gleichzeitig aber, unddarauf hat Sen hingewiesen, stellen wir zumindestbei ethischen Analysen häufig implizit solche Ver-gleiche an. Dabei sieht Sen als entscheidend fürdas Wohlergehen der einzelnen Individuen vorallem deren Möglichkeiten (capabilities) an, ausdenen sie auswählen können, und weniger denaktuellen Nutzen der Individuen.
Hunger, Armut und Verteilung
Von der Frage nach der Vergleichbarkeit indivi-dueller Nutzen (und damit auch individuellerSchicksale) zur Frage nach der Erfassung vonWohlfahrt bzw. Armut in einer Gesellschaft ist esdann nur noch ein kleiner, aber wichtiger Schritt.Sen ist ihn gegangen und hat zu beiden BereichenWesentliches beigetragen. Die üblichen Armuts-definitionen fragen nur nach dem Anteil derjeni-gen in einer Gesellschaft, deren Einkommenunterhalb einer definierten Armutsgrenze (z. B.40% des Durchschnittseinkommens) liegt. DasProblem solcher Definitionen ist, dass sie Verän-derungen innerhalb der Gruppe der Armen nichterfassen. Sen hat eine axiomatische Basis ßireinen Armutsindikator geliefert, der solche Verän-derungen berücksichtigt. Wohlfahrtsindikatorenberuhen ferner typischerweise nur auf Durch-schnittsgrössen, z. B. dem häufig verwendetenrealen Bruttoinlandprodukt pro Kopf, und blen-den somit Verteilungsaspekte völlig aus. Auchhier hat Sen eine Alternative vorgeschlagen. BeideVorschläge haben weitere Forschungen auf die-sem Gebiet ausgelöst und werden auch auf prak-tische Probleme angewendet.
Sen, der bis heute indischer Staatsbürger ist,hat sich aber nicht auf formale Analysen be-schränkt, er hat auch ganz konkret die Armut inunserer Welt analysiert. So hat er in einer be-rühmten Studie Hungersnöte wie jene in Bangla-
desh im Jahr 1974 untersucht. Dabei hat er ge-zeigt, dass es nicht nur Lebensmittelknappheitensind, die zu Hungersnöten führen, sondern dassandere, politische bzw. gesellschaftliche Bedingun-gen hinzukommen müssen. So treten etwa - unter
sonst gleichen Bedingungen - Hungersnöte inDiktaturen häufiger auf als in Demokratien.
Zentral für das Denken von Sen ist die Ver-knüpfung der ökonomie mit der politischen bzw.der Moralphilosophie. Diese zieht sich durch seingesamtes Schaffen. Dabei hat er sich auch mit denGrundlagen der Wirtschaftswissenschaften kri-tisch auseinandergesetzt. In seinem berühmtenAufsatz über den «rationalen Clown» (rationalfool) zeigt er, dass individuelle Nutzenmaximie-rung, wie sie als Annahme der traditionellenmikroökonomischen Theorie zugrunde liegt, zugeradezu bizarrem Verhalten führen würde.(Diese traditionelle Theorie findet sich heuteallerdings vor allem in Lehrbüchern; auf die
Ein Weltbürger
G. K. Amartya K. Sen wurde am 3. November1933 in Santiniketan im indischen BundesstaatBengalen geboren. Er studierte zunüchst am Presi-dency College in Kalkutta und anschliessend amTrinity College in Cambridge, wo er im Jahr 1959seinen Ph. D. ablegte. Von 1963 bis 1971 war erProfessor für Volkswirtschaftslehre an der Univer-sität Delhi, von 1971 bis 1977 an der LondonSchool of Economics und von 1977 bis 1988 lehrteer an der Universität Oxford. 1988 ging er an dieHarvard Universität. Zu Beginn dieses Jahreskehrte er von Cambridge (Mass.) nach Cambridge(England) ans Trinity College zurück, wo einstseine internationale wissenschaftliche Karriere be-gonnen hatte. Von den zahlreichen Ehrungen, dieihm neben etwa 30 Ehrendoktoraten (darunter imJahr 1994 auch von der Universität Zürich) bisherzuteil wurden, seien nur 4 erwähnt: Er war 1984
Präsident der Econometric Society, 1994 Präsidentder American Economic Association, er ist seit1988 Ehren-Vizepräsident der Royal EconomicAssociation und seit 1989 Ehrenpräsident derInternational Economic Association.
moderne Weiterentwicklung und besonders diedarauf basierende Neue Institutionenökonomiktrifft diese Kritik dagegen nur sehr bedingt zu.)
Sen fragt auch nach der ethischen Qualität desMarktes sowie nach Kriterien, nach denen diesezu beurteilen sei. Dabei mündet seine Unter-suchung in ein schwaches Lob des Marktes -nichts weniger, aber auch nicht viel mehr.
Mit dieser philosophisch-kritischen Haltung
steht Sen in der Tradition der schottischen Moral-philosophen, aber in auffallendem Gegensatz zum«Mainstream» der Wirtschaftswissenschaften(und auch zu fast allen Nobelpreisträgem derletzten Jahre), wo solche Fragen nur wenig be-handelt werden. Der liberalen Ideologie setzt ereine kritische Analyse der Auswirkungen desMarktsystems entgegen, die auch die Schatten-seiten erkennt und nicht in «mehr Markt» dasHeilmittel für (fast) alle heutigen wirtschaftlichensowie sozialen Probleme sieht. Den linken Kriti-kern des Marktsystems hält er nicht nur dessenLeistungen entgegen, sondern er zeigt vor allem,wie eine kritische Analyse der heutigen wirtschaft-lichen Situation sich des Instrumentariums dermodernen (bürgerlichen) Ökonomie bedienenkann. Er benutzt dazu genauso die formale theo-retische wie die empirische Analyse, und er bringtbeides in den von ihm geführten Diskurs zwi-schen Ökonomie und Philosophie ein. Sen standschon lange auf der Liste derjenigen, die Nobel-preis-verdächtig waren, und er hat diesen Preisganz ohne Zweifel verdient.
Klarer Budget-Sieg für Präsident ClintonRückfall des Kongresses in die alte Ausgabenfreudigkeit?
Cls. Washington, 16. Oktober
Mit 16 Tagen Verspätung hat sich die republi-kanische Kongressführung mit dem Weissen Hausauf ein 1700 Mrd. $ schweres Budget für dasFiskaljahr 1999 geeinigt, das bereits am 1. Okto-ber begonnen hat. In zähen Verhandlungen galtes, alle noch offenen Ausgabenpositionen in einsogenanntes Omnibus-Gesetz im Volumen vonrund 500 Mrd. $ zu packen. Nur 5 der 13 regulä-
ren Zuweisungsgesetze für die ungebundenenStaatsausgaben (etwa zwei Drittel des Haushaltssind durch Leistungsgesetze gebunden) hattenPräsident Clintons Schreibtisch rechtzeitig er-reicht. Der Grossteil der Regierungsgeschäfte
musste seit Anfang Monat mit einem Notfinan-zierungsgesetz weitergeführt werden, das am Frei-tag zum viertenmal verlängert wurde, weil derKongress erst am Dienstag über das Omnibus-Gesetz abstimmen will.
Gescheiterte Steuersenkungspläne
Die republikanische Führung hat unter grösster
Zeitnot in einen «Budget deal» eingewilligt, dereinen klaren Sieg für Clinton darstellt. ZahlreicheLieblingsprogramme des Präsidenten und derDemokraten im Bereich Erziehung, Umwelt undSoziales wurden grosszügig mit zusätzlichen Mil-liardenbeträgen dotiert. Auf der andern Seitekonnten allerdings auch die Republikaner einekräftige Erhöhung des Militärhaushalts, die erstereale Aufstockung seit 1985, durchsetzen. Nichterfolgreich waren die Republikaner mit ihrenSteuersenkungsplänen. Statt Steuererleichterun-gen (unter anderem für Ehepaare mit zwei Ein-kommen) im Volumen von 180 Mrd. S (über zehnJahre) sind jetzt nur marginale Steuerabzugs-möglichkeiten vorgesehen, die über zehn Jahreweniger als 10 Mrd. S kosten dürften. Das um-fangreichere Paket war im Senat auf Widerstandgestossen, und Clinton hatte ein Veto angedeutet.
Sowohl Republikaner wie Demokraten bean-spruchten wichtige Punktesiege, und von beiden
Seiten wurde das vereinbarte Paket als gut fürAmerika dargestellt. Dies wird aber sowohl vonKritikern innerhalb des Kongresses wie auch vonaussenstehenden Beobachtern füglich bezweifelt.In mancher Hinsicht sind die im historischenBudget- Kompromiss vom Sommer 1997 fest-gelegten Ausgabenrichtlinien mit dem Ausbaudiverser Programme deutlich überschritten wor-den. Zwar hat die Administration gewisse Einspa-rungen an anderer Stelle vorgeschlagen, die aberkaum ausreichen. Die Ausgabendisziplin hatjedenfalls wieder nachgelassen. Mit dem Haus-haltgesetz dürften ausserdem - mit Blick auf diebevorstehenden Kongresswahlen unvermeidlich -noch zahlreiche grössere und kleinere Gefälligkei-
ten - «pork-barrel spending» - in Form soge-
nannter Riders durchgedrückt werden, die jetztnoch gar nicht übersehbar sind. Die Abweichung
vom vereinbarten Sparkurs lässt nichts Gutesahnen und relativiert die bisher über Erwartengrossen Konsolidierungserfolge sowie ClintonsVersprechen, sämtliche anfallenden Haushalt-überschüsse f ür die Sanierung der Altersversiche-rung beiseite zu legen. Der letztjährige Über-schuss von schätzungsweise 70 Mrd. S dürfte imneuen Budget weitgehend verbraucht werden.
Aufatmen beim Währungsfonds
Aufschnaufen kann der Internationale Wäh-rungsfonds (IMF), sind doch im Rahmen derHaushaltplanung nun die vollen Finanzbeiträge
der USA in Höhe von 17,9 Mrd. S bewilligt wor-den. Die Beiträge sind an eine Reihe von Bedin-gungen geknüpft: Der IMF muss seine Kredit-politik modifizieren und sein Geschäftsgebarentransparenter machen. Das Treasury musste zu-sichern, für die Durchführung der Reformen zusorgen. Zu diesem Behuf wird im Schatzamt einberatender Ausschuss gebildet. Der Kongress
selbst will auch einen Ausschuss einrichten, derdem IMF auf die Finger schauen soll.
(Weiterer Bericht im Auslandteil)
Verunsicherndes FedDer Entscheid der amerikanischen Noten-
bank vom Donnerstag, die Leitzinsen blossrund zwei Wochen nach der letzten Reduk-tion bereits wieder um einen Viertelprozent-punkt zu senken, ist nur zum Teil über-raschend gekommen. Dass das Fed früheroder später weiter lockern würde, war näm-lich sehr wohl erwartet worden, zumal derZinsschritt vom September allgemein als zugering taxiert worden war. Kaum jemandrechnete dagegen mit dem jetzigen Zeit-punkt. Noch letzte Woche hatte Alan Green-span in einer Rede vor der National Associa-tion of Business Economists betont, die USAseien trotz gewissen Verlangsamungstenden-
zen weit weg von einer Kreditverknappung,
einem sogenannten Credit crunch, und dieheimische Wirtschaft sei gesund und von be-trächtlicher Dynamik geprägt.
Wenn nun so kurz nach einer solchen Dia-gnose die Lockerungspolitik fortgesetzt wird,lässt dies im wesentlichen zwei Interpretatio-nen zu. Die a l l es in allem wohl angenehmerewäre, dass Greenspan und sein Team haupt-sächlich auf die Entwicklung an den Finanz-märkten schielen und versuchen, die vondort ausgehenden Rezessionsängste mittelseines Zinssignals - viel mehr ist es nicht - zubrechen. Dazu passt das überraschendeTiming, das fast etwas «populistisch» wirkt,weil es zwar kurzfristig den Effekt der Zins-senkung verstärken kann, längerfristig jedochkeine Nachhaltigkeit entfaltet.
Besorgniserregender wäre eine zweiteDeutung. Sie lautet, das Fed verbreite zwarnach aussen hin Gelassenheit, sei aber in Tatund Wahrheit über die konjunkturelle Ent-wicklung nicht nur weltweit, sondern auch inden USA, so besorgt, dass es sich zu einersolchen Feuerwehraktion veranlasst sehe.Diese Analyse findet an den Märkten, ver-stärkt durch jüngste Konjunkturdaten, eini-gen Widerhall. Damit konnte sich jedoch derZinsschritt als Bumerang erweisen, indem erzwar Geld verbilligt, aber gleichzeitig zueiniger Verunsicherung führt, nach demMotto: Was weiss das Fed noch alles, was esnicht sagt? Eher irritierend wirkt im übrigen
auch die Salamitaktik des Fed; sie nährt dieErwartung einer nächsten Mini-Senkung vielstärker als deutlichere Anpassungen, die dasGefühl von Endgültigkeit verbreiten.
Mit seinem Entscheid setzt das Fed aberauch die europäischen Notenbanken zuneh-mend unter Zugzwang, ihrerseits die Zinsenzu senken. Eine zu starke Zinsdifferenzkonnte nämlich in Europa zu einem Aufwer-tungsdruck und damit zu einer Belastung fürdie Exportindustrie führen. Das Szenariokennt die Schweiz mittlerweile zur Genüge;
auch sie könnte sich einer konzertierteneuropäischen Aktion sicher nicht entziehen.Da jedoch gemäss allen relevanten Indikato-ren in Europa vorerst keine konjunkturelleNotwendigkeit für Zinssenkungen besteht,droht bei einem Nachziehen etwa der Deut-schen Bundesbank der Aufbau eines mittel-fristigen Inflationspotentials. Das erinnert andie Lage nach dem Börsenkrach von 1987,
als von den Notenbanken ebenfalls zuvielLiquidität bereitgestellt wurde - jedenfallsim Rückblick betrachtet. So vermag denn derFed-Entscheid nur zu überzeugen, wenn ihmein grosser konjunktureller Pessimismus zu-grunde gelegt wird und wenn sich dieser Pes-simismus als gerechtfertigt erweisen sollte.Und das wäre keine erfreuliche Perspektive.
G.S.
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Neue Zürcher Zeitung vom 17.10.1998