verstreutes - tu dortmund · cy twombly. beide werke hatte die kunst-kritik längst zueinander in...
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Randnoten zu Brice Marden, Olav Christopher Jenssen,
Jürgen Partenheimer, Ulrich Erben, Gerhard Richter, zum Atlas
und zum Dortmunder U im Ruhrgebiet
VERSTREUTESüber Kunst und Bildung
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Seit 1998 ließ der Konzeptkünstler On Kawara in seinem Projekt »Pure Conscious-ness« sieben Bilder, die er vom 1. bis 7. Januar 1997 gemalt hatte, in Kindergärten aufhän-gen, verstreut über alle Kontinente. Jedem dieser Tage hatte er eine Leinwand gewid-met, auf die lediglich das Datum gemalt war: ein künstlerischer Bürostempel. Die Gemälde, die zu seinen »Date Paintings« gehören, wur-den den Kindern nicht erklärt. On Kawara schrieb: »This exhibition is not educational.« Nach einigen Tagen verschwanden sie wie-der. Der Künstler entwickelte auf diese Weise temporäre und offene Resonanzräume seiner Werke. Welche Wirkungen sie erreichten oder welche Funktionen sie erhielten, wusste er nicht. Ihm war lediglich bekannt, dass Kin-der im Vorschulalter ein Bewusstsein für Zeit entwickeln und anfangen, sie zu planen. Das Projekt ist ein Spiel des Umgangs mit Bildern an einem Ort, der viele Möglichkeiten zulässt. On Kawara geht davon aus, dass seine Kunst dort einen Effekt oder ein Echo haben kann. Dieses Echo ist ein Bildungsraum.
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UNGESCHÜTTELTE BÄUME
Während meiner Arbeit an der Technischen Universität Dortmund sind die Aufsätze ent-standen, die in diesem Buch zum ersten Mal veröffentlicht werden oder die ich so grund-legend überarbeitet habe, dass sie neu gele-sen werden können: Das Schreiben und Prü-fen von Forschungsperspektiven sind immer auch eine Re-Vision im Prozess. In diesen Texten habe ich mich verstreut mit Künstlern und Orten beschäftigt, die für meine Arbeit wichtig waren, aber in den meisten Fällen nie einen Platz in einer Publikation fanden. Bei der Durchsicht meiner Notizen, die ich als Randnoten in Büchern, Katalogen und auf Zetteln angelegt hatte, fiel mir auf, dass es in diesen Aufsätzen immer wieder um die Frage ging, was Kunstwerke auslösen und was in ihrer Vermittlung geschieht, was also ihr Echo ist und wie es sich gestaltet. Heute nenne ich dieses Echo semiotische Praxis. Als ich diese Texte neu ordnete und bearbei-tete, deren Entstehung in vielen Fällen lange zurückliegt, stellte ich fest, dass ebenfalls lite-rarische und wissenschaftliche Werke diese
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diesem Wühlen in Prousts Werk entdeckte ich eine Spur zu den »Schriftschaustücken« von Cy Twombly. Beide Werke hatte die Kunst-kritik längst zueinander in Beziehung gesetzt. Meine Spur wurde zu einem Rätsel, das erst Stefan Zweifel in seiner Rekonstruktion des Romanteils über »Das Flimmern des Herzens« formulierte. Sind es die grafischen Setzungen, die Roman und Bild verbinden: neue Anfänge in Wort- und Bildzeichen, auf einem Skript verteilt, Streichungen, Anmerkungen, Fort-führungen, von denen in den Zeichnungen Twomblys nur noch der Versuch übrig bleibt, als ob er zeigen wollte, wie ein künstlerisches Werk entsteht? Es ist hier nicht der Ort, die sehr komplexe Geschichte der Entstehung dieses Romans nachzuerzählen. Aus meiner Sicht gehört sie zu den aufregenden Ereignis-sen der europäischen Literaturgeschichte, die man sich in einen Aufmerksamkeitskalender für künftige Lesereisen eintragen kann, die im Netz heute gut nachzuvollziehen sind und dort anschaulich werden.
Was mich interessiert, sind die Entstehung die-ses Buchs und die Arbeitsweise von Proust. Er brachte durch fortwährende Korrekturen der ersten Druckfahnen (der sog. »placards«) die Buchsetzer in viele Verlegenheiten. Proust kor-rigierte immer wieder, indem er neue Sätze in bereits gesetzte Seiten klebte oder Nacht für Nacht neue Sätze fand, die er als Zettel in seine Skripte einfügte (die sogenannten »paperoles«): ein work in progress, ebenso ein Baustelle, wie ich meinen Umgang mit den Bild-Karten empfand und wie er ganz natürlich für künstlerische Bauarbeiter ist, die bei jedem Arbeitsschritt nach einer besse-ren Lösung suchen. Die konzeptuelle Nähe der Arbeitsweise von Marcel Proust zu dem »Atlas« von Aby Warburg sprang mir ins Auge, arbeiteten der Kunstwissenschaftler und der Schriftsteller mit einer vergleichbaren Methode in völlig unterschiedlichen medialen
Skripten. Sie ergänzten den Status eines Werk- abschnitts durch Streichungen, Ergänzungen und Fortführungen auf der Suche nach einer Werkaussage, der eine in Text-, der andere in Bildräumen. Ich erfahre zunächst beim Blät-tern der Manuskripte in den Archiven und in Faksimiles, dass manche Werkprozesse nicht enden, wie in der Malerei offenbar auch. Es gibt künstlerische Strukturen, die sich wie die Arbeitsweise von Proust lesen lassen: als neue Startpunkte, Variationen von Vorhandenem und als Veränderungen im Lauf der Zeit. So sieht man heute auch das Gesamtwerk von Peter Handke. Als sein Roman »Obstdiebin« im Jahr 2017 erschien, sah man das Buch als Fortsetzung einer unendlichen Schreib-geschichte mit all ihren Figuren, Motiven und Landschaften. Vielleicht müsste man einmal versuchen, unter diesem Blickwinkel künstleri-sche Werke zu inspizieren: als Diskurse über das eigene Werk. Das Oeuvre von Brice Mar-den wäre ein gutes Beispiel für eine solche Betrachtung. Mich interessiert diese Methode der »Unvollendung«: aus den eigenen Ent-würfen zu lernen, sie zu verändern, zu erpro-ben. Ich kann mir gut vorstellen, dass dies ein wichtiger Aspekt der künstlerischen Bildung wäre.
Diskurse über das eigene Werk sind Skizzen- und Arbeitsbücher immer. Notizhefte von Künstler*innen zeigen das Wachsen eines Werkzusammenhangs mit Entwürfen, Verwer-fungen, Beiblättern, Zahlenreihen und Gekrit-zel. Reizvoll ist der Gedanke, dieses Netz-werk als ein offenes Feld stehen zu lassen, gewissermaßen als »Feldbuch«, das Peter Handke bei der Kartografie seiner Texträume benutzt. Kein Entwurf soll verloren gehen: Das »Feldbuch« wird auf diese Weise zum Gegen-stand künstlerischer Handlungsintelligenz, ein Ort des Suchens und Findens, ein Lernort also.
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»Sicheren Schritts auf dem schmalen Grat zwischen Wissenschaft und Kunst zu wandeln – geschenkt; schwungvoll über das Seil zu tanzen, den Stab locker über den Schultern – vergiss es; mit freiem Blick da oben zu flanie-ren – nicht der Rede wert. Sich auf dem Seil zu lümmeln, als wäre es der raue Boden, das wäre die Kunst.« Hoch oben auf dem Draht-seil sieht die Wirklichkeit ganz anders aus. Der Philosoph Martin Seel sieht unsere Posi-tion zwischen Wissenschaft und Kunst sehr pragmatisch – kein sicherer Schritt, wenig Schwung oder vermeintliche Lockerheit, statt-dessen »lümmeln« wir uns herum? Es ist sicher das Spiel, das die Kunstpädagogik auszeich-net, zwischen den gebundenen Ansprüchen der Kultur und unvorhersehbaren Ansprüchen ihrer Teilhabe einen Weg zur Kunstvermitt-lung zu finden. Der Ort der Kunstvermittlung ist nicht die Schule allein: Der Kunstunterricht öffnet sich gegenüber anderen Fächern und in die Umgebungsräume der Schule hinein. Er nutzt die kulturellen Ressourcen, die es in den Umgebungsräumen gibt: Museen, historische
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EMSCHERPANORAMA
Orte und Prozesse, kulturelle und künstleri-sche Initiativen, die immer zahlreicher werden und in denen Künstler wie Künstlerinnen neue Arbeitsräume finden: Die aktuelle Kunst geht in die Stadt und Region hinein (wie die docu-menta und die Skulptur Projekte es in Athen, Kassel und Münster im Jahr 2017 zeigten). Von der Stadt lernen!
Die Kunstpädagogik fragt danach, was Kin-der und Jugendliche in ihren Schulen aufgrund eines Lehrplans und in ihrem Lebensumfeld erfahren, so dass sie die Kultur verhandeln und gestalten können, in der sie sich bewegen. Sie untersucht, über welche Voraussetzungen sie verfügen, um in Lernprozesse einsteigen zu können, welche Kompetenzen sie erreichen sollen und wofür sie sinnvoll sind. Man wird daran denken, Kinder und Jugendliche indivi-duell zu fördern, und man wird die Heteroge-nität und Diversität einer Lerngruppe in einer sich verändernden Gesellschaft berücksichti-gen. Im Kontext ihrer Lebensräume wird man danach fragen, welche Kompetenzen sie an
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mehr gibt? Wolfgang Ullrich folgt dem Zugriff des Musikwissenschaftlers Holger Noltze, der der Kunstvermittlung eine »Leichtigkeitslüge« vorwirft: Sie vereinfache das, was in der Tat schwer zu haben ist.
Allerdings gibt es heute Veränderungen im Verständnis des institutionellen Umgangs mit Kunst, die das gesamte kommunikationsdy-namische Verhältnis von Künstler*innen, Aus-stellungsmacher*innen und Besucher*innen neu bewerten: ein grundsätzlicher Paradig-menwechsel in den Kunstinstitutionen. Man entdeckt wieder die Auftraggeber*innen von Kunst, oder Künstler*innen kontextuali-sieren ihre Produktionen und legen sogar die Gruppe von Betrachter*innen konkret fest, für die ein Kunstwerk Sinn machen soll. Kura-tor*innen, die unter Umständen selbst im Auf-trag von kunstexternen Institutionen handeln, beauftragen künstlerische Arbeiten (wie etwa
die Emschergenossenschaft die Emscher-kunst-Ausstellungen trägt). Architekt*innen beauftragen Künstler*innen und integrieren ihre Kunstwerke in die Gebäudeplanung (wie dies für das Gemälde »Moby Dick« von Julian Schnabel im Frankfurter Opern-turm geschah). Künstler*innen entwickeln Projekte für die Bewohner eines Stadtteils. Solche Werke haben neben der Festlegung ihrer Zielgruppe einen genauen Ortsbezug. Diese neuen Skripte des institutionellen Bild-umgangs stehen in einem krassen Gegensatz zu jenen Ausstellungskonzepten, die ich seit den 1970er-Jahren kennengelernt hatte und die unser Kunst- und Ausstellungsverständ-nis, mithin auch die Museumspädagogik beeinflussten. Gemeint sind Ausstellungen, in denen der Kurator – wie in der documenta 5, in »When Attitude becomes Form« und wie in den folgenden Projekten von Harald Szeemann – eine Autorenschaft über die Idee von Werkpräsentationen übernimmt, in denen die Künstler*innen unter Umständen sogar
zurücktreten oder ihre Autorenschaft mit dem Kurator teilen. Dieses Handlungsmodell prägt bis heute viele Ausstellungen, trotz der aktu-ellen Veränderungen des kommunikativen Gefüges im Umgang mit Kunst.
Diese Veränderungen geschehen bei einer gleichzeitigen Diskussion über neue Ansprü-che an das Museum und an andere kulturelle Institutionen. Diese Veränderungen betreffen die Grenzen zwischen High und Low (also zwischen Kunst und Alltagskultur) und zwi-schen Rezeption und Produktion von künst-lerischen Prozessen. Stefan Heidenreich hat schon vor vielen Jahren den Einbezug von alltagsästhetischen Praxisformen in die Muse-umsarbeit gefordert, und Hanno Rauterberg spricht neben vielen anderen Fachleuten von der Möglichkeit, das Museum als einen Ort der Produktion zu verstehen. Stellt sich eine kulturelle Institution in einer Stadt oder in einer Region neu auf oder passt sie sich den neuen Erwartungen an, kommt sie an einer Abwä-gung dieser Debatte nicht vorbei. Man erkennt die Veränderungen in neuen musealen Maß-
nahmen: Man führt neue Beschriftungen und Erläuterungen von Kunstwerken ein, und man ermöglicht den Besuchern und Besucherinnen eine eigene kuratorische Tätigkeit. Sie können in digitaler Form Ausstellungen konzipieren oder Texte zu Kunstwerken schreiben. Das Historische Museum in Frankfurt bietet tiefen- strukturelle Partizipationen an: Besucher*in-nen arbeiten als Forschungsgruppen in »Stadt-laboren« und können sich meinungsbildend in die Museumsarbeit einbringen. Im Museum Ostwall (Dortmund) ist es sogar möglich, dass sie eigene Bilder in die Ausstellungsräume tra-gen. Noch viel dringlicher sind diese Überle-gungen, wenn sich eine kulturelle Institution absichtsvoll breit aufstellt, wie dies im »Zent-rum für Kunst und Kreativität« im Dortmunder U der Fall ist, das 2010 eröffnet wurde, also relativ jung ist. Dieses Haus hat die Chance, zu einem innovativen Ort des Umgangs mit künstlerischen Prozessen zu werden, denn es verbindet unter einem Dach einen Teil der Kunstsammlung der Stadt Dortmund, die Pra-xis der »Kulturellen Bildung«, die Präsenz der Dortmunder Hochschulen als Forschungsin-stitutionen und Bildungsorte, den Hardware Medienkunstverein, ein Kino und eine Bib-
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»Von Sperlonga an die Emscher«: das Bild-Panorama der Werk-Bögen (Stand: 2019)