vi. dimensionen der technik - pop-sheet-music.com€¦ · digitale bibliothek band 97: theodor w....

24
|VI Der Antagonismus der Mahlerschen Technik als der von wiederholungsfeindlicher Fülle hier, dicht zusam- mengewachsener, sich fortbewegender Totalität dort betrifft nicht nur die Form im engeren Sinn der suk- zessiven Komplexe, sondern durchzieht alle komposi- torischen Dimensionen. Denn eine jegliche nutzt Mahler gleichermaßen zur Realisierung aus; sein Werk ist Vorstufe des integralen Kunstwerks. Sie stützen einander, eine hilft über Schwächen der ande- ren hinweg. Paul Bekker hat die Trivialität des Hauptthemas des später großartig sich aufschwingen- den und erfüllenden Andantes aus der Sechsten Sym- phonie bemängelt; vielleicht allzu spröde gegen den trübselig innigen Ton der Kindertotenlieder in jener Melodie. Doch mochte ihre ohrenfällige Gesanglich- keit Mahler selbst nicht befriedigen. Er hat darum das zehntaktige Thema metrisch so disponiert, daß sich Ambivalenzen zwischen Phrasenenden und -anfängen ergaben. Die Wiederholung des Anfangsgedankens fällt anstatt auf eins auf drei, also einen relativ schwa- chen Taktteil; metrische Irregularität ist die Mitgift, welche die volksliedhaften Melodien der symphoni- schen Prosa einbringen. In dem kunstvollen Scherzo der Vierten verschieben die Schwerpunkte einer 10747 GS 13, 253 VI Dimensionen der Technik 10746 Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Upload: phamtram

Post on 23-Jul-2018

214 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

|VI

Der Antagonismus der Mahlerschen Technik als dervon wiederholungsfeindlicher Fülle hier, dicht zusam-mengewachsener, sich fortbewegender Totalität dortbetrifft nicht nur die Form im engeren Sinn der suk-zessiven Komplexe, sondern durchzieht alle komposi-torischen Dimensionen. Denn eine jegliche nutztMahler gleichermaßen zur Realisierung aus; seinWerk ist Vorstufe des integralen Kunstwerks. Siestützen einander, eine hilft über Schwächen der ande-ren hinweg. Paul Bekker hat die Trivialität desHauptthemas des später großartig sich aufschwingen-den und erfüllenden Andantes aus der Sechsten Sym-phonie bemängelt; vielleicht allzu spröde gegen dentrübselig innigen Ton der Kindertotenlieder in jenerMelodie. Doch mochte ihre ohrenfällige Gesanglich-keit Mahler selbst nicht befriedigen. Er hat darum daszehntaktige Thema metrisch so disponiert, daß sichAmbivalenzen zwischen Phrasenenden und -anfängenergaben. Die Wiederholung des Anfangsgedankensfällt anstatt auf eins auf drei, also einen relativ schwa-chen Taktteil; metrische Irregularität ist die Mitgift,welche die volksliedhaften Melodien der symphoni-schen Prosa einbringen. In dem kunstvollen Scherzoder Vierten verschieben die Schwerpunkte einer

10747

GS 13, 253VI Dimensionen der Technik10746

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 2: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik istein zartes und bevorzugtes Mittel seiner Varianten-technik. Mit ständigen Vergrößerungen und Verklei-nerungen bewahrt er auf agogisch einfachste Weiseein melodisch Identisches ungeschmälert und modifi-ziert es doch. Die Kindertotenlieder sind besondersreich an derlei Bildungen. Dank solcher Veranstaltun-gen verlieren Mahlers Themen die Spur des Banalen,die, wer Lust hat, an manchen Intervallfolgen rügenkönnte; meist isoliert der Begriff der Banalität beiMahler rechthaberisch einzelne Dimensionen, blinddagegen, daß bei ihm nur deren Verhältnis zueinanderund keine singuläre den Charakter, die ›Originalität‹definiert. Daß die Mahlersche |Verfahrungsweisedurch ihre Mehrdimensionalität dem Vorwurf des Ba-nalen entrückt ist, besagt nichts gegen die Existenzbanaler Elemente und gegen ihre Funktion in derKonstruktion des Ganzen. Was den banalen Musik-stoffen durch kompositorische Künste wie die metri-schen widerfährt, ist eben jene Brechung, welche dasBanale dem Kunstwerk einfügt, das dabei doch seinerals eines Agens eigenen Wesens, sogar als eines Un-mittelbaren im musikalischen Zusammenhang bedarf.Auch die Kategorie des Banalen bei Mahler ist dyna-misch: es erscheint, um paralysiert zu werden, ohne indem kompositorischen Prozeß ohne Rest unterzuge-hen. Jener ist die disziplinierende Gegenkraft, prä-

10748

GS 13, 254VI Dimensionen der Technik10747

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 3: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

gnant Mahlers ›Technik‹. Sorge für die Realisierungkonkretisiert sich der Fülle gegenüber im Postulat derDeutlichkeit in allen Schichten. So genau hat dergroße Dirigent seine Pappenheimer, die Orchester undauch die anderen Kapellmeister, gekannt, daß er allenUnsinn, den sie aus Schlamperei, mangelndem Ver-ständnis, Zeitnot oder unterm Druck der Klangmateriebegehen, voraussah. Die Vortragsbezeichnungenebenso wie viele Eigentümlichkeiten der Instrumenta-tion in den reifen Werken sind Schutzmaßnahmengegen die Interpreten. Der kommende Bruch zwischender Musik selbst und ihrer adäquaten Wiedergabewird von jener verzeichnet: Mahler hat versucht, nar-rensicher zu komponieren. Es bestätigt seine Weisheitnicht weniger als die der Fischpredigt, daß genau dieFehler, die er verhindern wollte, immer wieder begeg-nen; daß etwa die Prominenzen immer wieder dorteilen, wo die Partitur sie davor warnt. Sorge um rich-tige Wiedergabe ist zu einem Kanon der Kompositiongeworden. So komponieren, daß die Aufführung esnicht zerstören kann, virtuell also diese bereits ab-schaffen, heißt zugleich: in sich ganz deutlich, eindeu-tig komponieren. Weil nichts verschwimmen darf,wird wie bei Berg die romanhafte Fülle prüfenderÖkonomie untergeordnet. Maximale Wirkungen er-reicht Mahler mit einem Minimum an Mitteln. Schonin seinem exzessivsten Werk, der Dritten, klingt eine

10749

GS 13, 254VI Dimensionen der Technik10748

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 4: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

Wendung im Menuett, als ginge ein Riesenschauerdurch die Musik2, ohne daß doch das Tutti bemühtwäre; es genügt der solistische Klang des Menuett-komplexes. Instrumental ist die Wirkung vorher ver-miedenen Details zuzuschreiben wie dem Eintritt dervier Hörner, |dem akkordischen Einsatz der Harfe unddem einfachen Forte in den Streichern. Zum erstenMal gelangen die Geigen ganz in den Vordergrund, sodaß die Komposition einen Augenblick lang voll nachaußen sich kehrt, während sie bis dahin vegetativ vorsich hin spielte. Den wahren Grund des Effekts aberdürfte, wie den eines jeden, der mehr ist als bloß Ef-fekt, die Komposition selbst enthalten, den sehr hellenVorhaltsklang a-e-h-d-g und den darauf folgendenkleinen Dominantnonenakkord. Mahlers typischeSetzweise, die Dreiteilung in Melodie, Nebenstim-menkomplexe und Baß; der Hang zu einer durch Ver-dopplungen und Akkordkopplungen überblendetenDreistimmigkeit, so unähnlich dem üblichen Bild vonOrchesterpolyphonie, möchte die sukzessive Fülledurch einfache Präsentation des Gleichzeitigen aufhel-len. Von der Fünften Symphonie an wird, vermögeder Technik der motivischen Verknüpfung, dann auchder Satz reicher und dichter. Die zunehmende Integration des MahlerschenKompositionsverfahrens setzt nicht, wie vielfach nachihm, die Substantialität der einzelnen Dimensionen

10750

GS 13, 255VI Dimensionen der Technik10749

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 5: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

herab, sondern verleiht ihnen erst recht Relief; rück-wirkend kräftigt das Ganze die Momente, die es her-vorbrachten. Beim frühen Mahler hatte die Harmonikzwar ihre Eigenheiten, war aber noch kein autonomesMedium. Nur wo andere Elemente, wie Melodik undMetrik, sich spezifizieren, bereichern sie die Harmo-nik mit dissonanten Brechungen und Stufen. Schon inder Dritten Symphonie gibt es, wie dann im Trauer-marsch der Fünften, feurig-flüssige Akkorde, derenKomplexität in sich lebt; so ziemlich früh in der Ein-leitung3. Eine rezitativische Stimme der Bässe kolli-diert mit der eigentlichen Harmonie; wann immer dasgeschieht, kommen weiterhin in der Dritten unregel-mäßige Klänge zustande4. Im Konflikt zwischen lie-genden Harmonien und emanzipierten Einzelstimmenwird, wie dann in der neuen Musik, der vertikaleKlang durch den Kontrapunkt gezeitigt. Auf dasschönste Beispiel der Interdependenz von Melodikund Harmonik beim jungen Mahler hat Alban Bergaufmerksam gemacht, jenen Mittelsatz des Mädchensin ›Der Schildwache Nachtlied‹, wo ein Bogen mitweiten Intervallen und die zwischen Geradtaktigkeitund Ungeradtaktigkeit alternierende Rhythmik sichspiegeln in körperhaft tiefen |Akkordfortschreitungenund Klängen wie jenem, der die Noten c-h-dis-fis-dzusammenstoßen läßt5, ohne daß er, aus der Stimm-führung deduziert, zum Flecken in der harmonischen

10751

GS 13, 256VI Dimensionen der Technik10750

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 6: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

Textur würde; nicht minder schön ist die Variantedazu in der Coda, die in völlig veränderten Akkordenden Dissonanzcharakter festhält und am Ende auchmit einer schärfer dissonanten Umschreibung des Do-minantseptimakkords von B-Dur – einem d anstelleeines c – ins Weite sich auftut6. Beim reifen Mahlerwerden solche harmonischen Funde häufiger. DurchPerspektive modellieren sie die Form. So erreichendie Harmonisierungen der zweiten Themen der erstenSätze der Sechsten und vor allem der Siebenten Tie-fenwirkungen, welche die Themen über den bloßenEinfall hinaus als Momente des Gesamtverlaufs be-stimmen; dabei wird die Harmonik selbst herzbre-chend wie ehedem nur manchmal bei Schubert. Derartharmonisiert Mahler vor allem Eckpunkte, Themen-scharniere, wo die Harmonisierung eine dritte Dimen-sion aufreißt, die das zweidimensionale Wesen derMelodieflächen im Vordergrund aufs symphonischeGesamtvolumen bezieht. Die einst verwegenen Klän-ge solcher Stellen zumal in der Siebenten7 habenmittlerweile sich eingebürgert bis hinunter zu Ge-brauchskomponisten von Balletten und zur Unterhal-tungsmusik. Bei Mahler aber würzen sie nicht, son-dern verdeutlichen, als auskomponierte Stufen, denSinn, den melodischen erst, dann den Fluß der Form.Solche Zweckmäßigkeit wächst ihrer Schönheit selbstzu und hält sie jung wie die sinnverwandten Fortissi-

10752

GS 13, 256VI Dimensionen der Technik10751

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 7: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

moakkorde auf dem Höhepunkt des letzten Orchester-stücks aus Schönbergs op. 16. Freie und dissonanteHarmonisierung veranlaßt in der Siebenten auch dieLinie zu großen und dissonierenden Intervallen; un-vergleichlich an Bergs Lieblingsstelle aus der zweitenNachtmusik, einer trübsinnig zärtlichen Passage, wel-che die Sologeige, die zweiten Geigen und die Solo-bratsche einander abnehmen8, als ob sie Akkorde ent-blätterten; derlei Wechselwirkungen von Vertikaleund Horizontale sind anachronistisch modern, ohnedaß bis heute die Moderne ihresgleichen hätte.

Wie Mahlers Harmonik hat sein Kontrapunkt sich ander dichteren symphonischen Textur gekräftigt. Mah-ler hat ihm erst in der |Vierten sein Augenmerk zuge-wandt, um ihn dann in der Fünften und später alskompositorische Dimension ganz einzubeziehen. Sel-ten freilich kontrapunktiert er durch ganze Sätze hin-durch; meist nur Abschnitte, die er eben dadurch cha-rakterisiert. Sein erster Satz von nachhaltigem poly-phonen Anspruch, der zweite der Fünften Symphonie,behandelt kontrastierend die langen Einschübe ausdem ersten Satz weiterhin homophon, als ob derDruck des Ineinander gefügter Musik ihr unerträglichwürde bis zum Zerreißen. Durchkontrapunktiert istdafür der folgende Satz, das große Scherzo. Das wir-belnd bewegte Stück, ein zur Symphonie vergrößerter

10753

GS 13, 257VI Dimensionen der Technik10752

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 8: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

Walzer, hat seine große Zäsur9, den Augenblick derSuspension. Aber das jäh Erscheinende bleibt nichtals solches draußen, sondern entwickelt sich in einzweites Trio. Während es der Qualität der Andersheitnie ganz sich begibt, gehen seine Themen doch in diesymphonische Totale ein; in der Reprise, unmittelbarvor der Coda, wird es dann auch samt der Zäsur ver-kürzt wiederholt10. Die kontrapunktische Gesamtdis-position des Satzes erzwingt technisch die Immanenzdessen, was in die Musik hineinschlägt; die Einheitder vielstimmigen Durchbildung sträubt sich gegenalles, was ihrem Gesetz nicht unterworfen wäre. Ex-territoriales dagegen ist desto möglicher, je loserkomponiert wird. Mahler verhält zum Kontrapunktsich zwiespältig. Er war, sonderbar genug, am WienerKonservatorium vom Kontrapunktstudium, auf Grundseiner eigenen Kompositionen aus der Lehrzeit, be-freit. Nach dem Bericht von Natalie Bauer-Lechnerhat er darunter später gelitten: »da ich seltsamerweisevon jeher nicht anders denken konnte als polyphon.Hier aber fehlt mir wahrscheinlich heute noch derKontrapunkt, der reine Satz, welcher da für jedenSchüler, der ihn geübt hat, spielend eingreifenmüßte.«11 »Jetzt begreife ich, daß Schubert, wie manerzählt, noch kurz vor seinem Ende Kontrapunkt stu-dieren wollte. Er empfand, wie der ihm fehlte. Undich kann ihm das nachfühlen, weil mir selbst dieses

10754

GS 13, 257VI Dimensionen der Technik10753

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 9: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

Können und ein richtiges, hundertfältiges Üben imKontrapunkt aus der Lernzeit so abgeht. Da setzt nunan dessen Stelle bei mir allerdings der Intellekt ein,aber der Kräfteaufwand, der dazu erfordert wird, istunverhältnismäßig groß.«12 Die Berufung auf den»Intellekt« zeugt davon, daß er, |trotz der These vonseinem primär polyphonen Denken, die Kontrapunk-tik als Vermitteltes erfuhr; das belegt auch die Homo-phonie der drei ersten Symphonien. Mit Polyphoniemeinte er offenbar jenen Hang zum chaotisch-unorga-nisiert Tönenden, zur regellosen, zufälligen Gleichzei-tigkeit der ›Welt‹, deren Echo seine Musik durch ihrekünstlerische Organisation hindurch werden will. AnPolyphonie liebte er, was der »Schulfuchserei« insGesicht schlug, von der Mahlers Schwager ArnoldRosé einmal sprach; ihr war in Mahlers Jugend derKontrapunkt noch überantwortet. Licht auf diesen As-pekt wirft eine Stelle der Bauer-Lechner, die kaumhätte erfunden werden können: »Als wir nun sonntagsdarauf mit Mahler denselben Weg gingen und beidem Feste auf dem Kreuzberg ein noch ärgerer He-xensabbath los war, da sich mit unzähligen Werkelnvon Ringelspielen und Schaukeln, Schießbuden undKasperlntheatern auch Militärmusik und ein Männer-gesangverein dort etabliert hatten, die alle auf dersel-ben Waldwiese ohne Rücksicht auf einander ein un-glaubliches Musizieren vollführten, da rief Mahler:

10755

GS 13, 258VI Dimensionen der Technik10754

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 10: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

›Hört ihr's? Das ist Polyphonie und da hab' ich sieher! – Schon in der ersten Kindheit im Iglauer Waldhat mich das so eigen bewegt und sich mir eingeprägt.Denn es ist gleich viel, ob es in solchem Lärme oderim tausendfältigen Vogelsang, im Heulen des Stur-mes, im Plätschern der Wellen oder im Knistern desFeuers ertönt. Gerade so, von ganz verschiedenen Sei-ten her, müssen die Themen kommen und so völligunterschieden sein in Rhythmik und Melodik (allesandere ist bloß Vielstimmigkeit und verkappte Homo-phonie): nur daß sie der Künstler zu einem zusam-menstimmenden und -klingenden Ganzen ordnet undvereint.‹«13

Kontrapunktik war Mahler die sich selbst entfrem-dete, dem Subjekt aufgenötigte Gestalt des Musikali-schen, im Extrem das bloße ineinander Klingen. Dasfugale Wesen galt ihm vorab für komisch, und etwasvon solchem Verdacht müßte polyphonisches Denkenwachhalten, wenn es nicht hinter Mahler zurückfallenwill in Heteronomie. Aber er hat auch, wie alles Ent-fremdete, das kontrapunktische Wesen absorbiert, ge-rade insoweit das vielfach Tönende die thematischeEinheit übersteigt. Seine Vielfalt ist selber zugleichOrganisationsprinzip, nach Mahlers Wort »Ord-nung«. Die Verflochtenheit der Stimmen, jenes Inte-gral der |Musik, das nichts ausläßt, gewissermaßenden ganzen musikalischen Raum durchflutet und den

10756

GS 13, 259VI Dimensionen der Technik10755

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 11: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

virtuellen Hörer inhuman aus der Musik vertreibt,wird ihm zunächst zum Gleichnis eines ausweglos er-stickenden Funktionszusammenhangs. Anstelle derperpetuum mobile-Sätze der Jugendsymphonien be-müht Mahler sich um die artikulierte Durchbildungauftauchender, gegeneinander gesetzter, wieder ver-schwindender Stimmen. Ihre Dichte wird unerbittli-cher, aber auch, durch den Zuspruch ihrer Logik, we-niger sinnlos als die Gleichförmigkeit ununterbroche-ner Bewegung, in der nichts geschieht. Vorm Gestal-tenreichtum solcher Immanenz müßte die bloße Fan-fare, als Allegorie des ihr Entrückten, geistig ebensoversagen, wie sie kompositorisch ohnmächtig dagegenblieb. Je enger Technik und Gehalt im Komponiertensich verschwistern, desto weniger grob polarisiert sichdie Bilderwelt. Wird Polyphonie von der Vorstellungdes Weltlaufs erweckt, so stärkt sie zugleich, als Be-dingung der Wahrheit von Musik, ihre Autonomie:»Wo Es ist, soll Ich werden.« Durch solche Autonomie unterscheidet der Mahler-sche sich vom neudeutschen Kontrapunkt seiner Epo-che, dem Straussens wie dem Regers: eben durchDeutlichkeit. Füllungen bleiben Füllungen, harmo-nisch sans phrase; Stimmen, auch Nebenstimmen,sind melodisch durchgebildet; zwitterhafte Füllstim-men schreibt Mahler nicht, auch keine ungefähren,mitschwirrenden Arabesken. Er ist allergisch gegen

10757

GS 13, 259VI Dimensionen der Technik10756

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 12: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

Scheinkontrapunkte, die in Wahrheit bloß den harmo-nischen Verlauf duplizieren. Lieber als um der Klang-fülle willen Polyphonie vorzutäuschen, nimmt er gele-gentliche Dürftigkeit des Satzes in Kauf. Der erstespezifisch Mahlersche Kontrapunkt ist jene spitzigeOboenmelodie, die im dritten Satz der Ersten gegenden Kanon gesetzt ist14: Programm des MahlerschenTons. Solche Kontrapunktik ist unmittelbar charakte-risierender Absicht. Die ätzenden Charaktere vertra-gen sich gut mit dem technischen Bedürfnis, zu denquasi-volksliedartigen Melodien solche hinzuzufügen,die überdeutlich, wie Negationen fast, von ihnen sichunterscheiden. Die Definition von Themen als vondifferierenden wird dann vielfach absolut, ihr selb-ständiges Wesen; Charakter ist Differenz schlechthin.Dennoch hat Mahler nur selten konstruktiv verbindli-chen: mehrfachen Kontrapunkt geschrieben, denKlangraum wirklich durch |Polyphonie konstituiert15.Wo er so weit geht, im Scherzo der Fünften, in Kom-plexen ihres Finales, im ersten Satz der Achten, wirder durch Stilisierungsprinzipien – oft das Fugato –dazu bewogen, allenfalls in der Burleske der NeuntenSymphonie kompositorisch unmittelbar. Wie im kari-katuristischen ›Lob des hohen Verstandes‹, war offen-bar selbst für den späten Mahler der mehrfache Kon-trapunkt mit dem Odium des Zopfigen, schulmeister-lich Bornierten behaftet; kaum zufällig ist der durch-

10758

GS 13, 260VI Dimensionen der Technik10757

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 13: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

kontrapunktierte Satz der Neunten ›Burleske‹ über-schrieben und »meinen Brüdern in Apoll« gewidmet,als sollte mit denen, die strebend sich bemühen, auchdas Fugenwesen als ihre Domäne verspottet werden;das Suspensionsfeld ist homophon. Wie der musikali-sche Klassizismus, und gewiß die Meistersinger, as-soziiert Mahler den Kontrapunkt vielfach noch mitHumor und Spiel; Ernstfall ist ihm das freie, autono-me Leben der Form. Aber im Spielen regt sich dochschon das polyphonische Bedürfnis: es möchte aufKonstruktion hinaus. Beim späten Mahler rebelliertder Kontrapunkt. Insgesamt sucht seine Polyphonienach einer Verfahrungsweise, die prägnant wäre undfrei in eins. Sie dürfte er als Entscheidendes derVolksmusik verdanken. Ihm war kontrapunktieren: zueiner Melodie eine zweite hinzuerfinden, die es nichtweniger ist, ohne doch jener gar zu sehr zu ähnelnoder sie zu überwuchern. So verfuhr man wohl aufdem Land bei mehrstimmigen Improvisationen überLieder; Mahler mag der ›Überschlag‹ aus den öster-reichischen Alpen vor Augen gestanden haben, wieihn dann Berg in dem Mahler huldigenden Violinkon-zert ausdrücklich schrieb; jene zu einer Melodie nachharmonischen Regeln simultan addierte zweite, diederen Schatten und doch in sich selbst melodisch ist;nur entfernen Mahlers freie Kontrapunkte, bei zuneh-mender Reife, immer weiter sich von der Abhängig-

10759

GS 13, 260VI Dimensionen der Technik10758

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 14: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

keit des Überschlags von seiner Melodie, auch dort,wo sie in stilisierten Tänzen hinzuerfunden werden16.In der Konzeption solcher Kontrapunkte war MahlersPhantasie unerschöpflich. Auch kontrapunktischdenkt er in Varianten. Die übereinander gelagertenStimmen reichern den Satz stetig an, jede Repriseeines Formkomplexes wird durch sie zu einem Ande-ren, und dennoch der Kern nicht tangiert. So warschon die Cellomelodie im langsamen Satz der Zwei-ten |Symphonie empfunden, übrigens ein doppelterKontrapunkt zum Hauptthema, dem langen Ländler.Die frühesten überschlagsähnlichen Wendungen beiMahler, aus dem zweiten Satz der Ersten Sympho-nie17, sind Brucknerisch; an ihrem Typus überlagern-der Polyphonie wurde Mahler allmählich zum Meisterdes freien Kontrapunkts. Strukturell antwortet jeneTechnik auf eine Beschränkung: daß durchweg beiMahler die eigentlich melodischen Stimmen übereiner harmonisch fungierenden tiefsten, sei's einemBaß, sei's liegenden Unterstimmen, sich erheben;unter dem bei ihm noch herrschenden Primat der Har-monik können Oben und Unten nicht so unbedenklichvertauscht werden wie dann bei Schönberg. Was ihmdurch die tonale Grenze an thematischer Bündigkeitdes polyphonen Satzes entgeht, kompensiert er durchdessen Spontaneität. Wie der freie Kontrapunkt vomÜberschlag, leitet übrigens wohl auch der vielbemerk-

10760

GS 13, 261VI Dimensionen der Technik10759

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 15: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

te Hang Mahlers zur Baßlosigkeit sich von der Tanz-musik her, dem Alternieren von Tonika und Domi-nante im Baß anstelle von Fundamentschritten. Mah-lers Reaktionsweise funktioniert das in ein eigentüm-liches in der Luft Hängen der Musik um, auch darinketzerisch wider die offizielle harmonische Konse-quenzlogik. Das Vertikalbewußtsein gibt dem melo-disch-monodischen nach: Keim von Linearität. Wäh-rend Mahlers Stimmen selten den Rahmen der Har-monien sprengen, verhalten sie sich doch, etwa imVergleich mit Reger, als duldeten sie eben noch dasGeneralbaßschema, ohne ganz daran zu glauben; mitLust reiben die Mahlerschen Kontrapunkte sich un-botmäßig an den Harmonien. – In der Sechsten Sym-phonie verbündet sich der Hang des Kontrapunktszum Dissonieren mit der Dur-Moll-Polarität. DieKontrapunkte tendieren zum entgegengesetzten Ton-geschlecht als die Begleitharmonien. Das kehrt imLied von der Erde wieder. Die nach-Wagnerische Ideeharmonischer Polyphonie wird von Mahler vielleichtmehr untergraben als selbst in Salome und Elektra,wo tonale Kräfte und polyphonische nebeneinanderherspielen, aber sich nicht gar zu sehr behelligen,während Mahlers Gefüge vielfach aus ihrer Spannungresultiert.

Weil Instrumentation von den überlieferten Diszipli-

10761

GS 13, 261VI Dimensionen der Technik10760

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 16: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

nen der Kompositionslehre nicht gedeckt wird, eignetsie sich bei Mahler |besonders zur Wechselwirkungsowohl mit den einzelnen Kompositionsschichten wiemit der Totale. Das Orchester widerstand Mahlersspezifischen kompositorischen Intentionen wenigerals etwa Form oder Harmonik. Seine souveräne Frei-heit als Instrumentator trug ihm von früh auf, ähnlichwie Bruckner, den Ruf der Meisterschaft ein, nichtohne den Beiklang jener hämischen Gesinnung, die anMusik das vorgebliche Gewand, die ›Mache‹, vonSubstanz und Echtheit kategorisch auf den erstenBlick zu scheiden sich anmaßt. Von Mache indessenkann bei Mahlers Instrumentation so wenig die Redesein wie von jener Meisterschaft, die das Clichémeint. Anstatt daß sein Ohr dem sich anpaßt, was ihmtagein, tagaus das Orchester antut, sinnt es auf Ge-genmaßnahmen. Sie sind kein geringfügiges Ingredi-ens seiner Instrumentationsweise; die oft bizarren Re-gister der Sechsten Symphonie, ihre vielfach parado-xen Kombinationen von Forte und Piano in verschie-denen Instrumenten und Gruppen schaffen einenKlang, der so ist, wie er ist, indem er verhindert, wasgeschähe, wenn konventioneller gesetzt oder bezeich-net wäre. Nirgends ist Mahlers Musik primär vomKlangsinn inspiriert. Eher war er zu Beginn unge-schickt. Der Mangel an Routine allein schon ist aneinem Dirigenten seiner Erfahrenheit bewunderns-

10762

GS 13, 262VI Dimensionen der Technik10761

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 17: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

wert. Das strahlende Orchestertutti, das die neudeut-sche Schule bis hinab zu ihren minderen Repräsentan-ten Wagner ablernte, will ihm zu Beginn selten gelin-gen, wofern er es überhaupt anstrebte. Der runde, vo-luminöse, geschlossene Klang fehlt auffällig in denJugendsymphonien, und wo Mahler seiner später be-darf, folgt er wie selbstverständlich, ohne zusätzlicheVeranstaltung, aus dem Satz. »Das Orchester Mahlersnimmt nicht Teil an dieser Farbenschwelgerei derneudeutschen Schule. Entscheidend ist bei MahlersInstrumentation der Kontur. Alles Farbige wird mitfast verächtlicher Härte und Rücksichtslosigkeit be-handelt.«18 Was aber bei Mahler, nach Wagneri-schen oder Schrekerschen Kriterien, trocken oder un-körperlich instrumentiert wäre, ist sachgerecht nichtdurch Askese, sondern als treue Darstellung der Kom-position, und insofern seiner Epoche um Dezennienvoraus. Auch darin erstellen Not und Tugend ihr quidpro quo. Das Postulat der Deutlichkeit konvergiert,von der erscheinenden Musik her, mit dem Wesen derintegralen Komposition. |Farbe wird zur Funktion desKomponierten, das sie klarlegt; die Komposition wie-derum zur Funktion der Farben, aus denen sie sichmodelliert. Die funktionelle Instrumentation aber wirdfür den Klang selbst produktiv, haucht ihm sein Mah-lersches Leben ein. Es wird so instrumentiert, daßjede Hauptstimme unbedingt, unmißverständlich hör-

10763

GS 13, 263VI Dimensionen der Technik10762

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 18: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

bar ist. Das Verhältnis des Essentiellen und Akziden-tellen ist ins klangliche Phänomen übersetzt; nichtsverwirrt den kompositorischen Sinn. Daher kritisiertMahler jenes Ideal des Wohllauts, das den Klangdazu verleitet, um die Musik sich zu bauschen undsich aufzuplustern. Überdies bedürfen die Mahler-schen Charaktere jener Mannigfaltigkeit, aus derenArtikulation das Ganze aufsteigt, solcher Farben, diecharakteristisch sind wie die melodischen oder auchharmonischen Einzelereignisse, nicht wohltuend ansich. Auch die Mahlersche Farbe wird zur Charakteri-stik auf Kosten der in sich ausgeglichenen, kantenlo-sen Sattheit des Klangspiegels. Diese Desiderate ter-minieren dann in einem in sich stimmigen Instrumen-tationsverfahren. Der Klang des Lieds von der Erdeund der Neunten Symphonie ist nicht weniger ihrCharakter als die anderen kompositorischen Eigen-tümlichkeiten. Begleitet wird Mahlers Vermögen charakterisieren-der Instrumentation von einer Kenntnis der Möglich-keiten des Uncharakteristischen, die er in höchsterReife sich erwarb. Vertraut er im Dreiviertel-Schluß-absatz des Lieds von der Erde einen tiefen C-Dur-Ak-kord drei Posaunen in weiter Lage an, so fällt derKlang als solcher, trotz seiner hallenden Sonorität,nicht auf, stört nicht das allmählich entschwindendeGanze. Für große Instrumentationskunst ist so wich-

10764

GS 13, 263VI Dimensionen der Technik10763

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 19: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

tig wie die Fähigkeit, Wirkungen zu erreichen, die, siezu vermeiden oder zu umschreiben, Latenz durchzu-gestalten. Den extremen Gegensatz dazu bilden diegewissermaßen losgelassenen, aus dem Verband desChorals sich befreienden Soloposaunen in der DrittenSymphonie. Mahler hat überhaupt die Posaune als so-listische Farbe erst entdeckt. In der Dritten oder auchan manchen Stellen im Trauermarsch und im Scherzoder Fünften Symphonie realisiert sie, was ihr Nameverheißt und was das Ohr vom mehrstimmigen Posau-nensatz vergebens sich erhofft. Befähigt freilich wirdsie dazu durch die Musik, die der Riesenstimme inden Mund gelegt ist, jene |Zwischengebilde von Rezi-tativ und Thema, von Melos und Fanfare, in denenimprovisatorischer Zufall und Emphase sich ver-schränken. Verstärkt wird das durch die Rhythmik,die prosahaften, überlangen Pausen19. Dadurch erst,daß diese in der Fortsetzung20 verschwinden, die Me-lodik sich rafft, wird jener wilde Charakter entfesselt,der in der vorhergehenden ›schweren‹ Episode erstsich sammelte. Solches Instrumentieren war von An-beginn unkonformistisch. Das Finale der Ersten Sym-phonie enthält eine monströse Klangwirkung: brüllen-de Posaunenakkorde unmittelbar vorm Ende des er-sten Themenkomplexes, dort, wo dessen zielloserSturm in momentanen Ausbrüchen explodiert21. DieStelle, welche die Posaunen durch Trompeten und ge-

10765

GS 13, 264VI Dimensionen der Technik10764

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 20: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

stopfte Hörner zum dreifachen Fortissimo potenziert,ähnelt, mit ihren Luftpausen, den statischen Schrec-kenslauten im Schlußtanz des Opfers von StrawinskysSacre. Kaum woanders klingt Mahlers Musik so un-domestiziert: die Farbe träumt, was erst ein Men-schenalter danach ganz komponiert ward. Aber selbsthier wird der Klang von der Musik herbeigerufen,vom Bedürfnis nach Konzentration eines sonst allzuchaotisch, zeitfremd Dahinbrausenden; handgreiflichauch vom dissonanten Zusammenstoß der Achtelober-stimme mit den tragenden Harmonien, den die Farb-dissonanzen reflektieren. – Mahler hat avancierteKlänge geschrieben, wo man es am wenigsten vermu-tet. Inmitten des sich selbst beteuernden Es-Dur derHymne der Achten Symphonie nimmt ein Feld etwasvom letzten Webern vorweg. Das Timbre des ›Infir-ma‹22 mit den solistischen Blechbläsern23 ist dasvon Weberns Kantaten; als hätte Mahler in das affir-mative und retrospektive Werk eine geheime Bot-schaft an die Zukunft versenken wollen. Kaum weni-ger erstaunlich ist ein instrumentaler Augenblick inder an der Oberfläche so unschuldigen Vierten Sym-phonie, beim Übergang vom ersten zum zweitenThema ihrer Variationen und an den analogen Punk-ten später. Unmerkliches Verklingen ist instrumentalausgesetzt24. Ein Bläserakkord auf der Tonika, imWert einer ganzen Note, führt diminuendo in einen

10766

GS 13, 264VI Dimensionen der Technik10765

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 21: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

zweiten, auf der Dominante; die Bläser aber haltendiesen nur ein Viertel, während er simultan, auf eins,in fast unmerklichem Einsatz von dreifach geteiltenBratschen und Harfenflageoletts identisch übernom-men wird; der Farbwechsel |wiederholt sich. In ihmzittern die thematischen Vorgänge nach, die in demRitardando schon zur Ruhe gekommen sind. Manwird wohl in der unscheinbaren Stelle das Modell deswechselnden Akkords aus Schönbergs op. 16 heraus-hören dürfen, den Entwurf der späteren Klangfarben-melodie, der Verwandlung der Farbe in ein konstruk-tives Element eigenen Rechts. Ihren Ursprung hat dieIdee wohl im Lohengrinvorspiel. Klangfarbenwechselwird bei Mahler nicht nur an Akkorden sondern sogaran einzelnen Tönen vollzogen wie an dem f-Doppel-punkt der Hörner im zweiten Trio des Scherzos derFünften Symphonie25; Egon Wellesz hat in seinem1930 publizierten Aufsatz im ›Anbruch‹ die Instru-mentation der Stelle instruktiv analysiert26; unleug-bar ihre Ähnlichkeit mit dem berühmt gewordenenFarbencrescendo auf dem h vor der nächtlichenSchenkenszene des Wozzeck, zumal dem von Berg sogenannten »Innenleben« jenes Tons. – KonstruktivesInstrumentieren ist bei Mahler aber auch im großenzu beobachten. Bekker hat darauf aufmerksam ge-macht, daß der Durchbruch, die Vision der Blechblä-ser im zweiten Satz der Fünften Symphonie ihre Ge-

10767

GS 13, 265VI Dimensionen der Technik10766

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 22: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

walt hat nur, weil diese zuvor geschwiegen hatten.Ähnlich wird das Streicher-Adagietto, in Wahrheit einin sich geschlossenes Einleitungsfeld zum Rondofina-le, das denn auch thematisch darauf zurückgreift,formbildend durch seinen Kontrast zum Gesamtklangder Symphonie, in dem die Bläser bis dahin vor-herrschten. Klangdispositionen über lange Streckenerzielen Plastizität der Form; in solchem Geist hatdann Alban Berg für manche Wozzeckszenen wie dasAdagio auf der Straße oder den Anfang des erstenAkts Teilensembles aus dem großen Orchester her-ausgegliedert, in den Frühen Liedern das Orchesterjedes einzelnen anders besetzt, schließlich in der Lulumanchen Figuren ihre eigenen Orchestergruppen zu-geordnet. Im Lied von der Erde variiert, wie bei Berg,die Besetzung ein wenig in jeglichem Stück. Äußerstsparsam sind die Trompeten verwendet, Tuba undPauken werden nur in einem Stück herangezogen; dasMahlersche Ohr mag gefühlt haben, daß, verglichenmit den wie immer auch bereits eingebürgerten orien-talischen Schlaginstrumenten, die Pauke das Stilprin-zip des Exotismus würde gefährdet haben, und derTubaklang war in einer Symphonie für Solostimmenmeist wohl |zu schwer. Bei einheitlicher instrumenta-ler Grundfarbe des gesamten Zyklus sind die einzel-nen Gesänge koloristisch nochmals gegeneinanderdifferenziert. Der Kammerklang der Kindertotenlieder

10768

GS 13, 266VI Dimensionen der Technik10767

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 23: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

wird als Teilaspekt des großen Orchesters rezipiert.Beim letzten Mahler dann ist durch Wiederzusam-mensetzung des zuvor nach dem Geheiß der Verdeut-lichung der einzelnen Stimmen auseinandergenomme-nen Klangs auch das Tutti zusammengepreßt, abge-blendet, analog dem von Schönberg gelegentlich ver-langten »gedämpften Forte«. – Mahlers Instrumentati-onskunst ist ein Kraftfeld, kein Stil. Dem Bedürfnisnach Deutlichkeit und Charakterisierung wirkt dasnach Integration entgegen, nach Bindung derart, wiein der Kochkunst Suppen gebunden werden. Die Kon-figuration des Deutlichen und Gebundenen wäre anMahlers Kunst der Verdopplung zumal der Holzblä-ser zu studieren. Sie verdeutlichen die Stimmen, diesie verstärken, sind aber stets auch koloristischen Sin-nes. Die Addition zweier Farben im Einklang ergibteine dritte, streng dem Charakter des Themas ange-messene, zuweilen wie an manchen Stellen der Kin-dertotenlieder und analogen im ›Einsamen im Herbst‹einen orgelhaften Interferenzton. Das Unisono dervier Flöten zu Beginn der Durchführung der Viertenist qualitativ vom Flötenklang verschieden; die sechsKlarinetten der Einleitungsmelodie des ersten Schön-bergischen Orchesterlieds op. 22 stammen wohl gardorther. Führt das Prinzip homogen gebundenenKlanges allein zu schlechten Füllstimmen, so bliebeohne es die deutlichste Instrumentation abstrakt.

10769

GS 13, 266VI Dimensionen der Technik10768

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

Page 24: VI. Dimensionen der Technik - pop-sheet-music.com€¦ · Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hauptgestalt sich achtelweise1. Mahlers Rhythmik ist

Mahler ist der große Instrumentator, weil er aus die-sem Wiederspruch sein Verfahren ableitete, so wieauch in seiner Zeichnung die Prägnanz der Einzelheitund der Schwung des Ganzen nicht sich befehden,sondern voneinander leben. Sein Orchester ist sprödgegen die illusionäre Wagnerische Unendlichkeit, zusinnlich fürs nüchterne Grau; nirgends beeinträchtigtSachlichkeit bei ihm die Differenziertheit. Aber dasOrchester wirft die Schwere des instrumentalen Fal-tenwurfs ab wie Mahlers Harmonik oftmals die desverkappten vierstimmigen Chorals; am konsequente-sten in den Kindertotenliedern und einigen anderenRückert-Gesängen, Urphänomenen des künftigenKammerorchesters. Körperlos wird Mahlers Musik,weil sie so klingt, wie sie spezifisch ist. Noch derKlang, von allen Dimensionen der Musik die sinn-lichste, wird zum Träger eines Geistigen.

GS 13, 266VI Dimensionen der Technik10769

Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften