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Vom Geheimnis des Glaubens Fritz Binde

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Vom Geheimnis des GlaubensFritz Binde

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Vom Geheimnis desGlaubens

Fritz Binde (1867–1921)

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Letzte Auflage: c© 1979 by Verlag und Schriftenmission der Evan-gelischen Gesellschaft für Deutschland, Wuppertal

c© Copyright der Ausgabe 2011 by CMDChristlicher Mediendienst Hünfeld GmbH – CMDPostfach 13 22

D-36082 HünfeldTel: (0 66 52) 91 81 87

Fax: (0 66 52) 91 81 89

e-Mail: [email protected]: http://www.mediendienst.org/ISBN: 978-3-939833-35-2Umschlaggestaltung: Oleksandr Hudym, BerlinSatz & Layout: Digital Design Deubler, NeckargemündDruck: AALEXX, Großburgwedel

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Herausgebers 1

Dein Wort ist meines Fußes Leuchte 3

Das Geheimnis des Glaubens 24

Vom Geheimnis des Kreuzes 44

Die drei Grundbedingungen der Jesusnachfolge 65

Der gute Kampf des Glaubens 86

Unsere Umwandlung in das Bild Christi 112

Betet allezeit! 134

In allen Dingen Diener Gottes 156

Preist Gott an eurem Leib! 180

Werdet nicht der Menschen Knechte! 203

Die Hoffnung des Evangeliums 223

Die glückselige Bettelarmut im Geist 251

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Vorwort des Herausgebers

Nachdem mich der lebendige Gott Anfang 1980 errettet hatte,war Vom Geheimnis des Glaubens eines der ersten Bücher, das ichlas. Nein, ich studierte es zwei Jahre lang. So etwas hatte ichzuvor noch nie in die Hand bekommen. Es war und ist das Buch,durch das ich – nach der Bibel – am meisten Segen erfahren habe.Ich wünschte nur, dass ich das Erkannte noch mehr leben könnte.

Fritz Binde (1867–1921), ein ehemaliger Atheist und Kommu-nist, lebte nach seiner Bekehrung fünf Jahre lang bei Georg Stein-berger in der Schweiz. In dieser Zeit las er – nach eigener Aus-sage – nur die Bibel. Und dann trat dieser wache Geist vor dieMenschen. Er wirkte als Evangelist und Verkündiger in großemSegen. Auch meine Großeltern, Heinrich und Katharina Plock,kamen Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Umfeld zum Glau-ben und liefen manches Mal zu Fuß viele Kilometer zu seinenBibelstunden.

Von daher ist es mir eine besondere Freude, Vom Geheimnis desGlaubens neu herausgeben zu dürfen. Wir haben als Verlag Wort-wahl und Stil des Autors weitgehend beibehalten und nur kleineÄnderungen und Anpassungen vorgenommen. In Kapitel 9 seheich persönlich einige Dinge anders, aber das tut dem wertvollenInhalt keinen Abbruch.

Schlussendlich möchte ich die Leser und Leserinnen vorwar-nen. Ich weiß von einigen, die dieses Buch nach zwei oder dreiKapiteln weggelegt haben. Fritz Binde schont niemanden. Erpinselt nie den Bauch, sondern bürstet immer gegen den Strich.Aber das ist gut so: Dann geht der Rost runter. Wer bereit ist,sich ins Licht Gottes zu stellen, der wird großen Gewinn haben.

Ich wünschte, Gott der HERR könnte dieses Buch für die heutelebende Generation erneut zum Segen gebrauchen!

Hünfeld, im Juni 2011

Wilfried Plock, Hrsg.

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Dein Wort ist meines Fußes Leuchte

Dein Wort ist meines Fußes Leuchte.Psalm 119,105

Bibelstunden sollen Lehr- und Übungsstunden sein in der Erler-nung und Betätigung des biblischen Denkens. Wir sollen denkenlernen, wie Gott denkt; denn Gott offenbart uns in der Bibel seineGedanken, damit wir seine Weisheit und sein Wesen erkennenund gewinnen lernen sollen. Größeres und Reicheres kann es aufErden nicht geben. Nie kann ein Kind Gottes mehr gewinnen alsErkenntnis seines Vaters aufgrund des Bibelwortes. Wie mühensich die Menschen heute ab, wissenschaftlich, d. h. nach der Ord-nung der Menschenweisheit, denken zu lernen; die Bibel aberermöglicht uns, nach der Ordnung der Weisheit Gottes denkenzu lernen.

Gottes Gedanken sollen da unsere Gedanken, Gottes Weisheitund Wesen unsere Weisheit und unser Wesen werden. Das istetwas so Einziges und Unvergleichliches, dass wir gar nichtnachdenklich genug zur Bibelstunde gehen können. Wie mühensich die Menschen heute, künstlerisch schauen zu lernen, wir aberdürfen mit biblisch erleuchteten Augen göttlich schauen lernen.Und nun seht, wie man zu wissenschaftlichen Vorlesungen undallerlei Kunstschau eilt. In welch gottgeweihtem Geist sollten wiruns also in den Bibelstunden zusammenfinden!

Wir müssen wissen, dass jede Bibelstunde eine Arbeitsstunde desHeiligen Geistes an uns sein will. Menschliches soll da abgetragen,Göttliches aufgebaut werden. Was das Reich Gottes nicht ererbenkann, soll getötet werden, was Leben aus und für Gott ist, sollgestärkt und zur Reife und Frucht gebracht werden. Jedes Malsoll sich da das Wort Gottes lebendig und kräftig erweisen, schär-fer als ein zweischneidiges Schwert, das durchdringt, bis es Seeleund Geist, auch Mark und Bein scheidet und zum Beurteilerder Gemütsbewegungen und Herzensgedanken werden kann(Hebr 4,12). Jedes Mal soll da unerbittlich zwischen Menschen-art und Gottesart geschieden werden. Die fleischlich-seelische,adamitische Menschenart, die wir immer wieder mitbringen, soll

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Dein Wort ist meines Fußes Leuchte

da bloß und entdeckt vor den Augen dessen sein, mit dem wires zu tun haben. Ein immer tiefer gehendes Misstrauen gegenunser eigenes, eitles, irrendes Denken soll uns in aufrichtiger Beu-gung veranlassen, jeden Gedanken unter den Gehorsam Christigefangen zu nehmen.

Denn erst muss der Heilige Geist die menschlichen Gedan-kenpläne und jede Höhe, die sich erhebt wider die ErkenntnisGottes, zerstören, ehe er göttliche Gedankenarbeit in und unteruns verwirklichen kann (2Kor 10,5). Kann es eine entscheidungs-und zukunftsreichere Arbeit geben als diese Arbeit des GeistesGottes an den Kindern Gottes, wenn sie sich zu gemeinsamerWortbetrachtung zusammenfinden? Kinder Gottes dürfen Hüter,Träger und Verwirklicher der Gedanken Gottes sein. Das drücktihre ganze Würde und den Inhalt ihres Lebens aus.

Man kann von unserem Herrn nichts Bedeutsameres sagen,als: Er kam in die Welt, um die Schrift zu erfüllen (Lk 24,44.45).Gott hat mit der Gabe und Sendung seines Sohnes sein schrift-lich gegebenes Wort eingelöst und zugleich ausgelegt. Darummuss unsere Wortbetrachtung immer in der bibelweiten Chris-tusbetrachtung gipfeln. Aber diese Christusbetrachtung musswiederum in dem praktischen Ergebnis gipfeln, dass in ähnlicherWeise auch unser Leben lauter Schrifterfüllung werde. Denn ob-wohl alle Verheißungen Gottes in Christus Ja und Amen sind, sowerden sie es doch erst Gott zu Lobe durch uns (2Kor 1,20).

Als Hüter, Träger und Verwirklicher der Gedanken Gotteswerden wir zu Darstellern des Wortes Gottes als des Wortesdes Lebens (Phil 2,16). Also kann der gottgewollte Sinn jederBibelstunde nur der sein: Heiliges Schriftgut, das den Wert derGedanken Gottes hat, soll durch den Heiligen Geist in uns nie-dergelegt werden, damit es Gott zu Lobe durch uns erfüllt werde.Auch von einem Kinde Gottes kann man nie Bedeutsameres sa-gen, als: Es wurde durch diesen Menschen die Schrift erfüllt.Deshalb ermahnt der Apostel Paulus: »Lasst das Wort Chris-ti reichlich in euch wohnen in aller Weisheit« (Kol 3,16). DasArbeitsziel des Apostels war, jeden Menschen vollkommen inChristus darzustellen (Kol 1,28); dies kann nur erreicht werden,wenn wir das von uns aufgenommene, in uns wohnende Wortimmer klarer und lebensmächtiger zur anschaulichen Erfüllungbringen. Und dazu sollen die Bibelstunden Anreiz und Anleitunggeben.

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Es muss klar erkannt werden: Alles so genannte Zukurzkom-men in unserem Christenwandel ist ein Zurückbleiben hinter demWort, ein fragwürdiges Hinleben auf einer Linie, die Gott nichtfür uns gezogen und bestimmt hat. Alle Verfehlung in unseremLeben ist Schriftverfehlung. Durch nichts wird der Offenbarungs-wert der Heiligen Schrift mehr herabgewürdigt als durch dasmangelnde Offenbarwerden der Kraft Gottes in den Gläubigen,die unwürdig des Evangeliums Christi wandeln (Phil 1,27), dieangeben, auf dem Boden des Wortes Gottes zu stehen, aber dasWort Gottes steht nicht auf dem Boden ihres Lebens. Was ist andiesem bösen Widerspruch zwischen Gotteswort und Menschen-wandel, durch den so oft das Wort Gottes verlästert wird (Tit 2,5),schuld? Ganz allgemein ist daran die praktische Missachtung desWortes Gottes schuld.

Das will sagen: Man achtet das Wort Gottes vorwiegend nurals Theorie, als Ideal. Als solches hält man es wohl unantastbarhoch, bekennt und verteidigt es, aber die praktische Darstellungdes Wortes hält man einfach für unmöglich und bemüht sichinfolgedessen auch gar nicht wahrhaft ernstlich um sie. ZahlloseGläubige leben in dieser theoretischen Wertschätzung und prak-tischen Missachtung des Wortes Gottes, aber nur wenige leidenwirklich unter diesem Widerspruch.

Viele haben sich ganz an diesen Widerspruch gewöhnt; sielassen das Wort stehen, aber sie lassen auch ihr oberflächlichesLeben stehen. Und begehren sie einmal einen seelsorgerlichenRatschlag zur Änderung ihres Lebens, so scheint es ihnen ganzunzulässig, wenn man sie einfach aufs Wort hinweist. Nach ei-ner Bibelstunde, in der ich über unser mit Christus Gekreuzigt-,Gestorben-, Begraben- und Auferwecktsein gesprochen hatte,fragte mich ein junger Mann, wie er von der Fleischeslust freiwerden könne, und als ich die verwunderte Gegenfrage stell-te: »Ja, haben Sie denn jetzt nicht gehört?« antwortete er kaltlächelnd: »Ach, das ist doch alles Theorie!«

So denken und leben leider sehr viele. Sie kommen in die Bi-belstunde aus einer Art Verpflichtung gegenüber der biblischenTheorie. »Da haben wir es wieder einmal gehört, wie man seinsollte!« sagen sie am Ende der Stunde mit scheinbarem Ernst undrechnen sich dieses »Gehörthaben« als echte religiöse Leistungzu, aber sie bleiben in Bezug auf die Praxis des alltäglichen Le-bens rat- und tatlos. Oder andere besuchen die Bibelstunden aus

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einer Art Wohlgefallen an der Höhe und Schönheit der biblischenGedankenlinie. Wird ihnen diese Linie obendrein noch durch dieangenehme Sprechweise eines »sympathischen« Redners gezeich-net, so himmeln sie nachher den Knecht Christi mit den Wortenan: »Sie haben uns einen wirklichen geistlichen Genuss bereitet!«

Natürlich findet man im Leben dieser Leute nicht die Spurvon Bibelpraxis; sie vergnügen sich nur eine Zeitlang im Scheinedes Wortes Gottes oder noch besser: an den Gebärden eines Men-schen. Wieder andere Besucher der Bibelstunden eifern mächtigum die reine biblische Lehre, wie sie sie sich denken. Wie De-tektive passen sie auf, ob das Gehörte in das Lehrsystem passt,das sie im Kopf mit herumtragen, und ob man den redendenBruder gelten lassen kann oder vor ihm warnen muss. In letz-terem Falle wettern sie einen vielleicht an: »Ich wollte Sie nurdarauf aufmerksam machen, dass Sie nicht auf biblischem Bodenstehen!«

Habe ich es doch schon selber wiederholt erlebt, dass in der aufdie Bibelstunde folgenden Sprechstunde vier bis fünf Vertreterder verschiedensten Benennungen auf mich warteten, von denenjeder Einzelne mir mit dem Wort Gottes in der Hand beweisenwollte, dass ich nicht »richtig stehe«, weil er in der gehörten Redesein Lehrsystem nicht wiedergefunden hatte!

Ach, wie viele, viele Kinder Gottes interessiert heute an derBibelbetrachtung nur die Richtung, die der Redner vertritt, undhöchstens noch, wer ihn gerufen hat und bezahlt!

Alles dies ist praktische Missachtung des Wortes Gottes; dennes ist platte Menschenart und barer Mangel am Geist und an derGesinnung Christi, die doch allein die vor Gott gültige praktischeSchrifterfüllung ist.

Woher aber stammt diese praktische Missachtung des WortesGottes? Sie stammt aus der uns angeborenen Feindschaft gegendas Kreuz Christi. Oh das »Wort vom Kreuz« (1Kor 1,18) alsrettende Frohbotschaft vom Gottessohn, der für unsere Sündenstarb, lassen wir uns als Kinder Gottes ja gerne gefallen, aberdie Kreuzesgesinnung fliehen wir, solange es nur irgend geht. Esist uns geläufig, vom Opfertod Jesu zu reden, aber wir behaltendabei unser eigenes Leben. Das heißt, wir denken gar nicht wirk-lich daran, uns ernstlich als mit Christus gekreuzigt, gestorben,begraben und zu einem neuen Leben auferweckt anzusehen.

Und doch wäre das allein praktisches Glaubensleben, weil

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wirkliche Schrifterfüllung. Wir begnügen uns aber gar zu gernemit der theoretischen Anerkennung des Glaubenssatzes, den wirzu unserer Selbstberuhigung klug auszunutzen wissen, aber daseigentliche Glaubensleben lassen wir dahinten. Wie wenige sindgewillt, die Folgerungen des Kreuzestodes Christi wie Paulus zuziehen und praktisch zu bezeugen: »Nicht mehr ich lebe! Christuslebt in mir! Christus ist mein Leben« (Gal 2,20; Phil 1,21)! Undvon wie vielen müsste Paulus auch heute mit Tränen sagen: »Siesind Feinde des Kreuzes Christi!« (Phil 3,18).

Wie wenige unter uns geben praktisch ihr Leben als ein durchsKreuz Christi entwertetes, preis. Ich sage »praktisch«; denn theo-retisch stimmt man dem allen ja gerne zu, besonders währendeiner Bibelstunde. Wie wenige denken daran, ihre eigene Ehreauch nur für die Praxis eines Tages als wirklich abgetan anzu-sehen, um in den alltäglichsten Lebensdingen nur noch durchund für Christus zu leben und so das Wort zu erfüllen (Gal 6,14,Phil 4,13). Wie viele »Gläubige« halten ein solches »Ausleben«des Wortes Gottes für ganz unmöglich. Aber heißt das nicht dieSchrift brechen? Und wie viele, die immer ein Gotteswort in derHand und im Mund führen, brechen dasselbe Wort auf dieseWeise.

Unser Herr hat keine Spezial-Heiligungs-Versammlungen ge-halten. Er hat uns aber sehr einfache Richtlinien für Seine Nach-folge gegeben. Diese heißen: »Will mir jemand nachfolgen, derverleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folgemir« (Mt 16,24). Diese einfachen Richtlinien scheinen heute nichtmehr zu genügen. Wir leben in einer Zeit der frommen Men-schengebote. Anstatt in praktischer selbstverleugnender Kreu-zesgesinnung still dem Herrn nachzufolgen und so sein Wortund Leben auszuleben, beugt man das Gotteswort dem frommenIchgeist. Geräuschvoll zieht man mit Spezial-Schriftauffassungendurchs Land und macht von der Zustimmung zu solcher Sonder-lehre die Jesus-Nachfolge und die Erlangung der Lebenskroneabhängig.

Mich fragte kürzlich einer streng: »Welcher Richtung gehörenSie denn an?« Ich antwortete: »Ich gehöre der Richtung auf Jesus hinan.« Fast beleidigt fuhr er mich an: »Das genügt nicht!« undsuchte mir mit echt fleischlich-rechthaberischer Aufdringlichkeitzu beweisen, dass ich weder dem Worte Gottes gehorsam seinoch ein Bürgerrecht im Himmel habe.

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Dein Wort ist meines Fußes Leuchte

Von solchen Dienern der Zerschneidung wimmelt es heuteim Volke Gottes. Es geht eine nervöse Sucht durch die Gläu-bigen, sich durch Sonderlehren voneinander zu unterscheiden.Es ist dies nichts anderes als eine Folge des weit und breit vor-handenen ungekreuzigten Ichgeistes, den Satan nach seinemLieblingsgrundsatz »Teile und herrsche« auszunutzen versteht.Der fromme Ichgeist will sein und gelten, will sich hervortun,will sich behaupten und recht behalten. Da nimmt er das WortGottes als Handhabe, um sich mittels desselben über andereemporzuschwingen.

So streitet man unter dem Vorwand des Schriftgehorsamsrechthaberisch für die eigene Meinung, macht unter der HandAnhänger und Rotten, um im gegebenen Augenblick sich vonden anderen zu trennen und mit der einen Rotte eine »neueVersammlung« zu gründen. Diesen Vorgang habe ich in den letz-ten Jahren an ach wie vielen Orten aufs Schmerzlichste erlebenmüssen. Und immer brüsten sich diese Richtungsmacher mitdem Ruf: Das Wort, das Wort, das ganze Wort und nichts als dasWort! Und doch herrscht da nichts als das Ich, das Ich, das ganzeIch und nichts als das Ich!

Besonders missbraucht man das Wort Gottes als Schwert desGeistes zum bösen Bruderkrieg, wenn es sich um strittige Formendes Gemeinde- und Gemeinschaftslebens und um die Auslegungdes prophetischen Wortes handelt. Es ist eine Tatsache, dass diemeisten der Richtungen, die widereinander stehen, entweder umäußerliche Formen oder um die Deutung zukünftiger Gescheh-nisse miteinander streiten.

Anstatt einzusehen, wie nebensächlich alle äußeren Formensind, wenn wir nicht Christi Gesinnung in ihnen haben, und wiesehr alle Deutungen des prophetischen Wortes Stückwerk bleibenund nur den Wert von Wahrscheinlichkeitsrechnungen haben,verwirft man um solcher schalenhaften Schriftdeutung willenden süßen Kern der Bruderliebe, in dem doch allein die wesentli-che Schrifterfüllung liegt. Mit welcher fleischlichen Leidenschaftwird da geworben, verdächtigt, gebrandmarkt, abgestempelt,verworfen! Was ist’s? Mangel an zentraler selbstverneinenderKreuzesgesinnung! Ichgeschäftige Missachtung des wesentlichenGotteswortes! Man kämpft um die letzten Dinge und hat dieersten noch nicht gelernt!

Wahrlich, heute weht ein ganz besonders ungesunder Wind der

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Lehre, von dem viele Kinder Gottes buchstäblich von Meinungzu Meinung hin und her geworfen und von Versammlung zuVersammlung umhergetragen werden, durch die Spielerei derMenschen in List nach der Methode der Verirrung! »Wahrhaftigaber in der Liebe, lasst uns heranwachsen, ihm in allem gleichzu sein, der das Haupt ist, Christus« (Eph 4,14.15).

Dazu ist es nötig, mündig zu werden, nicht aber in uns, son-dern in Christus, durch die gesunden Worte unseres Herrn unddurch die Lehre, die gemäß der Gottseligkeit ist (1Tim 6,3). Des-halb hat in jeder Bibelstunde Wurzelarbeit zu geschehen, nämlich dasEingewurzeltwerden einer jeden Seele in ihren alleinigen Lebensherrn(Kol 2,6.7), damit es bei einer jeden Seele zu dem mit Christusin Gott verborgenen Leben komme (Kol 3,3), ohne welches allesHören des Wortes zweifelhaft bleibt. Den meisten Gläubigen fehltdieses tiefverborgene, in Christus eingewurzelte Leben.

Darum sind sie so oft in der Dürre, und ihr Glaubenslebenkann von jedem Wind menschlicher Lehre gelockert werden, sodass jeder Schwätzer sich zum Herrn ihres Glaubens aufwer-fen kann. Sie haben keine genügend unmittelbare Verbindungmit dem Haupt, Christus. Infolgedessen haben sie auch immernur ein bängliches, gesetzliches oder selbstsicheres, naseweisesVerstehen des Wortes. So können sie Bibelstunde um Bibelstun-de mitnehmen und kommen doch nicht weiter. Sie bleiben beiallem Hören verankert in ihrem eigenen Wesen und versklavtans Sichtbar-Menschliche. Der Geist des Herrn aber kann sieplötzlich unmittelbar oder durch die Lebenskraft der gesundenLehre packen und ihnen tieferes und fruchtbareres Wurzellebenin Christus schenken. Nun erst lernen sie auch selber aus demWort schöpfen.

Ehe eine Seele nicht die unmittelbare persönliche Verbindungmit Christus als ihrem alleinigen und wirklichen Lebensgrund ge-winnt, hat sie auch keinen persönlichen Schriftgewinn. Christusist nicht nur die Tür zum Himmel, sondern auch zu seinem eige-nen Worte und zur ganzen Bibel. Unsere wirkliche Erkenntnisdes Wortes reicht nie tiefer als unser verborgenes Gewurzeltseinin Christus.

Wir werden nie weiter biblisch denken lernen, als wir gewillt sind,biblisch leben zu lernen. Der menschliche Verstand kann mit fleißi-gem Interesse allerlei älteres biblisches Wissen für sich erarbeiten,aber Besitz des biblischen Lebens in der Weisheit und Kraft Got-

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Dein Wort ist meines Fußes Leuchte

tes und der Gesinnung Christi ist das nicht. Leben aus demWort Gottes ist etwas wesentlich anderes als Wissen aus demWort Gottes. Nur soweit wir in Christus Leben aus Gott undmit Gott haben, haben wir auch Leben aus dem Wort und nachdem Wort. Die Bedingungen für die Jesusnachfolge sind auch dieBedingungen zum Eindringen in die Schatzkammer des Wortes.Selbstverneinung bringt nicht nur Jesus-Bejahung, sondern auchWort-Bejahung. Annahme des Kreuzes bringt auch Annahmeund Gewinn des Wortes. Die lebendige innere Verbindung mitdem Herrn bewirkt in uns auch eine lebendige Verwirklichungseines Wortes.

Schöpfen aus dem Wort ist noch mehr als Forschen im Wort.Das Forschen ist mehr ein in die Breite gehendes Vergleichen,ein fleißiges Suchen und Nachsehen, ob es sich also verhalte,also ein erwägendes Überlegen im Verstande. Das Schöpfen abergeht in die Tiefe; es ist mehr ein dürstendes Sichhinabbeugenzu Gottes Brünnlein, ein freudiges Nehmen, Empfangen undTrinken aus dem Heilsbrunnen (Jes 12,3). Beim Forschen handeltes sich mehr um das Wort der Wahrheit, beim Schöpfen mehrum das Wort als Wort des Lebens. Dort gräbt der Spaten desVerstandes, hier stillt sich der Durst der Seele am entdecktenQuell. Zur eigentlichen Schriftgelehrsamkeit haben nicht vieledie Gabe, zum schöpfenden Nehmen und Leben aus dem Wortesollen alle befähigt sein. Soviel muss jedes biblisch denken lernen,dass es sich biblisch zu ernähren vermag.

Bibelstunden können aber immer nur Anleitungsstunden zumSchriftforschen und Schöpfen aus der Schrift sein. Du kannst dichnicht in die Bibel hinein hören, du musst selber suchen lernen,um selber für dich entdecken und empfangen zu können. DeinLehrer darf nie mehr als der Gehilfe deiner Freude sein wollen(2Kor 1,24), sonst verschuldet er sich als ein schädlicher Herrdeines Glaubens an deiner andauernden Unmündigkeit. Undwie viele verschulden sich in der heutigen Zeit der aufgeblasenenRichtungs- und Bewegungsmacherei so an ihren Hörern!

Das beste Mittel gegen den herrschsüchtigen Missbrauch desWortes ist der rechte biblische Gebrauch des Wortes. Mit der Bibelin der Hand musst du dich selber biblisch zurechtfinden lernen.Tust du das in der vorhin erwähnten selbstverneinenden Kreu-zesgesinnung und der zentralen tiefverborgenen persönlichenEinwurzelung in Christus, so besteht keine Gefahr, dass du auch

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Suche mit deiner Bibel die Stille

bei allerpersönlichstem Schriftgebrauch ein rechthaberischer, sek-tierischer Mensch werden könntest. Im Gegenteil, bei wahrhaftgeistlichem Gebrauch des Wortes wird dich auch der HeiligeGeist in jede Wahrheit hineinleiten können, die alle Geistgeleite-ten eint. Nichts lohnt sich reicher als das persönliche forschendeSchöpfen aus dem Worte Gottes. Du sollst da tatsächlich werden,wie einer, der reiche Beute kriegt (Ps 119,162). Deine Beute!

Denn dabei wird deine Bibel endlich einmal wirklich deineBibel. Du lässt dich dann weder mehr durch kommandomäßigesNachschlagen blind in der Bibel herum jagen, um dich in das ausBibelfäden gesponnene Netz einer Richtung einfangen zu lassen,noch wirst du mehr wagen, die Bibel als unzusammenhängendesSpruchbuch zu gebrauchen. Nichts macht unabhängiger von derarmen Unzulänglichkeit der Menschen und unseres eigenen Ichsals persönlichster geistlicher Schriftgebrauch; es ist das denkbartätigste Leben aus und mit Gott! Übst du es, so wirst du jelänger desto mehr staunen über die Fülle von Licht und Kraft,die dein Gott in seinem Wort gerade für dich, ja gerade für dich,niedergelegt hat. Seine Gedanken werden deine Gedanken, seineWege deine Wege, sein Wesen wird dein Wesen, seine Kraft deineKraft werden. Welch ein Gewinn!

Willst du diesen Gewinn machen, so ist das Erste:

Suche mit deiner Bibel die Stille

Noch einmal sei es gesagt: Bibelstunden können nur Anleitungs-stunden für den Schriftgebrauch sein; Bibelstunden wollen unshineinleiten in die stillen Stunden des Schöpfens aus dem Wortim eigenen Kämmerlein. Wem die Bibelstunde nicht dazu die-nen kann, der wird auch aus der »schönsten Erbauungsstunde«keinen bleibenden Gewinn davontragen. Besonders heute nichtin der Zeit des Vielredens und Vielhörens, wo ein Eindruck denanderen totschlägt und es so zu gar keinem wirklichen Eindruck,sondern nur zum religiösen Trubel kommt. Achte nur darauf,wie man begeistert ausruft: Ach, war das herrlich! Ach, war dasschön! Ach, das war aber gesegnet! – ohne dass man dabei klarsagen könnte, was man an Gottesklarheit empfangen hat. Darumein so geringes Ergebnis des so überreichlichen Redens und Hö-rens. Es fehlt die stille Aufnahme und die stille Verarbeitung des

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Dein Wort ist meines Fußes Leuchte

Wortes. Allmählich merkt man selbst den Widerspruch zwischenHören und Haben, und nun meint man, es liege an der Art desGehörten, man müsse Besseres, Tieferes, Höheres, Kräftigereshören; so bekommt man die nervöse Sucht nach Neuem undNeuestem und wird damit für jede Lauferei und Schwärmereireif. Was fehlt, ist die fruchtbare Stille.

Das verborgene Leben mit Christus in Gott ist das denkbarstillste Leben. Es ist stilles Liebesleben, aber es gibt dennoch keintätigeres Leben als dieses. Welche verborgene innere Arbeit ge-schieht da! Zuerst die geradezu entscheidende Arbeit des wacheninneren Hörens. Es ist die erste notwendige Stille des Horchensund Gehorchens. Endlich verebbt einmal das verödende Stim-mengewirre um und in dir! Endlich hat einmal der Herr selberund allein dein Ohr wieder!

Wie schämst du dich da all des weltlichen und frommen Ge-schwätzes, das du gemacht und gehört hast. Nun in der Stilledes Horchens und Gehorchens wirst du wieder ehrlich deinemHerrn und seinem Wort gegenüber. Jetzt kann er einmal wirklichwieder mit dir reden. Und nun siehst du ein, was du bisherversäumt hast und wie sehr dein äußeres Gehorchen vom stilleninneren Horchen abhängt, das du so lange vernachlässigt hast.Wie kann denn Christus dein Herr sein, wenn du nicht auf ihnhorchst? Denn dein pflichtmäßiges Bibellesen geschah ja ganzohne das geöffnete Ohr, das der Herr dir so gerne längst gegebenhätte, wenn du nur dem lärmenden Betrug deines polterndenIchgeistes hättest entfliehen wollen (Jes 48,8; Spr 20,12).

Nun behaupten aber viele, sie hätten durchaus weder Zeitnoch Gelegenheit zu stillem Bibellesen. Mit solcher Entschuldi-gung offenbart man nur, wie fern man dem verborgenen Lebenmit Christus in Gott ist; man ist noch ein Sklave des sichtba-ren und äußerlichen Lebensbetriebes. Was die Zeit anbelangt,so entscheidet hier meist nur die Gewohnheit. Frage ich seelsor-gerlich: »Lesen Sie jeden Morgen in der Bibel?«, so lautet sehrhäufig die Antwort: »Nein, nicht immer!« – »Warum nicht?« –»Ich habe nicht immer die Zeit.« Darauf frage ich: »Trinken Siejeden Morgen Kaffee?« – »Ja!« – ».Ja, aber haben Sie denn zumKaffeetrinken jeden Morgen Zeit?« – Beschämtes Schweigen.

So ist es: Den äußeren Menschen zu füttern, nimmt sich jederin allerselbstverständlichster Weise die Zeit, für die viel notwen-digere Ernährung des inneren Menschen aber hat man – keine

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Lass dir genügen am Bibelwort!

Zeit! Und dann wundert man sich, dass man schwach und krankim Glauben ist!

Und was die Stille anbetrifft, so handelt es sich da viel wenigerum ein äußerlich stilles Plätzchen als vielmehr um eine rechtinnerlich stille Seele. Mit einer unruhigen Seele ist man auch amruhigsten Ort nicht in der Stille, und umgekehrt ist man mit einergestillten Seele in abgeschlossener Ruhe selbst am unruhigsten Ort.Wir haben allem störenden Lärm zum Trotz stets so viel äußereStille, als wir innere Stille haben.

Das innerliche Stillewerden will aber geübt und gelernt sein,und eben dazu dient das Wort. Nichts stillt unsere Seele so gründ-lich wie das heilsame Schriftwort, wenn wir es wirklich stillebe-dürftig suchen. Mit jedem hilfesuchenden Bibelgebrauch, ja schonmit jedem lichtvollen Erinnertwerden an ein teures Schriftwort,wecken wir die Heilandskraft unseres Herrn und Erlösers füruns auf. Sein gebieterisches Wort wird vernommen und schafftnun »eine große Stille« (Mk 4,39). Das ist dann die fruchtbareStille, wo das Wort so recht eigentlich von uns entdeckt wird,uns geschenkt und in uns eingepflanzt werden kann (Jak 1,21),und das ist dann das mit Sanftmut aufgenommene, unverlier-bare Wort, das unsere Seele zu erretten vermag. Je mehr wir eslernen, solche uns persönlich zugedachten Wortgeschenke ausdem alten und neuen Vermächtnis unseres himmlischen Vatersin kindlichem Stillesein zu empfangen, desto weniger brauchenwir in die Stille zu gehen; wir wohnen dann in der Stille.

Allerdings gehört zu solchem verborgenen Wohnen im Innerendes Zeltes, wo der verborgene Mensch des Herzens im unver-weslichen Schmuck des sanften und stillen Geistes so köstlichvor Gott ist (1Petr 3,4), noch mehr. Wer die stillen und stillendenKräfte des heiligen Schriftwortes immer gesegneter gewinnenwill, muss als Zweites lernen:

Lass dir genügen am Bibelwort!

Das heilige Schriftwort stillt uns nicht nur die Seele, nein, es willauch die Klärung und Vereinfachung unseres Denkens und prak-tischen Handelns bewirken. Am heilsamen Bibelwort gesundet unserkrankhaft gekünsteltes, unruhig tastendes, qualvoll irrseliges adamiti-sches Denken. Alles wird lichtklar, durchsichtig und erstaunlich

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Dein Wort ist meines Fußes Leuchte

einfach. »Der christliche Glaube«, sagt der scharfsinnige Mathe-matiker und Christ Pascal, »beruht auf zwei einfachen Grundsät-zen, sie heißen: die Verderbnis unserer Natur und die Erlösungdurch Jesus Christus.« Auf diesem schnurgeraden Geleise leitetuns die Bibel bis in die tiefsten Geheimnisse der Gottheit hinein.Diese unverrückbare, geradlinige, einfache Bibellogik deckt sichso recht mit der heiligen Unwandelbarkeit Gottes selber.

Welch krauser und kreisender Wust menschlich gearteter Ge-dankenträume in den indischen Veden und im Koran, und da-gegen welche hehre, stille Einfachheit der Bibel! Mit immer der-selben heilsamen Unerbittlichkeit holt sie das eitle Menschleinvon allen seinen ruhmredigen Höhen herunter, und setzt es inden Staub, und stopft ihm den Mund. Und mit immer der glei-chen treuen Erbarmung hebt sie, die zerschlagenen Herzens undgedemütigten Geistes sind, ans Herz des erlösenden Gottessoh-nes und bringt den Unmündigen, Einfältigen und Armen dasHimmelreich der Vaterliebe des lebendigen Gottes.

Wen die Bibel so hat in den Staub werfen und dann in Christusso zum Throne Gottes hat erhöhen können, dessen Seele, unddamit auch dessen Denken, ist genesen. Man braucht nicht mehrGott und die Wahrheit zu suchen, man hat sie gefunden. Dasbefreit von viel bisherigem Ballast. Früher suchte ich in tausendBüchern und vernachlässigte das eine; seitdem ich aber in dem einenalles gefunden, vernachlässige ich ohne Verlust die tausend. Es bleibtmir auch immer eine unbereubare Tat, dass ich nach meinerBekehrung, nämlich nach Unterordnung meines Denkens unterdie Bibel – als ich aus dem Wort der Wahrheit gezeugt wurde(Jak 1,18) – nahezu ein halbes Jahrzehnt nichts wesentlich ande-res als die Bibel selber las. Ihre mir sich öffnende Fülle nahmmich derart hin, dass ich keine anderen Schätze der Weisheitund Erkenntnis mehr begehrte als die, die in der Bibel, in Chris-tus sind. Ich wollte mir aber auch das Quellwasser aus GottesBrünnlein derart gründlich durch den Kopf laufen lassen, dasses alles wegspülen sollte, was sich da von früher her an Men-schenweisheit festgesetzt hatte. Ich wollte eben göttliches Denkengegen menschliches vertauschen und habe diesen Tausch nie be-reut; denn nur so lernt man freudig glauben und fröhlich seinesGlaubens leben.

Umgekehrt stört nichts so sehr die Befestigung im Glauben wie dieVernachlässigung des Wortes. Jede Viel- oder gar Allesleserei beeinträch-

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Lass dir genügen am Bibelwort!

tigt, durchkreuzt oder zerstört die Erlernung des biblischen Denkens.Es wirkt dies wie eine fortwährende Trübung, ja Verunreinigungder göttlichen Wahrheit und Klarheit. Allerlei irdische Fremd-stoffe werden dem Himmelsstrome beigemischt, die sich dannin unserem Kopfe festsetzen und die Klärarbeit, die der HeiligeGeist mit uns vorhat, verderben. Besonders unsere Gebildetensind in ihrem Denken ganz verschlackt und größtenteils unfähiggeworden zur Einfalt in Christus (2Kor 11,3). Wie Not täte ihremKopfe eine biblische Reinigungskur! Aber es graut ihnen vornichts mehr als vor dieser. Im Gegenteil, sie meinen immer, siemüssten die Bibel reinigen und klären.

Dazu gehört ihr unzulängliches Reden wider den »Buchstaben-glauben«, das auch Gotteskinder noch nachschwatzen. Wie vieleGläubige missbrauchen das Pauluswort: »Der Buchstabe tötet,der Geist aber macht lebendig« (2Kor 3,6) ganz wie verblendeteKinder dieser Welt! Sie sollten doch wissen, dass Paulus dort vomtötenden, weil richtenden, in Stein eingegrabenen Buchstabendes Sinaitischen Gesetzes redet, aber niemals den Buchstabender Heiligen Schrift in Gegensatz zum Geist der Heiligen Schriftstellt. Im Übrigen kommt ein toter Buchstabenglaube, der nurdas äußere der Schrift bejaht, als biblischer Glaube gar nicht inBetracht; denn die Bibel kennt keinen Buchstabenglauben.

So verlieren denn gewöhnlich die, die um den Buchstabenfeilschen, den Geist des Wortes, und die immer dem Geist derSchrift aufhelfen wollen, verlieren den buchstäblichen Halt amWorte. Erstere verfallen einem fanatischen Formalismus, letztereeinem schriftfälschenden und schriftzerfetzenden Rationalismusoder Spiritualismus. Vielleserei, die sich nicht am schlichten in-neren Wert des Gotteswortes genügen lassen will, ist die Ursachesolcher Entartung. So treibt man in einseitige Richtungen oder inallerlei blendenden Irrtum hinein. Wie viele sind z. B. so über dieBibel hinweg in Spiritismus, Theosophie oder in die »ChristlicheWissenschaft« hineingeraten! Da heißt es: »Bleibe im Bibellandeund nähre dich redlich!«

Dabei wirst du je länger desto deutlicher herausfinden, dass dieBibel weder ein menschlich plattes Dogmenbuch für blindgläubigeLeute, noch ein versiegeltes Geheimbuch für nur Eingeweihte,sondern Gottes wundersame Vatergabe an uns alle ist, aller An-nahme wert (1Tim 1,15), »von Gott eingegeben, uns zu nützenzur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Ge-

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Dein Wort ist meines Fußes Leuchte

rechtigkeit, dass ein Mensch Gottes sei vollkommen, zu allemguten Werk völlig geschickt« (2Tim 3,16.17). Darum lies sie auchfortlaufend, so wie sie untereinander zusammenhängt und durchsich selber steht und für sich selber redet. Dabei wirst du auchimmer unabhängiger von Kommentaren, Auslegungen, Bibellese-zetteln und christlichen Blättchen werden, deren Hilfe du nichtverschmähen sollst, die aber doch, genau wie die Bibelstunden,immer nur Anleitungen für den persönlichen Schriftgebrauchsein sollen. Wer immer bei den Anleitungen stehen bleibt, wirdnie mündig werden und als glückseliger eigener Entdecker eineeigene Bibel bekommen.

Alles, was du neben der Bibel liest, muss dich also in die Bibelhinein weisen, und in der Bibel muss dich alles auf Jesus hinwei-sen. Vermerke auch, wenn du willst, deine eigenen Funde undEntdeckungen im Reiche der Bibel wie die Erforscher der Erdteileihr Vordringen mit Standort und Datum auf der Landkarte ver-zeichnen. Ich habe beim Schriftgebrauch auch die Gewohnheit,alle Sündenbezeichnungen und Gerichtsandrohungen blau undalle Verheißungen und Verherrlichungen rot anzustreichen. DieFarbenunterschiede dienen zur späteren guten Unterscheidung,und manche Blätter meiner Bibeln und Testamente voll gehäufterVerheißungen und Verherrlichungen sind dabei rot gewordenwie ein Rosengarten.

Liest du so deine Bibel, so wird dir das Buch der Bücherimmer mehr alle anderen Bücher ersetzen und dir volle Genügebringen. Achte dabei auch weniger auf die genauesten Übersetzungenaus den Urtexten als vielmehr auf deine Übersetzung des immer sichgleichbleibenden Urwertes der Heiligen Schrift ins praktische Leben.So wird dir die Bibel allmählich nicht nur die Bücher, sondernauch die Menschen ersetzen. Der rechte Schriftgebrauch macht,wie die rechte Jesusnachfolge, immer einsamer. SchwatzendeGesellschaftsmenschen lernen beides nie.

Was du an Verkehr mit der Menschenwelt verlierst, gewinnstdu an Verkehr mit der Himmelswelt und an Bekanntschaft mitden Männern und Frauen der Bibel. Mir zum Beispiel steht derApostel Paulus näher als alle heute auf Erden lebenden Leute.Aber über alles hinaus befähige dich das teure Gotteswort zumVerkehr mit Gott in Christus Jesus selber!

Das bringt uns zum Dritten:

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Lies deine Bibel betend!

Lies deine Bibel betend!

So wie Gott uns sein Wort gegeben hat, um mit uns zu verkeh-ren, so müssen wir lernen, sein Wort zu benützen, um mit ihmzu verkehren. Allerorts gibt’s Gläubige, die jammern, sie hättennichts vom Bibellesen, sie verständen die Bibel nicht. Es ist bei-nahe immer so, dass dies Leute sind, die ihre Bibel nicht betendlesen. Sie wollen die Bibel lesen wie einen Roman oder gar wiedie Zeitung. Ihr noch fleischlich-irdisch gerichteter Sinn sucht»Interessierendes«. Kommt dieser Sinn nicht auf seine Rechnung,so haben sie nichts vom Lesen. Sie wollen das Wort ohne Abhän-gigkeit vom Geist gebrauchen, d. h. ohne verborgenes Leben mitChristus in Gott, ohne innere Stille und ohne Genüge am Wort.So bleiben sie abhängig von der Armseligkeit ihres Verstandesund dem Stimmungswechsel ihrer ungestillten Seele. Infolgedes-sen sind sie schon zu träge, um Weisheit zum Verständnis desSchriftwortes zu bitten. Und doch heißt es: »Wenn aber jemandvon euch Weisheit mangelt, so erbitte er sich solche von Gott, derallen einfach, ohne Vorwurf gibt, so wird ihm gegeben werden.Er bitte aber im Glauben und zweifle nicht« (Jak 1,5.6).

Wie kann der, der überhaupt nicht bittet, göttliches Schriftgutempfangen? Wie kann der zweifelnd Bittende Einfalt zur Weisheitgeschenkt bekommen? Also werde erst einmal in Unmündigkeitund Geistesarmut abhängig von Gott, dann wirst du auch einBittender und als solcher ein Empfangender und allmählich Ver-stehender werden! Den in sich selbst Weisen und Verständigenhat es der Herr des Himmels und der Erde verborgen (Mt 11,25),– weshalb so viel gelehrter und ungelehrter Unsinn über die Bi-bel geschwatzt und geschrieben wird –, aber den einfältig undunmündig Bittenden offenbart Gott sein Wesen und seine Wegedurch sein Wort und seinen Geist. Aber er offenbart sich immerstufenweise von Klarheit zu Klarheit (2Kor 3,18) und nach derWeise, wie du es nötig hast; darum lerne von Gott in demütigstiller Geduld, die des Bittens nicht müde wird!

Paulus wusste, was den Gläubigen nottat, darum benachrich-tigt er sie in beinahe jedem seiner Briefe, dass er für sie umWeisheit, um erleuchtete Herzensaugen, um jede Erkenntnis undum den so notwendigen Prüfgeist bittet, damit sie nicht Kinderam Verständnis bleiben sollen, sondern durch das Wort der Of-fenbarung Gottes erfüllt seien mit der Erkenntnis des Willens

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Gottes in aller geistlichen Weisheit und Einsicht, um nicht eineBeute der Menschenweisheit zu werden (Eph 1,15–18; Phil 1,9–11;Kol 1,9–11; 1Thess 2,13; Kol 2,8; 1Tim 6,20.21).

Heute, wo so viel in der Bibel gelesen und so wenig bibli-sches Denken dabei erlernt wird, sind solche Gebete für dasVolk Gottes so nötig wie je. Es ist eine Tatsache, dass den meis-ten Gläubigen geistliche Weisheit und Erkenntnis fehlen. Wiewären sonst die Unsicherheit in Lehrfragen, die Ratlosigkeit inpersönlichen Lebensfragen, das Zickzack- oder Kreislaufen vonRichtung zu Richtung, von Versammlung zu Versammlung, dashaltlose Rennen von Seelsorger zu Seelsorger, das ebenso häufigewie nutzlose Sichaussprechen, kurz das ganze unbefestigte Glau-bensleben, das nie die Stetigkeit der biblischen Linie erreichenund einzuhalten vermag, – wie wären sonst diese Kläglichkeitenmöglich?

Aber das ist es ja: Man läuft eben zehntausendmal lieber denirrenden Menschen, als einmal still, genügsam und betend derBibel nach! Immer hängt man sich – wenn auch noch so oft betro-gen – an Parteien und Parteihäupter, als einmal gründlich an dieruhige, klare Weisheit des Wortes Gottes selber. Man läuft ebenlieber anhaltend mit dem eigenen Fleisch dem Fleisch der Kreaturnach, als dass man nur eine Stunde, Weisheit erwartend, mit derBibel vor Gott im Geist auf den Knien liegt. Man schwatzt lieber,als dass man betet. Man hört lieber jeden berühmten Redner, alsdie Rede des Heiligen Geistes im unmittelbaren Gotteswort. Sowechselt man so und so oft die Form der Gottseligkeit, ohne eineinziges Mal in der fruchtbaren Kraft Gottes im Geist wandeln zukönnen; denn man bleibt ohne leitende und stärkende geistlicheWeisheit.

Mir schrieb einst eine Person, ich solle ihr doch schleunigsteinen »Trostbrief« schreiben, ihr »alter Gemütsdruck« sei soebenwieder gekommen. Postwendend schrieb ich zurück: »HabenSie nicht die ganze Bibel als ›Trostbrief‹? Lesen Sie schleunigstin dem!« – So erhofft man sein Heil von menschlichen Briefen,anstatt von den Bibelbriefen Gottes, die er jedem von uns durchden Heiligen Geist geschrieben hat. Und dann wundert man sichnoch, wenn der »alte Gemütsdruck« immer wieder kommt!

Hat nicht ein Kind Gottes sein ganzes Glaubensleben, damitwährend der Dauer desselben die Weisheit der Bibel darin hei-misch werde? Sollte es nicht wirklich betend über dem Worte

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Lies deine Bibel betend!

sinnen bei Tag und bei Nacht? Denn das kann man sowohl beider Arbeit als auch in Nachtwachen. Auch würde man bei treu-em betendem Schriftgebrauch die wörtliche Form des Wortesbleibender bekommen. Was der Geist uns mitteilt, übermittelter uns gewöhnlich in eindrucksvoller Klarheit, auch erinnerte eruns stets an das Mitgeteilte. Da kommt es also gar nicht so aufsGedächtnis oder aufs mechanische Auswendiglernen an.

Viele klagen immer, sie könnten das Wort nicht behalten. Siesollten sich aber nicht um ihr schwaches Gedächtnis, sondern nurum die rechte Innigkeit ihres Hanges am Munde Gottes sorgen,von dem der Sohn Gottes gesprochen: »Sorget nicht, was ihrreden sollt. Denn nicht ihr seid die Redenden, sondern der Geisteures Vaters, der in euch redet« (Mt 10,20) und: »Der Beistandaber, der Heilige Geist, der wird euch alles lehren und euchan alles erinnern« (Joh 14,26). Es gibt keinen zuverlässigerenGedächtnisstärker als den Heiligen Geist. Wer betend die Schriftaufnimmt, erfährt es.

Wer das tut, darf auch unter Umständen betend seinen Gott ausder Schrift befragen (Jes 8,19). Das ist aber eine ganz besondersgeistliche Sache. Da ist zu sagen: Wer im allezeit geschäftigenIchgeiste lebt, der glaube nur ja nicht, dass er mit dem HeiligenGott und seinem Willen ein Bibel-aufklapp- oder Spruchkarten-Ziehspiel betreiben könne. Solch heidnischer Orakeldienst könntesich schwer rächen. Wer aber als ein stiller, genügsamer, betenderBibelchrist das mit Christus in Gott verborgene Leben lebt und sounter der Leitung des Heiligen Geistes sein Ohr stets am MundeGottes hat, der darf – wenn er sonst weder Rat noch Antwortweiß, auch einmal ins Vaterohr flüstern: »Vater, tu mir deinenWeg und Willen kund durch das Geschenk eines besonderenWortes!«

Ich habe auf diese Weise unzählige Male in Stunden der Be-drängnis die zuverlässigsten Weisungen und erhebendsten Trös-tungen in allerauffälligster Deutlichkeit bekommen. Aber beianderen, nicht minder geistlichen Christen versagt dieser Schrift-gebrauch. Wenn dir aber gebetserhörende Weisung aus demWorte geschenkt wird, so vermerke den Empfang zur dankbarenErinnerung neben der betreffenden Schriftstelle. Eine derart ge-brauchte Bibel wird dir und deinen Nachkommen ein Zeugnisder Güte und Treue Gottes und zugleich eine Bestätigung dafürsein, dass Gott sich an sein unveränderlich lebenskräftiges Wort

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bindet, um auch uns daran zu binden, damit wir »bibelfeste«Leute werden. Was ist aber Bibelfestigkeit?

Das führt uns zum Letzten:

Bleibe im Wort!

»Wenn ihr bleibet in meinem Worte, so seid ihr wahrhaft meineJünger« (Joh 8,31). Es gibt immer zweierlei Nachfolger Jesu: Dieeinen bleiben und leben im Wort, die anderen bleiben und lebenin sich selbst. Die ersteren lassen sich leiten von der WeisheitGottes und der Erbarmung Gottes auf Grund der Tat Gottes inChristus Jesus, wie sie die Schrift kundtut, und leben bleibendgebunden ans allein maßgebende, Licht und Kraft spendendeWort. Die anderen blicken wohl auch ins Wort hinein und be-schauen da wie in einem Spiegel ihr leibliches Angesicht undbetrachten sich im Lichte Gottes, aber nachher laufen sie davonund haben sogleich vergessen, wie sie gestaltet waren. Es sinddie vergesslichen Hörer und Leser, die sich gründlich in Bezugauf sich selbst und Gott verrechnen, denn das Wort wird in ihnennicht Tat, sondern sie bleiben wie sie sind (Jak 1,22–25). Jetztsitzen und hören sie in der Bibelstunde und gleich nachher lau-fen sie wieder ihren eigenen irrseligen Gedanken nach. Hängensich wieder an ihre windigen Gefühle, stürzen sich wieder inihr selbstsicheres Tun und sind damit wieder ganz dem Worteentlaufen.

So erliegen sie denn auch sicher dem nächsten Zweifel, dernächsten Laune, der nächsten Versuchung. Denn nicht die bib-lisch geoffenbarten Gottesgedanken binden und leiten sie, son-dern die unzulänglichen eigenen Gedanken. Nicht der im Wortebezeugten Erbarmung Gottes vertrauen sie, sondern dem Schaumihrer unbeständigen Gemütsstimmungen. Nicht die Tat Gottesin Christo ist ihr sicherer Grund und Halt, sondern vom Wertoder Unwert ihrer eigenen Tat sind sie ein- und hingenommen.Natürlich bleiben sie kraft-, freud- und fruchtlos, unseliger alsdie Weltkinder. Die Zweifel plagen sie, die Gefühle narren sie,ihr Mühen enttäuscht sie. Immerdar hören sie, aber nie lernensie vom Worte leben, nämlich im Worte bleiben.

Ach, wie groß ist die Zahl solcher am Glauben Kranken! Sie könnenund wollen es nicht begreifen, dass biblisch glauben nichts anderes heißt,

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als Gott in seinem Worte recht geben, sich allein auf sein Wort stützenund ihn allezeit beim Wort nehmen, um durch sein Wort zu leben. Siealle haben das Kreuz als das strenge Todesgericht über unser Ei-genleben nicht begriffen. Sie alle haben keine wirkliche biblischeBuße als Selbsterkenntnis, Selbstbeschämung und Selbstverwer-fung erlebt. Sie alle haben ihr Leben nicht an Christus und seinEvangelium verloren. Sie alle haben nicht begriffen, dass wir nachdem Wort mit Christus Gekreuzigte, Gestorbene und Begrabenesind, deren eigenes Denken, Fühlen und Tun abgetan ist.

Und sie alle haben nicht ergriffen, Christus als ihr neues, ewi-ges und alleiniges Leben, als ihre alleinige Weisheit, Gerechtigkeit,aber auch Heiligung und Erlösung nach der Schrift (1Kor 1,30)!Sie alle haben bisher nicht Gott recht gegeben, sondern sich selbst.Ihr Glaubenssprüchlein lautet: Ich denke, ich meine, ich fühle, ichspüre, ich will auch, ich kann nicht! Sie alle glauben im tiefstenGrunde an nichts anderes als an sich selbst, nämlich an ihr eige-nes Können und Nichtkönnen. Sie leben nicht im Wort und nachdem Wort, sondern in ihrem eigenen Wesen und für ihr eigenesWesen. Aber das Wort kann sie dennoch gesund machen (Ps 107,20).

Einst kam eine Frau in hellem Entsetzen zu mir gelaufen underklärte, der Heiland sei seit sieben Uhr morgens von ihr ge-wichen; sie habe es ganz genau gespürt. Ich kannte ihren nichtim Wort befestigten Geist, der noch nie recht mit des HerrnGeist eins geworden war, und suchte ihr die seelische Stimmungzunächst vernunftgemäß auszureden; aber sie blieb bei ihremJammer. Da bat ich um ihre Bibel, öffnete mein Taschenmesserund sagte: »Wenn Sie es so ganz genau gespürt haben, dass derHeiland seit heute Morgen sieben Uhr von Ihnen gewichen ist,dann erlauben Sie, dass ich die Stelle Matthäi am letzten aus IhrerBibel herausschneide, denn die hat dann in Ihrer Bibel nichtsmehr zu tun!« und setzte die Spitze der Messerschneide an denBeginn des Satzes: »Und siehe ich bin bei euch alle Tage.« Dochschnell fuhr sie nach meiner Hand und rief aus: »Sie werden mirdoch meine Bibel nicht zerschneiden wollen?« – »Doch!« entgeg-nete ich, »entweder – oder! Entweder hat Ihr Spüren recht oderdie Bibel! Und Sie sagen ja, Ihr Spüren habe recht, also herausmit der Lüge aus der Bibel! Oder wer soll jetzt recht haben, IhrGefühl oder Gottes Wort? Wem wollen Sie glauben?« Da rief sieeinsichtsvoll aus: »Gottes Wort!« und lernte von Stund an, sichaufs Wort stützen, und genas in ihrem Glauben.

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Oh, wenn es doch recht viele lernen wollten, was es heißt:im Wort bleiben, nämlich im Wort und aus dem Wort leben!Denn das allein bedeutet Bibelfestigkeit und Schrifterfüllung,wobei die praktische Missachtung des Wortes Gottes und damitsowohl der ichweise Hochmut als auch die ichtörichte Schwermutverschwinden müssen.

Dazu aber ist es nötig, das Wort Gottes förmlich zu essen;denn man kann nur von dem leben, wovon man sich regelmäßigernährt (Lk 4,4). Da genügt noch nicht einmal das stille, betendeSchöpfen aus dem Wort in der Morgenfrühe, noch viel wenigerdas gemeinsame Einsammeln des Wortes bei den Familienan-dachten; denn welch ein vergesslicher Hörer ist der Mensch! Nein,da ist es nötig, sich immer einige besonders nahrhafte Gottes-worte für den Tages- und Nachtbedarf ins Herz zu schieben undsie tatsächlich mit sich zu führen, bei sich zu behalten, wie manmeinetwegen belegte Butterbrote für die Reise mitnimmt, umfrischweg in sie hineinzubeißen, wenn einem unterwegs schwachwerden will.

So stärkte ich mich zum Beispiel schon seit vielen Jahrenan dem unerschöpflich nahrhaften Wort: »Der Herr ist treu!«(2Thess 3,3), das ich immer mit mir führe und das mich vieltau-sendmal im Nu über alle sich einschleichende Seelenbeunruhi-gung hinausgehoben hat. Ebensolche Dienste leisten mir täglichder 23. und 103. Psalm. Gegen Sorgen gibt’s gar nichts Besseresals Hebräer 13,5 und 1. Petrus 5,7, in Versuchungen nichts Schla-genderes als Jakobus 4,7 und 1. Petrus 5,9, und des Herrn ewigneue Zurufe: »Wachet und betet! Fürchte dich nicht, ich bin mitdir! Sei getrost! Sei guten Mutes!« und viele andere Worte mehr.

Nimm sie nur und gebrauche sie, diese einfachen Hausmittelaus dem Gottesschrein der Heiligen Schrift, dieses hausbackeneBrot, das die Glut der Liebe Gottes für dich schmackhaft geba-cken hat. Würdest du mehr tatsächlich davon leben, wie fröhlichwürde dein Glaubensleben gedeihen! Aber man lässt lieber dieGottesworte in der Bibel oder im Andachtsbuch stehen oder ander Wand hängen und lässt sich vom menschlichen Wähnen undSpüren beschweren und betrügen. Ach, wie wenige wissen alsgute Streiter Christi das Wort Gottes als »Schwert des Geistes«gegen den Riesen Zweifel, gegen die Hexe Schwermut und gegendie Schlange Versuchung zu zücken!

Manche meinen auch, das fleißige sich Vorhalten und stete

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Bleibe im Wort!

sich Einreden des Gotteswortes habe nur illusorischen, autosug-gestiven Wert, das heißt, man lebe da nur von Einbildungen.Das wäre zutreffend, wenn man es auf unsere unzulänglichenGedanken und schwankenden Gefühle beziehen würde; dennda wirken tatsächlich die verblendeten Sinne der menschlichenSelbsttäuschung unterm Betruge Satans, des Gottes dieses Zeital-ters (2Kor 4,4) zum Verderben.

Aber das Wort und Reich Gottes ist Geist und Kraft aus derHöhe. Beweis: die Lebenserneuerung jedes Glaubenden, der imWorte bleibt. Also lasset uns still, genügsam und betend im Wortebleiben, dass die Schrift in und durch uns erfüllt werde und dasWort des Herrn auch zur Errettung der Ungläubigen laufe undgepriesen werde (2Thess 3,1)!

Was ein treuer Wahrheits- und Leidenszeuge der Alten Kir-che, Chrysostomus, d. h. Goldmund, Bischof von Konstantinopel,gestorben im Jahre 407, vor eineinhalb Jahrtausenden in seligerGlaubensfreude bezeugen konnte, das können auch wir heuteals Inhaber desselben Bibelwortes und des gleichen kostbarenGlaubens frohlockend bezeugen, nämlich: »Ich habe Sein Wort. Dasist mein Stab. Das ist meine Sicherheit. Das ist mein Hafen. Die ganzeWelt mag voll Unruhe und Verwirrung sein. Ich erschrecke nicht. Ichhabe Sein Wort. Ich lese die Heilige Schrift. Das ist meine Schutzwehr.Darauf verlasse ich mich. Die Wogen mögen über mich zusammenschla-gen. Das Meer mag wüten. Die Gewaltigen mögen toben. Ich achte dasalles so wenig wie Spinngewebe!«

Wie zeitgemäß klingt dieser alte Ausspruch! Oh wunderba-res Gotteswort voll zeitüberdauernder, rettender Lebensmacht(Mt 24,35)! Dich habe ich in dieser ersten Lektion den teurenLesern lieb machen wollen! Nun möge niemand bei der bloßensogenannten »Bibelbetrachtung« stehen bleiben, sondern dich, duteures Wort, allezeit tatsächlich haben und benützen als ein nietrügendes Licht auf seinem Wege und als die nie verlöschendeLeuchte seines Fußes!

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Das Geheimnis des Glaubens

. . . die das Geheimnis des Glaubens in reinem Gewissen bewahren.

1. Timotheus 3,9

Obgleich die Bibel kein Geheimbuch für nur wenige Eingeweihteist, sondern die Gabe der Offenbarung Gottes an alle Menschen,so ist sie doch voller Geheimnisse, die sich nur dem biblischGlaubenden erschließen; denn »das Geheimnis des Herrn istfür die, die ihn fürchten, und seinen Bund lässt er sie wissen«(Ps 25,14). Alle Geheimnisse der Bibel aber gipfeln in dem einen»anerkannt großen Geheimnis der Gottseligkeit: Gott ist geoffen-bart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln,gepredigt unter den Völkern, geglaubt in der Welt, aufgenommenin die Herrlichkeit« (1Tim 3,16). In der glaubensvollen Annahmedieses anerkannt großen Geheimnisses der Gottseligkeit gipfeltauch der Glaube selber, von dem in der ganzen Heiligen Schriftdie Rede ist. Und im Rahmen des großen Geheimnisses der Gott-seligkeit wird der Glaube selber zum Geheimnis. Geheim an ihmist sein Ursprung, nämlich seine Entstehung im Menschenher-zen, geheim verlaufen seine Wirkung und Vollendung (1Kor 2,11;Phil 2,13; Hebr 12,2; Phil 1,6; Kol 3,3; Jak 2,22; 1Joh 3,2).

Darum bedarf das Geheimnis des Glaubens selber der Enthül-lung und Darstellung, was freilich immer unzulänglich bleibenwird; denn nur das Erleben des Glaubens bringt die Erfahrungdes Glaubens und damit die Enthüllung des Glaubensgeheimnis-ses. – Indes gibt uns aber die Bibel selber mancherlei Aufklärungüber das Geheimnis des Glaubens, damit die bereits Gläubigendie Kostbarkeit ihres Glaubens (2Petr 1,1) recht werten und ver-werten lernen sollen. Auch sollen die Schwachen im Glaubenund die Kranken am Glauben (Röm 14,1; 1Kor 9,22; 1Thess 5,14

und 3,10; Tit 1,13) durch die Unterweisung im Geheimnis desGlaubens gestärkt, befestigt und gesund werden. Und da sei esgleich gesagt: So wie alle Verfehlungen der Kinder Gottes Ver-fehlungen am Wort Gottes, nämlich mangelnde Schrifterfüllungsind, so ist jede Unzulänglichkeit der Gläubigen zurückzuführen

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auf mangelnden Glauben. Wie wir zum Worte Gottes stehen,so stehen wir im Glauben. Was uns an Schriftgrund fehlt, fehltuns an Glaubensgrund. Was uns an Schriftgebrauch fehlt, fehltuns auch an Glaubensbestätigung. Das Geheimnis des Glaubensdeckt sich mit dem Geheimnis Gottes und Christi (Kol 2,2 und 4,3;Offb 10,7) im ganzen Bibelbuch.

»Der Glaube«, sagt der Apostel Paulus, »kommt aus der Pre-digt, die Predigt aber durch Gottes Wort« (Röm 10,17). BiblischerGlaube erwächst allein aus der Bibel. Der Allerwelts-, Straßen-,und Gassenglaube, nämlich das geläufige menschliche Wähnenund Meinen, ist der eine große Gegensatz zum biblischen Glau-ben und birgt kein anderes Geheimnis in sich als das der Gesetz-losigkeit (2Thess 2,7), weil er auf Übertretung und Irrtum beruht.Willst du biblisch glauben lernen, so muss dir irgendwie dasGeheimnis Gottes und Christi als das Geheimnis des Königreichsder Himmel (Mt 13,11) durchs Bibelwort nahegebracht werden,sonst kann dir das Geheimnis des Glaubens nie geoffenbart nochzuteilwerden. Gott verbirgt Seine Geheimnisse in Seinem Wort.Die Bibel ist Gottes weisheitsvolles Planwerk, voll des innigsten,aber oft verborgen weiterlaufenden Zusammenhangs, voll derunwandelbarsten Einheitlichkeit bei aller scheinbaren Gegensätz-lichkeit. Sie ist wie ein teils ober-, teils unterirdisch verlaufendesBauwerk, dessen Gänge und Kammern angefüllt sind mit denSchätzen der Weisheit und Erkenntnis Gottes. Aber alle dieseReichtümer hebt nur der, dem das Geheimnis des Glaubens ent-hüllt ist. Soll es sich dir enthüllen, so ist dies das Erste und dasLetzte:

Unterwirf dich der Führung durch die Heilige Schrift!Sie selbst und nichts anderes kann dich sicher hinein-führen in das Geheimnis des Glaubens.

Höre sorgfältig auf ihr Wort. Betrachte jeden Satz als eine Meister-rede, die dir, dem Lehrling, gilt. Beuge dich willig ihrer Unterwei-sung, Überführung und Züchtigung. Denke immer: Die HeiligeSchrift weiß mehr als ich. Ich will mich ihr mit Hingebung nahenund ihr immer mehr zutrauend mein Ohr leihen. Damit näherstdu dich bereits der Schwelle des Glaubensgeheimnisses. Immermehr wirst du Gottes Stimme im Worte Gottes erkennen und ih-ren Inhalt immer williger in dich aufnehmen. Das ist der Anfang

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Das Geheimnis des Glaubens

des schriftgemäßen Glaubens; denn Glauben heißt: Gott rechtgeben, auf Grund Seines Wortes! Glauben heißt: Gott in seinemWort erkennen und sein Wort nehmen wie ihn selber und ihnselber wie sein Wort. Also Gott beim Wort nehmen, das heißtglauben.

Aber wo steckt da das Geheimnis? Höre, das ureigentlicheGeheimnis des Glaubens steckt in der Ichverneinung des Glau-benden.

Das lasst uns jetzt recht erkennen; denn davon hängt allesweitere ab, und nichts lernt der Mensch langsamer als dieses!Höre: Wer Gott aufgrund des Wortes Gottes recht geben will, mussnämlich sich selber unrecht geben. Wer anfangen will, Gott zu glauben,muss aufhören, sich selber zu glauben. Wer Gott zusagen will, musssich selber absagen. Wer Gott vertrauen will, muss sich selber misstrau-en. Wer Gottes Weisheit und Wesen gewinnen will, muss die eigeneWeisheit und das eigene Wesen verlieren.

Aber warum dies alles? Weil Gottes Gedanken nicht unsereGedanken und unsere Wege nicht seine Wege sind! Sondern soviel der Himmel höher als die Erde ist, so sind Gottes Wege höherals unsere Wege und seine Gedanken höher als unsere Gedanken(Jes 55,8.9). Nun aber sind die himmelhoch das menschlicheDenken überragenden Gedanken Gottes durch die OffenbarungGottes in der Heiligen Schrift zu uns auf die Erde gekommenund uns durch auserwählte Werkzeuge Gottes kundgemachtworden (Hebr 1,1.2; 2Petr 1,21). Und damit ist die Bibel daswunderseltsame Buch geworden, das uns in die himmelhohenGedanken der heimlichen, verborgenen Weisheit Gottes (1Kor 2,7)und in die Wege Gottes einführen will, um uns zu befähigen,biblisch-göttlich denken und handeln zu lernen.

Dabei sollen wir unsere erdenniedrigen Menschengedankengegen Gottes hohe Himmelsgedanken vertauschen und unsere ir-dischen, irrenden Menschenwege gegen Gottes ewige Wahrheits-und Heilswege aufgeben lernen. Das führt aber zu ganz gewalti-gen Zusammenstößen. Denn der Mensch ist bis in die Wurzelnseines adamitischen Wesens verankert im allgemeinen und ei-genen menschlichen Denken und will und kann es nicht fassen,dass dies Denken ein gottfernes, weil von Gott entfremdetes undalso vor Gott unzulängliches Denken sein soll. Um jeden Preismöchte er die Menschenweisheit als bereits göttliche Weisheithinstellen und mit ihr den Himmel ersteigen, und um keinen

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Preis möchte er einsehen, dass die Maßstäbe seiner irdischenDenkgesetze weder zur Selbsterkenntnis noch zur Gotteserkennt-nis ausreichen. So ist dem Menschen nichts natürlicher als derGlaube an sich selbst und der Zweifel an der Heiligen Schrift,die seinem Denken geradezu ins Gesicht schlägt.

Wie sollte er ohne weiteres glauben können? Ja, zu einem Glau-ben an einen »unbekannten Gott«, den das für Gott geschaffeneHerz tastend ahnt und der bei gutem Willen schließlich noch ausseinen Werken in der Natur zu ersehen ist, reicht der mensch-liche Gedanke noch aus, aber der biblische Glaube scheint ihmunannehmbar, und sein Geheimnis erledigt man am liebsten alsTorheit und Ärgernis (1Kor 1,18.23 und Kapitel 2).

Wie soll ein Mensch sich selber den Mund stopfen und denLauf seiner Natur abstellen? Er kann es nicht. Deshalb kann auchniemand aus sich selber ins Geheimnis des Glaubens eindrin-gen und aus eigenem Vermögen glauben lernen. Wohl wimmeltes allenthalben von Versuchen, sich in den biblischen Glaubenirgendwie hineinzudenken, um ihn dann zu besitzen. Aber sol-chem nur logischen Denkwerk fehlt stets das göttliche Siegel,fehlt eben – das Geheimnis. Das Geheimnis kann nur Gott wir-ken. Es gibt eine Erziehung zum Glauben, aber die kann nichtdas Geheimnis des Glaubens schenken. Es gibt ein allgemeinesund ein besonderes fachmäßiges Studium des Glaubens, abernoch ist keinem das Geheimnis auf diesem Wege aufgegangen,wenngleich er auch in allen Würden predigte. Ja, es ist etwasAnbetungswürdiges, wie Gott das Geheimnis des Glaubens hütetund es vor der selbstklugen Findigkeit der Weisen und Verständi-gen verborgen hält! Eben deshalb preist der Herr Jesus den Vaterals Herrn des Himmels und der Erde (Mt 11,25).

Gott senkt das Geheimnis des Glaubens nur in die hinein, die inIchverneinung vor ihm hinsinken! Das Geheimnis des Glaubensliegt auf der Schwelle der »engen Pforte«, von welcher der Herrsagt, dass viele danach trachten, wie sie hineinkommen, »undwerden’s nicht tun können« (Lk 13,24). Das sind die, die mitihrem breitschultrigen Ich ins Königreich der Himmel einmar-schieren möchten. Gott hat nun einmal unerbittlich vor die Erlangungdes biblischen Glaubens die biblische Buße gesetzt. Der Zuruf Jesulautet noch immer: »Tut Buße und glaubet an das Evangelium«(Mk 1,15)!

Gewiss kann niemand aus sich selbst seine Natur ändern und

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durch sich selbst über sich selbst hinauskommen, aber jederAufrichtige kann vor dem Spiegel des Wortes Gottes (Jak 1,23.24)seine entartete Gestalt erkennen und zum Bankrott, nämlich zurBuße gelangen. Biblische Buße ist die durch den Geist und dieKraft des Wortes Gottes uns geschenkte Fähigkeit, uns zu sehen,wie wir sind. Sie ist die Folge einer gottgemäßen Betrübnis zuunserer Errettung (2Kor 7,10).

Biblische Buße ist daher weder nur eine reumütige Anwand-lung noch ein bloßes Fassen guter Vorsätze oder ein Abbüßenauferlegter Strafen, nein, die biblische Buße ist etwas Grundum-stürzendes: sie ist ichstürzend! Sie schließt immer in sich ein:Selbsterkenntnis, Selbstbeschämung und Selbstverwerfung. Derverlorene Sohn kam zu sich selbst (Lk 15,1ff; wörtlich), endlicherlangte er Selbsterkenntnis, damit erlangte er auch Sündener-kenntnis (»ich habe gesündigt gegen den Himmel«) und kam zurSelbstbeschämung, die ihn hinab führte in die Selbstverwerfung(»ich bin nicht wert«).

Diesen Verlauf nimmt jede wahre biblische Buße. Sie ist dasEnde des eigenwilligen, selbständigen Ichlebens. Dieses alte eigen-willige, selbständige Ichleben hat immer drei Stützpunkte. die Selbst-klugheit im Kopf, die Selbstgerechtigkeit im Herzen und das Selbstkön-nen im Arm. Das ist die Dreieinigkeit aller unbußfertigen, ungläubigenLeute, die nur gestürzt wird durch die Gottesmacht der biblischen Buße.Was ist aber ein Mensch der sich nicht mehr auf seinen Kopf,sein Herz und seinen Arm verlassen kann? Er ist ein Wrack, einScherben, ein Habenichts, heimat- und hilfsbedürftig treibt erdem Vaterhaus zu. Das ist das einzige, was er noch hat und kann.Diesen Bußgang scheuen die stolzen Menschen mehr als den Tod,und doch ist allein dieser Bußgang der Weg und Gang hinein indas Geheimnis des Glaubens.

Ohne Zweifel haben die meisten, die sich für »gläubig« halten, diesenichstürzenden Bußgang gar nicht wirklich erlebt. Es ist ihnen garnie eingefallen, sich so grundstürzend zu vereinen, so ihr Eigen-leben auf- und preiszugeben. Nie haben sie dies eigene Lebenwirklich gehasst, um es zu verwerfen (Lk 14,26). Wohl haben sievielleicht diese oder jene äußere Lebensgewohnheit aufgegeben,dieses oder jenes vom eigenen Lebensgut dran- und hingege-ben, aber sich selbst haben sie nie auf- noch drangegeben, nochnicht einmal theoretisch-grundsätzlich! Nein, fest und ichverliebt,ehrfürchtig und ichempfindlich sind sie eins geblieben mit sich

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selber! Und dennoch geben sie an zu glauben! Ihr Glaube ist aberauch danach.

Höre, so tief wie deine Buße geht, so hoch geht dein Glaube. Soweitdu noch mit dir rechnest, so weit bist du noch ferne davon, mitGott zu rechnen. Soweit du noch deiner Eigenweisheit vertraust,so fern bist du noch der Erlangung der Gottesweisheit. So sehrdu noch eins bist mit den windigen, gefühlsseligen oder gefühl-sunseligen Stimmungen, Begehren und Launen deines eigenenHerzens, so weit bist du noch entzweit mit dem unwandelbarenErbarmen der Güte des Herzens Gottes.

So viel du noch im eigenen Können und Tun wurzelst, sowenig ist noch Raum in dir für das Tun Gottes, und so wenigkann noch Christus wurzeln durch den Glauben in deinem Her-zen. Sitze in allen sogenannten Gottesdiensten, beteilige dichmit Einsetzung all deiner religiösen Ichkräfte an aller sogenann-ten Reichsgottesarbeit, weise hin auf all die erfolgreichen Tatendeiner frommen Ichentfaltung, du wirst durch alles dieses nurdeinen Glauben an dich selber betätigen und bestätigen, aberdas Geheimnis des Glaubens, von dem der Apostel redet, wohntnicht in dir; denn du bist nie durch die enge Pforte der ichstür-zenden, biblischen Buße hindurchgegangen. Und wenn du dichgleich an alles Mögliche hingegeben hast, so hast du doch niedein Leben dabei verloren.

Wo aber die rechtschaffene Frucht der biblischen Buße offen-bar wird, da ist diese bereits eingehüllt in das Geheimnis desGlaubens. Wer in solcher echten Buße aufhört an sich zu glauben,kann dies nur, weil er bereits insgeheim den neuen und unver-gleichlich größeren Glaubenshalt an Gott in Christus gewonnenhat. Biblische Selbstverneinung schließt allemal in sich ein diebiblische Gottes- und Christusbejahung. Wer wirklich an sichselber verzweifelt, muss entweder durch eigene Hand sein Lebenals Selbstmörder wegwerfen oder es an Gott in Christus verlie-ren, um im Glauben das neue große Gottesleben zu gewinnen;ein entleertes Leben kann nicht mehr in sich selber stehen. Indiesem Sinne ist die Bekehrung nichts anderes als die mit derBuße verbundene notgedrungene Abkehr von uns selbst undebenso notgedrungene Hinkehr zu Gott in dem Mittler JesusChristus. Dabei gibt es keine andere Möglichkeit mehr als diedes Glaubens.

Nun öffnet sich dir des schriftgemäßen Glaubens geheimnisvol-

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le Tiefe, Höhe, Länge und Breite. Du glaubst! Welches Wunder!Du, der bisher Ungläubige, glaubst! Das dir solang durchausUnmögliche ist nun deine einzige Möglichkeit geworden: Duglaubst! Eine neue Welt ist vor deinen neugewordenen Augen,ein neuer Boden unter deinen Füßen, eine neue nie gekannteKraft regt sich in dir, hält, hebt und trägt dich. Das wunder-bare Erleben deiner Buße und Bekehrung ist deinem logischenBegreifen weit voraus geeilt. Nun fordert dein alter VerstandRechenschaft: Was ist geschehen? Wie kam das alles?

Sonderbar: Du weißt es nicht! Du kannst einige äußerlicheVorgänge nennen, einen gewissen Her- und Zugang beschreiben,aber du weißt, es bleibt ein Rest, ein Rest, der gerade die Haupt-sache, der gerade das Ureigentliche ist, und den kannst du nichtnennen und nicht erklären: Es ist das Geheimnis des Glaubens!Sonderbar: Nichts ist dir klarer als dies Unerklärliche! Nichtsist dir offenbarer als dies Geheimnisreiche! Nichts hat dich je sogewaltig gepackt wie das eben Erlebte, das beinahe ohne dichgeworden zu sein scheint! Du weißt nur eins: Gott, der lebendigeGott, hat in dein Leben eingegriffen! Das Schwert seines Geisteshat dein innerstes Mark durchbohrt, dass du aufschreien muss-test: Weh mir, ich vergehe! Der Boden schwand dir unter denFüßen, wie Binden fiel es von deinen Augen, du sankst, fielsthinab wie in einen schauerlichen Abgrund. Als du so haltlosnach Hilfe schriest, wusstest du nur einen Retter: Jesus! Seitdembist du als ein neues Geschöpf (2Kor 5,17) mit ihm verbunden,inniger als ein Säugling mit seiner Mutter.

Das ist das Geheimnis des Glaubens als Geheimnis der Wieder-geburt. Weiß auch jemand, wie er geboren wurde? Du kannst wieJohannes die Stunde nennen, die dich an Jesus band, die dich dei-nem eigenen Leben entnahm, um dich fortan von seinem Lebenleben zu heißen, aber wie es eigentlich zuging, das weißt du dochnicht. Darum ist es auch so unmöglich, dein Erlebnis anderenfasslich zu machen. Du weißt, wie unfähig du dir vorkommst,wenn du anderen deine Bekehrung klar machen willst. Wir kön-nen schließlich zeugen vom Glauben, aber erzeugen können wirden Glauben nicht. Die Erzeugung des Glaubenslebens im Menschenist eine neuschöpferische Tat Gottes und darum ein noch höheres Ge-heimnis als die Erzeugung des irdischen Lebens. Gott wirkt, aberder Mensch muss bereit sein zum Empfang des Geheimnisses.Und diese Bereitschaft heißt, wie wir gesehen haben, Hören und

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Aufnehmen des Wortes Gottes, als unverderblichen Samen derWiedergeburt (1Petr 1,23 und Jak 1,18), und durch die Kraft desWortes Gottes bewirkte Buße, als Selbsterkenntnis, Selbstbeschä-mung und Selbstverwerfung zur Abkehr von uns und Hinkehrzu Gott im Mittler Jesus Christus, dem Bringer des neuen Lebens,eben des Glaubenslebens.

Und ist die Buße die durch das Wort vermittelte, gottgeschenkteFähigkeit, uns zu sehen, wie wir sind, so kann man nun sagen: DerGlaube ist die ebenfalls durch das Wort vermittelte, gottgeschenkteFähigkeit, Gott in Christus zu sehen, wie er ist.

Das biblische Glaubensleben ist tatsächlich ein Leben mit neu-en Sinnen, und nur als solches bringt es uns erlösende Freiheit.In diesem Sinne ist das Geheimnis des Glaubens das Geheimnis,mit neuen Sinnen eine neue Welt wahrzunehmen. Wer aus Gottgeboren ist, bekommt nicht nur eine Erneuerung seines Sinns alsneue Gesinnung (Röm 12,2), sondern auch neue Sinneswerkzeu-ge (Hebr 5,14), die der gottgeschenkten Fähigkeit, glauben zukönnen, entsprechen und im Dienste derselben gebraucht undgeübt werden müssen. Es ist dies ein ganz neues inneres Sehen,Hören, Tasten, Schmecken und Wahrnehmen. Ohne die Bildungund Ausbildung dieser geistlichen Sinneswerkzeuge gelingt keinGlaubensleben. Es sind die Glieder und Sinne des neuen, innerenMenschen in uns, eben des, der aus Gott geboren ist.

Diese Seite des Glaubensgeheimnisses ist so vielen Gläubigenganz fremd. Ihr Glaube hat keine brauchbaren Werkzeuge, durchdie er wahrnehmen, prüfen und empfangen könnte. Solche Gläu-bige sind den Organen des inneren Menschen nach Kindleingeblieben. Ihr Glaube hat weder ein geübtes Auge noch Ohr, we-der Hand noch Fuß. Wegen mangelnder Übung sind die meistengeistlichen Sinneswerkzeuge verkümmert. So ist es leider selbst-verständlich, dass solche Gläubige, die weder unterscheiden nochsich wehren können, wie in der Entwicklung zurückgebliebeneKindlein immer der äußeren Hilfe bedürfen und jedem knech-tenden Betrug durch Menschen ausgesetzt sind. Wie sehr hatschon der Apostel Paulus diesen Jammer beklagt (1Kor 3,1; 14,20

u. a. m.)! Mangelnde Glaubensbetätigung ist die Ursache diesesJammers.

Umso mehr äußert sich der lebendige Glaube als die gott-geschenkte Fähigkeit, ein neues geistliches Wahrnehmungsver-mögen zu betätigen. Die Epheser, weil sie glaubten, wussten

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auch, dass sie versiegelt worden waren, das heißt, ihr Glaubewar sogleich befähigt, das Zeugnis des Geistes wahrzunehmen(Eph 1,13 und Röm 8,16). Und was sagte der Herr der Marthavor dem Grabe des Lazarus? Er sagte ihr: »Wenn du glaubenwürdest, du würdest die Herrlichkeit Gottes sehen!« (Joh 11,40).Was sah ihr äußeres Auge? Ein verschlossenes Grab. Was hörteihr äußeres Ohr? Klage und Jammer. Was nahm ihr natürlicherGeruchsinn wahr? Einen stinkenden Leichnam. Und was solltesie wahrnehmen? Die Herrlichkeit Gottes!

Sollte sie diese Herrlichkeit Gottes etwa erst wahrnehmen,wenn ihr äußeres Sinnenleben den auferstandenen Lazarus be-merkte? Oh nein; denn diese Wahrnehmung machten ja nachheralle Umstehenden trotz ihres Unglaubens. Nein, Martha solltedie Auferweckung ihres Bruders als Tatsache hinnehmen, bevorihre äußeren Sinne sie wahrzunehmen vermochten. Eben dassollte das Wesen und die Tat ihres Glaubens sein. Allem äuße-ren Sinnenleben zum Trotz sollte sie die Herrlichkeit Gottes alsHerrschaft Christi über Tod und Grab für die allergewissesteWirklichkeit halten. Das vermag allein der lebendige Glaube, des-sen Leben eben darin besteht, dass er mit seinen tätigen innerenSinnen bereits wahrnimmt und empfängt, was äußerlich nochgar nicht zu bemerken ist.

Und eben das meint das Wort Hebräer 11 Vers 1: »Es ist aberder Glaube ein Beharren auf dem, das man hofft, eine Überzeu-gung von Tatsachen, die man nicht sieht.« Und diese Erklärungdes Glaubens führt uns so recht hinein ins Wesen des Glaubens-geheimnisses.

Paulus sagt: »Der natürliche, seelische Mensch nimmt nichtan (fasst nicht), was des Geistes Gottes ist; denn es ist ihm eineTorheit, und er kann es nicht verstehen, weil es geistlich beurteiltwerden muss« (1Kor 2,14). Das will sagen: Der nicht durch denGeist Gottes erneuerte Mensch bleibt versklavt an die Wahrneh-mung durch die äußeren Sinne aufgrund seines irdischen Sinns.Dabei kann er vielerlei, ja sogar sehr vieles »auch glauben«, aberer kann und will doch immer nur glauben, was seiner Vernunftund seinen Sinnen »glaubhaft« erscheint. Immer wieder machter seine sinnenfällige Vernunft zum Maßstab aller Dinge. Sobleibt er bei allem scheinbaren Aufflug seines Geistes unfrei undin der Welt seiner menschlichen Gedanken, Gefühle und Tatenverankert. Mag er auch auffliegen wie ein Adler und sein Nest

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zwischen den Sternen machen: dennoch wird er von dannen wie-der heruntergestürzt, hinab und hinein in den Bannkreis seinesbeschränkten Wesens (Obadja 4). Aus dem Fluch dieses Wesensbefreit nur der biblische Glaube.

Oh Wunder! Er befähigt uns, das Unsichtbare zu sehen, das Un-hörbare zu hören, das Unfassbare zu fassen. Er hebt uns über dieKnechtschaft der Sinne hinaus und versetzt uns in das unsichtba-re Königreich der Himmel, unter die befreiende Herrschaft desGeistes Gottes und Christi! Er ist ein durch das Wort Gottes eröff-netes heimliches Sehen, Hören, Tasten, Schmecken, Wahrnehmenund Wissen im Verborgensten des Menschenherzens. Und er istdamit die ureinzige Fähigkeit, das Unbegreifliche zu begreifen,und zwar so, wie es Gott über alles menschliche Denken hinausin der Bibel offenbart hat. Er ist die Befreiung vom Sichtbarenund die Verwirklichung des Unsichtbaren; denn er lässt die Weltund sieht und gewinnt das Himmelreich. Er ist der Sieg, der dieWelt überwunden hat (1Joh 5,4) und macht uns zu Bürgern desHimmels (Phil 3,20).

Nicht wahr, da verstehen wir, dass solch ein weltüberwinden-der Glaube nicht anders empfangen werden kann als durch dasgroße Umdenken, Umfühlen, Umlernen, das die Bibel Buße nenntund das den grundstürzenden Bankrott unserer Gedanken-, Ge-fühls- und Tatenwelt in sich einschließt. Nur im Gegensatz zuunseren eigenen Gedanken, Gefühlen und Taten lernen wir glau-ben. Nur im Widerspruch zu unsrem adamitischen Ich gelangenwir zum Einklang mit Gott, Gottes Sohn und Gottes Wort. DieserEinklang ist der eigentliche Inhalt des Glaubensgeheimnisses.Er ist geknüpft an das dreifach selige Pfingstgeheimnis, das wirin Johannes 14,20 vermerkt finden. »An jenem Tage werdet ihrerkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ichin euch.«

Das waren die Worte Jesu, mit denen er seine Jünger auf denEmpfang und das Verständnis des Glaubensgeheimnisses vorbe-reitete. Nicht jetzt, nein erst an jenem Tage – es war der Hinweisauf Pfingsten – werdet ihr erkennen, sagte er. Längst hatten dieJünger Glauben an Jesus, aber ihr Glaube war ein noch sinnen-fälliger, ein noch geheimnisloser, ein bei allem Erkennen dochnoch erkenntnisloser. Die Fragen, mit denen sie den Meister biszuletzt, ja sogar noch nach seiner Auferstehung bis zur Himmel-fahrt anliefen, beweisen es. Sie hatten den Herrn gesehen mit

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ihren Augen, gehört mit ihren Ohren, erfasst mit ihren Händenund hatten ihn doch weder recht gesehen noch gehört und erfasst.Sie blieben ganz abhängig von ihrer äußerlichen Wahrnehmungund glaubten eigentlich nie mehr, als ihnen sinnenfällig gezeigtwurde und glaubhaft schien. »Zeige uns den Vater, so genügtes uns«, begehrte Philippus (Joh 14,8), und: »Es sei denn, dassich sehe und fühle, so werde ich nicht glauben!« versteifte sichThomas (Joh 20,25). So dachten und handelten sie im Grunde alle.Darum ärgerten sie sich auch alle an Jesus, als mit seiner Gefan-gennahme ihr äußerer Glaubenshalt zusammenbrach, und keinsder träg gewordenen Herzen erwartete des Herrn Auferstehung,deren Verkündigung ihnen nachher ein unglaubliches »Märchen«schien (Lk 24,11). Wer weiß, wenn der Herr sie nicht mit Geistangehaucht hätte, wo sie bis Pfingsten hingelaufen wären! Daswar ihr Glaubensleben vor »jenem Tag«.

Ist das nicht auch das Glaubensleben vieler, vieler heutigerJesusnachläufer? Erst will man einmal sehen, spüren, fühlen, eheman überhaupt glauben will. Glaubt man dann so leidlich, sohat man doch nur den unseligen Thomasglauben, der immervom Sicht- und Spürbaren abhängig, also immer schwankendbleibt und deshalb nicht selig gesprochen werden kann. Das istder Glaube ohne Glaubensgeheimnis, der bange Glaube ohneZeugnis, Siegel, Wissen und Gewissheit, der Glaube vor »jenemTage«. Was fehlt dir, wenn das dein Glaube ist? Höre! DeinemGlauben fehlt noch die Kraft aus der Höhe! Deinem Glaubenfehlt noch die Loslösung von der sichtbaren und die Bindungan die unsichtbare Welt! Deinem Glauben fehlt noch die Offen-barung und Verklärung Christi in dir durch den Heiligen Geist(Joh 16,14.15)! Dir fehlt noch die Geist- und Feuertaufe (nicht die»charismatisch-pfingstlerisch« verstandene! – Anm. des Hrsg.) alsAusrüstung, den Herrn Jesus zu verherrlichen durch lebendigenGlauben!

Und wie bekommst du das alles? Nur durch tiefere Ichver-neinung! Nur indem die Jünger damals den Zusammenbruchihres ungenügenden Glaubens erlebten, konnten sie zu tiefererSelbsterkenntnis, Selbstbeschämung und Selbstverwerfung hinabgeführt werden und damit für die gehorsame Erwartung desPfingsttages ausreifen. So auch du! Du traust noch deiner Kraft,deinen Sinnen, deinen Taten, deinen icherfüllten Wünschen. Gut,lass dies alles fahren! Werde arm! Werde schwach! Werde hilfs-

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bedürftig! Werde bittend! Werde still im Erwarten! Habe keineandere Weisheit und Stütze mehr als Jesu Wort! Nimm dies Wortwie Ihn selber! Warte auf nichts Sinnenfälliges, aber nimm dieEinlösung des Jesuswortes all deinen eigenen Gedanken undGefühlen zum Trotz als fertige Tatsache hin! So nimm den Inhaltder Jesus-Worte einfältig für dich! Nimm ihn jetzt und dankedafür! So wird der Heilige Geist Jesus in dir verklären, dass sichauch dir das dreifach selige Pfingstgeheimnis enthüllt, wo duden Sohn im Vater erkennst und dich in Ihm und Ihn in dir!

Mit der Erkenntnis dieser dreifachen Glaubenstatsache – Chris-tus im Vater, wir in Christus, Christus in uns – stehen wir imInnersten des Glaubensgeheimnisses. Ich habe schon am An-fang gesagt, dass das Geheimnis des Glaubens im Rahmen desanerkannt großen Geheimnisses der Gottseligkeit liegt: Gott istgeoffenbart worden im Fleisch (1Tim 3,16). Das ist das Geheimnisaller Geheimnisse. Der Vater gab sich im Sohne zu erkennen, derSohn hat den Vater kundgetan (Joh 1,18). Wäre Christus nichterschienen, so wäre der Vater der »unbekannte Gott« geblieben(Apg 17,23). Wir erkennen Gott immer nur so weit, wie wir Chris-tus erkannt haben. »Niemand erkennt den Vater als nur der Sohnund wem es der Sohn will offenbaren« (Mt 11,27). Die AufgabeJesu war, seinen Jüngern, die ihm der Vater aus der Welt gegeben,den Vaternamen Gottes zu offenbaren. Dies hat er getan und tutes noch (Joh 17,6 und 26). Dafür verklärt nun der Vater auch denSohn (Joh 2,23 und 28). Und zwar wird in den Evangelien der Vaterdurch den Sohn geoffenbart und verherrlicht, und im übrigen NeuenTestament wird der Sohn vom Vater aus durch den Heiligen Geist sorecht geoffenbart und verherrlicht. Alles, was der Sohn tat, geschah,auf dass sie glauben sollten an den, der ihn gesandt hatte. Undalles, was der Heilige Geist wirkt, weist auf Jesus hin, von dessenWerk der Geist alles nimmt und gibt (Joh 16,14). So war denndas Erste, dass die Jünger an »jenem Tage«, nämlich am Tage derAusgießung des Heiligen Geistes, den Sohn im Vater erkannten.Das heißt, endlich erkannten sie das Wesen und überschauten siedas Werk des von Gott gesandten und zu Gott zurückgekehrtenGottessohnes. Das große Geheimnis der Gottseligkeit wurde ih-nen enthüllt, als ihnen durch den Heiligen Geist das Geheimnisdes Glaubens geschenkt wurde.

Damit konnten sie auch in den zweiten engeren Kreis desGlaubensgeheimnisses eingeführt werden, nämlich sie erkannten

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sich nun in Christus. Welch hohes Wunder! Sie sahen sich nichtmehr in sich selbst, sie sahen sich in Christus! Sie sahen sichnicht mehr in ihrer armseligen, unzulänglichen, unzuverlässigen,unbrauchbaren Menschlichkeit, nein, sie sahen sich in Christus!Sie erkannten sich in ihm erwählt vor Grundlegung der Welt(1Petr 1,1; 2,9; 5,10; 2Petr 1,3; Eph 1,4). Sie sahen sich in ihmerrettet am Tage von Golgatha (Apg 2,38.39; 3,14–26; 4,10–12),erlöst durch das kostbare Blut Christi, als eines Lammes ohneFehl und ohne Flecken (1Petr 1,18–21). Sie wussten sich in ihmgesegnet in Ewigkeit (Apg 2,33; 3,25.26; 4,31–35; 1Petr 1,3–5.23;und 3,9) und zu einem heiligen, königlichen Priestertum, zueinem heiligen Eigentums-Volk Christi gemacht, das nun dieTugenden dessen verkünden kann, der es berufen hat aus derFinsternis zu seinem wunderbaren Licht (1Petr 2,4–10). Nunerwarteten sie seine herrliche Wiederkunft zur letzten Errettungihrer Seelen, zur Erlangung unaussprechlicher, frohlockenderFreude beim Anblick ihres geliebten Herrn und zum Empfangdes unverweslichen, unbefleckten und unverwelklichen Erbteils,welches für sie aufbewahrt ist in den Himmeln (1Petr 1,8.9.13.4.5;2Petr 1,3–5; 3,18).

Und die Lichtflut solcher durch den Herrn verheißenen undnun durch den Heiligen Geist gegebenen Erkenntnis geleitete siejetzt auch hinein in den dritten, den engsten Kreis des Glaubens-geheimnisses, der eigentlich nur ein Punkt, nämlich der Mittelpunktdes Geheimnisses ist: Die Jünger erkannten Christus in sich! Sie er-kannten sich auf einmal als die Träger seines Wortes und Geistes.Mit dem Empfang des Heiligen Geistes wussten sie, dass er ihnenvon seinem Geist gegeben hatte (1Joh 4,13). Jetzt war es ihnengewiss geworden, dass der Geist des Vaters und Christi aus ihnenredete (Mt 10,20). Nun konnten sie auch gehorchen! Kein äußererZwang eines unbegriffenen, unheimlichen Geschehens drück-te und verwirrte sie mehr, nein, ihr Innerstes und Gewissestes,Christus in ihnen, bewegte sie nun. Welch eine Umwandlung!Keiner rechnete mehr mit sich selber, mit seiner eigenen Machtoder Ohnmacht, mit seinem eigenen Können oder Nichtkönnen,nein, jeder hatte nur noch eine Rechnung, nämlich die Rechnungdes Glaubens: Christus in mir! Das Glaubensgeheimnis wurde zumureigensten, persönlichsten Lebens- und Kraftgeheimnis. Es wurdeverborgenes Einzelgeheimnis in jeder Seele. So vervielfältigte essich an »jenem Tage« ins mehr als Dreitausendfache. So wurde

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Christi Streiterschar geboren. »Es kam aber jede Seele Furcht an,und es geschahen viele Wunder und Zeichen durch die Apostel«(Apg 2,43).

Siehe, das war die Einlösung des Jesuswortes: »An jenem Tagewerdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin, und ihr inmir, und ich in euch!« Und für alle Zeiten bleibt diese dreifachselige Erkenntnis der Inhalt des Glaubensgeheimnisses in jedemvon Gottes Wort durchbohrten und vom Heiligen Geist erfülltenHerzen. Trägst auch du es so in deiner Brust? Erkennst du denSohn im Vater? Weißt auch du dich in Christus erwählt, errettetund gesegnet? Weißt auch du Christus durch sein Wort, durchseinen Geist, durch seine Tugenden und durch seine Kraft in dir?Paulus musste damals den Korinthern schreiben: »Prüfet euchselbst, ob ihr im Glauben seid, untersuchet euch selbst! Odererkennet ihr euch selbst nicht, dass Jesus Christus in euch ist«(2Kor 13,5). Oh, bitte, sieh zu, was deine Glaubensrechnung ist!Vielleicht machst du noch alle Tage die unselige Rechnung desUnglaubens. Statt Christus im Vater als den zu erkennen, demalle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben und der alleTage bei dir ist, sieht dein Klein- und Unglaube nur die sichtbareNatur- und Kulturwelt. Statt dich in Christus zu sehen, siehstdu dich nur in deinen Verhältnissen, Nöten, Sorgen, Schwierig-keiten, Schwächen und Sünden. Und anstatt mit dem Christusin dir zu rechnen, rechnest du mit deiner eigenen Weisheit oderUnweisheit, mit seinem Fühlen oder Nichtfühlen, mit deinemKönnen oder Nichtkönnen, mit deiner Macht oder Ohnmacht.Siehe, die Schuld an deiner unseligen Zweifelsrechnung trägtdeine elende, altgewohnte Ichbejahung! Anstatt Christus siehstdu immer nur dich! Dieser offenbare oder versteckte Ichwahn istdie listig betrügende Schlange im Paradies des Glaubensgeheim-nisses, durch die jeder neue Sündenfall geschieht. Willst du nichtendlich anfangen, der sichtbaren Welt, der leichtumstrickendenSünde und deinem ganzen Ichwesen zum Trotz das Wort Christiund Gottes zu bejahen? Denn das allein heißt glauben und dasGlaubensgeheimnis bewahren.

Davon, nämlich von der Bewahrung und Bewährung des Glau-bens (Jak 1,3 und 1Petr 1,7) als Glaubensgeheimnis wollen wirjetzt reden. Der Glaube kann nur bewährt werden durch Be-tätigung des Glaubens; die Betätigung des Glaubens aber istnichts anderes als der gute Kampf des Glaubens (1Tim 6,12 und

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2Tim 4,7). Kampf gibt es nur, wo es Gegensätze gibt. Je größer derGegensatz, desto größer der Kampf. Nun gibt es keine größerenGegensätze in der Welt als diejenigen, die dem Kampf des Glau-bens zu Grunde liegen. Sie heißen Gott und Satan, Christus undBelial, Reich des Lichts und Reich der Finsternis, Reich Gottesund Reich dieser Welt, Söhne Gottes und Söhne des Ungehor-sams, Geist und Fleisch, Christus und ich. Das sind Gegensätzevon unüberbrückbarer Spannweite. Zwischen ihnen gibt es keineAussöhnung, keinen Waffenstillstand, keinen Friedensschluss. Eskann dieser Kampf nicht eher enden, als bis alle Feinde zumSchemel der Füße Christi niedergelegt sind (Ps 110,1; Hebr 1,13;10,13).

So ist der Kampf zwischen Glauben und Unglauben tatsächlich »dasgrößte Thema der Weltgeschichte«. Diesen Kampf zu kämpfen ist desChristen einzige Lebensaufgabe, innerhalb welcher sich alle anderenAufgaben erledigen. Er wird ausgefochten auf drei Kampfplätzen.Erstens in uns selbst, als Kampf zwischen Geist und Fleisch(Gal 5,17), zweitens in der Gemeinde, mit den Brüdern für dieBrüder (Phil 1,27.30; Kol 2,1), drittens in der Welt wider einverkehrtes, gottfeindliches Geschlecht und zum Zeugnis und zurErrettung der Verlorenen. Uns beschäftigt jetzt nur der Kampfdes Glaubens als Bewahrung des Glaubensgeheimnisses in uns.

Es gibt nichts Fremderes, Einsameres, Verborgeneres in dieserWelt als ein Menschenherz, das das Geheimnis des Glaubens,nämlich das mit Christus in Gott verborgene Leben (Kol 3,3),in sich trägt. Alles ist wider solchen im Herzen wohnendenGlauben, und solcher Glaube ist wider alles. Alles trachtet diesemGlauben nach dem Leben, und dieser Glaube trachtet danach,alles mit seinem Leben zu durchdringen und zu erfüllen. Alleswill das Geheimnis des Glaubens verwüsten und auflösen, unddas Geheimnis muss seine Mauern immer höher bauen undmöchte doch zugleich immer offenbarer werden.

Den gefährlichsten Gegner aber hat das Geheimnis in aller-nächster Nähe. Es ist das Fleisch des Menschen, in dessen Her-zen das Geheimnis wie ein himmlischer Schatz im irdenen Ge-fäß (2Kor 4,7) wohnt. Zwischen diesem Fleisch von unten her(Joh 8,23) und dem Geist von oben her ist tödliche Feindschaft(Röm 8,12.13; Kol 3,5). Keine Sekunde gibt es zwischen beidenFrieden. Wie zwei mächtige Heere auf engstem Kampfraum rin-gen Geist und Fleisch widereinander. Stets gelüstet das Fleisch

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wider den Geist und der Geist wider das Fleisch (Gal 5,17). DieLust des Geistes ist die Lust am Herrn (Ps 37,4), die selige heimli-che Freude des Geheimnisses: »Mein Freund ist mein, und ich binsein« (Hoh 2,16)! Was ist aber die Lust des Fleisches? Es ist dieehebrecherische Lust an uns selbst, die ichselige, gottfeindlicheGesinnung, als immer wieder aufbegehrende Äußerung unserervon unten her stammenden seelisch-fleischlichen Natur, die Gottnicht untertan zu sein vermag (Röm 8,7), die alles ohne Jesus ver-mag, alles ohne ihn tun kann, uns stets zur Selbständigkeit in unsselbst reizt und mit dem Wohlgefallen an uns selber betrügt, dieuns stets mit Begehren und Genießen narrt, uns lieblos, unwahr,neidisch, rachsüchtig, selbstklug und selbstgerecht macht, undderen Herrschaft der Tod des Glaubensgeheimnisses ist (Röm 8,6und Jak 1,15).

Wie wird nun der gute Kampf des Glaubens in uns siegreichgekämpft und das Geheimnis geschützt und bewahrt? Höre! Nurdurch unablässige Wachsamkeit im Geist, die als unbedingteVoraussetzung das grundsätzliche Misstrauen gegen uns selberhat. Der gute Kampf des Glaubens ist nichts anderes als diewachsame Betätigung der unausgesetzten Ichverneinung undJesusbejahung. Er ist die beständige Abkehr von mir selbst undHinkehr zu Jesus. Noch besser: Er ist das ringende Bleiben indem Glauben: Ich bin in Christus, und Christus ist in mir! Welcheine Tiefe der Selbstverneinung! Welch eine Riesenarbeit desHeiligen Geistes! Mein natürliches Denken, Fühlen, Handeln,alle Tätigkeit der Sinne und der sichtbaren Welt streiten gegendiese meine Glaubensstellung, wollen sie stürmen, überrennen,zerstören. Ich aber gebe mir selbst und allem unrecht, stehe aufder Seite Christi und seines Wortes und bekenne und betätige:Mein Freund ist mein, und ich bin sein! Ich gehöre nicht mehr mirselbst (1Kor 6,19.20)! »Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebtin mir (weil ich in ihm lebe), was ich aber jetzt lebe im Fleische,das lebe ich im Glauben des Sohnes Gottes, der mich geliebt undsich selbst für mich hingegeben hat« (Gal 2,20). So lebe ich Satan,Welt, Sünde und mir selbst zum Trotz meines Glaubens, als desGlaubens Christi.

Und wunderbar! Dieser Kampf des Glaubens bringt keine pol-ternde, lärmende Unruhe, sondern leitet hinein in eine wunder-same Ruhe und Stille; denn das Geheimnis des Glaubens wohntnur in der Stille. Darum heißt auch der Kampf des Glaubens der

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Das Geheimnis des Glaubens

»gute Kampf«, entgegen allem bösen Kampf und Streit in derWelt. Warum macht er denn so ruhig? Weil er vom Ichgeräuschbefreit. Der Ichgeist ist ein Poltergeist, der sich überall bemerkbarmachen muss. Der Heilige Geist ist der Odem aus der ewigenStille. Er führt den guten Kampf des Glaubens. Dabei werdenwir immer endgültiger auf die Seite gestellt. Christus selber trittan unsere Stelle. Wir verlieren uns an ihn, und er offenbart sichdabei in uns. Wir erwarten nichts mehr durch und für uns, son-dern alles durch und für Christus. Oh, welche Loslösung von unsselbst und infolgedessen, welche Ruhe im Frieden! Unsere ein-zige, immerwährende und untrügliche Rechnung in allem undfür alles heißt: Christus! Das nimmt alle lähmende Furcht undhastende Sorge. Nur eine Sorge bleibt: Die allezeit wachsame,heilige Besorgnis, in ihm erfunden und immer vollkommenerdargestellt zu werden, damit er immer klarer in uns erscheine(Phil 3,8.9; Kol 1,28; Gal 4,19). Aber auch diese Sorge verliertihre beunruhigende Macht, weil wir auch sie auf ihn werfen, derallein die Gewähr für unsere Vollendung ist und dessen Treuewir immer völliger vertrauen (1Petr 5,7; Phil 1,6; Hebr 12,2). Sowird das Geheimnis des Glaubens in uns immer mehr zu demgegen alle Winde und Geräusche verschlossenen Garten, wo mannichts hört als das Murmeln der versiegelten Quelle (Hoh 4,12),nämlich das stete, einfältige Zwiegespräch unseres Herzens mitJesus. – So ist das Geheimnis des Glaubens auch das Geheimniswahrer Stille und Ruhe.

Und in diesem stillen Garten des Glaubensgeheimnisses ge-deiht auch wunderbar sicher und süß die Frucht des Geistes, wiesie uns der Apostel Paulus in neunfacher Mannigfaltigkeit undKöstlichkeit in Galater 5,22 beschreibt. Es gibt keinen fruchtbare-ren Boden als den des stillen Glaubensgeheimnisses. Der Grundund Boden des Geheimnisses ist ja Christus selbst, der gesagt hat:»Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; dennohne mich könnt ihr nichts tun« (Joh 15,5). Soviel wir noch ohneihn tun können, soviel fehlt unserem Leben am Ewigkeitsertrag.

Und wie viel können »Gläubige«, die sich »Sein« nennen, nochjede Stunde ohne ihn tun! Das ist das unfruchtbare und des-halb unselige Leben abseits vom Glaubensgeheimnis. Es ist dietörichte Auskehr aus dem stillen Paradies der heimlichen Ge-meinschaft mit ihm und die Rückkehr zum unfruchtbaren Um-trieb der Weltförmigkeit. Es ist die jeweilige Unterbrechung der

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Glaubensbetätigung und des Glaubenskampfes. Es ist der be-schämende Rückfall in die Selbstbejahung und Jesusverneinung.Man steht wieder auf eigenen Füßen und kann tausend Dingeganz flink und selbstsicher ohne Jesus tun. Bis man von Satantausendfach übervorteilt am Boden liegt, und der gute Hirte unsins verlorene Paradies des Glaubensgeheimnisses zurücktragenmuss. Höre! Es gibt nur ein Hindernis, dass dein kurzes Lebennicht jede Sekunde fruchtbar für Jesus ist! Nicht deine natürlicheSchwachheit, nicht deine störende Umgebung, nicht dein Berufhindern dich – nein, das einzige Hindernis ist der Rest deinesgeschäftigen Glaubens an dich selbst, dein Bleiben in dir! Dumöchtest Frucht bringen – ei, so ruhe im Geheimnis des Glaubens, dawächst die Frucht von selbst! Das Geheimnis des Glaubens ist auch dasGeheimnis der Fruchtbarkeit.

Christus wurzelt nur durch den Glauben in unserem Her-zen, und wir wurzeln nur durch den Glauben in ihm (Eph 3,17;Kol 2,7). Wer im Mittelpunkt des Glaubensgeheimnisses sich inChristus eingewurzelt weiß und Christus in sich, hat nie mehrfür Kraft zu sorgen; sie wird ihm überall und immer werden, wound wann er sie braucht. Mangel an Kraft ist nichts anderes alsMangel an Glaube. »Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt«(Mk 9,23). Wie schachert hier der Kleinglaube, der neben demGlaubensgeheimnis wohnt! Nur im Innersten des Glaubensge-heimnisses: Ich in Christus, Christus in mir! verwirklicht sich derAufruf des Apostels Paulus: »Seid stark in dem Herrn und in derMacht seiner Stärke« (Eph 6,10)!

Die Vorbedingung für seine Verwirklichung ist das Schwach-sein in uns selbst und in der Macht unserer Stärke. Wir entschul-digen uns so gerne mit unserer Schwachheit, aber das ist nur einegeläufige Ausrede unseres außerhalb des Glaubensgeheimnissesumherschweifenden Klein- und Unglaubens. In Wirklichkeit sindwir so stark in uns selbst, haben eine solch geradezu riesenhafteWiderstandskraft gegen unsere völlige Gewinnung für Christusdurch den Heiligen Geist, dass man nur wünschen möchte: Oh,dass wir einmal wirklich schwach würden! So schwach wie Pau-lus! Und so stark wie Paulus, der bezeugen konnte: »Wenn ichschwach bin, so bin ich stark« (2Kor 12,10) und der aufforderte:»Seid meine Nachfolger« (1Kor 4,16)!

Wir können ihm nicht nachfolgen, weil wir nie so schwach wer-den möchten, wie er geworden ist. Allenthalben möchte man das

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liebe Eigenleben mit allen zehn Fingern pflegen und schützen,und handelt es sich um Glaubensmut und Glaubensgehorsam,so faltet man die Hände und jammert: Ach, hätte man nur dieKraft dazu! Man ist eben immer so schwach im Glauben! – Sa-tansbetrug unter den Frommen! Oh, wenn die Gläubigen einmalgläubig würden! Oh, wenn man wirklich gläubig beten würde:»Herr, hilf meinem Unglauben!« (Mk 9,24) oder: »Vermehre unsden Glauben!« (Lk 17,5), wie schnell würde der Herr unser hin-derndes Ichleben wegnehmen und uns Macht und Stärke ausseinem Leben geben! Aber man lässt sich genügen an der religi-ösen Redensart und lebt sich selber weiter. Indes wohnt die KraftChristi in den wirklich Schwachen und wird in Schwachheitvollendet bei denen, die in Ichverneinung und Jesusbejahung imGeheimnis des Glaubens wohnen (2Kor 12,9). Sie sind es, dieallezeit freudig mit Paulus bezeugen können: »Alles vermag ichin dem, der mich kräftigt« (Phil 4,13)! Denn das Geheimnis desGlaubens ist allezeit auch das Geheimnis der Kraft.

Wo aber Kraft ist, da ist auch Überwindung und Sieg. Dawird das Geheimnis des Glaubens bewahrt in reinem Gewissen(1Tim 3,9). Wessen beständige Glaubensrechnung heißt: Ich inChristus, und Christus in mir, der herrscht über die Sünde. Wohllagert die Sünde beständig vor der Türe des Glaubensgeheimnis-ses, aber solange ich in der Selbstverneinung und Jesusbejahungstehe und gehe, bleibt die Tür geschlossen. Wer in ihm bleibt, sün-digt nicht (1Joh 3,6). Mag die Versuchung in der buntesten Weisean mich herankommen, das soll mich nicht ängstigen (Jak 1,2 und1Petr 1,6); denn das zwingt mich zu immer größerem Misstrauengegen mich selbst und infolgedessen zu immer glaubensinnige-rem Vertrauen zu Jesus und damit zu immer kindlicherer Fluchthinein in die Tiefe des Glaubensgeheimnisses. Nicht nur gebor-gen, nein, verborgen werde ich sein in ihm, der in mir ist. Denner wird mich bergen in seiner Hütte am Tage des Übels, er wirdmich verbergen in dem Verborgenen seines Zeltes (Ps 27,5). Nurin der Hütte des Glaubensgeheimnisses singt man vom Sieg derGerechten (Ps 118,15). Nie wird Satan mich zu übervorteilen ver-mögen, solange ich im Glaubensgeheimnis verweile: Ich in Christus,Christus in mir!

Dieser Sieg wird aber immer nur neu entschieden. Er setztdie aufmerksamste Wachsamkeit und den vorsichtigsten Wandelim Geist voraus. Denn ich bin keinen Augenblick sicher vor mir

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selber. Wo irgend meine Seele zu mir selbst zurücktaumelt, wirdetwas vom Inhalt des Glaubensgeheimnisses erschüttert. Die ge-ringste Rückkehr zur Selbstsicherheit erschüttert schon praktischmeine Sicherheit in Christus. Jede Ichbejahung, etwa jede Selbst-schonung, jede Selbstbemitleidung, jede Selbstbeanspruchungzerschneidet Fäden vom Brautschleier des Glaubensgeheimnis-ses. Und auch die kürzeste Dauer irgendwelcher ichverliebtenSelbstbespiegelung, ja jeder Hauch von Eigenliebe erzeugt eineTrübung auf dem Angesicht, das drinnen in der Hütte des Glau-bensgeheimnisses leuchtet. Dennoch ist diese Abweisung desstörenden Ichgeistes so frei von krampfhafter Anstrengung undbemühender Qual wie die Einführung der Braut ins Weinhaus(Hoh 2,4); denn die Liebe ist ein Panier über mir. Auch ist dasanhaltende Wachen nichts anderes als das beglückte, inständigeHören auf die Rede seines Wortes und das stille Weben des un-ablässigen Glaubensgebetes, das zum starken Seile wird, an demer uns goldene Eimer voll Kraft aus der Höhe zugleiten lässt.Und mit jedem Geschenk an Kraft tränkt er uns mit Wonne wiemit einem Strom (Ps 36,9); denn es ist der immer neue Zuflussseiner Liebe und Treue, den er durch den Heiligen Geist hinein inunser Herz ausgießt (Röm 5,5), das nie nüchterner ist, als wennwir trunken sind von den reichen Gütern seines Hauses.

So tötet er durch seine Liebe unsere Eigenliebe und damit dieSünden- und Weltliebe. Jawohl: Lust um Lust! – und es bleibtwahr: Die Rotglut aller Ich-, Sünden- und Weltlust wird nur ausge-brannt durch die Weißglut der Lust am Herrn vom Feuerherd in derHütte des Glaubensgeheimnisses. Nichts, aber auch nichts als seineLiebe macht uns zu Überwindern (Röm 8,37)! Denn es gibt imHimmel und auf Erden keine größere Kraft und Macht als seineLiebe. Sie, sie allein schenkt uns das Gewand von gewirktemGold (Ps 45,14) und macht uns ganz herrlich inwendig, drinnenin des Königs Palast, im Geheimnis des Glaubens, das da ist dasGeheimnis seiner Liebe und des weltüberwindenden Sieges.

Kind Gottes, lass dich in williger Selbstverneinung einführenin dies stille, fruchtbare, kraftvolle und siegerfüllte Geheimnisdes Glaubens!

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Vom Geheimnis des Kreuzes

Ich bin mit Christus gekreuzigt!

Galater 2,19

Man hört viel Reden vom »Geheimnis des Kreuzes«. Die HeiligeSchrift kennt zwar diese Bezeichnung nicht, aber dennoch istes wahr: das Wort vom Kreuz ist voll heimlicher, verborgenerGottesweisheit; eben dieser verborgenen Weisheit wegen ist esden Ungläubigen eine Torheit (1Kor 1,18). Doch ist das Wort vomKreuz auch noch vielen Gläubigen eine Torheit, besonders alsWort vom Mitgekreuzigtsein. Als frohe Botschaft vom KreuzestodChristi für unsere Sünden lässt man sich das Wort schließlichgefallen und rühmt sich, durch das Blut am Kreuze Vergebungder Sünden und Frieden mit Gott empfangen zu haben. Aberum den Empfang weiterer Weisheit und Kraft aus dem Wortvom Kreuze kümmern sich die meisten nicht. Christus an unse-rer Stelle gekreuzigt, oh, das ist einem schließlich willkommen,aber wir mit ihm gekreuzigt, darauf will man nicht eingehen.Wohl lässt man das Mitgekreuzigtsein als biblischen Lehrsatzgelten, den man billigerweise bejaht, aber nur ja keine praktischeAusübung und Betätigung dieser biblischen Wahrheit! Vielleichtgibt es keinen Punkt, in dem die praktische Missachtung desWortes Gottes so offenbar hervortritt, wie in diesem. Das liegtaber hauptsächlich an unserem armseligen Unglauben, der dasWort vom Mitgekreuzigtsein nicht fassen kann, weil es allemAugenscheinlichen so sehr entgegen ist. Dann liegt es aber auchan unserem Nichtwollen; denn von nichts wird das eigenwilligeIchleben mehr bedroht als vom Wort vom Mitgekreuzigtsein, undso groß unser Eigenwille ist, so groß ist allezeit unser Unglaube.

Und doch ist gerade hier der Punkt, von dem aus der Weg indie Freiheit führt. Es muss gesagt werden: Das Leben der meisten»Gläubigen« ist gar kein Glaubensleben und darum auch keinseliges Freiheitsleben. Das, was sie »Glauben« nennen, ist ihnennur eine verpflichtende Belastung. Sie haben mit dem Kopfeverschiedene Bibelwahrheiten aus Furcht vor dem »Verlorenge-

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hen« bejaht und jammern nun darüber, welch schwere Folgendiese Bejahung nach sich zieht. So und so sollen sie sein, unddies und das müssen sie tun, und wann endlich kommen sieeinmal dahin, dass sie sind, wie sie sein sollen, und tun, wassie tun sollen! »Oh!« schrieb mir einmal jemand, »wann endlichkomme ich dahin, dass sich der Herr auf mich verlassen kann!«Nie können sie sagen: Herr, dein Joch ist sanft und deine Last istleicht. Nein, entsetzlich qualvoll scheint ihnen das Gläubigsein,furchtbar schwer das Heiligwerden. Alles, was sie aus GottesWort lesen oder hören, wird ihnen zum belastenden Gebot undzum drohenden Gericht, dem sie durch die äußerste Anspannungihrer Kräfte zu entgehen suchen. So werden sie immer kleinlicher,immer ängstlicher, immer unfreier und unfroher, infolgedessenauch immer unfreundlicher und unbarmherziger, immer richtse-liger, rach- und klatschsüchtiger gegen andere. Entweder hängensie zu ihrer Selbstberuhigung starr und unduldsam einer be-stimmten Richtung an, oder der innere unselige Umtrieb treibtsie auch äußerlich umher, dass sie laufen von Versammlung zuVersammlung, von Lehre zu Lehre, von Richtung zu Richtung.Meistens behaupten sie auch zu glauben, dass Christus für sieam Kreuze hing, aber eines wissen sie nicht, nämlich, dass sieselbst mit Christus gekreuzigt sind.

Sie können diese Gottestatsache auch durchaus nicht fassen,womit es offenbar wird, dass sie noch gar nicht wissen, was glau-ben heißt, und noch außerhalb des Geheimnisses des Glaubensleben. Sie glauben noch an sich und ihr eigenes Tun. Nie habensie die Tiefe der biblischen Buße erlebt, die zur Selbstverwerfungführt. Ihre Welt ist nicht die Glaubenswelt der biblischen Gottes-tatsachen, sondern die Sinnen- und Tatenwelt der unbiblischenMenschen; es ist die Ichwelt.

Fragt man eines dieser allezeit Unseligen: Glauben Sie denn,dass Sie mit Christus gekreuzigt, gestorben und begraben sind?so ist die Antwort: »Ich kann es noch nicht recht glauben.« Undauf die weitere Frage: »Warum können Sie es noch nicht rechtglauben?« folgt das Geständnis: »Ich kann noch zu wenig davonan mir merken.« Das ist die eine, immer und überall wieder-kehrende Antwort aus dem Munde ungezählter Leute, die sichfür gläubig halten. Ist das nicht ein trauriger Beweis dafür, wiewenig das Geheimnis des Glaubens unter den Gläubigen wohnt?Genau wie die ungläubige Welt will man nur glauben, was einem

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durch Spüren und Fühlen, also durch sinnliche Wahrnehmung»glaubhaft« erscheint!

Das heißt, man will sich beim Glauben noch ganz auf sichselbst, auf die eigenen Gedanken und Gefühle, anstatt auf Got-tes Wort stützen. Anstatt in biblischer Buße den ichstürzendenZusammenbruch der eigenen Gedanken, Gefühls- und Taten-welt erlebt und daraufhin das Gnadengeschenk des Glaubens,der über alles Denken, Fühlen und Tun hinaus Gott aufs Worthin recht gibt, empfangen zu haben, will man den Inhalt desGlaubens erst denk-, gefühls- und tatenmäßig erringen und erar-beiten, und dann will man glauben. Welcher Fluch des Ichgeistes!Man will sich lieber selber kreuzigen, anstatt übers eigene Wahrneh-men hinaus an die vollbrachte Gottestatsache unseres mit ChristusGekreuzigtseins zu glauben. Anstatt gottselige Freiheit im Glauben,knechtsselige Arbeit im Zweifel!

Oh wie jammern einen die Armen die bereits ihr gottfeind-liches, eigenwilliges Ichleben erkannt haben und verabscheuenund nun jahraus, jahrein sich vergeblich abmühen, ihr Ich durchihr Ich zu kreuzigen! Gib dich doch ganz auf, liebe Seele, dannkannst du auch ganz glauben: Ich bin bereits vor neunzehnhun-dert Jahren mit Christus gekreuzigt.

Dieser alles Denken und Fühlen übersteigende Glaube hatkeinen anderen Grund als das Wort Gottes. Wenn die Apostelgewisse grundlegende Gottestatsachen, die ihnen im Glaubengewiss geworden sind, berühren, so sagen sie gar nicht mehr:»Wir glauben«, sondern: »Wir wissen!« Gottes Tatsachen bestehenan und für sich, und wenn kein Mensch sie glauben würde. Aberindem sie durch den Geist Gottes offenbart und von Menschengeglaubt werden, werden sie Glaubenstatsachen. Und indem derGlaubende der Betätigung seines Glaubens lebt, werden ihm dieGlaubenstatsachen zu Erfahrungstatsachen, deren Inhalt allesgegenwärtig Denk- und Spürbare himmelhoch übersteigt. Soreden die Apostel bereits von den zukünftigsten Dingen mit denWorten: »Wir wissen« (1Joh 3,2; 2Kor 4,14; 5,1). Und so reden sieauch von der geheimen Bedeutung vergangener Geschehnisse:»Wir wissen!«

Dazu gehört auch unser mit Christus Gekreuzigtsein. »Wirwissen«, schreibt der Apostel Paulus den Römern, »dass unseralter Mensch mitgekreuzigt worden ist, auf dass der Leib derSünde abgetan sei, so dass wir der Sünde nicht mehr dienen«

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(Röm 6,6). Unser »alter Mensch«, das ist eben unser angeborenes,fleischlich-seelisches, eigenwilliges, gottfeindliches Wesen, dasden Leib als Werkzeug der Sünde hat, so dass jedes Glied ihrdient. Dieser »alte Mensch«, sagt Paulus, ist in Christi Kreuzi-gung mitgekreuzigt, also ist unser Sündenwesen mit ans Kreuzgetragen und da tödlich festgeheftet worden, damit der Leib derSünde außer Wirkung gesetzt würde und wir der Sünde nichtmehr dienen müssen.

Welch eine Errettung! Durch Christi Kreuzigung los von un-serem alten, eigenen sündenbeherrschten Wesen? Was niemandfertig bringt, nämlich aus seinem adamitischen, der Sünde verfal-lenen und unter das Gesetz der Sünde verkauften und versklav-ten Wesen herauszukommen, das soll an Christi Kreuz geschehensein? Dort soll diesem Wesen ein tödliches Ende bereitet wordensein? Welch eine gewagte Glaubenssache! Und: »Unglaublich!«ruft jedes am liebsten aus; denn ist nicht aller Augenschein, jedeinnere und äußere Erfahrung dieser Botschaft entgegen? Zeigtsich der »alte Mensch« nicht immer wieder? Sündigt man nichttäglich? Wie kann der Apostel Paulus so etwas ganz Unverständ-liches behaupten? Und zudem: Ich habe ja damals noch gar nichtgelebt, wie kann ich mit Christus gekreuzigt worden sein? Woherhat denn Paulus sein sonderbares Wissen?

Höre, der Apostel hat sein absonderliches Wissen allein ausGott; denn Menschenweisheit wäre nie auf so etwas gekommen!Er sagt: »Wir haben nicht empfangen den Geist der Welt, sondernden Geist aus Gott, dass wir wissen können, was uns von Gottgegeben ist, wovon wir auch reden, nicht in gelehrten Wortenmenschlicher Weisheit, sondern in vom Geist gelehrten, indemwir Geistliches geistlich beurteilen« (1Kor 2,12.13). Ihm, demeinstigen Pharisäer und nun »geringsten unter den Aposteln«(1Kor 15,9), war ganz besondere Weisheit über die Bedeutungdes Kreuzes Christi geschenkt worden. Petrus und besondersJohannes schauen mehr das geopferte Gotteslamm – vom KreuzChristi aber hat keiner so viel geredet wie Paulus, der Apostelder Heiden. Ihm war das Kreuz Christi der Mittelpunkt allerGottesweisheit, aller Gotteskraft und allen Gottesruhmes gewor-den. Die Weisheit seiner Predigt war der gekreuzigte Christus(1Kor 1,23; 2,2), die Sorge seiner Predigt war, dass doch nicht dasKreuz Christi zunichtewerde, nämlich das Ärgernis des Kreuzesnicht aufhören möge (1Kor 1,17.18; Gal 5,11), und das Ziel sei-

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nes Predigens und Lebens war der Ruhm des Kreuzes Christi(Gal 6,14).

Und warum wurde gerade dem Paulus solche Erkenntnis des Kreu-zes geschenkt? Weil keiner der Jünger einen solchen gewaltsamen Zu-sammenbruch der Selbstgerechtigkeit erlebt hatte wie er, der tadellosePharisäer, der sich nun der erste unter den Sündern nennt (1Tim 1,15).

Seitdem der als Herr aus dem Himmel zu ihm geredet, derzu Jerusalem am Fluchholz gehangen, war ihm das Kreuz dasZeichen aller Gottesweisheit und Gotteskraft geworden. Der Ge-kreuzigte war in den Himmel erhöht, der Pharisäer zu Bodengeworfen worden. Fortan gab’s für Paulus nur ein Welt- undHimmelswunder: Das war der Sohn Gottes am Kreuz!

Und im Lichte dieser Kreuzesschau sah Paulus die schwar-ze Unwissenheit der Obersten seines Volkes, die den »Herrnder Herrlichkeit« (1Kor 2,8) gekreuzigt hatten, und stand vordem verhängnisvollen Unglauben und der fluchvollen Sünde desganzen jüdischen Volkes. Aber damit erkannte er auch zugleich,dass Jesus Christus als Sühnopfer für die Sünden seines Volkesam Kreuz gehangen hatte und dass das Ärgernis des Kreuzesden Juden nicht nur zum Gericht, sondern auch zur Errettunggereichen sollte.

Doch noch weiter sah er das Kreuz göttliche Kreise ziehen.Nicht nur die Juden, nein auch die Griechen und alle anderenVölker, ja die ganze Welt sah er im Kreuze gerichtet und geret-tet. Gerichtet; denn das Kreuz schloss alle in den Ungehorsamein (Röm 11,32), verstopfte aller Mund, schloss jeden fernerenRuhm der Menschen aus (Röm 3,19 und 27); denn: »Gott war inChristus, die Welt mit ihm selber zu versöhnen, indem er ihnenihre Sünden nicht zurechnete . . . Denn er hat den, der von keinerSünde wusste, für uns (am Kreuz) zur Sünde gemacht, auf dasswir in ihm (am Kreuz) Gerechtigkeit Gottes würden« (2Kor 5,19

und 21).So sah Paulus das Kreuz als Gerichts- und Rettungszeichen im

Mittelpunkt des Weltenlaufs und der Zeitalter stehen. Aber amKreuz sah er den, durch den und für den alles geschaffen ist, dervor allem ist und in dem alles besteht, sah ihn, das Ebenbild es un-sichtbaren Gottes, den Erstgeborenen aller Kreatur (Kol 1,15.16),sah ihn in Schwachheit gekreuzigt (2Kor 13,4), festgeheftet, ange-nagelt, erstarrend und verflucht am Holze hängen (Gal 3,13), sahden, der das Leben ist, totenbleich und todgeweiht, und sah, wie

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Ich bin mit Christus gekreuzigt!

da die Welt, die durch ihn lebte, mit ihm gekreuzigt wurde, wiesie mit ihm erstarrte, erbleichte und im Sterben erlosch, sah, wiedas schwarze Kreuzesschattenzeichen sich über diese weite Welthinlegte und sie entwertete und durchstrich, sah jedes Geschöpfund die Menschheit in jedem ihrer Glieder, der bisherigen Kraftund Herrlichkeit benommen, mit dem schwarzen Querstrich desFluches und der Todeswürdigkeit gezeichnet und in die Starredes Kreuzesbannes mit hineingezogen, und sah so auch sichselbst und wusste und verkündigte:

Ich bin mit Christus gekreuzigt! (Gal 2,19)

Wer je mit diesem Apostel dieser Kreuzesschau gefolgt ist, des-sen Leben ist auf die andere Seite gekommen. Nie wird er mehrlachen können, wie er vorher gelacht hat. Er weiß sich einemGeschlechte zugehörig, um dessen Sünde willen der Sohn Gottesans Kreuz hingegeben werden musste. Er sieht die Menschenund die Welt anders an. Er sieht sie an, wie Gott sie im Zeichendes Kreuzes ansieht, nämlich zunächst durchstrichen, entwertet,gerichtet. Er hat nicht mehr lieb die Welt und was in der Weltist. Er weiß nun, was die Bibel meint, wenn sie vom »Fleisch«redet. Kein Zauber und keine Anmut dieses Fleisches fangenmehr bei ihm. Er sieht in der Lust dieser Welt den schmachvollenGegensatz zum unaussprechlichen Ernst des Kreuzes. Er hasstVater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern (Lk 14,26) mitgöttlichem Hass. Dieser Hass ist frei von menschlicher Bosheit. Erist nichts anderes als die schmerzliche Abkehr von der Unzuläng-lichkeit alles Geschöpflichen, dessen sündiges Fleisch Gott imFleisch seines Sohnes am Kreuze verdammen musste (Röm 8,3).

Doch ganz besonders hasst er aber sein eigenes Leben. Nie mehr wagter die Augen wie früher zu sich selber zu erheben. Die Ichherrlichkeitist dahin. Wer sich wirklich mit Christus am Kreuz gesehen, dem istdas Kreuz in alle Sinne und Glieder gefahren.

Jede selbstgefällige Leichtbeweglichkeit ist ihm genommen.Er kann nicht mehr tun, was sein natürliches Wesen will. Ererscheint wie ein Angehefteter, wie ein Angenagelter, wie einvon Gott Überwundener, Festgehaltener und Abgesonderter. Dasmacht, er sieht die Welt und sich selbst mit Christus gekreu-zigt, und die Welt sieht ihn gekreuzigt (Gal 6,14). Gleichwie der

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Vom Geheimnis des Kreuzes

Leib des Auferstandenen doch noch die Wundmale zeigte, sozeigen sich die Kreuzesspuren im Wesen eines jeden, der sichmit Christus gekreuzigt weiß.

Ich kannte einen solchen. Er verteilte Traktate in der viertenWagenklasse eines Zuges. Als er auch einem Angetrunkenen einBlättchen reichte, schlug dieser ihn mit der Faust ins Gesicht.Nach dem Bau seiner Glieder zu urteilen, wäre es dem Geschla-genen ein Kleines gewesen, seinem Angreifer Schlag mit Schlagzu vergelten. Wohl durchzuckte es ihn jäh, aber er blieb ein Ge-haltener, ein Angenagelter, ein mit Christus Gekreuzigter. Undso sprach er still, wie vom Kreuz herab: »Schlagen Sie mich nurweiter. Mein Heiland liebt Sie doch, und ich liebe Sie auch.«

Das ist etwas anderes als menschlich-natürliche Selbstbeherr-schung oder Selbstverleugnung. Diese beruht immer auf Selbst-einsetzung, statt auf Selbstaufgabe, und setzt immer Selbstbewer-tung und Selbstvermögen voraus. Christus aber konnte nichtsaus sich selber tun und ward als der bis zum Tod am Kreuz inseines Vaters Kraft Gehorsame in Schwachheit gekreuzigt. Sosind auch die, die mit ihm am Kreuz ihre Selbstbewertung undihr Selbstvermögen verloren haben.

Seht Paulus an! Das Kreuz hatte ihn um jede eigene Weisheit,Kraft und jeden Eigenruhm gebracht. In Bezug auf sich selbstaber hatte ihn die gottgeschenkte Kreuzesschau eine Weisheitgelehrt, die er niemals zu Füßen des Gesetzeslehrers Gamaliel ge-lernt hätte, nämlich die Weisheit: »Ich weiß, dass in mir, das ist inmeinem Fleische, wohnt nichts Gutes.« (Röm 7,18). Höre, so sehrwar das Kreuz Christi der Gradmesser seiner Selbstbewertunggeworden, dass das angezeigte Ergebnis auf: »Nichts!« lautete!Nichts Gutes in mir selbst! Das ist der Nullpunkt des Selbstver-mögens, der genau dem Mitgekreuzigtsein in Christus entspricht.Ist das seltsame, ichstürzende Wissen des Apostels auch unserklares Wissen geworden? Nur mit diesem Wissen geht man indas Mitgekreuzigtsein ein. Ist der Mittelpunkt: »Nichts Gutes!«auch von uns an- und eingenommen worden? Nur auf diesemPunkt bleibt man im Mitgekreuzigtsein nämlich im Zustand deseigenen Unvermögens, des Angeheftetseins, des Getrenntseinsvon der eigenen Natur.

Man ergriff damals Simon von Kyrene, der vom Felde kam,und zwang ihn, das für Christus bestimmte Kreuz zur Richtstättezu tragen, aber nachher ließ man ihn laufen. So sind alle die,

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Ich bin mit Christus gekreuzigt!

die nur durch menschlichen Zwang in Verbindung mit ChristiKreuz gekommen sind. Sie schleppen eine Zeitlang die alleinfür Christus bestimmte Last, aber ans Kreuz selber gehen sienicht mit. Wer aber von Christus selber durch den Heiligen Geistergriffen worden ist, der weiß sich auch durch den für unsereSünden Gekreuzigten mit ans Kreuz gezogen (Joh 12,32) undspricht: Ich empfange, was meine Taten wert sind; »dieser aberhat nichts Ungeziemendes getan« (Lk 23,41). Da hängt Paulus,der Pharisäer, so gut und so schlecht wie der Schächer, derStraßenräuber!

Und allein von diesem Glaubensstandpunkt des Mitgekreu-zigtseins aus gelingt auch der Sieg über die Sünde. Wer im Lichteder Kreuzesschau seine Selbstentwertung bis auf den Nullpunkterlebt hat und sich mit ans Kreuz geheftet sieht, dem vergehtder eigenmächtige Kampf wider die Sünde, in dem sich so vieleabmühen und Luftstreiche machen (1Kor 9,26). Alle, die nochso vergeblich und ungekrönt (2Tim 2,5) ringen, kämpfen nochauf dem Boden des sinaischen Gesetzes, des Gesetzes der Werke,aber nicht auf dem Boden des Gesetzes des Glaubens (Röm 3,27)und der Freiheit (Jak 1,25; 2,12).

Und wie viele kämpfen noch so unselig! Es sind alle die,die noch nicht auf den Nullpunkt gekommen sind. Sie glaubenschließlich zur Not, dass am Kreuz ihr Schuldbrief angeheftetund ausgetilgt worden ist (Kol 2,14), aber dass sie selbst mit ansKreuz geheftet worden sind und gerade dadurch die Macht derSünde in ihrem Fleische die Herrschaft verloren hat, das fassensie nicht im Glauben. Sie glauben eben noch an sich selbst. Weilsie sich nicht im Glauben für mitgekreuzigt halten, haben sienoch nicht ihre natürliche, ichgläubige Bewegungsfreiheit imEigenwirken eingebüßt. Sie glauben, dass in ihnen, das ist inihrem frommen Fleische, wohnt noch viel Gutes. Gewöhnlichist ihnen auch nicht anders zu helfen, als dass sie in ihrem Ei-genwirken erst ganz abwirtschaften müssen. Gott sucht sie damehr und mehr zwischen drei Gesetzen einzuengen, innerhalbderer sie an sich selbst verzweifeln sollen. Es ist das, erstens,das »Gesetz ihrer Vernunft« (Röm 7,23), das sie inwendig auf-fordert, gut zu sein, zweitens das Gesetz vom Sinai, das »heiligeGesetz Gottes«, das ihnen vom Himmel her gebietet, gut zu sein,und, drittens, das »Gesetz der Sünde« in ihren Gliedern, das sieimmer entscheidender belehrt: Du kannst nimmermehr so gut

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Vom Geheimnis des Kreuzes

werden, wie du innerlich willst und äußerlich sollst! (Röm 7,14–23). Zwischen diesen drei mehr als eisernen Gesetzen erlebt derehrlich ringende Mensch das Ende seines ichgläubigen Eigenwir-kens, indem er schließlich einsehen lernt, dass er das »Gesetzder Sünde« in seinem »Leibe der Sünde« und »des Todes« niezu durchbrechen vermag, und damit endlich glauben lernt, dassdieser Todesleib der Sünde seinem Gesetz und Wesen nach vorneunzehnhundert Jahren mit Christus ans Kreuz geheftet unddort außer Wirksamkeit gesetzt worden ist (Röm 6,6).

Mit dieser Erkenntnis hört der eigentliche Kampf gegen dieSünde auf und beginnt der eigentliche Kampf des Glaubens. Derbrennende Boden vom Sinai ist verlassen und der Heilsbodenvon Golgatha gewonnen. Es ist ein großer Unterschied zwischendem moralischen Kampf wider die Sünde und dem biblischenKampf des Glaubens. Beim Kampf wider die Sünde steht das Ichder inneren und äußeren Macht der Sünde gegenüber und suchtdurch Einsetzung aller moralischen und religiösen Kräfte zurHerrschaft über diese Macht zu gelangen; der »liebe Gott« undder »liebe Heiland« sollen gewöhnlich dabei ein wenig mithelfen,aber die Hauptsache, meint man, müsse man doch selber tun.Beim Kampf des Glaubens steht das Ich überhaupt nicht mehrringend der Sünde gegenüber, sondern weiß sich ruhend inChristus, zu dem es elend und verloren geflohen ist und der esdurch das Blut seines Kreuzes aus der Macht Satans und derSünde losgekauft und errettet hat. Das Ich ist nicht mehr in sichselbst, sondern es ist eben nunmehr in Christus.

So betrachtet, ist der Kampf des Glaubens nichts anderes als das un-ausgesetzte geisteswache, glaubenstätige, bleibende Ruhen in Christus.

Er ist – wie ich es gerne ausdrücke – die fortgesetzte Ichver-neinung und Christusbejahung, die stete Rechnung: Herr, ichin dir, und du in mir! So ist das »Stehen«, »Widerstehen« und»Bestehen« im Glauben nichts anderes als das unter allen Um-ständen andauernde und ausdauernde Halten und Bewahrendes Glaubens: Herr, ich bin dein, und du bist mein! Wobei dasAnziehen und Gebrauchen der ganzen Waffenrüstung Gottesvon Epheser, Kapitel 6, eben das beständige Werten und Verwer-ten der Lebens-, Heils-, Schutz- und Siegeskräfte bedeutet, dieuns in Christus durch den Glauben zuteilwerden, die wir aberpraktisch immer nur solange besitzen, als wir uns glaubenswachund glaubenstätig in ihm wissen. Sobald wir irgendwie wieder

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Ich bin mit Christus gekreuzigt!

selbständig in uns werden, bietet uns die ganze WaffenrüstungGottes weder Schutz noch Sieg mehr.

Nicht wahr, wir verstehen, dass dieser biblische Kampf desGlaubens nicht auf ein möglichst siegreiches Ausziehen widerdie Macht der Sünde, sondern auf das allezeit siegesgewisse Blei-ben in Christus hinausläuft. Der Sieg über die Sünde ist bereitsersiegt! Der Sieger heißt Christus, das Schlachtfeld Golgatha!Dein Glaube an diesen Sieg macht dich zum Teilhaber an diesemSieg! Nicht die Sünde brauchst du mehr zu besiegen, sonderndeinen elenden Unglauben, deinen Zweifel am Sieg Christi, derimmer und allezeit die Folge des Rückfalls in die Selbstbejahungund damit die Ursache neuer Sünden ist.

Und so ist die erste Glaubensbetätigung im Kampf des Glau-bens und die erste Stufe hinan zur Erlangung der praktischenBefreiung von der Macht der Sünde:

Halte dich Sekunde um Sekunde für mitgekreuzigt!Übe dich in der gottseligen Glaubensrechnung: Mein altes,

gottfeindliches Wesen samt seinem Werkzeug, dem Leibe derSünde, dessen Glieder als Waffen der Ungerechtigkeit den sündi-gen Lüsten dienten, ist mit ans Kreuz geheftet und dort seinerMacht und Kraft beraubt worden. Das Gesetz der Sünde unddes Todes (Röm 8,2), das mich an sich versklavte, solange ichmich, ungläubig dem Siege Christi, der Sünde zum Gehorsambegab (Röm 6,16), ist am Kreuz aufgehoben worden. Ich bin freivon diesem Gesetz durch den Glauben! Und im Gehorsam diesesGlaubens stelle ich meinen Leib mit seinen Sinnen und GliedernChristus dar (Röm 12,1). Er hat mich mit Geist, Seele und Leiban sich genommen. Er hat mich durch Sein Blut für Gott erkauft,und Gott hat mich ihm zum Schmerzenslohn gegeben: Ich ge-höre nicht mehr mir selber! Halleluja (1Kor 6,19.20). Ich gehöreChristus an! Mein Fleisch samt den Lüsten und Begierden istund bleibt gekreuzigt! (Gal 5,24). Ich bin dem Fleische nicht mehrschuldig, nach dem Fleische zu leben (Röm 8,12). Ich würdeden Sohn Gottes mir selbst kreuzigen und zum Gespött machen,wollte ich meine Glieder vom Kreuz lösen und wieder mir selbstin der Sünde leben (Hebr 6,6).

Wer so sich übt, seines Glaubens zu leben, dem wird die Glaubenstat-sache des Mitgekreuzigtseins bald zur Erfahrungstatsache werden.

Er wird immer mehr die eigentliche Bewegungsfreiheit verlie-ren. Der Glaubensgehorsam wird ihn immer fester ans Kreuz

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heften, die Gemeinschaft der Leiden Christi wird ihm immerdeutlicher aufgeprägt werden (Phil 3,10), er wird das SterbenJesu immer beständiger an seinem Leibe herumtragen (2Kor 4,10),auf dass auch das Leben Jesu an seinem Leibe offenbar werde.Und entnommen sich selbst und entflohen dem Betruge der Lüsteund der Irrsal des Eigenwillens, wird er jubeln können:

Ich wünsche mir kein andres Leben, als dass deinSterben mir gegeben

und du am Kreuz erworben hast.Drum beug all meinen Eigenwillen, dass er sich

göttlich möge stillenbei deines Kreuzes leichter Last!

Dabei wird es sich im alltäglichen Lebensgange herausstellen:Nur wer sich im Glauben mitgekreuzigt weiß, vermag wahr-

haft im Geist zu entsagen, zu warten, zu schweigen, zu duldenund zu leiden. Wer sein altes Wesen am Kreuz weiß, verliertimmer mehr jeden ichsüchtigen Anspruch auf Berücksichtigung,Anerkennung, Ehre, Bequemlichkeit, Besitz und Genuss. Werseinen Platz am Kreuz hat, kann auf jedem Platz im Leben aus-kommen und auch jeden Platz lassen. Das mitgekreuzigte Ichrührt sich immer weniger. Es sucht und fürchtet nichts mehrfür sich. Es hat seinen Platz mit Christus über den Menschenund erwartet nichts mehr von ihnen. Es wartet in allen Dingennur auf Gott. Dabei verliert es nicht nur die äußere, sondernauch die innere Ungeduld. Gleichwie ein Sterbender verliert esauch immer mehr die natürliche Kraft zu reden. Es schweigt wieein Fremdling, und wenn es redet, so redet es nur im Zeichendes Kreuzes. Jede Verhöhnung seiner Schwachheit vermehrt nursein selbstloses, leidenswilliges Dulden und zerstört die Resteder Selbstbewertung als empfindsame Selbstbemitleidung odergeheime Selbstverherrlichung. Es hängt nackt und ohne jedenZierrat am Kreuz. Es hat aber ein Wohlgefallen an Schwachhei-ten, an Misshandlungen, an Nöten, an Verfolgungen, an Ängsten.Aber das alles nicht, um eine Leidensrolle vor den Augen derMenschen oder vor den eigenen Augen zu spielen, sondern umChristi willen (2Kor 12,10), nämlich allein durch, mit und fürChristus.

So wird der Mitgekreuzigte immer mehr wie Christus auchin der Welt war (1Joh 4,17), der ja ans Kreuz ging, ehe er am

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Ich bin mit Christus gekreuzigt!

Kreuz hing. Seine Fußtapfen zeigten immer nach Golgatha, wenner nicht schalt, da er gescholten ward, nicht drohte, da er litt,sondern alles dem übergab, der recht richtet, und uns so derSünde entnommen hat, als er statt der vor ihm liegenden Freudedas Kreuz erduldete. Das Vorbild, das er uns gelassen, bleibtallezeit das Bild des Gekreuzigten (1Petr 1,21.23; Hebr 12,2).

Aber auch wir werden anderen nur zum Vorbild im Bilde desGekreuzigten; denn das Kreuz ist das einzig Ungleichförmigein der Welt. Wohl ist es als Zeichen weit bekannt, aber als Le-bensinhalt verbannt. Auf Türmen, an Wänden und am Halseliebt man es, und in der Tat hasst man es. In Bekenntnissen undLehrsätzen ist man ein Freund und in der praktischen Lebensge-sinnung ein Feind des Kreuzes Christi (Phil 3,18). Vielleicht istmit nichts in der Welt eine solche Heuchelei getrieben wordenwie mit dem Kreuz. Den einen ist es »Nehuschtan« (2Kön 18,4),ein ehernes Götzenbild, geworden, den anderen ein magischesWunderzeichen, den dritten ein flammendes Kampfzeichen, denvierten ein kostbares Schmuckzeichen, den fünften ein schwarzesTrauerzeichen, den sechsten ein verhasstes Ärgernis, – und dochist’s weiter nichts als der Galgen, an dem die Sklaven zu Todegebracht wurden und an dem man auch den erwählten Knechtdes Herrn unter die Übeltäter rechnete und für nichts achteteund an dem sich auch Paulus, der Mann, den man eine Pestgenannt hatte (Apg 24,5), mit seinem Meister vereinigt sah, undwo sich alle sehen, die das Kreuz als das Hinrichtungsmittel fürihr eigenwilliges Ichleben erkannt haben. Wer es aber so erkannthat, dem hört das Kreuz auf, Zierrat oder Ärgernis zu sein, demwird es ernster Tod und dann seliges Leben, dem wird es das Zei-chen der einsamsten Fremdlingschaft in dieser Welt und zugleichGottes Siegeszeichen über diese Welt.

Wenn jemand deine sogenannte Ehre angreift und du greifstflugs in wiedervergeltender Empörung die seine an, so findetdas die Welt vollkommen in Ordnung; es befremdet sie nicht.Wenn dir jemand Unrecht tut, und du läufst zum Richter, umdein Recht zu suchen, so halten dich alle für eine klugen Mann;es befremdet niemanden. Wenn du aber deine »Ehre« und dein»Recht« und dich selbst vor Menschen fahren lassen kannst undnicht mehr mit ihnen dem Ichwahn nachläufst, das befremdetsie bis zum mitleidigen Spott und boshaften Hass. Da wittern siedie Echtheit des Kreuzes. Und da stört sie der lebensgefährliche

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Ernst des Kreuzes. Da schreien sie: »Schwärmerei!« Und dochist das Aufhören des Streitens für dich im Zeichen des Kreu-zes und Mitgekreuzigtseins zugleich das Einzige, was die Weltüberwindet.

Ich muss da immer an den römischen Hauptmann bei der Hin-richtung Jesu denken. Wie verächtlich mag ihm zuerst der nackte,angenagelte Mann vorgekommen sein, über dessen dornenge-kröntem Haupte zu lesen war: »König der Juden!« ErbärmlicherScheinkönig ohne Macht und Kraft, ohne Thron und Heer, ohneLand und Leute! Hohnvolle Jammergestalt, wie schnell wird’smit dir aus sein! Dann aber kam das Erstaunliche: der Angena-gelte nannte Gott seinen Vater und bat laut für die feindseligenSpötter zu seinen Füßen! Der Nackte schenkte dem Räuber zurRechten ein Paradies? Der am Galgen Hingerichtete befahl ster-bend seinen Geist laut in Gottes, seines Vaters Hände? Und dieErde bebte, als dieses Angesicht sich zum Tode senkte? Und derGlanz der Sonne erlosch, als dieses Auge brach und erlosch. Gabes denn eine Allmacht der Schwachheit? Trug denn die Schandedas Zepter Gottes? Und der römische Schwertträger schlug anseine Brust, und alle, die dabei standen, schlugen an ihre Brust,und hörten den Kriegsmann bebend sagen und sagten es bebendmit: »Wahrhaft, dieser war Gottes Sohn!« (Mt 27,54)

Und du, oh Mitgekreuzigter, sieh den Sohn Gottes, wie erdas Größte tut, als er angenagelt stirbt! Nicht das war das Größ-te, dass er mit Vollmacht redete und lehrte. Nicht das war dasGrößte, dass er sie alle von ihren Seuchen und Gebrechen heilte.Auch war das nicht das Größte, dass er seinen Freund Lazarusauferweckte. Nein, das war das Größte, dass er als der Anführer(Apg 3,15) und Träger alles Lebens in Schwachheit gekreuzigtam Galgen starb. Nur so wurde das Lösegeld für der Welt Sündeentrichtet. Nur so wurde das heilige Gottesgesetz erfüllt. Nurso wurde der Fürst dieser Welt gerichtet und hinaus gestoßen;er wurde hinaus gestoßen, als Jesus außerhalb des Lagers (He-br 13,13) in die hohnvollste Schmach gestoßen wurde. Denn esbleibt wahr: Nur mit angenagelten Händen hat der Sohn Got-tes den Starken gebunden und ihm den Hausrat entwunden(Mt 12,29), und nur mit angenagelten Füßen hat er der Schlangeden Kopf zertreten (1Mos 3,15).

Darum darfst du es wagen, dich mitgekreuzigt zu sehen undsehen zu lassen. Mögen sie lange vor deinem gekreuzigten Leben

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höhnen und spotten, bleibe du nur in Christi Schwachheit, sowerden eines Tages auch vor deinem Bilde die Schwertträgerdieser Welt an ihre Brust schlagen und sagen müssen: Wahrlich,das ist kein gewöhnlicher Mensch, sondern ein Nachfolger Christiund ein Kind Gottes gewesen!

Freilich gehört dazu noch das andere, nämlich, dass du nichtnur mit Christus gekreuzigt, sondern auch mit ihm gestorbenseiest und seinem Tode gleichgestaltet werdest. Christus wurde janicht nur ans Kreuz geheftet, um den Juden das Schauspiel einesmachtberaubten Königs zu bieten, nein, er sollte zu Tode gebrachtwerden. Und auch Gott gefiel es nicht nur, ihn zu zerschlagen(Jes 53,10.12), nein, er sollte sein Leben in den Tod geben. Nichtnur Schande und Schmach, Unfreiheit und Qual, nein, Tod ist derSünde Sold (Röm 6,23). Nicht Jesu Kreuzesleiden erfüllte das Ge-setz und tilgte unsere Sünde, nein, nur der Tod des Gottessohnes,den er durch Gottes Gnade für uns alle geschmeckt, versöhnteuns mit Gott (Röm 5,10; Hebr 2,9). Nicht das Kreuzesleiden desHerrn ist der Gipfelpunkt der Kreuzesschau des Paulus, nein, derTod des Herrn am Kreuz ist das Gewaltigste, was der Apostel zuerschauen vermag. Da offenbarte sich ihm die Höhe der Weisheit,Gerechtigkeit und Liebe Gottes. Mit gottgeöffnetem Geistesaugeschaut er da die zwei Einen, den ersten und den letzten Adam,und entdeckt das unvergleichliche göttliche Solidaritätsgesetz:Einer für alle.

Durch einen Menschen, den ersten Adam, ist die Sünde indie Welt gekommen, und durch die Sünde der Tod, der zu allenMenschen durchgedrungen ist, weil sie alle gesündigt haben, sodass durch des Einen Übertretungen die Vielen gestorben sind– und durch den Tod des einen Menschen, Jesus Christus, desletzten Adams, den Gott als den einen Mittler (1Tim 2,5) für unsalle dahingegeben hat (Röm 8,32), ist die Gnade Gottes gegendie Vielen überströmend geworden (Röm 5,12–21). In diesemgroßartig geschauten Haftgesetze der Gerechtigkeit Gottes findetPaulus die ganze Liebe Gottes und Christi kristallisiert. DurchAdam geschah die Sünde, die nach Gottes Gerechtigkeit uns allenden Tod bringen musste. Durch Christus geschah die Errettungaus der Sünde, die nach Gottes Liebe uns allen die Befreiung vonder Macht und Herrschaft des Todes bringen konnte.

Musste aber Christus in Erfüllung der Gerechtigkeit und LiebeGottes als der Eine für uns alle stellvertretend den Tod schmecken,

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so drängt uns die Liebe des Christus, schließt Paulus folgerichtigweiter, zu urteilen, dass, wenn einer für alle gestorben ist, sie allegestorben sind, das heißt, alle im Tode lagen und in der Gleichheitseines Todes mit ihm verwachsen sind (2Kor 5,14; Röm 6,5). Undso, wie Paulus angesichts des gekreuzigten Gottessohnes ausrief:»Ich bin mit Christus gekreuzigt«, so ruft er nun angesichts desam Kreuze gestorbenen Gottessohnes aus: »Ich bin . . . gestorben. . . nicht mehr ich lebe!« (Gal 2,19.20) und: »Ihr seid gestorben!«(Kol 3,3). »Wir sind mit Christus gestorben« (Röm 6,8). Fortan istihm dieses Mit-Christus-Gestorbensein der Angelpunkt zweierWelten. Hinter ihm liegt die Welt der Herrschaft des Gesetzesund der Sünde, vor ihm die Welt der Herrschaft der Gnade unddes Geistes.

Dabei unterscheidet das erleuchtete Auge des Apostels deutlicheine Doppelwirkung unseres Mit-Christus-Gestorbenseins. Ersieht uns erstens dem Gesetz gestorben und zweitens der Sündeabgestorben. »Ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben«,verkündigt er in Galater 2 Vers 19. Damit will er sagen: Der Zornund Fluch des sinaitischen Gesetzes forderte meinen Tod, denChristus durch Gottes Gnade an meiner Stelle erlitt (Gal 3,13). Sohat Christus durch das Gesetz den Kreuzestod erlitten und somitdurch sein vollgültiges Opfer mich von der tötenden Herrschaftdes Gesetzes befreit. Als mit Christus Gestorbener bin ich alsodurchs Gesetz, das ihn tötete, mitgetötet worden und damitjeder weiteren Wirkung des Gesetzes abgestorben. So bin ichtatsächlich durchs Gesetz dem Gesetz gestorben.

Was Paulus gilt, gilt aber auch seinen Brüdern, die sich mitihm im Glauben für mit Christus gestorben halten. Und wie injubelnder Liebe verkündigt er im Anschluss an seine gleichnis-artige Beweisführung in Römer 7: »Also seid auch ihr, meineBrüder, dem Gesetz getötet worden durch den leiblichen TodChristi« (Vers 4).

Mit Christi Kreuzestod dem tötenden Gesetz abgestorben,welch eine herrliche Erlösung! Warum ergreift sie der Menschnicht freudiger? Weil man zu glaubensträge und zu ichvernageltdahinlebt! Als schwer zu begreifende, lebensfremde, paulini-sche Theorie und Lehre lässt man das alles schließlich gelten,aber wie wenige glauben hier freudig, um praktisch dieses Glau-bens zu leben! Lieber zerquält man sich in knechtischer Furchtvor dem kommenden Zorn Gottes bis zur Schwermut, als dass

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Haltet euch der Sünde für tot!

man hier dem Worte Gottes recht geben möchte. Und viel lieberstimmt man schließlich mit dem Kopf der Lehre zu, als dass manpraktisch sich als Mitgekreuzigter und Mitgestorbener erweisenmöchte. So lebt man denn sein träges, schlappes, ichleidigesoder ichstolzes Selbstleben weiter, lässt die Dinge weit weg vompraktischen Lebensgang in der Bibel stehen, und nennt sich –»gläubig«! Kein Wunder, dass dabei Irrlehren wie Pilze aus derErde schießen, weil sie dem Selbstleben schmeicheln, das lieberauf eigene Faust das Gesetz erfüllen als sich in Christi Tod ge-ben möchte, um als mitgetötet dem Gesetz abgestorben zu sein!Gehörst auch du noch zu diesen glaubensfernen, trägen oderdreisten Frommen? Wenn ja, dann gib Gott in ichstürzender Bußerecht und ergreife und lebe, was es heißt: Mit Christi Tod demGesetz getötet! Dem Stecken des Treibers und dem Knechtsdienstder eigenen Anstrengung zur Erfüllung des Gesetzes und damitdem göttlichen Zorne und Fluche ewig entnommen!

So höre auch das nächste! Denn die zweite entscheidungs-schwere Wirkung unseres Mit-Christus-Gestorbenseins ist:

Haltet euch der Sünde für tot! (Röm 6,11)

Wir wissen, was Christus gestorben ist, das ist er nicht nur demGesetz gestorben, sondern das ist er besonders der Sünde ge-storben (Röm 6,10). Indem er den Fluch des Gesetzes auf sichnahm, damit dieser Fluch nicht weiter wirken sollte, nahm er jaunsere Sündenschuld mit auf sich, damit auch das Gesetz derSünde nicht weiter wirken sollte. Als er das Gesetz durch sei-nen Kreuzestod erfüllte, war mit der Schuld der Sünde auch dieMacht der Sünde abgetan. So hat beides mit Seinem Kreuzestodein Ende gefunden; der Fluch des Gesetzes vom Sinai, der derSchuld der Sünde entsprach, und der Bann des Gesetzes derSünde, der der Macht der Sünde entsprach. Wer also im Glaubenmit Christus dem Gesetz gestorben ist, der ist mit Christus auchder Sünde gestorben. Der weiß: als Christus durch das Gesetz fürdie Schuld meiner Sünde getötet wurde, da bin ich als Mitschul-diger mitgetötet worden und damit jeder weiteren Schuld- undMachtwirkung der Sünde »entworden« (1Petr 2,24, Grundtext)und abgestorben. Gott sei ewig Dank dafür!

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Denn das ist mehr als nur mitgekreuzigt sein. Unser alterMensch, das ist unser angeborenes gottfeindliches Wesen, ist janur deshalb mit ans Kreuz geheftet worden, damit der Leib derSünde, das ist das Sündenwerkzeug des alten Menschen, amKreuz abgetan werden, nämlich durch Christi Tod den Todes-streich bekommen sollte. Das ist geschehen. Fortan lautet meineGlaubensrechnung nicht nur: Mein alter Mensch ist mitgekreu-zigt, nein, ich darf damit rechnen: Der Leib der Sünde ist mitChristi Leib getötet, ich brauche der Sünde nicht mehr zu dienen,sondern bin ihr abgestorben. Wohl lebe ich noch im Leibe desFleisches, aber kein Gesetz der Sünde soll mich mehr zwingen,im Fleische nach dem Fleische, das heißt, nach dem Gesetz derSünde zu leben. Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Chri-sto Jesu (das ist die Geistesherrschaft des AuferstehungslebensChristi als Frucht des Kreuzestodes Christi) hat mich freigemachtvon dem Gesetz der Sünde und des Todes (Röm 8,2). Nicht nurbleibt mein Fleisch samt den Leidenschaften und Begierden mit-gekreuzigt, nein, die Glieder sind dem Sündendienste gegenübergetötet und bleiben der Sünde gegenüber in diesem Todeszustan-de (Klgl 3,3). Über diesen Zustand zu wachen ist unsere Aufgabeim Geist als Kampf des Glaubens, wobei wir unaufhörlich die(sündenwilligen) Handlungen des Leibes durch den Geist zutöten haben (Röm 8,13).

Das bedeutet aber nichts anderes, als den unausgesetzten Ein-spruch gegen unser fleischliches, eigenwilliges Ichleben. Es istdie stete Betätigung des Glaubens: Ich bin mit Christus gekreu-zigt und gestorben. Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebtin mir! (Gal 2,19.20). Es ist die unaufhörliche Anwendung derGlaubenserkenntnis: Ist Christus für alle gestorben, so sind siealle gestorben; »und er ist darum für alle gestorben, dass die,welche leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der fürsie gestorben und auferweckt worden ist« (2Kor 5,14.15). Bei die-ser Glaubensbetätigung wird das Ich zum Opfer. Derselbe ewigeGeist, durch den Christus sich Gott geopfert hat (Hebr 9,14),heischt auch die im Glauben Mitgestorbenen als Mitgeopfer-te. Er machte aus den Aposteln »ein Auskehricht aller Leute«(1Kor 4,13), gleichsam zum Tode bestimmt. Er machte aus Paulusein besonderes Opfer, das die Malzeichen Jesu am Leibe trug,so dass der Apostel sich nur noch als geopfert ansah (Gal 6,17;2Tim 4,6).

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Haltet euch der Sünde für tot!

Und durch diesen Apostel ermahnt der Geist die Brüder, »beiden Erbarmungen Gottes ihre Leiber darzustellen als ein leben-diges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer, welches euervernünftiger Gottesdienst ist« (Röm 12,1). Wer sich im Glau-ben mit Christus gekreuzigt und gestorben ansieht, kann nichtanders, er muss Gott seinen Leib aushändigen, damit Gott inChristus durch den Geist den Leib bewohne, belebe, regiere,gebrauche, kräftige, heile, ernähre, kleide und erhalte zu desHerrn Preis (1Kor 6,19.20; 9,27). Üben wir diesen schriftgemäßenGottesdienst der Darstellung unseres Leibes zum lebendigen,heiligen, Gott wohlgefälligen Schlachtopfer? Wie anders würdedie Kraft Gottes unter uns heimisch sein, wenn es geschähe! Dasses nicht geschieht, daran ist nichts schuld als unser ichsüchtigerEigenwille, dieser zähe Feind des Kreuzes Christi und Vater allesUnglaubens, der allezeit die Sünde zeugt, die den Tod gebiert!

Wer aber auf Christi Kreuz und Tod eingeht, der wird durchden Geist leben, weil er durch den Geist zu sterben vermag. Erwird sich auch zum Letzten hinleiten lassen, das uns das Kreuzbringt, nämlich zum Grabe unseres Eigenlebens.

Der Weg vom Kreuz geht ins Grab. Die Juden wollten Jesus nurkreuzigen und töten, um ihn hinwegzuschaffen. »Hinweg mitdiesem!« das war der Zweck der ganzen Hinrichtung. Der Un-erträgliche sollte vom Erdboden verschwinden. Und das wollteder Herr auch selber. Als alle Welt ihm nachlief und auch dieGriechen ihn am Feste sehen wollten, antwortete Jesus den vermit-telnden Jüngern: »Die Stunde ist gekommen, dass des MenschenSohn verherrlicht werde! Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wenndas Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, so bleibt es al-lein; wenn es aber erstirbt, so bringt es viel Frucht« (Joh 12,23.24).Das sollte heißen: Und wenn mir noch so viele nachlaufen, ummich sehen zu wollen, so bringt das doch weder Verherrlichungnoch Frucht; ich bleibe doch immer allein. Nur mein schmachvol-ler Tod für alle und mein Verschwinden von der Welt, nämlichmein Begrabenwerden wird Herrlichkeit und Frucht als Folgehaben. Nur wenn ich als Schuldopfer ins Grab sinke, werde ichNachkommen haben und lange leben (Jes 53,10). Hatte sich Jesusbei seiner Taufe im Jordan unter das Gesetz gestellt (Gal 4,4)und damit mit der Sünde der Welt zusammengeschlossen, hatteEr auf dem Berge der Verklärung das Kreuz ins Auge gefasstund sein Angesicht stracks nach Jerusalem gewandt und sich

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damit mit dem Gericht über die Sünde zusammengeschlossen,so schloss Er sich nun mit dem Sold der Sünde, mit dem Todzusammen und mit dem Grab. Und bei jeder dieser drei Gelegen-heiten bezeugte des Vaters Stimme vom Himmel her dem Sohnedas ausdrückliche Wohlgefallen (Mt 3,17; 17,5; Joh 12,28); denn eswaren dies die drei wesentlichen Akte des Gehorsams Jesu, vonderen Erfüllung die Erlösung der Welt abhing. So wurde Jesusin Erfüllung des Willens Gottes nach der Schrift auch begrabenund fand mit unzerschlagenem Gebein bei Reichen sein Grab(1Kor 15,4; 2Mos 12,46; Joh 19,36; Jes 53,9).

Paulus aber, der göttliche Deuter, sieht auch uns in ChristiGrab mit hinein gesenkt und verkündigt:

So sind wir nun mit ihm begraben worden durch die Taufe auf denTod (Röm 6,4; Kol 2,12).

Und zwar ist es eigentümlich, dass Paulus das Untergetaucht-werden der Gläubigen bei der Wassertaufe als äußeres Sinnbildfür das Mitbegrabensein enthüllt. Die Taufe mit Wasser wirddamit zum Sinnbild einer recht erlebten Buße und Bekehrung,nämlich zum Zeichen des willigen Eingegangenseins in das mitChristus Gekreuzigt-, Gestorben- und Begrabensein durch denGlauben, während der Apostel die Taufe mit Geist als Kennzei-chen der Wiedergeburt und unseres Eingepflanztseins in dengeistlichen Leib Christi, des Auferstandenen und Erhöhten, offen-bart (1Kor 12,13; Röm 8,9). Wie man aber auch die Wassertaufedeuten und ausüben mag, jedenfalls bedeutet sie das Grab unse-res angeborenen, gottfeindlichen, eigenwilligen Ichlebens, damitwir in Neuheit des Lebens wandeln sollen.

Aber wie weit ist man von solcher praktischen Deutung ent-fernt! So wie man das Mitgekreuzigt- und Mitgestorbensein nurals lebensfernen Lehrsatz gelten lässt, so lässt man das Mitbe-grabensein nur als sinnbildliche oder magische Handlung geltenund lebt dreist weiter im alten Leben! Dass mit dem vom Kreuzgenommenen toten Gottessohn unsere Sünden mit ins Grab gesenktund hinweg genommen worden sind, das lässt man sich schließlichgerne gefallen, aber dass wir selbst in unserem alten Wesen mit abgetanund auf die Seite gekommen sein sollen, das leugnet die Lebensart desichwilligen Unglaubens der Gläubigen.

Und doch ist nur das wirkliche biblische Glaubensbetätigung,dass ich mich dem alten fleischlichen Selbstleben nach auch alsmit Christus begraben ansehe. So gewiss ich mich der Sünde für

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Haltet euch der Sünde für tot!

abgestorben zu halten habe, so gewiss habe ich mich mir selbstgegenüber für begraben zu halten. Nicht mehr ich lebe, Christuslebt in mir, bedeutet im Sinne des Mitbegrabenseins: Nicht mehrich bin da, nur Christus ist da! Ich bin vom Schauplatz abgetre-ten, bin verschwunden, abgetan und bleibe abgetan. Nur in demauferweckten und auferstandenen Christus habe ich noch Leben,aber nicht mehr mein Leben, sondern sein Leben. Im praktischenLeben bedeutet das den immer endgültigeren Rücktritt von al-lem Eigeninteresse. Nur Christi Interesse gilt. Alles durch ihnund alles für ihn. Es bedeutet Demut, mich allezeit wie einen zubehandeln und behandeln zu lassen, der nicht mehr in Betrachtkommt. Nur Christus kommt in Betracht. Es bedeutet Sanftmut,allezeit wie ein Unberechtigter zu bitten und nie mehr Ansprüchegeltend zu machen. Christus allein habe Vorrecht, Vortritt undAnspruch. Es bedeutet Freiheit, unabhängig von Ehre, Ruhm,Ansehen, Bekannt- und Gekanntwerden leben zu können, wennnur Christus geehrt und bekannt wird. Es bedeutet Geduld, michnicht selbst ins Zeug legen zu müssen. Christus wird sich einset-zen und wirken. Es bedeutet Zurückgezogenheit, stets und unterallen Umständen in Christus ge- und verborgen zu sein und inIhm erfunden zu werden. Er allein werde offenbar. Es bedeutetGenügsamkeit, nicht haben zu müssen, was alle begehren, wenner mich nur hat und ich ihn habe. Es bedeutet Friede, nämlichvon mir selbst getrennt zu bleiben, mich selber immer endgülti-ger loszuwerden. Nur dass ich ihn immer völliger gewinne. Esbedeutet Freude und Liebe, mich selbst und keinen Menschenmehr nach dem Fleische zu kennen, sondern sie alle und mich inChristus geliebt zu wissen, und alle, ausgenommen mich, in ihmlieben zu können. Und es bedeutet Kraft, alles zu vermögen indem, der meine alleinige Stärke ist, und weit zu überwinden indem, der mich geliebt hat und von dessen Liebe mich nichts zuscheiden vermag. Und es bedeutet Würde und Reichtum, weilich, der Schande meiner sündigen Eigenheit entnommen, alsein erlöstes Gotteskind in sein Reich und in seine Gemeinschaftaufgenommen worden bin und mir mit ihm Himmel und Erdegeschenkt sind. Aber alles gehört ihm, und er allein ist würdig.

Wahrlich, nur wer dem alten Leben nach in Christi Kreuz,Tod und Grab bleibt, hat neues, ewiges Leben! Wie betrügen diesich selbst, die sich rühmen, samt Christus lebendig gemachtzu sein, und haben doch ihr altes Leben nie in lebendiger Glau-

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Vom Geheimnis des Kreuzes

bensbetätigung im Gange der Alltagsgeschäfte in Christi Kreuz,Tod und Grab gegeben! Nur wo die Kraft des Kreuzes und To-des Christi im Kampf des Glaubens zur steten Ichverneinungwirksam geworden ist, kann auch die Kraft der AuferstehungChristi zur steten Jesusbejahung wirksam sein. Die Kraft seinerAuferstehung kann uns nur in dem Maße tatsächlich zuteilwer-den, in dem Christi Kreuz, Tod und Grab tatsächlich unser Teilgeworden sind. Wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnungdurch die Auferstehung Christi können doch nur die sein, diealle trügerische, tote Hoffnung auf sich selbst mit Christi Kreuzund Tod in Christi Grab begraben haben.

Wer sagt, er glaube an die göttlichen Heilstatsachen der Kreu-zigung und Auferstehung Christi und zeigt sie nicht als heilsameTatsache im Alltagsleben, dessen Glaube ist fruchtlos und tot,ohne Freude und Friede, ohne Kraft und Sieg. Doch nur daranwird das neue Leben an uns erkannt, dass, wenn man uns, seies mit Nadelstichen oder mit Hammerschlägen des Neides, derVerleumdung, des Hasses, der Ungerechtigkeit ans Kreuz heftenwill, wir bereits am Kreuz angetroffen werden, also gar nichtmehr durch die Bosheit zu treffen sind. Und wenn man uns nachunserem Ichleben trachtet, um es uns streitig zu machen oderganz zu rauben, wir es bereits an Christi Kreuz verloren haben.Und wenn man uns beiseiteschaffen und abtun will, wir bereitsmit Christus abgetan und ins Grab gekommen sind. Die derartmit der Gleichheit des Todes Christi verwachsen sind, die sindes auch in der Gleichheit seiner Auferstehung (Röm 6,5).

Glückselig die Unüberwindlichen, die in tätigem Glauben mitdem Kreuz, Tod und Grab Christi zu Christi Krone, Leben undlichter Himmelsherrlichkeit durchgedrungen sind!

»Wer sein Leben liebt, wird es verlieren; und wer sein Le-ben in dieser Welt hasst, wird es zum ewigen Leben bewahren«(Joh 12,25).

Gott sei Dank für dieses heilige Entweder-Oder!

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Die drei Grundbedingungen derJesusnachfolge

Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme seinKreuz auf sich und folge mir.

Matthäus 16,24

Die drei Grundbedingungen der Jesusnachfolge heißen:

SelbstverleugnungKreuzaufnahmeTatsächliche Nachfolge

Die beiden ersten Grundbedingungen, Selbstverleugnung undKreuzaufnahme, sind eigentlich Vorbedingungen, die erst dietatsächliche Nachfolge ermöglichen, aber eben deshalb in ihrbeibehalten werden. Ohne Selbstverleugnung gibt es noch nichteinmal einen Antritt zur Jesusnachfolge, viel weniger einen Ein-tritt in dieselbe. Deshalb wollen wir uns gleich merken:

Die rechte Selbstverleugnung beginnt mit dem rechten Kom-men zu Jesus.

Nicht alle, die zu Jesus kommen, folgen ihm nach, und diemeisten folgen ihm deshalb nicht nach, weil sie nicht recht zuihm gekommen sind. Jedes rechte Kommen zu Jesus bedingt einrechtes Weggehen von uns selbst. Wer sich Jesus zuwenden will,muss sich von sich selber abwenden. Das rechte Kommen zuJesus ist die rechte Bekehrung, Bekehrung aber ist nichts anderesals Abkehr von uns selbst. Bis zu seiner Bekehrung folgt derMensch sich selber nach, liebt sich und lässt nicht von sich. Erwird gelockt von dem, was in ihm und was in der Welt ist. Seinganzes Wesen ist Ich- und Weltbejahung. Soll er sich und dieWelt lassen lernen, so muss er sich und die Welt hassen lernen.

Welch eine gewaltige Macht muss das doch sein, die den Men-schen dazu bringt, sich selbst, sein eigenes Leben und was dazugehört, zu hassen, auch nicht mehr lieb zu haben die Welt nochwas in der Welt ist, des Fleisches Lust, der Augen Lust und

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Die drei Grundbedingungen der Jesusnachfolge

hoffärtiges Wesen! Es ist die Liebesmacht Jesu, die das vermag.Er lockt zuerst durch sein Wort, das die Mühseligen und Bela-denen, die Sünder und Verlorenen zu sich ruft, die wie verirrteSchafe des guten Hirten Stimme hören, um ihm dann nachzufol-gen (Joh 10,27–30). Sein Wort wird ihnen zum Licht auf ihremWeg. Er lockt sodann durch sein Wesen, so dass die Kommen-den aufgrund seines Wortes an ihn glauben lernen, um fortandas Geheimnis des Glaubens: Er im Vater, wir in ihm, er in uns,im Herzen zu tragen. Und er lockt durch die erlösende Gottes-kraft seines Kreuzes und seiner Auferstehung, durch die sichder Gläubige dem alten Eigenleben nach für mitgekreuzigt hältund sich zu einem neuen Leben wiedergeboren weiß. Wen Wort,Wesen und Kreuz Christi nicht wirklich zu locken und zu lösenvermögen, der ist noch nie recht zu Jesus gekommen und hatauch noch nie recht an Selbstverleugnung gedacht.

Alle Tage kommen Leute zu Jesus nur in der Weise, wie damals dersogenannte reiche Jüngling zu ihm kam.

Der lief sogar ungescheut vorne vor, schonte weder sein Anse-hen noch sein Kleid, sondern warf sich vor Jesus niederkniend inden Staub der Landstraße, erbat vom Meister mit einem schönenKompliment eine Anweisung, was er tun müsse, um ewiges Le-ben zu ererben, und folgte Jesus nachher doch nicht nach. Warumnicht? Das Evangelium sagt: »Er hatte viele Güter« (Mk 10,17–22);aber sein eigentliches Gut war sein eigenes Leben, für das er dievielen Güter verwandte und das für Jesus nicht zu haben war.Betrübt ging er hinweg, und Jesus rief ihn nicht zurück.

Viele kommen so nach auffälligem frommen Brauch zu Jesus,um Belehrung und Gewinn durch ihn zu erlangen, aber sie wol-len dabei nicht von sich selbst loskommen; ihre Hinkehr zu Jesusist keine Abkehr von sich selbst in rechter Selbstverleugnung.Ihr Kommen ist deshalb gar kein wirkliches Kommen zu Jesus,ihre Hinkehr keine Bekehrung. Manche laufen nach solchemunzulänglichen Kommen gleich wieder, wie der reiche Jüngling,betrübt und unmutig von Jesus hinweg. Sehr viele aber laufenunter Beibehaltung ihres Selbstlebens unselig hinter Jesus her;aber Jesusnachfolge ist dieses äußerliche Nachfolgen nicht.

Obgleich Jesus alle Menschen zu sich ruft, so hat er dochnie einen Menschen über die Bedingungen seiner Nachfolge imunklaren gelassen oder gar getäuscht. Unermüdlich liebend rufter alle zu sich, um unerbittlich scheidend den Gekommenen zu

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sagen: »Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vaterund seine Mutter und sein Weib und seine Kinder und seineBrüder und seine Schwestern, dazu aber auch sein eigenes Leben,der kann nicht mein Jünger sein« (Lk 14,26). Und noch zweimalheißt es in demselben Kapitel: ». . . kann nicht mein Jünger sein.«Viele Millionen von Menschen haben dieses dreimalige »kannnicht« in »kann doch!« umzukehren gesucht. Die Umkehrung desJesuswortes gelang ihnen scheinbar gut, aber die Jesusnachfolgegelang ihnen damit nie! Oh Wort der Wahrheit und des Lebens,du kannst dir nichts abhandeln lassen; sei gepriesen für deineallein rettende Unerbittlichkeit! Wie kostbar teuer macht dochJesus Christus seine Einzigartigkeit! Wie scheidet er zwischensich und den Menschen! Wie stößt der wie kein anderer ab, derwie kein anderer anzieht! Wie königlich weist er jeden Versuchab, seine Gemeinschaft billiger, als er es vorgesehen, haben zukönnen! Niemand kann ihn wirklich erreichen, niemand seineNähe dauernd ertragen, niemand seinen Fußspuren folgen, derum seinetwillen nicht alles drangegeben hat. Alle Bande desBesitzes, ja selbst die der natürlichen Blutsverwandtschaft, dieden Menschen an sich selber ketten, will er gelöst sehen, ehe ersich wesentlich mit einer Menschenseele verbindet. Alles undjedes entwertet er um seines Wertes willen! Wer ihn lieben will,soll es beweisen mit dem Hass gegen alles. Derselbe Mund, derneu gebietet: »Ehre Vater und Mutter«, droht auch ganz neu:»Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nichtwert« (Mt 10,37).

In ihm ist die mit Gott verbindende Liebe erschienen, in ihmist aber auch der von allem Menschlichen trennende göttlicheHass erschienen. Es ist dieser Hass frei von jeder menschlichenBosheit; er ist jedoch die unerlässliche, scharf unterscheidendeWertung zwischen allem, was von unten her stammt und Fleischvom Fleische ist, und dem Einen, der aus dem Geist gezeugt, vonoben her stammt. Mit Schwertesschärfe und in Steineshärte stehtder einige Gottessohn vor dem Haufen der Zu- und Mitläufer,und sein Wesen fragt die Einzelseele: Zeige mir, was ich dir wertbin, so will ich sehen, ob du mich und dich erkannt hast!

Mit welch unerbittlicher Schärfe musterte er doch diejenigen,die sich bei ihm zur freiwilligen Nachfolge meldeten! In geradezumitleidiger Härte, die Enttäuschungen verhüten wollte, eröffneteer ihnen das Abschreckende seiner irdischen Armut, die weniger

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Die drei Grundbedingungen der Jesusnachfolge

als Fuchs und Vogel in dieser Welt hat; und wir lesen nicht, dassjener Gesetzeslehrer, der voll selbstvertrauender Begeisterunggesprochen hatte: »Meister, ich will dir folgen, wohin du gehst!«(Mt 8,19) am Ende williger als der reiche Jüngling gehandelthabe. Ein anderer unter seinen Jüngern sprach zu ihm: »Herr,erlaube mir, dass ich hingehe und zuvor meinen Vater begrabe.«Aber Jesus sprach zu ihm: »Folge du mir und lass die Toten ihreToten begraben!« Welch unmenschlich und unchristlich hartesAnsinnen nach landläufigen Begriffen, nicht wahr! Und doch!Derselbe Heiland, der den toten und neu zum Leben erwecktenJüngling zu Nain seiner Mutter wieder gab (Lk 7,15), derselbeHeiland trennt hier um Seinetwillen den Sohn vom toten Vater,wie er sogar die Söhne Johannes und Jakobus vom lebendenVater und vom väterlichen Geschäft trennte, damit sie ihm sofortnachfolgen sollten (Mt 4,22).

Wir wissen, warum der Herr so handelte und noch immer sohandelt. Er handelt so, weil er das erste Recht auf uns hat. Wirsind durch und für ihn geschaffen (Klgl 1,16–18). Er ist der Urhe-ber unseres Lebens (Apg 3,15). Unsere Zugehörigkeit zu ihm istunvergleichlich älter als die zu unseren irdischen Anverwandten.Er ist auch der Erretter unseres Lebens. Die Bande seines Blutes,die uns seit Golgatha an ihn binden, sind göttlich-machtvolle undungleich wertvoller als alle sonstigen hinfälligen Blutsbanden: Erhat unser Leben durch seinen Tod gerettet. Und er ist auch derHerr unseres Lebens. Sein Vater hat uns ihm als bluterkauftesEigentum gegeben. Alles, was ihm der Vater gibt, kommt zuihm, dass er es behalte und darüber herrsche: denn ihm ist alleMacht und Gewalt gegeben, und die Herrschaft liegt auf seinenSchultern. So sind wir in ihm und durch ihn erwählt und errettet,um für ihn zu leben. Er hat den ersten und auch den letztenAnspruch auf uns, und wir haben keinerlei Recht, uns ihm undseiner Nachfolge zu entziehen oder letztere zu verzögern.

Aber auch um unserer selbst willen muss der Herr so unerbitt-lich handeln. Sein Komm-Ruf ist allezeit ein Buß-Ruf. Niemandwird eine rechte Bekehrung als Abkehr von sich selbst beim Kom-men zu Jesus erleben, der nicht zugleich eine rechte Buße alsAbsage an sich selbst erlebt. Ohne solche Buße vor Jesus gibt eskeinen Glauben an Jesus.

Die Buße ist die Absage an uns und alles Nur-Menschliche, derGlaube ist die Zusage an Jesus Christus und alles Biblisch-Göttliche.

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Der rechten Buße entspricht das rechte Kommen zu Jesus, demrechten Glauben die rechte Nachfolge Jesu. Soll beides wohlgeraten, so muss Jesus, schon wenn er uns zu sich ruft, unsmit uns selbst entzweien; denn nur wer mit sich selbst entzweitist, kann mit Jesus eins werden. Diese durch Jesu Wort, durchsein Wesen und Kreuz in uns bewirkte Selbstentzweiung ist daseigentliche Wesen der Buße. Wir wissen, dass diese Buße dreiStufen ihres Tiefgangs hat: Selbsterkenntnis, Selbstbeschämungund Selbstverwerfung. Wer sich nie diese drei Stufen an der HandJesu hat hinab führen lassen, der ist auch noch nie wahrhaft zuJesus gekommen und hat die rechte Selbstverleugnung, dieseerste Grund- und Vorbedingung zur Jesus-Nachfolge, noch nieerlebt noch geübt.

Nun fürchtet der Mensch nichts mehr als diese Entzweiungmit sich selbst; er fürchtet sie mehr als den Tod. Sie bedeutet seinEntwurzeltwerden in sich selbst, in seinen Lebensverhältnissenund in der Welt. Darum das Fliehen vor Buße, Bekehrung undJesus-Nachfolge. Darum die unzulänglichen Bekehrungen unddie dementsprechende unzulängliche Jesus-Nachfolge. Man willsein Leben nicht wirklich an Jesus und das Evangelium verlieren,sondern es vor der so unerbittlich hart scheinenden ForderungJesu retten und bewahren. Darum die Verfälschung seines Wortes,die Umdeutung seines Wesens und die Entleerung seines Kreu-zes. Alle drei Grundbedingungen der Jesus-Nachfolge werdendabei ins Gegenteil verkehrt: statt der Selbstverleugnung betontman die Selbstbehauptung, statt Aufnahme des Kreuzes das Los-werden jedes Kreuzes, statt tatsächlicher Jesus-Nachfolge dasBeharren und Wandeln auf eigenem Weg. Natürlich bricht mandamit auch die drei Stufen hinab in die Tiefe wahrer biblischerBuße ab, und baut statt ihrer drei Stufen zur Ichhöhe hinauf:Selbstweisheit, Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit.

Es glaube aber niemand, dass man dies alles so dumm plumptue. Im Gegenteil, der natürliche Mensch ist allezeit gar sehrmoralisch und religiös, das erfordert ja schon seine Selbstein-schätzung und Selbstbewertung. So gilt ihm auch die »nackteSelbstsucht« als eine Schande und als ein gemeingefährlichesÜbel. Schimpft nicht alles ringsumher auf den »gemeinen Egois-mus«, die böse Selbstsucht? Und wie preist man die »praktischeSelbstverleugnung« und »edle Selbstlosigkeit!« Wie gibt sichdoch jeder Mühe, selbstlos zu erscheinen, als »uneigennützig« zu

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Die drei Grundbedingungen der Jesusnachfolge

gelten und als »gemeinnütziges Mitglied der menschlichen Ge-sellschaft« (am liebsten der »besseren Gesellschaft«) angesehenzu werden! Früher erstrebte man als Ziel der Selbstlosigkeit diesogenannte »humane oder rein-menschliche Gesinnung«; jetztredet man mehr von der »sozialen Gesinnung und Betätigung«,als Übungsgebiet und Ideal der moralisch-religiösen Selbstver-leugnung. Ja, viele haben sogar die Worte Jesu ganz und gardiesem Ideal unterstellt und bilden sich dabei ein, Erfüller desreinsten Christentums zu sein.

Aber alle diese scheinbaren Selbstverleugnungs-Versuche sindin Wahrheit nichts anderes als verkappte Selbstbehauptungs-Versuche; denn sie entsprechen dem immer wiederkehrendenVersuch des Menschen, an der biblischen Buße und damit anChristi Wort und Kreuz vorbeizukommen. Alle diese Selbstver-leugnungsversuche beruhen auf Selbstweisheit, Selbstgerechtig-keit und Selbstgefälligkeit, also auf Ichentfaltung und Ichleistung.Es ist der uralte Wahn des von Satan und sich selbst betrogenenadamitischen Menschen, durch sich selbst über sich selbst hinaus-kommen zu können: Selbsterlösung durch Selbstentfaltung! Undso sehr der Mensch nach Jesu Worten Fleisch vom Fleisch ist, sotief wurzelt dieser unselige Wahn und dieses irrselige Wirken inseinem natürlichen Wesen.

Selbst die »christlichen« und »gläubigen« Kreise sind voll derSelbstverleugnungsversuche in eigener moralisch-religiöser Kraft.Woher käme sonst das »gesetzliche« Drängen und Treiben, daseinerseits zum ichgefälligen, pharisäischen Hochmut führt undandererseits als abgemarterte Schwermut am Wege liegen bleibt?Man fasst die Nachfolge Jesu als vom eigenen Ich aufzubrin-gende religiöse Leistung auf, wobei man schon tapfer in derSelbstverleugnung zu stehen glaubt, wenn man der gröbstenWeltförmigkeit entsagt hat. Aber diese Entsagung ist nur eineäußerliche, selbstbewirkte und darum selbstgerechte. Man gibtallerlei auf, aber sich selbst gibt man nicht auf. So kann man Le-bensgewohnheiten, zum Beispiel in Kleidermoden und Verkehrpreisgeben, aber sich selbst gibt man nicht preis. Man vertauschtdie Weltmode gegen die fromme Mode und bleibt im alten un-flätigen Kleide der Ichverliebtheit. Wie viele lassen einen Teilihrer Lebensgenüsse, zum Beispiel Zigarren und berauschendeGetränke fahren, aber sich selbst halten sie umso fester. Aus demberauschenden Selbstgenuss ihrer Vortrefflichkeit sind sie noch

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nie nüchtern geworden. Wieder andere opfern beständig einenTeil ihres Lebensgutes, aber sich selbst haben sie noch nie willigzum Opfer gebracht.

Nicht wenige möchten in eifriger Selbstbetätigung die ganze Weltfür Jesus gewinnen, aber sich selbst haben sie noch nie gewinnen lassen;sie sind Menschen eigener Kraft geblieben, die alles tun können, wasihnen gerade einfällt.

Sie alle haben die rechte Buße im rechten Kommen zu Jesus,nämlich die Absage an sich selbst und die Abkehr von sich selbst,versäumt. Sie alle möchten ohne Selbstverleugnung im bewuss-ten oder unbewussten: »Ich kann doch!« Jesus nachfolgen, aberes geht nicht. Anstatt in andauernder Selbsterkenntnis, Selbst-beschämung und Selbstverwerfung zu verharren, um in solcherSelbstverneinung Christus zu bejahen und allein in ihm erfundenzu werden, beharren sie in der Selbstweisheit, Selbstgerechtigkeitund Selbstgefälligkeit. Ihre Selbstweisheit äußert sich als ichsi-cheres, unbeherrschtes Denken, das niemals unter den GehorsamChristi (2Kor 10,5) gefangen genommen worden ist, aber allezeitdie Schrift rechthaberisch gebraucht, um damit dem eigenen IchGeltung zu verschaffen. Ihre Selbstgerechtigkeit offenbart sich imeigenwilligen, pharisäischen Gottesdienst, der alles vor den Au-gen der Menschen tut und von menschlicher Anerkennung undEhre lebt. Ihre Selbstgefälligkeit wird kund im Reden und Rich-ten über andere, das der selbstverliebten Anmaßung entstammt.So gedeiht jenes billige »Christentum« das niemals Christentum,wohl aber immer eine Schmach für den Namen Jesu gewesenist. Jesusnachfolge findet man da nicht: die erste Voraussetzungdazu, die wirklich-biblische Selbstverleugnung fehlt!

Wer aber vor dem Christus der Bibel sich selbst ab- und ihmzugesagt hat, der hat in Jesu Wort und Wesen geschaut, was wirk-liche Selbstverleugnung ist. Durch die Gotteskraft des Kreuzesund der Auferstehung Christi im Heiligen Geist hat er Machtund Stärke im Herrn empfangen, um Christi Jesu Wesen wieder-und weiterzugeben und ihm darin nachzufolgen. Lasst uns alsoBild und Wesen Jesu anschauen, vor dem und durch den alleinder Mensch sein eigenes Bild und Wesen los wird! (Hebr 12,2;2Kor 3,18; Hebr 3,1). Denn wem man nachfolgen will, den mussman allezeit und immer besser ins Auge fassen; wenn man ihnaus den Augen verliert, so verliert sich die Nachfolge.

Siehe, der Sohn Gottes hatte keine Selbstweisheit! Nie ist einer

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in solcher Abhängigkeit vom Vater in den Himmeln über dieErde gegangen wie er, der Eingeborene. Er entleerte sich selbst je-der selbständigen Gottgleichheit (Phil 2,6.7), und hatte als Knechtseines Vaters unter den Menschen keine andere Weisheit, als dasser sich beständig vom Vater weisen ließ, was er tun sollte. Stetswar sein Ohr am Munde seines Vaters, stets sein Mund am Ohrseines Vaters. Obwohl er den Geist über alle Maßen hatte, soerwies er sich doch gerade darin in Kraft als ein Sohn Gottesnach dem Geist, dass er sich ganz nach dem Willen des Vatersvom Geist in die Wüste und wieder heraus, durch Leiden undzum schmachvollen Tode führen ließ. Nie redete, schwieg, lehrte,heilte, prophezeite er anders als nach göttlich-väterlichem Auf-trag. Hätte er nicht alle Himmelsherrlichkeit ausreden können?Er tat es nicht, sondern offenbarte nur, was dem Plane des Vatersentsprach. Hätte er in eigener Machtvollkommenheit Wunder tunund heilen wollen, wie anders wäre wohl die Begegnung mit demkanaanäischen Weibe und sein Gang hinauf nach Jerusalem zumLaubhüttenfest und seine Hilfeleistung dem Freunde Lazarusgegenüber verlaufen.

Obwohl an Gebärden als ein Mensch erfunden, ließ er sichdoch nie menschlich von Menschen bewegen. Was er tat, tat ergemäß seiner Sendung und zur Erfüllung der Schrift. Am Anfangseines Wirkens, als ihn der Versucher in der Wüste zur Selbst-weisheit und damit zur Selbstentfaltung und Selbsterhöhungbewegen wollte, war seine einzige Weisheit und Waffe: »Es stehtgeschrieben«. Und vor dem Ende seines Wirkens, als er in Geth-semane erleiden sollte, dass unsere Sünde auf ihn geworfen undder Sündlose in sein fremdestes Gegenteil verkehrt, nämlich füruns zur Sünde gemacht werden sollte, entschied unter blutigemSchweiß der, der mit dem Vater ewig eins war: »Vater, nicht wieich will, sondern wie du willst.« Siehe, das ist Selbstverleugnungdes Sohnes Gottes als Selbstentleerung bis zur Selbsterniedri-gung im Todesgehorsam am Kreuz! Sieh den Einen und Einzigen,der allein weise ist und doch nie selbstweise war! Seine einzigeWeisheit war Gott, und eben darum ist er der einzig Weise; denndie Weisheit Gottes erschien in ihm.

In ihm war aber auch nicht die Spur von Selbstgerechtigkeit.Wie wurde doch vor seiner Göttlichkeit die Verkehrtheit der Men-schen offenbar! Nie suchte der Sohn Gottes seine Ehre. Er hat esklar und deutlich bezeugt: »Ich nehme nicht Ehre von Menschen«

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(Joh 5,41), »Ich suche nicht meine Ehre«, »Wenn ich mich selberehre, so ist meine Ehre nichts« (Joh 8,50.54). Und vor ihm riefendie ehrliebenden Pharisäer aus: »Was machst du aus dir selbst!«(Joh 8,53). Was er zu ihnen in völliger Selbstverleugnung, alleinGott die Ehre gebend, sagte, – denn das hohe Selbstbewusstsein,mit dem er ihnen gegenüberstand, ruhte ja ganz in Gott – deute-ten die Verständnislosen als Selbstvermessenheit. Sie dachten, erwäre ganz wie sie. Er, der vom Standpunkt seiner gottgehorsa-men Selbstentleerung und Selbsterniedrigung aus den reichenJüngling berichtigt hatte: »Niemand ist gut als nur Einer, Gott!«Sieh den Einen und Einzigen, der allein gerecht ist und dochnie selbstgerecht war! Seine einzige Gerechtigkeit war Gott, undeben darum ist er der einzige Gerechte; denn in ihm wurde dieGerechtigkeit Gottes offenbar.

Er hatte auch kein Gefallen an sich selber (Röm 15,3). Durftesich der Schönste unter den Menschenkindern denn nicht in sichselber bespiegeln? Johannes schreibt: »Wir sahen seine Herrlich-keit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater,voller Gnade und Wahrheit« (Joh 1,14). Sah und gefiel er sichdenn nicht selbst in dieser Herrlichkeit? Nein; denn sonst hätte ersie wohl bewahren wollen. Sondern er gab sie preis. Nie hat einereigene Herrlichkeit so preisgegeben wie er. Nie hat einer seineGestalt so zur Niedrigkeit gewandelt wie er. Paulus beschreibtden siebenfachen Wandel seiner Gestalt den Philippern (2,5–11)so: »Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war, wel-cher, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, hielt er’s nicht für einenRaub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst undnahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein anderer Menschund an Gebärden als ein Mensch erfunden. Er erniedrigte sichselbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.Darum hat ihn auch Gott erhöht, und hat ihm einen Namengegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sichbeugen sollen alle derer Knie, die im Himmel und auf Erden undunter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass JesusChristus der Herr sei zur Ehre Gottes, des Vaters.«

Also erst Gottesgestalt, dann in Selbstentäußerung Annahmeder Knechtsgestalt, in der er der erwählte Knecht und Bote Gotteswurde, damit Annahme der Menschengestalt, und als Menschnochmalige Selbsterniedrigung bis zur Todesgestalt, ja Kreuzes-gestalt. Welcher Abstieg! Da war keine Gestalt noch Schöne mehr,

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die gefallen konnte: Er wurde für nichts geachtet (Jes 53,2.3).Welche Verkennung! Nur er verkannte sich nicht. Er hat keineRolle, keine Komödie gespielt, als die Schmähungen derer aufihn fielen, die Gott schmähten. Er litt als wirklicher Bürge; er trug,verstummte und starb wie der allein Schuldige. So hatte er wederGefallen an seiner Herrlichkeits- noch an seiner Leidensgestalt.Darum erweckte ihn Gott aus den Toten und gab ihm die Gestaltdes Erhöhten und wird ihn noch offenbaren in Herrschergestalt.

Nun sieh den Einen, der allein das Recht hatte, Gefallen ansich selber zu haben, und doch kein Gefallen an sich selber hatte!Sieh den Einen und Einzigen, der allein herrlich ist und doch nieselbstherrlich war! Sieh ihn, auf dem allein des Vaters Wohlgefal-len ruhte, und der sich doch nie selber gefiel! Er begehrte keineandere Verherrlichung als die, nach dem ihm wohlgefälligen Wil-len des Vaters für die Sünder in den Tod gegeben zu werden,und eben darum ist er der Herr der Herrlichkeit geworden, unddie Herrlichkeit Gottes erschien in ihm, dem Lamme Gottes.

Die ihn so sehen, die sehen sich gerichtet. Die kommen zur Bu-ße, nämlich zur Selbsterkenntnis, Selbstbeschämung und Selbst-verwerfung. Die kommen recht zu Ihm. Die müssen sich vor ihmloslassen und ihm alles preisgeben. Mit dem Büßerschlag gegendie eigene Brust werden sie reif für die Selbstverneinung in derJesusbejahung. Sie haben sich bußfertig von sich ab- und Jesuszugewandt.

Aufs Schmerzlichste mit sich selbst entzweit, sind sie aufs Seligstemit ihm eins geworden. Nie wieder mit sich selber zufrieden, haben sieunverlierbaren Frieden in Jesus gefunden.

Nie mehr können sie ihn aus Herz und Augen lassen, dennsie wissen: Das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt!Darum fragt ihr Mund: »Wo wohnst du?« (Joh 1,38) und ihr Fußfolgt ihm nun nach, wohin er geht.

Denn solcher grundsätzlichen Selbstverleugnung in Buße undBekehrung vor seinem Bilde folgt dann die Betätigung derselbenim Gang des Alltagslebens. Ach, die ist eigentlich so einfach: Inallen Dingen nicht mehr ich, sondern Christus! Das ist der ganzeInhalt der tätigen Selbstverleugnung. Sie deckt sich durchaus mitdem Inhalt des Glaubensgeheimnisses und Glaubenskampfes: ichin Christus – Christus in mir! Dafür halte ich mich im Glauben,um in diesem Glauben wider alle Hindernisse durchzuhalten.Ich betrachte mich als auf die Seite gesetzt und Christus an

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meine Stelle gekommen. Früher war ich Mittelpunkt, jetzt ist eres. Früher bezog ich alles auf mich, jetzt beziehe ich alles aufihn. Früher rechnete ich in allen Dingen mit mir, jetzt rechneich in allen Dingen mit ihm. Früher fasste ich als moralisch-religiöser Mensch gute Vorsätze und griff dabei nach meinereigenen Brust und Kraft, um durch mich selbst über mich selbsthinauszugelangen, was nie gelang. Jetzt als bekehrter Menschfasse ich im Glauben Jesus, und greife dabei nach der Kraftdessen, der mich ergriffen hat, um mich zu sich empor und insein Wesen hineinzuziehen, was ihm ganz gewiss gelingt. Welchein Unterschied!

So liegt also die fortgesetzte Erneuerung meines Lebens tat-sächlich ganz allein in der unausgesetzten glaubenstätigen Selbst-verneinung und Jesusbejahung. Und zwar habe ich mich ganz sozu ihm zu verhalten, wie er sich zu seinem Vater verhalten hat. Erwandelte und handelte in beständiger Abhängigkeit vom Vater.Ich wandle und handle in beständiger Abhängigkeit von ihm. Erentäußerte und erniedrigte sich, um gerade in dieser Selbstentäu-ßerung und Selbsterniedrigung das Bild des unsichtbaren Gottesdarzustellen. Ich entäußere und erniedrige mich (was allerdingsseiner Selbstverleugnung gar nicht zu vergleichen ist), um dieZüge seines Bildes anzunehmen.

Dabei ergibt sich bei mir das Dreifache wie bei ihm.Erstens: Er hatte Gott, seinen Vater, als einzige Weisheit, ich habe ihn

als Weisheit, der mir von Gott zur Weisheit gemacht ist (1Kor 1,30).Das ist die erste tief ins Alltagsleben einschneidende Selbstver-

leugnung, keine eigene Weisheit mehr haben wollen. Das machtabhängig, das allein macht Beter. Es ist das Gegenteil alles klu-gen Selbstvertrauens und aller ichweisen Rechthaberei. Es ist daserste Ergebnis der Furcht Gottes, die aller Weisheit Anfang ist.Es ist deshalb so recht eigentlich auch die erste rechtschaffeneFrucht der Buße, die ja Sinnesänderung, also Aufgabe der alten,stolzen Ichweisheit bedeutet. Der Bußfertige legt die Hand aufden Mund und schweigt: seine bisherige Weisheit ist auf denMund geschlagen. Es ist diese Preisgabe der Selbstweisheit auchdie erste Vorbedingung zum Glauben. Was heißt denn glaubenanderes, als sich in ganz neuem Erkennen beugen vor GottesWeisheit, die im Sohne Gottes erschienen ist!

Nun traut der Mensch seiner eigenen Weisheit zur Gottes- undSelbsterkenntnis nicht mehr und lässt sich in Verleugnung dieser

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Die drei Grundbedingungen der Jesusnachfolge

seiner Weisheit, die ihm nun Torheit erscheint, von Gott in Chris-tus unterweisen. Fortan soll jeder Gedanke gefangengenommenwerden unter den Gehorsam, nämlich unter die Weisheit Christi.Nicht mehr ich, nein, Christus soll stets recht haben: Inhalt allesGlaubenslebens.

Diese Verleugnung aller Selbstweisheit ist auch die Grundla-ge jeder Dankbarkeit und Demut. Wir bleiben in Abhängigkeitvor Gott im Namen Jesu Bittende und Empfangende und wa-gen dabei nie mehr, uns selbständig zu machen. Damit wird dieVerleugnung aller Selbstweisheit auch die Mutter der Wachsam-keit und Nüchternheit. Wahre Wachsamkeit stammt immer ausdem Misstrauen gegen uns selbst und alles Menschliche. Wieschnell und unbemerkt sind wir durch uns selbst und anderebetrogen. Davor bewahrt uns nur die demütige Abhängigkeitvon der Weisheit Christi. Schwärmerei ist immer nur möglichdurch Rückkehr zur unnüchternen, eingebildeten Selbstweisheit,die nicht mehr unterscheiden kann zwischen Göttlichem undMenschlich-Eigenem. Was gegen die Weisheit Christi ist, ist auchimmer gegen die Gesinnung und die Liebe Christi. Wer sich inder Verleugnung der Selbstweisheit übt, wird sich deshalb auchimmer im Lernen von anderen üben, um sich von der WeisheitChristi, die ihnen zuteil geworden ist, sagen zu lassen. Er prüftaber alles persönlich und behält das Beste.

Dass die meisten der Kinder Gottes ihren eigenen Gedanken,ihrem menschlichen Wähnen und Meinen mehr recht geben alsChristus und dem Worte Gottes, also in der törichten Selbstweis-heit beharren, ist die Ursache ihrer Unweisheit, Unbeständigkeitund damit ihres Unvermögens, Jesus nachzufolgen. Wem aberWeisheit mangelt, der bitte darum (Jak 1,5), er gebe aber zuvorsein Ich und damit die Zweifel preis. Und da uns Christus vonGott zur Weisheit gemacht ist, so macht uns seine Weisheit undGesinnung auch weise und geschickt zu jedem guten Werk.

Zweitens: Jesus hatte Gott, seinen Vater, als einzige Gerechtigkeit;ich habe Christus als Gerechtigkeit, der mir von Gott zur Gerechtigkeitgemacht ist (1Kor 1,30).

In welche tiefe Ruhe des Glaubens wird doch der eingeführt,der seine Selbstweisheit verleugnet und Christus als einzige Weis-heit hat. Er weiß sich in der Weisheit Christi geborgen, die ihnkennt, leitet, sich ihm gibt und alles versieht und versorgt. Undwelche Freude fällt dem zu, der seine Selbstgerechtigkeit verleug-

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net und allein Christus als Gerechtigkeit hat. Er weiß sich in derGerechtigkeit Christi gerettet.

Das ist die zweite tief ins Alltagsleben einschneidende Selbst-verleugnung, keine eigene Gerechtigkeit mehr haben wollen. Dasentblößt und entleert. Das erniedrigt und beschämt. Das machtaber auch so froh und frei. Es ist das Gegenteil alles mühseligenund doch nutzlosen Ringens, sich selbst gerecht machen zu wol-len. Es ist das erste Ergebnis der Weisheit Gottes in Christus, dassich vor ihm begreifen lerne: vor dir, du Alleingerechter, fallen allemeine Hüllen, fällt das letzte Feigenblatt. Vor deinem Geist weißich: In mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes. Vordir gebe ich den letzten Glauben an die Zulänglichkeit meinerguten Werke preis. Vor der in dir erschienenen Gerechtigkeit Got-tes wird meine eigene zum wegzuwerfenden unflätigen Kleide.Ich verneine sie ganz und gar und für immer; denn nie kann ichin mir selbst und durch mich selbst werden wie du. Vor dir andeinem Kreuze verstehe ich, dass du Sündloser auch für mich zurSünde gemacht werden musstest, damit ich in dir die Gerechtig-keit Gottes und die Errettung aus dem Gerichte Gottes empfinge,das du erlitten hast. Wie richtet mich das! Wie rettet mich das!Für immer bleibe ich in diesem Gerichte, indem ich ewig meineeigene Gerechtigkeit verneine. Für immer bleibe ich in dieserRettung, indem ich ewig dich als meine Gerechtigkeit preise. Sogehe ich traurig über mich selbst, aber freudig in dir durch meineTage. Denn nur soweit ich als ein Gerichteter wandle, erscheineich als ein Geretteter.

Aber wie verändert diese Selbstverleugnung mein Leben! Ichgehe geschieden von mir selbst, aber verbunden mit ihm. Ichwage meine Augen nicht mehr zu mir selbst zu erheben, aberzu ihm sind sie allezeit erhoben. Jede Selbstbewertung ist mirverwehrt, nur in ihm weiß ich mich wert geachtet. Es ist mirverwehrt, mich selbst irgendwie zu rühmen, nur sein Ruhm istmir geboten.

Ich kann nicht mehr Ehre suchen und nehmen von Menschen,aber ihm zur Ehre will ich leben. Weil ich meine eigene Gerech-tigkeit verneine, ist es mir auch nicht mehr erlaubt, auf meinRecht zu pochen, wenn nur Jesus recht behält. Noch viel wenigerkönnte ich mir geschehenes Unrecht rächen, der Richter JesusChristus steht ja vor der Tür. Und wie könnte einer zu beleidigensein, der seine eigene Gerechtigkeit verneint? Werde ich nicht,

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Die drei Grundbedingungen der Jesusnachfolge

wenn man mir Übles nachsagt, sagen müssen: »Ich bin noch vielverderbter, als man von mir redet, wenngleich ich mich geübthabe, ein gutes Gewissen vor Gott und Menschen zu haben, aberdarin bin ich ja nicht gerechtfertigt.«

Und sollte ich mich noch selbst den Menschen vorstellen, dar-stellen, vordrängen, aufdrängen, empfehlen können? Nur derHerr soll mich empfehlen. Als ein in mir selbst Gerichteter darfich es nur noch wagen, in ihm zu erscheinen. In ihm aber steheich furchtlos, freimütig, königlich, priesterlich. Ja, ich siege undherrsche durch den Glauben an ihn; denn nur so kann ich ihndurch mich bejahen und bezeugen.

So viele, viele »Gläubige« haben ihrer Selbstgerechtigkeit vordem für sie gekreuzigten Gottessohne nur theoretisch abgesagt.In Wirklichkeit bejahen sie in jeder Sekunde ihres Lebens ihreEigengerechtigkeit durch offenes oder verstecktes pharisäischesEhresuchen und Ehrenehmen vor und von Menschen, durchSein- und Geltenwollen in sich selbst, durch anspruchsvolles,selbstbewusstes Auftreten oder durch beleidigte und gekränkteZurückhaltung, ja sogar durch Rachsucht. Sie alle glauben nochan sich selbst. Ehe sie nicht Buße tun, können sie nicht Jesusnachfolgen.

Drittens: Jesus suchte nur das Wohlgefallen seines Vaters und hattekein Wohlgefallen an sich selbst.

Der Einzige, der sich selbst zu heiligen vermochte und für unsheiligte, prangte nicht vor sich selber in seiner Heiligkeit. SeinGeheiligtsein war sein Gottgeweihtsein als Gabe und Opfer füruns (Eph 5,2). So allein konnte ihn Gott für uns auch zur Heili-gung und Erlösung machen (1Kor 1,30). Und so verneine ich vorihm jede Fähigkeit, mich selbst heiligen und erlösen zu können:Er ist meine Heiligung und Erlösung. Damit ist mir jeder Grundzur Selbstgefälligkeit und jede Aussicht auf Wohlgefallen an mirselbst entzogen. Aber ich befleißige mich, ihm wohlzugefallen,eben durch Verleugnung meiner Selbstgefälligkeit, indem ichmeine Lust allein an ihm habe (2Kor 5,9; Ps 37,4).

Diese Art von Selbstverleugnung schneidet am allertiefsten inunser Leben ein, aber sie bringt uns auch den tiefsten Frieden;denn wer sie übt, weiß sich durch den heiligen Erlöser erlöstvon sich selbst. Wenn wir die Tiefe des Sündenfalls ermessenwollen, brauchen wir nur die Höhe des angeborenen Wohlge-fallens an uns selbst zu ermessen. Dadurch, dass der Mensch

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seine eigene Größe neben der Größe Gottes aufrichtete, kamund kommt ja alles Unheil in die Welt. So muss auch das Un-heil wieder schwinden, wenn der Mensch seine eigene Größeverneint. Dazu befähigt ihn allein die Größe seiner Erlösung inChristus. Das Wesen der Sünde ist Selbstsucht als Selbstliebe. Inder einzig selbstlosen Liebe Christi findet die Sünde ihren Todund die menschliche Ichgröße ihr Grab. Im Glauben an seineGröße verliere ich den Glauben an meine Größe. In der Liebezu ihm, die mir der Glaube bringt, stirbt meine Eigenliebe. Inder Hoffnung, die ich dem Glauben und der Liebe gemäß ganzallein auf ihn setze, gebe ich die Hoffnung auf mich selbst auf.Das ist Seligkeit; denn es ist die Befreiung vom Unseligsten, wases gibt, nämlich die Befreiung vom Ichwahn. Das ist Frieden;denn der stete Störenfried hieß Ichgröße. Die selige, friedereicheBetätigung meines Glaubens, meiner Liebe und meiner Hoffnungbesteht nun darin, dass ich jede Sekunde an Stelle meines Ichsden Herrn Jesus setze. Das allein ist biblische Heiligung undHeiligkeit; denn es ist das stete Jesus-Geweihtsein zur innigstenGemeinschaft mit ihm.

Aber wie verändert diese Verneinung meiner eigenen selbst-gefälligen Erlösungsfähigkeit mein Leben! Ich gehe und steheim beständigen Protest gegen mich selbst. Jeden Gedanken anSelbständigkeit weise ich ab. Jedes Liebäugeln mit mir selbstempfinde ich als Sünde. Vor jedem Vertrauen zu mir selbst grautmir. Fortgesetzt schalte ich mich aus und ihn ein. Ich rechne da-bei weder mit meinem Vermögen noch mit meinem Unvermögen(beides wäre ja wieder Ichbejahung), sondern allein mit seinemVermögen; das allein ist Glaube. Ich erwarte nichts mehr durchund für mich, sondern alles durch und für ihn. Da ich dabeikeine Hoffnungen mehr auf mich selber setze, so erlebe ich auchimmer weniger Enttäuschungen an mir selber. Ich erwarte aberauch nichts mehr vom menschlichen Fleisch, sondern alles vomHerrn, dem Geist.

So werden mich auch die Menschen immer weniger enttäu-schen können, und ich vermag sie in Christus bedingungslos zulieben und auch bedingungslos zu lassen, ihm zu lassen. Nochweniger erwarte oder befürchte ich von einem Wechsel äußererVerhältnisse. Überfluss lässt mich so arm, wie Armut reich. MeinLeben ist in keinem von beiden; mein Leben ist in Christus. Ich habenichts mehr zu gewinnen und zu verlieren als ihn. Wie macht

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das doch so kindlich heiter und froh! Es ist die allzeitige Freudeim Herrn, bei aller tiefen, tiefen Traurigkeit über die Weltkinder,mehr noch über die Gotteskinder, und am allermeisten über michselbst.

Denn es ist tief betrübend, dass wir von Natur aus so geartetsind, dass wir in unserem neuen Leben ständig vor uns selberausweichen lernen müssen wie vor unserem schlimmsten Feind.Wer das nicht tut, der kommt eben aus dem ichseligen und irrse-ligen Vorgreifen, Vergreifen, Versäumen, Vergleichen, Verfehlenund Verstimmtsein gar nie heraus. Jede Ichseligkeit stört unsereGottseligkeit. Wo wir irgend wieder für uns etwas selbstsüchtigsuchen oder beunruhigt fürchten, finden wir nur Qual und Pein.Und wie viele Gläubige haben beinahe nichts anderes als dieses!

Nur das fortgesetzte, tätige Erleiden der Selbstverleugnung als Selbs-tentsagung sichert uns die Ruhe des Geborgenseins, die Freude desErrettetseins und den Frieden des Erlöstseins in Christus Jesus.

So allein gelingt dann auch die Annahme der zweiten Grund-und Vorbedingung der Jesus-Nachfolge, nämlich die Aufnahmeunseres Kreuzes.

»Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst undnehme sein Kreuz auf sich . . . « Wie unsere Selbst-Abnahme, so unse-re Kreuz-Aufnahme. Nicht stark, sondern schwach genug müssenwir sein zur Kreuz-Aufnahme. Solange wir in der Stärke unsererSelbstweisheit, Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit das Un-sere suchen, bleiben wir Feinde des Kreuzes Christi und unseresKreuzes (Phil 2,21 und 3,18,19). Aber die Weisheit, Gerechtig-keit und Heiligkeit Gottes weisen uns immer auf das Kreuzhin. Alle Selbstverleugnung gelingt nur unter der Voraussetzungund Beibehaltung des Kreuzes. Sie hat als Ausgangspunkt dasKreuz Christi und als Fortgang unser eigenes Kreuz. Nur als imGlauben mit Christus Gekreuzigte, Gestorbene und Begrabenevermögen wir uns und das Unsere zu verleugnen. Die Gotteskraftdes Wortes vom Kreuz ist die einzige Kraft zur Selbstverneinung,wie die Gotteskraft in der Auferweckung Christi die einzige Kraftzur Jesusbejahung ist. Nur die Gottestat im Kreuze Christi bringtuns den Ausgang aus uns selbst heraus, und nur die Gottestatin der Auferweckung und Erhöhung Christi schenkt uns durchden Heiligen Geist den Eingang des Wesens Christi in uns undunseren Eingang in ihn.

Wir wissen, dass die Jünger weder den Tod noch die Auferste-

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hung des Herrn vor Pfingsten recht zu werten und zu verwertenvermochten. Darum gelang ihnen bis dahin auch keine wirk-liche Selbstverneinung und fruchtbare Jesusbejahung. So bliebdenn auch ihre Jesus-Nachfolge brüchig, zögernd, und endeteschließlich in Flucht und Ärgernis. Wie muss sie die dreimaligeLeidensverkündigung Jesu entsetzt haben! Besonders die Ankün-digung seines Kreuzestodes. Wenn wir heute vom Kreuz hörenund reden, so denken wir uns kaum etwas dabei; man ist soan diese Rede gewöhnt. Wie aber muss den Jüngern zumutegewesen sein, als der Herr ihnen offenbarte, er werde am Kreuzesterben. Die Tötung am Kreuz war eine heidnische Tötungsart,bestimmt für entlaufene Sklaven und Aufrührer, und diesen un-erhört schmachvollen Tod sollte der erleiden, dem sie als demSohne Gottes nachfolgten? Treffend berichtet Lukas: »Und sie ver-standen nichts davon, und diese Rede war vor ihnen verborgen,und sie begriffen das Gesagte nicht« (Lk 18,34).

Aber vielleicht noch unverständlicher war ihnen das Wort:»Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und neh-me sein Kreuz auf sich . . . « Wie, sie sollten ihr Kreuz auf sichnehmen? Das Kreuz nahmen doch nur die auf, die am Kreuz zuTode gebracht wurden! Sollten denn sie alle am Kreuze sterben?Wie begreiflich, dass ihre Selbstverleugnung in Selbstrettung,nämlich ihre Nachfolge in Flucht endete. Und doch hatte Tho-mas einmal so heldenmütig gesagt: »Lasst auch uns hinziehen,auf dass wir mit ihm sterben!« (Joh 11,16) Und Petrus: »Undwenn ich mit dir sterben müsste, so will ich dich nicht verleug-nen!« Ähnlich sagten auch alle Jünger (Mt 26,35). Welch selbstbe-wusste, wenngleich wohlgemeinte Worte! Und wie endete dieseselbstbewusste Jesusbejahung angesichts des Kreuzes in lauterJesusverleugnung! Wie anders aber sehen wir sie nach Pfingsten!

Siehe, ohne Kreuz keine wirkliche Selbstverleugnung, und ohneSelbstverleugnung keine wirkliche Kreuz-Aufnahme!

Vom Kreuz geht die Selbstverneinung aus, und durchs Kreuzmuss sie hindurch. Was wir grundsätzlich vor dem Kreuze Christials Buße und Bekehrung erlebt haben, muss unter unserem Kreuzerprobt und verwirklicht werden. Sein Kreuz können wir nichtaufnehmen; denn das entsprach allein seinem Auftrag. Auchhaben die wenigsten seiner Jünger an hölzernen Kreuzen sterbenmüssen. Aber es ist im Verlauf unseres Lebens genügend für eininneres und äußeres Kreuz gesorgt, das wir nach dem Willen des

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Herrn aufzunehmen haben und worunter unsere Selbstverleug-nung sich zu erweisen hat und wir unser Selbstleben zu verlierenhaben.

Da müssen wir zuerst immer gründlicher und endgültiger anunserer Selbstweisheit zuschanden werden. Im Nu bläht unsunser Wissen auf. Im Handumdrehen stecken wir in eigenen,eitlen Plänen. Beinahe unvermerkt verlassen wir uns auf unserenVerstand mehr als auf den Herrn. Vielleicht wollten wir geradenach den Einfällen unserer Weisheit ein vor uns liegendes Kreuzzu beseitigen oder einem befürchteten vorzubeugen suchen; dennKreuz ist für uns alles, was unserem eigenwilligen Selbstlebenzuwider geht. Da muss uns der Herr mit dem Zuchtmittel diesesKreuzes widerstehen, bis unsere Selbstweisheit daran zerschelltist und wir das Kreuz in seiner Weisheit, das heißt in Selbstvernei-nung und Jesusbejahung, ansehen und aufnehmen lernen. Dannist’s bis zum nächsten Male vorbei mit unserem selbstweisenWähnen und Meinen und wir danken dem Herrn, dass er unsdemütigte, denn vorher irrten wir.

Ebenso muss uns unsere Selbstgerechtigkeit immer nachdrück-licher ausgetrieben werden. Im Augenblick sind wir wieder zuPharisäern geworden, bewerten uns nach unseren Leistungenund schielen nach Anerkennung und Ehre. Das zu verhüten,schickt uns Gott ein demütigendes Kreuz, auf dass wir uns nichtüberheben. Er lässt Menschen über unser Haupt fahren oder er-niedrigt uns sonst wie. Alles das wird uns zum Kreuz. Nun fragtes sich, ob wir uns tief genug bücken, um in Selbstverneinungund Jesusbejahung das Kreuz aufzunehmen, und keinen anderenRuhm suchen als den des Herrn.

Schließlich soll uns unsere selbstgefällige Eigenmächtigkeitgenommen werden. Denn unversehens sind wir wieder selbstver-trauende, ichstarke oder an ihrer eigenen Ohnmacht hängende,verzagte Leute. Beides ist gleich selbstgefällig und eigenmächtig.Da ist viel Kreuz nötig, um die eigenmächtig Starken aus ihremselbstgefälligen Können und die eigenmächtig Schwachen aus ih-rem selbstgefälligen Nichtkönnen herauszunehmen. Beide sollendurch ihr Kreuz das Rechnen mit sich selbst verlernen, sich unterihr Kreuz beugen und es in der Demut und Kraft ihres Erlösersaufnehmen.

Aber selbst bis ins Aufnehmen und Tragen des Kreuzes hineinbetrügt uns die törichte Selbstbejahung. In Gestalt der scheinba-

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ren Selbstverneinung liebt sie das selbsterwählte Kreuz. In eigen-williger Demut und selbstgefälliger Leidenssucht schafft sie sichim Nichtverschonen des Leibes, in Fasten, Martern, Kasteien ihreigenes Kreuz (Kol 2,18 und 23). Wie viel Kreuz, Qual und Peinbereitet sich die eigensinnige Selbstbejahung im Alltagsleben, diesie dann in ichgefälliger Selbstbemitleidung ihr »tägliches Kreuz«nennt! Welcher Ichbetrug! Ja, sogar in der Aufnahme und imTragen des echten, uns wirklich von Gott zugeteilten Kreuzesübt sich noch die zähe Selbstbejahung. Anstatt allein das KreuzChristi zu rühmen (Gal 6,14), rühmt man sich nun des heldenhaftzur Schau getragenen eigenen Kreuzes, oder man bejammert sichselbstgefällig wegen der Schwere des zu schleppenden Kreuzesvor aller Augen und Ohren. Je endgültiger aber unsere Selbstver-neinung und Jesusbejahung wird und unter der Zucht des Geistes alsWandel im Geist zur Selbstentsagung und Selbstlosigkeit ausreift, destoinnerlicher wird unser Kreuz: die Menschen sehen dann immer wenigerdavon, Gott allein sieht alles.

Im selben Maße wird unser Kreuz immer leichter und geseg-neter, obgleich es nicht seltener wird. Es wird dann immer mehrzum sanften Joch und zur leichten Last Jesu Christi. Denn wennschon unser Herr nicht von der Aufnahme seines Kreuzes zu unsgeredet hat, so hat er doch gesagt: »Nehmet auf euch mein Jochund lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzendemütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn meinJoch ist sanft und meine Last ist leicht« (Mt 11,28.29).

Was ist denn Jesu Joch? Nichts anderes als seine uns zuteilwer-dende Führung durch sein Wort und Bild in Selbstverneinungund Jesusbejahung. Er zwingt uns sein Joch nicht äußerlich auf,sondern erwartet, dass wir es in freiwilliger Innerlichkeit auf-nehmen. Je williger wir dies lernen, desto sanfter wird das Jochund desto ruhiger unsere Seele; es ist das sanfte Ausruhen vomSelbstleben. Denn kein raueres Joch gibt es in der Welt als dasunruhige Leben unter dem Joch der Selbstbehauptung.

Und was ist denn Jesu Last? Nichts anderes als das Ertragenund Tragen seines eigenen Wesens, so dass er durch den Glau-ben in uns wohnen und Gestalt gewinnen kann. Je mehr sichdies durch Selbstverleugnung und Kreuztragen verwirklicht, de-sto leichter wird es uns. Aber keine schwerere Last gibt es aufErden als das furchtbare Tragen unserer uns qualvoll betrügen-den Ichheit, mit der wir es uns und anderen entsetzlich schwer

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Die drei Grundbedingungen der Jesusnachfolge

machen. Niemand vermag mit dieser Zentnerlast Jesus nachzu-folgen. Wenn so viele »Gläubige« Jesus zum Lügner zu machenwagen, indem sie unaufhörlich über sein raues Joch und seineschwere Last klagen, so wird damit nur schmählich offenbar, wiesehr ihr ungläubiger, starker Ichgeist sich noch gegen ChristiGeist sträubt und wehrt. Nichts als ihre törichte Ichbejahung undJesusverneinung macht es ihnen schwer.

Glückselig aber, wer in Selbstverleugnung und Kreuztragenallein mit Jesus rechnet! Der steht in der steten Erfüllung derbeiden Grund- und Vorbedingungen der Jesus-Nachfolge, undkann nun auch, drittens: tatsächlich Jesus nachfolgen.

Das heißt, in unlösbarer Verbindung mit dem erhöhten Chris-tus und in unaufhörlicher Abhängigkeit von ihm, achtest du aufdie Fußspuren Jesu auf Erden, um allein in ihnen durchs Lebenzu gehen. Getrennt von dem, was in der Welt, in der Sünde undin dir selbst ist, wird dein Gang wohl immer einsamer werden,wie es auch der seine wurde, und wird dir oftmals als ein grau-enhaftes Wagnis erscheinen. Aber fürchte dich nicht, glaube nur!Oftmals wird dir auch scheinen, als sähest du keine Fußspur, jaals sähest du ihn selber nicht mehr. Traue jedoch nicht deinen Sin-nen, Gedanken und Gefühlen! Traue allein ihm und seinem Wort!Das ist ja das Wesen des Glaubens und der Selbstverleugnung!Er ist bei dir. Er wirkt in dir. Er wird deine Seele immer wiederzur rechten Zeit erquicken und dich auf rechter Straße leitenum seines Namens willen. Wer ihm nachfolgt, wird nicht wan-deln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben(Joh 8,12). Habe ihn im Glaubenskampfe gegen alles als deine un-veränderliche Weisheit, Gerechtigkeit, aber auch Heiligung undErlösung! Rechne nie mit dir! Weder mit deiner Macht noch mitdeiner Ohnmacht! Rechne nur mit der Liebesmacht seiner Güteund Treue! Begehre nichts als ihn, und alles, was du auf demWege brauchst, wird dir durch ihn werden. Er wird dich treulichführen durch Licht und Dunkel, Weite und Enge, Höhe und Tiefe,Garten und Wüste, Labsal und Drangsal, Kraft und Schwachheit,Erhöhung und Erniedrigung, und endlich durchs Todestal hin-über zum Lammesmahl. Du darfst bei alledem getrost in ihmruhen: Es geschieht dir nichts als Liebes und Herrliches:

Halleluja, es sei gewaget,durch Not und Tod Dir nachzugehn!

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Ich folge, Herr, Dir unverzagetmit unablässig heißem Flehn;ich nehme Deine Kreuzesbürdeund die damit verbundne Würdeund lehne mich auf Dich, mein Freund.Ich weiß, du trägst mich durchs Gedrängemit aller meiner Lasten Menge,bis mir Dein Antlitz einst erscheint.

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Der gute Kampf des Glaubens inVersuchungen und Leiden

Kämpfe den guten Kampf des Glaubens, ergreife das ewige Leben . . .1. Timotheus 6,12

Um eures Unglaubens willen.Matthäus 17,20

Er schalt ihren Unglauben . . .Markus 16,14

Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ichhabe Glauben gehalten.

2. Timotheus 4,7

Vom Kampf des Glaubens hört man nicht gern, man begehrtlieber die Ruhe des Glaubens ohne Kampf des Glaubens. Kampfgibt es überall, wo sich Gegensätze erheben. Je schärfer aber dieGegensätze, desto größer der Kampf. Nun gibt es keine größerenGegensätze in der Welt als:

Gott und Satan,

Christus und Belial,

Reich des Lichtes und Reich der Finsternis,

Reich Gottes und Reich dieser Welt,

Gottes Weisheit und Menschenweisheit,

Söhne Gottes und Söhne des Ungehorsams,

Christi Sinn und unser Sinn,

Geist und Fleisch.

Das sind Gegensätze von unüberbrückbarer Spannweite. Gegen-über diesen Gegensätzen verlieren alle sonstigen Gegensätze inder Welt an Bedeutung. Deshalb bedingen diese größten Gegen-sätze auch den größten Kampf. Sie bedingen für den Menschen

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den Kampf zwischen Glauben und Unglauben, der tatsächlichdas größte Thema der Weltgeschichte ist und bleibt. Was sind die-sem Kampfe gegenüber alle sozialen und militärischen Kämpfe!Sie sind Nebensächlichkeiten, die schnell wechseln und vergehen;denn sie beruhen auf flüchtigen Gegensätzen. Die Unterschiededer Klasse können verringert werden, die Unterschiede der Rassezum fruchtbaren Ausgleich kommen; die militärischen Kämpfeführen zum Waffenstillstand und schließlich zum Frieden.

Aber in dem Kampfe, der auf den größten Gegensätzen beruht,gibt es keine Verringerung der Spannweite, keinen Ausgleichzwischen den Streitmächten, keinen Stillstand der Waffen, kei-nen Frieden als fortan geltende Anerkennung der gegenseitigenMachtbestände. Nein, da tobt der Kampf tatsächlich bis zur völli-gen und für die Ewigkeit gültigen Niederlage des Gegners. Erstwenn alle Feinde Christi zu seinen Füßen liegen und die Reicheunseres Gottes geworden sind, dass Gott sei alles in allen, endetdieser unvergleichliche Kampf.

Daraus kannst du gleich sehen, dass dieser Kampf, wenn er ersteinmal dein Leben erfasst hat, nicht als nebensächlich gekämpftwerden kann. Nein, bist du in diesem einzig großen Ringen aufdie Seite Gottes und Christi getreten und damit ein Streiter Gottesund Christi geworden, so ist der Kampf des Glaubens deineeinzige Lebensaufgabe geworden, der alle anderen Aufgaben sichunterzuordnen haben. Da kann der Kampf des Glaubens nicht alseine Gelegenheitssache behandelt werden, die man stundenweiseauf der Kirchen- oder Versammlungsbank abmacht oder mitPrivat- oder Familienandacht erledigt, sondern der Kampf desGlaubens wird einziger, stündlicher, ja sekündlicher Lebensinhalt.Er ist dann nichts anderes, als die Bewahrung und Bewährungdes Glaubens unter allen Lebensverhältnissen und wider alleHindernisse.

Darin liegt bereits ausgesprochen, dass du den Kampf desGlaubens erst dann zu kämpfen vermagst, wenn du bereits gläu-big geworden bist. Es ist der Kampf aus und für den Glauben,nicht etwa der Kampf um die Erlangung des Glaubens. Es handeltsich um die Bewahrung und Bewährung, also um die Sicherungund fortschreitende Neugewinnung dessen, was man bereits hat.Der Kampf um den Glauben entspricht dem Zustand eines Men-schen, der in der Erweckung steht und schlüssig werden soll,ob er auf Gottes und Christi Seite treten will oder nicht. Was

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Der gute Kampf des Glaubens

man aber noch nicht hat, kann man auch noch nicht bewahren.Worin man noch gar nicht steht, in dem kann man auch nochnicht bestehen. Also ist der Besitz des Glaubens die Vorausset-zung für den Kampf des Glaubens. Allerdings ist der Glaubevieler Gläubigen derart mangelhaft und ungewiss, dass er zueiner kämpfenden Bewahrung und Bewährung nicht ausreichendscheint. Dennoch ist der schwächste Glaube entwicklungsfähigzum Kampf aus und für den Glauben, wenn er nur die Voraus-setzung hat: »Ich glaube!« und dann bittet: »Lieber Herr, hilfmeinem Unglauben!« (Mk 9,24). Denn es ist bereits kämpfen-de Bewahrung des Glaubens, wenn man glaubt, dass der Herrunserem Unglauben helfen könne und helfen werde.

Freilich graut den meisten Gläubigen vor dem Kampf desGlaubens. Er scheint ihnen beinahe der schwerste, ja bösesteKampf, über dessen Ausgang sie in schmerzlicher Ungewissheitbleiben. Und doch nennt der Apostel Paulus den Kampf desGlaubens einen guten Kampf. Es ist meist nichts anderes alsUnwissenheit, nämlich Mangel an Erkenntnis, dass er nicht allenKindern Gottes als ein guter Kampf erscheint. Denn er ist sogarder einzig gute Kampf in der Welt. Alle Kämpfe außer ihm sindböse Kämpfe. Wie böse ist der so genannte »Kampf ums Dasein!«Wie böse sind die sozialen und wie grausig böse die militärischenKämpfe!

Aber wieso ist denn der größte und langwierigste Kampf zu-gleich der einzig gute in der Welt? Antwort: Weil er der einzigeKampf ist, der Gott völlig auf seiner Seite hat, und weil er dereinzige Kampf ist, der von einem bereits völlig errungenen Siegeausgeht. In allen anderen Kämpfen möchten die Menschen Gottauf ihre Seite ziehen, im Kampf des Glaubens zieht Gott dieMenschen auf seine Seite. Wer wahrhaft glaubt, lebt nur nochfür Gott; dann darf er aber auch wissen: »Ist Gott für mich, sotrete gleich alles wider mich!« Und wie Gott für mich ist, daszeigt er mir auf Golgatha. Dort hat er den Sohn seiner Liebezu meiner Errettung, aus der Gewalt Satans und der Macht derSünde für mich eingesetzt. Dort hat Christus in blutigem Kampfefür mich gestritten, bis der Gottessieg vollbracht war, der michvom Fluche des Gesetzes vom Sinai erlöste und vom Verderbendes Gesetzes der Sünde und des Todes freimachte (Gal 3,13 undRöm 8,2). Dort geschah die große Gottestat, die meinen Glaubengebar und in der mein Glaube unbesiegbar sieghaft ruht.

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Es ist der Kampf aus dieser Ruhe im bereits vollbrachten Sie-ge heraus, der den Kampf des Glaubens zum alleinigen »gutenKampf« macht. Alle anderen Kämpfe drängen zum entscheiden-den Hauptsiege hin, der Kampf des Glaubens geht vom bereitsentschiedenen Hauptsiege aus. Es ist der Kampf um die Fruchtdes Sieges, nicht aber ein Kampf um die Erlangung des Sieges.Siehe, der Anführer unserer Errettung, der Löwe von Juda, dergroße Durchbrecher, hat überwunden, und in ihm überwindenwir weit. Und so ist unser Glaube bereits der Sieg, der die Weltüberwunden hat (Offb 5,5; Micha 2,13; Röm 8,37; 1Joh 5,4). Ist dasnicht ein guter Kampf? Darum, wer ihn kämpft, nämlich wer denGlauben an den vollbrachten Sieg Christi bewahrt und betätigt,der weiß auch, dass ihm bereits die Siegeskrone beigelegt ist, wieauch der Kampf selber noch toben und wogen mag (2Tim 4,7–8).

Schien dir nun bisher der Kampf des Glaubens ein recht ver-zweifelt schwerer und böser Kampf, so wusstest du sicherlichnoch gar nicht recht, was Glauben heißt. Glauben heißt ja ebennichts anderes, als aufgrund des Wortes Gottes mit dem SiegeChristi rechnen. Es gibt aber zwei Rechnungsarten:

die eine ist, mit dir selbst, deinem Können oder Nichtkönnen,deinen Vorzügen oder Mängeln, deiner Umgebung und deinenVerhältnissen und mit der Macht der Menschen, der Sünde undSatans rechnen. Das ist die Rechnungsart des praktischen Unglau-bens der Gläubigen, der nie der Kampf des Glaubens gelingt. Dieandere Rechnungsart ist, trotz aller Hindernisse und scheinbarenUnmöglichkeiten über alles hinaus mit dem vollbrachten SiegChristi rechnen. Das ist die Rechnungsart des tätigen Glaubensder Gläubigen. Und je nachdem welche Rechnungsart du anwen-dest, wird dir der Kampf des Glaubens zum bösen oder zumguten Kampf werden.

Leider ist die erste Rechnungsart die gebräuchlichere – dennsie ist die menschlich-natürliche. Die sie üben, machen es sichund anderen furchtbar schwer. Trotzdem sie angeben zu glauben,stehen sie praktisch gar nicht auf dem Siegesboden von Golgatha,sondern auf dem brennenden Boden vom Sinai (Hebr 12,18–20).Es sind die Gläubigen, die statt Christus immer ihr eigenes Ichim Auge haben. Theoretisch glauben sie an Christus, praktischaber durchweg an sich selbst. So sind sie stets entweder von sichselbst erfreut oder von sich selbst enttäuscht. Von sich selbst erfreutist man, wenn man mit der eigenen religiösen Leistung zufrieden ist,

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und dann neigt man zum Pharisäertum. Von sich selbst enttäuschtist man, wenn man sein »Zukurzkommen« einsehen muss, unddann neigt man zur Verzagtheit.

So geht es stets hinauf und hinab im Rechnen mit dem eigenenIch. Man ficht wohl, aber man streicht nur die Luft. Man kämpftwohl, aber man wird nicht gekrönt; denn man kämpft nichtgesetzmäßig (1Kor 9,26; 2Tim 2,5). Das heißt, anstatt auf dem Bo-den von Golgatha nach dem Gesetz des Glaubens (Röm 3,27) zukämpfen, müht man sich ab auf dem Boden vom Sinai nach demGesetz der Werke. Da ist ein fortwährendes Sollen und Müssen,Rennen und Jagen, Seufzen und Plagen, Hoffen und Verzagen.Immer wieder will man dabei durch sich selbst über sich selbsthinaus, um zur geforderten Vollkommenheit zu gelangen. Immerwieder stößt man dabei an die Schranken des eigenen Wesensund der Umgebung und Verhältnisse. Soll das der gute Kampfdes Glaubens sein? Nimmermehr; denn das wäre der böseste,weil aussichtsloseste Kampf, der sich denken lässt.

Höre: Wenn du in solchem fruchtlosen Ringen steckst, so hastdu leider das Erste noch nicht begriffen, nämlich dass BekehrungAbkehr von dir selbst und Hinkehr zu Gott in Christus heißt.Du aber glaubst noch an dich selbst. Du hast nie die biblischeBuße als Selbsterkenntnis, Selbstbeschämung und Selbstverwer-fung vor dem Kreuze Christi erlebt. Du hast nie in tatsächlicherSelbstverneinung dein Eigenleben als ein durchs Kreuz Christientwertetes und gerichtetes gehasst und preisgegeben. Du hastnie verstanden, dass nur der Jesus im Glauben wirklich zusagenkann, der in der Buße sich selber wirklich absagt. Darum hast duauch bisher nie den Kampf des Glaubens kämpfen können; dennGlauben heißt aufgrund des Wortes Gottes Gott in Christus recht geben.Du aber gabst bisher immer dir recht: deinen törichten Gedanken,deinem schwankenden Wähnen und Meinen, deinen wechselvol-len Gefühlen, deinen unzureichenden Taten oder Untaten. Durechnetest in alledem mit dir und dem, was dich umgab. Dasalles war aber nicht Glaube, sondern praktischer Unglaube; alsokonnte dir auch kein guter Kampf des Glaubens gelingen.

Wie ganz anders aber ist das Ergebnis, wenn du die zweite Rech-nungsart anwendest, nämlich wenn du in allem mit dem Sieg JesuChristi rechnest. Dann gibst du nicht mehr dir selbst recht, son-dern gibst deinem Denken, Fühlen und Tun zum Trotz demWorte Gottes recht. Dann wohnt das Geheimnis des Glaubens

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in dir, und du wohnst in ihm. Dann weißt du dich mit Christusgekreuzigt, gestorben und begraben, aber auch mit ihm lebendiggemacht. Dann kannst du in Selbstverleugnung und KreuztragenJesus nachfolgen. Und dann allein gelingt dir der Kampf desGlaubens als ein guter Kampf.

Dieser gute Kampf des Glaubens ist dann nichts anderes alsdie allzeitige und überall fällige, glaubensvolle Betätigung deinerErkenntnis:

Nicht ich, sondern Christus!

Du schaltest dich in allen Dingen aus und ihn ein. So weißt du: Eskommt nicht mehr auf dein Können oder Nichtkönnen an, son-dern allein auf sein Können. Fortan hat nicht mehr deine Weisheitoder Unweisheit die Leitung und Entscheidung, sondern seineWeisheit. Er ist dir ja von Gott zur Weisheit gemacht (1Kor 1,30).Fortan bringst du nicht mehr die Macht deiner Stärke oder dieOhnmacht deiner Schwachheit in Anschlag, sondern nur nochdie Macht seiner Stärke, durch die du alles vermagst (Eph 6,10;Phil 4,13). Fortan lässt du dich nicht mehr hinnehmen von dei-nen irrseligen Stimmungen und Gefühlen, sondern weißt dichhingenommen von der unwandelbaren Liebe Christi, die dichnunmehr allein bewegt. Fortan bleibst du nicht mehr hängen ander Zulänglichkeit oder Unzulänglichkeit deiner Taten, sondernrechnest allein mit dem Vollwert und der ewigen Zulänglichkeitder Tat Gottes in Christus Jesus am Kreuz auf Golgatha.

So kommst du in allen Dingen in die gottgewollte Stellungzu deinem Lebensherrn und erfährst und gewinnst dabei diewunderbare Entlastung von dir selbst, die allein Glück- undGottseligkeit ist. Aber dies alles wirst du nur vermögen underlangen, wenn du im steten Einspruch gegen dich selber bleibst.Und eben dies kostet beständigen Kampf. Es ist die unausgesetztnotwendige Entscheidung zwischen dem, was dein Kopf unddie Menschen sagen, und dem, was Gottes Wort sagt. Es ist dasimmer neue Wählen zwischen dem Betrug deines Herzens inseinem irrseligen fleischlichen Begehren und dem um dich eifern-den Begehren der Liebe Gottes im Geist. Es ist die unaufhörlicheErprobung deines Willens, ob er als Eigenwille herrschen odernach Gottes Willen dienen will. Es ist mit einem Wort der lebens-

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Der gute Kampf des Glaubens

längliche Kampf um die Frage, ob du dein Selbstleben behaltenoder es an Christus und sein Evangelium verlieren willst, umsein Leben dafür zu gewinnen.

Aber vor diesem Kampf braucht dir nicht zu grauen, ebenweil er ja der gute Kampf des Glaubens ist, der den Sieg Chris-ti voraus hat. Unglaube ist Trotz und Grauen, Glaube ist Hingabeund Vertrauen. Und es wäre schon wieder Unglaube, wenn duichtöricht zurückstehen und sagen würdest: »Ach, solche Ichver-neinung kann ich ja doch nicht durchführen!« Denn mit wemwürdest du rechnen, wenn du so sprächest? Eben wieder mit dirselbst! Und du hast ja soeben gehört, dass das Wesen der Ich-verneinung als Grundlage der Glaubensbetätigung gerade darinbesteht, eben nicht mehr mit dir selbst, sondern mit Jesus zurechnen. Also übe diese heilsame Rechnung unverzüglich, womitdu sofort in den tatsächlichen Kampf des Glaubens eintrittst,der ja nichts anderes als die ununterbrochene Betätigung desGlaubens ist, indem der Gläubige einfach seines Glaubens lebt!Es ist das Leben in der Anwendung des Sieges Christi auf alleLebensfälle und die Verwendung dieses Sieges zum unbeding-ten Durchkommen durch alles hindurch und über alles hinaus.Denn du wirst finden, alles ist wider den Glauben, um ihn dirzu rauben: die Welt, die Menschen, dein eigenes Ich, nämlichdein Denken, dein Fühlen, dein Tun. Aber du wirst auch finden,der Glaube ist wider alles, um alles zu besiegen, nämlich: dieWelt, die Menschen und vor allem dich! Also glaube wider alles,um in Christi bereits vollbrachtem Siege über alles zu siegen!Lass dir auch nicht grauen vor der Selbstverneinung als solcher!Höre! Die Selbstverneinung schließt nicht das Selbstbewusstseinaus, sondern schließt es in allerhöchstem Maße in sich ein. Manmuss ein Selbst haben, um ein Selbst geben zu können. Jesus hatte dasgrößte Selbstbewusstsein und infolgedessen die größte Selbsthingabe,als Preisgabe jeder Selbstherrlichkeit. Der Glaube will auch deinePersönlichkeit nicht auslöschen, sondern will sie nur göttlich er-neuern, verdeutlichen und befreien. Je mehr du dich als Zerrbildpreisgibst, desto mehr wirst du Christi Urbild gewinnen.

Welch eine unerhörte Befreiung bewirkt doch der ichvernei-nende, lebendig tätige Glaube! Er hebt dich über die Menschen-weisheit hinaus und verleiht dir Gottesweisheit. Er hebt dichüber die Sinnenwelt der Sichtbarkeit hinaus und eröffnet dir dieunsichtbare Himmelswelt. Er hebt dich über dich selbst hinaus

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und macht dich in der Bindung an Jesu frei von deinen mör-derischen Feinden, die da heißen: Satansherrschaft (2Kor 4,4),Sündenknechtschaft (Joh 8,34–36) und Selbstwahn (Mt 16,25).Darum kämpfe in dieser überaus herrlich befreienden Ichver-neinung und Jesusbejahung den guten Kampf des Glaubens,und ergreife in ihm das ewige Leben, dazu auch du, ja auch du,berufen bist! (1Tim 6,12).

Wie aber jeder Kampf geübt werden muss, wenn er gelingensoll, so bedarf ganz besonders der größte Kampf, der gute Kampfdes Glaubens, der unausgesetzten Übung. Es ist die Übung zurGottseligkeit (1Tim 4,7). Ich sehe da dreierlei Kampfübungen. Sieheißen Stehen, Widerstehen und Bestehen im Glauben.

Stehen im Glauben ist aber etwas ganz anderes als das theoretischeKopfstehen auf dem Boden eines Glaubensbekenntnisses oder Lehrsys-tems, mit dem sich die tote Gewohnheit zufrieden gibt oder die fleisch-liche Rechthaberei eifrig abgibt. Nein, Stehen im Glauben heißt, inChristi Wort, Werk, Geist und Gesinnung stehen, heißt in allenDingen und zu aller Zeit nicht in uns, sondern in ihm erfundenwerden (Phil 3,9), heißt da stehen, wo uns der Glaube hinleitetund hinstellt, nämlich stehen im Siege und in der Freiheit Christi.Wer da stehen lernen will, muss das Abtreten und Abstehen vomeigenen Ich beständig neu üben und betätigen, oder er wird niewahrhaft im Glauben stehen lernen. Die allermeisten, die wähnenim Glauben zu stehen, stehen in Wahrheit ganz in sich selberund werden deshalb auch immer nur in sich selber, anstatt inChristus, gefunden und erfunden.

Nur der, der im Glauben steht, kann auch im Glauben wider-stehen. Er steht in Christus, da ist er geborgen. Die Macht derStärke Christi ist die Macht seines Widerstandes (Eph 6,10). Er inChristus, Christus in ihm, das ist seine Unüberwindlichkeit. Aberdie muss stetig geübt werden. Da besteht die Hauptübung darin,dir selbst zu widerstehen. Wehe dir, wenn du dich durch dichselbst aus deiner sicheren Festung, die Christus heißt, herauslo-cken lässt! (2Petr 3,17). Im selben Augenblick stehst du bereitspraktisch nicht mehr im Glauben und kannst deshalb auch nichtmehr im Glauben widerstehen. Die Rückkehr zu dir ist die Ursa-che all deiner Niederlagen. Wenn du aber durch glaubenstätigeÜbung lernst, dir zu widerstehen, vermagst du auch all deinenanderen Feinden zu widerstehen. Diese Glaubensübung heißt:Nicht ich, sondern Christus!

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Wer bei jedem Angriff in Christus gefunden wird, vermag nichtnur zu widerstehen im Glauben, sondern auch zu bestehen imGlaubenskampf. Es wird ihm geschehen nach seinem Glauben.Er hielt dafür, dass Christi Sieg auch sein Sieg sei: Nun darf erschauen, was er geglaubt hat. Geborgen in Christus, vermoch-te er in ihm, der ihn kräftigte (Phil 4,13), Überwinder zu sein(Röm 8,37). Aber auch das Bestehen im Glaubenskampf hängtganz von der Fortsetzung der glaubenstätigen Kampfübung ab.Nun handelt es sich erst recht um das fortdauernde Bleiben inChristus. Keine Sekunde ist gefährlicher als die nach dem erlangtenSieg. Wer jetzt siegestrunken auf sich selbst zurücksinkt, ist imnächsten Augenblick ein geschlagener Christ. Wer steht, der sehezu, dass er nicht falle (1Kor 10,12). Wie viele Überwinder wurdenüberwunden, als sie nach bestandenem Kampfe ein wenig ausruhenwollten in sich selbst!

Darum ist und bleibt uns Kampf verordnet, damit wir nichtin Trägheit selbstsicher werden (Hebr 12,1.12.13). Dazu hat unsGott dreierlei Kampfplätze ersehen, auf denen wir uns in derGlaubensbetätigung zu üben haben. Sie gleichen drei ineinanderliegenden Kreisen.

Der engste und darum bewegteste Kampfraum ist in uns selbst(Gal 5,17). Der zweite, weitere ist in der Familie und Gemeinde(Eph 6,1–9; Kol 3,18–25; Röm 12,3–17; 1Kor 12; Kol 2,1). Der dritte,weiteste ist die weite Welt (2Kor 6,3–10).

Wir haben aber auf allen drei Kampfplätzen nichts anderes zuerlernen und zu betätigen als das sieghafte Bleiben in Christus;denn das allein heißt den Glauben bewahren. Dieses siegreicheBleiben in ihm zu erlernen, scheint den meisten Gläubigen dasSchwerste im Glaubenskampfe. Und doch wird es nur schwer,wenn du dabei mit deiner eigenen Fähigkeit oder Unfähigkeitrechnest, also gleich mit Unglauben anfängst. Viele stellen sichdas Bleiben in Christus als eine Art Starrkrampf vor, wo man,Scheuklappe rechts und Scheuklappe links, in frommer Genick-starre sich peinlich zu Jesus hin zwingen muss. Einen, der einmalso redete, fragte ich: »Müssen Sie sich denn krampfhaft anstren-gen, wenn Sie wissen wollen, dass Sie verheiratet sind, um in derEhe bleiben zu können?« Das verneinte er natürlich. Er wusstesehr wohl, dass ihm sein Eheverhältnis einfach zum Lebensver-hältnis geworden war, das in dem selbstverständlichen Gedanken:Ich bin verheiratet! in all seinem Tun mühelos Ausdruck fand.

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Ähnlich geht es mit unserem Bleiben in Christus. Es ist dasstete, stille Bewusstsein unserer Zugehörigkeit zu ihm und un-serer Abhängigkeit von ihm. Es ist das zunehmende Wissen imGeiste: Mein Freund ist mein, und ich bin sein! Es ist das seligeGeheimnis des Glaubens im Herzen: Nicht mehr ich lebe, Chris-tus lebt in mir und ich in ihm! Es ist das immer ausschließlichereRechnen mit ihm allein, wobei schon unser immer mehr von ihmbeherrschtes und erfülltes Denken zum allzeitigen Gebet wird.Übe dich nur in dem, und erwarte alle Weisheit und Fähigkeitdazu nicht von dir, sondern von ihm, und er selbst wird dich ansich erinnern und sich in dir immer entscheidender offenbaren.So wirst du lernen, in seinem Wort, seinem Geist und seinerGesinnung zu bleiben, und er wird mit alledem in dir bleiben.

Dabei wirst du entdecken, dass gerade das Bleiben in Christus,nämlich das stille Verweilen innerhalb seines Schutzes und Sieges,die starke Ruhe ist, von der aus der Kampf des Glaubens einso guter und freudiger Kampf wird. Aber dennoch bleibt erein Kampf, in dem dein Bleiben und deine Ruhe in Christusfortgesetzt durch Versuchungen erprobt werden.

Ohne Erprobung kein Preis, ohne Ringen keine Ruhe! Im Sie-ge Christi, freigemacht vom Gesetz der Sünde und des Todes,sind wir doch noch nicht frei gemacht von Versuchungen! Erselbst, der Herzog unserer Seligkeit, wurde versucht gleichwiewir, ausgenommen die Sünde. Wir bleiben durchaus versuchbar,sogar mit Einschluss der Sünde, aber wir bleiben nicht besiegbar.Haben wir erst den Kampf des Glaubens als den guten Kampferkannt, so fürchten wir uns auch nicht mehr vor Versuchungen.Ja, im Gegenteil, wir lernen es für lauter Freude zu achten, wennwir in mancherlei Versuchungen geraten; denn wir wissen, dassdie Versuchungen die Bewährung unseres Glaubens bezwecken.Die Bewährung des Glaubens aber bewirkt jene Geduld und Aus-dauer in der Ruhe des Glaubens, mit der wir dann den vor unsliegenden guten Kampf des Glaubens zu durchlaufen vermögen,und durch die ein vollkommenes Werk zustande kommt (Jak 1,2und Hebr 12,1).

Man kann nun dreierlei Versuchungen unterscheiden, durchdie unser Bleiben in Christus geprüft und befestigt werden soll.Erstens, Versuchungen durch Gott zum Guten; zweitens, Ver-suchungen aus uns selbst zum Bösen; drittens, Versuchungendurch Satan, die von Gott zu unserer Sichtung zugelassen sind.

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Ich möchte nur die beiden letzten Versuchungen auch zugleich»Anfechtungen« nennen. Das Wort »Anfechtungen« hat einensehr bedrückenden Klang. Das Kind Gottes sieht sich da im-mer einer feindlichen Macht gegenüber, die heimtückisch undübermächtig gegen uns ficht; und wie viele sind durch diese An-schauung schon in Schwermut und Wahnsinn hinein gepeinigtworden! Das entspricht aber ganz und gar nicht dem »guten«und sieghaften Kampf des Glaubens. Nur wer im Unglaubenmit sich selber und dem Feind, anstatt im Glauben mit Chris-tus und seinem Schutz und Sieg rechnet, kann sich durch dieFurcht vor »Anfechtungen« bedrängen, betrüben und betrügenlassen. Leider geschieht das in Unwissenheit so oft. Man solltedaher das unzulängliche Wort »Anfechtung«, das ja wohl nur dergleichnisartigen Beschreibung der dritten Art der Versuchungin Epheser 6,11–17 seine mittelbare Anwendung verdankt, mehrund mehr ersetzen durch das unmittelbar biblische Wort »Versu-chung« und dabei stets wissen, dass hinter allen Versuchungenzuerst und zuletzt Gott steht, der uns nicht zu verderben, sondernstets zu gewinnen sucht; denn nie war Gott unser Feind!

Die Versuchungen durch Gott zum Guten sind die alltäglichs-ten und andauerndsten im Glaubenskampfe. Eigentlich sollenwir jedes Erlebnis als eine Versuchung durch Gott zum Gutenbegrüßen; denn denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zumBesten dienen, nämlich zum Guten mitwirken (Röm 8,28). Das isteine unvergleichlich fröhliche Lebensauffassung, die ganz demguten Kampf des Glaubens entspricht. Es ist schon ungemeinglaubensstärkend, zu wissen: Gott versucht niemanden zum Bö-sen und er selbst kann auch nicht versucht werden zum Bösen(Jak 1,13); aber er versucht uns unausgesetzt zum Guten. Undwas das Gute ist, zeigt uns der unsichtbare Gott im GottessohneJesus Christus, der sein Abbild und unser Vorbild geworden ist,in dessen Fußstapfen wir nachfolgen (1Petr 2,21).

So sind die Versuchungen durch Gott zum Guten das planvol-le Suchen Gottes im Heiligen Geist, uns auf der Fußspur Jesudurch alle Gegenden unseres Lebens zu leiten. Jede Fügung undFührung, selbst die kleinsten Geschehnisse sind allein zu diesemZweck in unser Dasein hinein geordnet. Es ist ein Dasein zwi-schen lauter Gegensätzen, die alle den guten Kampf des Glaubensvon uns fordern. Da ist der gute Kampf des Glaubens die bestän-dige Entscheidung für das immer neue Einsetzen unserer Füße

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in die Fußstapfen Jesu, damit unsere Schritte und Tritte gewisswerden (Hebr 12,13), und die Nachfolge Jesu zum wandelndenBleiben und bleibenden Wandel in Jesus werde.

Wie weisheitsvoll ordnet da Gott die Kampfstellung! Damitwir uns für Christi Sanftmut und Demut entscheiden lernen,versucht er uns, indem er durch Grobmütige uns erschreckt oderdurch Sanftmütige und Demütige uns beschämt. Oder er versuchtuns durch der Menschen Ungeduld zu Christi Geduld. Oder erversucht uns durch Armut zur Genüge an Christi Reichtum oderdurch Reichtum zur Genüge an Christi Armut und zur Seligkeitdes Gebens. So erprobt er uns in der Enge für die Weite undin der Weite für die Enge, in der Wüste für die grüne Aue undan den frischen, stillen Wassern für die Zeit am versiegendenBach, im Licht für das Dunkel, in der Labsal für die Trübsal,im Gedränge für die Stille und in der Stille fürs Gedränge undwiederum im Streit für die Ruhe und durch die Zeit für dieEwigkeit.

Dabei versucht uns Gott stets planmäßig vom Leichteren zumSchwereren. »Nach diesen Geschichten«, heißt es 1. Mose 22,1,»versuchte Gott Abraham«, den Isaak zu opfern. Und bei alle-dem handelt es sich darum, unsere Berufung und Erwählungfestzumachen, nämlich die persönliche Lebenslinie zu findenund beizubehalten, die Gott vor Grundlegung der Welt für dichgezogen hat, damit du das in diesem Leben werdest, wozu dugeschaffen bist. Denn eher gibt es für dich keine wahre Gott- undGlückseligkeit, weil beides nichts anderes ist, als die Übereinstim-mung mit unserer Bestimmung; unsere Bestimmung aber liegt inChristus.

Abraham, der Vater der Gläubigen, und auch die anderenGottesknechte haben immer gerufen: »Siehe, hier bin ich!« wennGott sie zum Guten versuchte, und ließen sich finden. Ja, selbstder Christus Gottes antwortete dem Vater: »Siehe, ich kommezu tun, oh Gott, deinen Willen« (Ps 40,7–9; Hebr 10,7–9). Dasswir uns in jeder Sekunde der Versuchung durch Gott zum Gutenfür Christus finden lassen und die Antwort geben: »Siehe, hierbin ich!«, das ist der ganze Sinn des guten Glaubenskampfes.Sein Gelingen hängt von der rechten Beantwortung der Frageab: Wo bin ich Sekunde um Sekunde? Bin ich im ichbejahendenEigenwillen oder bin ich im jesusbejahenden Gotteswillen? Lebeich in der Rechnung des Unglaubens mir selbst oder in der

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Rechnung des Glaubens ihm? Laufe ich mir nach, oder folge ichihm nach?

Das führt uns zur Betrachtung der zweiten Art von Versuchun-gen, nämlich der Versuchungen durch uns selbst. Das sind immerVersuchungen zum Bösen; denn es sind Verlockungen zur ei-genwilligen Ichbejahung, der die Sünde auf dem Fuß folgt. Essind die uralten, fluchvoll vererbten Versuche, uns immer wie-der im eigenen Geist selbständig zu machen gegenüber Gott.Sie entstammen der uns angeborenen gottfeindlichen, ichsüch-tigen, fleischlichen Gesinnung, deren wirksamer Träger unserLeib des Fleisches und der Niedrigkeit ist, den wir zu unsererDemütigung noch tragen müssen (Phil 3,21). Es sind die Rest-wirkungen des Gesetzes der Sünde und des Todes in unserenGliedern (Röm 7,23). Denn wir sind und bleiben vom Mutterleibeher Fleisch vom Fleisch und wissen, in diesem Fleisch wohntnichts Gutes (Joh 3,6; Röm 5,12 und 7,18), »dieweil die Gesin-nung des Fleisches Feindschaft wider Gott ist; denn sie ist demGesetze Gottes nicht untertan, sie kann auch nicht« (Röm 8,7).Die gottfeindliche Gesinnung des Fleisches aber äußert sich alsLust des Fleisches, die wider Seele und Geist streitet, um beidedem Fleische und damit der Sünde untertan zu machen. So wirdein jeglicher versucht, »wenn er von seiner eigenen Lust gereiztund gelockt wird. Danach, wenn die Lust empfangen hat, gebiertsie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert denTod« (Jak 1,14–15).

Versuchungen durch uns selbst sind also alle Versuche unsererangeborenen, fleischlichen Natur, die verlorene Oberherrschaftwiederzugewinnen. Solche Versuchungen sind ohne weiteresnoch keine Sünde. Sie sind die ganz natürlichen Äußerungenunseres Fleisches, in dem eben nichts Gutes wohnt. Zur Sündeund persönlichen Schuld wird die Versuchung erst dann, wennunser Geist und Wille durch Vermittlung der Seele sich derlockenden Lust des Fleisches neigen und ihrem Reiz erliegen.Erst wenn die verhängnisvolle Paarung unseres Willens mit derreizenden Lust stattgefunden und die Lust empfangen hat, istder böse Balg gezeugt, den die Lust nachher gebiert und derSünde heißt. Die Sünde aber ist bereits todesschwanger, wennsie zur Welt kommt; denn wenn sie vollendet ist, gebiert sie denTod. Der unheimlichen Verbindung unseres Willens durch dieKupplerin Seele mit der Lust des Fleisches zu widerstehen, ist

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hier Aufgabe und Ziel des Glaubenskampfes. Wie aber geschiehtdas?

Da gilt als Erstes: Lerne zwischen Versuchung und Sünde zuunterscheiden! Wer in frommer Selbstbejahung noch an sich sel-ber glaubt, lernt diese Unterscheidung nie. Er wird immer Gottmit schönen Tugenden aufwarten wollen und infolgedessen esnie verstehen können, dass so viel Böses in ihm ist. Ihm werdendie Versuchungen immer schon als Sünden erscheinen, gegendie er sich im eigenen Ringen fruchtlos abmüht und jämmerlichabquält. Hinter dieser Qual und Mühe steckt aber nur der from-me Trotz der Selbsterlösung samt dem Ärger und der Trauerüber das Misslingen dieser Erlösung. Da fehlt noch das Erlebender biblischen Buße, die auf dem Wege über Selbsterkenntnisund Selbstbeschämung zur Selbstverwerfung hinab führt. Nurauf dem Nullpunkt der Selbstverwerfung, wo man sich als soaussichtslos verdorben erkannt hat, dass man alle Hoffnungenauf sich selber aufgibt, erkennt man den Unterschied zwischenIch und Christus, Fleisch und Geist, und damit auch den Unter-schied zwischen Versuchung und Sünde. Nun, wo man peinlichweiß, dass nichts Gutes in uns, das ist in unserem Fleische, wohnt,erwartet man vom Fleische auch nichts anderes als Böses undwird infolgedessen auch nicht mehr überrascht, erschreckt undenttäuscht durch Versuchungen aus uns selbst, das heißt, ausunserem Fleische. Nun, da man sich im Glauben vom eigenenFleische geschieden weiß, weiß man aber auch, dass Versuchun-gen im Fleische noch keine Sünden sind, weiß aber auch, dassaus Versuchungen jeden Augenblick Sünden werden können.

Darum gilt als Zweites: Wachet und betet! Rechte Wachsamkeitim Geist hat als Voraussetzung immer Misstrauen gegen unserFleisch, das heißt, den Einspruch gegen uns selbst als Selbstver-neinung, und unbedingtes Vertrauen zum Herrn als glauben-stätige Jesusbejahung. Gerade in den Versuchungen durch unsselbst handelt es sich darum, Sekunde um Sekunde mit Jesus zurechnen. Achthaben auf uns selbst, um uns selbst zu widerste-hen, und achthaben auf Jesus, um in ihm zu bestehen, das ist dieganze Wachsamkeit, aus der sich der allzeitige, betende Verkehrmit dem Herrn von selber ergibt. Es ist die beständige Nüch-ternheit in der Lust des Geistes wider jede Lust des Fleisches.Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist, der Geist aber widerdas Fleisch-, denn diese sind einander entgegengesetzt, auf dass

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wir nicht tun, was wir irgendwie – dem Fleische nach – wollen(Gal 5,17).

Daraus ergibt sich das Dritte: Kämpfe! Ergreife! Das will sagen:Halte Glauben! Nämlich rechne aller Lust des Fleisches und allerMacht der Sünde zum Trotz mit dem vollbrachten Siege desGekreuzigten, mit der Kraft seiner Auferstehung und mit derMacht des Erhöhten, der durch seinen Geist in dir wohnt undwirkt. Rechne: Ich gehöre nicht mehr mir selbst, ich gehöre ihm,und er gehört mir! Sein Sieg ist mein Sieg! Seine Kraft ist meineKraft! Und dann ergreife mit einem entscheidenden inneren Ruckgläubig diesen Sieg und diese Kraft! Fliehe die Lust des Fleischesund eile hinein in die Lust des Geistes!

Denn »Lust um Lust!« heißt der Wahlspruch. Entweder dieLust an dir selbst oder die Lust am Herrn! Entweder auf der Seitedes Fleisches oder auf der Seite des Geistes! Entweder Tötung derGeistesgeschäfte durch das Fleisch oder Tötung der Fleischergeschäftedurch den Geist (Röm 8,13). Die Entscheidung fällt gewöhnlichin einem Augenblick. Bist du da nicht wachsam, gibst du da dirselber nach, bejahst du da dich und verneinst du Jesus, neigst dudich da der Lust des Fleisches und fliehst die Lust des Geistes, sohat deine mangelnde Glaubensbetätigung deine Niederlage besie-gelt: Die Versuchung ward dir zur Sünde! Das ist gewöhnlich derFall bei allen denen, die mehr an die Macht der Sünde als an dieMacht Christi glauben (Eph 6,10). Und wie viele »Gläubige« tundas! Auf ihren Unglauben folgt ihr Ungehorsam. Wie ganz an-ders aber ist das Ergebnis, wenn du im tätigen Glauben die Lüsteund Begierden deines Fleisches für mitgekreuzigt, dich selbstder Sünde für abgestorben und nicht mehr für einen Schuldnerdes Fleisches hältst! (Gal 5,24; Röm 6,11; 8,12). Lebst du deinemeigenen Denken, Fühlen und Tun zum Trotz, dieses Glaubens,der sich allein auf Gottes Wort stützt, so wirst du es erfahren,was es heißt: Sieg haben in den Versuchungen, nämlich noch imFleische leben und doch nicht nach dem Fleische leben, noch dieNeigung zur Sünde fühlen und doch vor bewusstem Sündigenbewahrt bleiben.

Wie erfreulich dir aber auch der gute Kampf des Glaubensin den Versuchungen aus dir selbst gelingen mag, nie darfst dudir selber das Reifezeugnis schreiben. Das Zeugnis schreibt derMeister und nicht der Schüler. Mir graut vor denen, die feststellenwollen, wie lange sie nicht gesündigt haben. Solche sind bereits zum

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trügerischen Glauben an sich selber zurückgekehrt. Und wennsie gar meinen, bei ihnen sei bereits alles Geist geworden undgar keine gottfeindliche fleischliche Gesinnung mehr vorhanden,so beweist das bereits, dass sie der Zucht des Geistes entlaufenund von sich selbst Betrogene sind, und die Wahrheit ist nichtin ihnen (1Joh 1,8). Der schneidende Gegensatz zwischen derLust des Fleisches und der Lust des Geistes bleibt, solange wirim Leibe des Fleisches wallen, und die gefährlichste Lust, ausder alle weiteren verderblichen Lüste stammen, ist und bleibt dieLust an uns selbst!

Um uns diese gefährliche Lust immer gründlicher zu verleiden, lässtuns Gott in der dritten Art der Versuchungen durch Satan versuchtwerden. Hier haben wir es nicht mehr mit Fleisch und Blut zutun, obwohl es der Feind auf unser Fleisch und Blut zum Ver-derben unserer Seele abgesehen hat. Hier steigert sich der guteKampf des Glaubens zum Kampf wider die Herrschaften, wi-der die Gewalten, wider die Weltbeherrscher dieser Finsternis,wider die geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischenGebieten (Eph 6,12). Im Kampfe gegen diese übermenschlichen,feindlichen Gewalten sollen wir den letzten Rest des Glaubens anunsere eigene Kraft verlieren und ganz und gar vom Herrn ab-hängig werden; das ist der Sinn und Zweck dieser dritten Art vonVersuchungen. Da darf Satan am »bösen Tage« unser Hab undGut zerstören, unseren Leib antasten, unsere Seele beschweren,unseren Geist verdüstern und uns durch Menschen quälen, dasswir im Feuerofen des Elends wie im Rachen der Angst sitzenund uns namenlos bange wird. Nun handelt es sich darum, auchan solch bösem Tage, wo der Teufel los ist, den guten Kampf desGlaubens zu kämpfen.

Da gilt es ganz besonders zu erstarken im Herrn und in derMacht seiner Stärke, nämlich die ganze Waffenrüstung Gottes(Eph 6,10–18) anzuziehen, und das heißt nichts anderes als Chris-tus selber anziehen. Er, der uns von Gott gemacht ist zur Wahr-heit, gürtet unsere Lenden wider den Vater der Lüge (Joh 8,44).Er, in dem uns die Gerechtigkeit Gottes geschenkt ist, panzert un-sere Brust wider den Verkläger, der uns mit unserer Sündenlastdas Herz zermalmen möchte. Er, der uns in seinen Dienst gerufenhat, stiefelt unsere Füße mit Bereitwilligkeit, die Botschaft desFriedens zu verkündigen, wenn der listige Feind uns lahmlegenund dienstunfähig machen will. Wie einen Schild ergreifen wir

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Der gute Kampf des Glaubens

vor allem den Glauben des Sohnes Gottes (Gal 2,20), um in demGlaubenssiege des Löwen von Juda, des Lammes von Golgatha,dem Widersacher zu widerstehen, der umhergeht wie ein brül-lender Löwe, um uns zu verschlingen (1Petr 5,8–9). Dazu nehmenwir die Gewissheit des Heils in Christus wie einen Helm, umunser Haupt gegen die räuberischen Einflüsterungen Satans zuschützen, und wehren uns mit dem Worte, wenn der Teufel, alsLichtsengel verkleidet, uns mit Bibelsprüchen in die Falle lockenwill (Lk 4,1–13; 2Kor 1,1.14). Unser Gebet wird zum anhaltendenGebetskampf im Geist, bis zum Siegesschrei des Geistes Christiin uns wider seinen Todfeind.

Aber leider verstehen nur die wenigsten Gläubigen den Kampfdes Glaubens gegen die Satansgewalten als einen guten Kampf zukämpfen. Entweder unterschätzt man diese Gewalten und wagtes, ihnen in der eigenen Waffenrüstung frommer Selbstbewertunggegenüberzutreten, wobei man gründlich geschlagen wird, oderman überschätzt Satan und sein Heer. Tatsächlich glauben diemeisten vielmehr an die Siegesmacht Satans als an die Siegesmacht JesuChristi, infolgedessen haben sie es vielmehr mit dem Teufel zu tun alsmit Christus.

Anstatt den Worten des Königs der Wahrheit zu glauben, glau-ben sie den Einflüsterungen des Vaters der Lüge. Anstatt auf-grund des Wortes Gottes im Glauben zu wissen: Ich bin bekehrtvon der Gewalt Satans zu Gott! Ich bin errettet aus der Gewaltder Finsternis! (Apg 26,18; Kol 1,13), geben sie sich im Unglau-ben dem Teufel zum Spielball, dass er sie in Schwermut undSelbstmord hinein quälen kann.

Anstatt ihm in der göttlichen Waffenrüstung, das ist in Christus,siegreich zu widerstehen, lassen sie sich mit schwankender Seelein Satans Schlinge locken (1Tim 3,7; 2Tim 2,26), und geben sichihm lebendig gefangen zu seinem Willen. Und doch könntensie, wenn sie allein mit Gott in Christus aufgrund des WortesGottes rechnen würden, dem Teufel gewissermaßen auf denRücken sehen; denn es heißt: »Widerstehet dem Teufel, so wirder fliehen« (Jak 4,7). Also fliehe du vor der übergewaltigen MajestätSatans (Jud 8–10) zu dem allgewaltigen Christus (2Kor 6,18; Offb 1,8),dann wirst du, durch den Glauben geborgen in deinem Erretter, denSatan fliehen sehen! Vor dir flieht er nie, aber wenn er dich in Christuseingehüllt findet, flieht er vor Christus.

Wenn er dich in dir, das heißt im praktischen Unglauben, fin-

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det, kann er dich übervorteilen und quälen. Je mehr er dich aberin Christus, das heißt im tätigen Glauben, findet, desto wenigerdarf er dich antasten (2Kor 2,11; 1Joh 5,18). Hierher gehört auchdie Bitte im Gebet des Herrn: »Führe uns nicht in Versuchung«; esist die Bitte um Bewahrung vor der List des bösen Feindes. Aberzu ihrer Erfüllung gehört auch die Warnung des Herrn: »Wachetund betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallet! Der Geist ist willig;aber das Fleisch ist schwach« (Mt 26,41). Das »Fallen« in Anfech-tungen durch Satan setzt immer das »Stehen« in trügerischer,fleischlicher Ichsicherheit voraus. Wer wachsam und betend innüchterner Glaubensbetätigung sein Fleisch verneint und ChristiGeist bejaht, fällt weder unversehens in »Anfechtungen« hinein,noch wird er in der Versuchung fallen.

Damit wir dem Teufel im Glauben widerstehen lernen, mussuns Gott durch den Teufel versuchen lassen. Aber so sehr unsauch der Teufel zum Bösen versuchen will, Gott will uns auchdurch diese dritte Art der Versuchungen nur zum Guten versu-chen. Und das Gute ist: Wir sollen den trügerischen Glaubenan uns selbst verlieren, um den allein rettenden Glauben Christiimmer völliger zu gewinnen.

Dabei misst Gott die Schwere solcher Versuchungen durchSatan nach der Größe unserer Erwählung und Berufung. DurchSatan selber, dem persönlichen Fürsten dieser Welt, wurde nur Jesusselber versucht, und wir wissen, wie der Herr alle drei teuflischenVersuchungen zur Selbstherrlichkeit abwies durch den glaubens-gehorsamen Hinweis auf seines Vaters Wort. Paulus aber, dasauserwählte Rüstzeug Jesu Christi, ward versucht durch einenEngel Satans, der ihn mit Fäusten schlagen durfte (2Kor 12,7–9). Diese dämonischen Schläge waren nötig, damit Paulus sichnicht ichsicher und ichgefällig überheben sollte; denn er warja wunderbarer Offenbarungen gewürdigt worden. Nun wurdeer gewürdigt, von einem Teufelsengel geprügelt zu werden! Dasieh hinein in das Geheimnis der Versuchungen durch Satan.Der große Apostel erhält durch einen Engel Satans vorbeugendeSchläge, damit Satan ihn nicht soll zur Selbstüberhebung verlei-ten können! Also dämonische Schläge aus bewahrender Gnade! Undan dieser Gnade sollte sich Paulus genügen lassen! Und er ließsich an ihr genügen; denn sie reichte aus zur Vollendung seinesLaufs, zur Bewahrung seines Glaubens und zur Erlangung derKrone der Gerechtigkeit (2Tim 4,7–8). Lesen wir doch nirgends,

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dass der Glaube oder die Arbeit und Vollendung des Apostelsdurch die Faustschläge des Satansengels irgendwie gelitten ha-ben. Das heißt den Kampf des Glaubens als einen guten Kampfauch in der dritten Art von Versuchungen kämpfen!

Was uns betrifft, so hat uns wohl bisher nur menschliche Versu-chung getroffen (1Kor 10,13), nämlich Satan hat uns nur mittelbarmenschlich, aber nicht persönlich oder durch einen persönlichenEngel versuchen dürfen. Satanische Einwirkungen aus der un-sichtbaren Finsterniswelt sind ja eine alltägliche Tatsache imLeben der Gläubigen, aber die unmittelbare Erscheinung Satansoder seiner Engel und Dämonen ist, soviel auch davon geredetwird, doch zu wenig festgestellt. Wir ertrügen dergleichen nicht.Denn wir dürfen glauben: Gott aber ist treu, er wird uns nichtversucht werden lassen über unser Vermögen (nämlich über dasMaß von Gnade hinaus, das zu unserer Vollendung nötig ist),sondern wird zugleich mit der Versuchung auch den Ausgangschaffen, den wir ertragen können. Darum lasset uns aber auchnicht murrend im Unglauben und abgöttischen UngehorsamChristus versuchen, damit uns der Verderber und die Schlangennicht umbringen dürfen! (1Kor 10,9–14; Hebr 3,7–19 und 4,1–11)

Je nüchterner wir nun den guten Kampf des Glaubens kämp-fen, desto deutlicher werden wir auch erkennen lernen, wannund warum es Gott dem Satan zulässt, unseren Leib anzutasten;denn es gibt satanische Versuchungen zur Erkrankung so gutwie zur Sünde. Und zwar sucht der Feind da fast immer erstunsere Seele zu schwächen, um von da aus unsere Leibeskräftelahm legen zu können, um uns dienstunfähig für den Herrn zumachen. Solange man diese Anschläge Satans nicht genügenderkannt hat, erliegt man einfach solchen Versuchungen, das heißt,man wird krank. Ist es dem Feinde erst einmal gelungen, unsereSeele irgendwie durch Ärger, Sorge, Furcht zu beunruhigen, soteilt sich diese Erschütterung der Seelenkraft gewöhnlich schnellden schwächsten Leibesgebieten mit, und das Versagen der Lei-beskraft führt zur Erkrankung. Wir wissen, es sind besonders dieNerven, auf deren Schwächung der Feind es abgesehen hat. Wieviele Gläubige liegen da am Boden oder führen ein Jammerleben,das allem guten Kampf des Glaubens ins Gesicht schlägt! Anstattan die Herrschaft Christi zu glauben und mit der Kraft seinerAuferstehung für ihren sterblichen Leib zu rechnen (Röm 8,11),rechnen sie nur mit der Herrschaft ihrer Nervenschwäche. Im-

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mer mehr werden sie dabei versklavt an ihr krankes Ich. Immerbeunruhigter und gequälter wird ihre Seele. Immer abhängigerwerden sie von allem Sichtbaren, Hörbaren, Spürbaren. Immerunseliger wird ihre Gedankenwelt, bis zur Zwangsvorstellung,bis zum Wahnsinn. Gewöhnlich ist dabei der Teufel ihr Prediger,Bibelausleger und Seelsorger, dem sie aufs Wort glauben.

Ich lernte einst einen solchen Armen kennen, einen »in denNerven heruntergekommenen«, das heißt in der eigenen Kraftabgerackerten Diener am Wort. Seit langem belehrte ihn derTeufel: »Du kommst ins Irrenhaus, ins Irrenhaus, ins Irrenhaus!«Der Arme glaubte es mit Entsetzen, und wartete nur noch aufdie Erfüllung dieser satanischen Verheißung; denn der Glaubean Christus war nur noch eine wehmütige Erinnerung in ihm.Soweit hatte es der Vater der Lüge und Menschenmörder mitdiesem Betrogenen gebracht. Da durfte ich es miterleben, wieChristus Jesus den glimmenden Docht wieder anblies und dasgeknickte Rohr heilend in seine Hand nahm. Langsam lernte dervon Satan Getäuschte wieder glauben, nämlich ganz neu mit derSiegesmacht Christi rechnen. So lernte er allmählich wieder übersich selbst hinaus denken, dem Worte Gottes trauen und sichdurch Jesus geliebt und gerettet sehen. Aber immer noch quälteihn der Feind mit der Einflüsterung: »Und du kommst doch nochins Irrenhaus!« Bis der Genesende es eines Tages dem Teufel insGesicht schrie: »Nun gut, und komme ich ins Irrenhaus, so gehtder Herr Jesus mit mir! Halleluja!« In demselben Augenblickriss der Strick Satans, der Gefangene war und blieb frei: dergute Glaubenssieg war erkämpft, die Versuchung durch Satanim Seelen-, Nerven- und Leibesleben beendet!

Oh, wie oft habe ich das gleiche Ergebnis erlebt, wenn michSatan in meinem arbeitsreichen Dienst durch Verleitung zu glau-benslosen Vernunftschlüssen, durch gefühlige Selbstbemitlei-dung, durch irgendwelche Furchterregungen in der Seele oderdurch plötzliche leibliche Schwächeeintritte lahmzulegen suchte!Und wie oft ist ihm dies leider gelungen, bis ich solche Gescheh-nisse als Versuchungen der dritten Art erkannte und gegen sieden guten Kampf des Glaubens zu führen lernte. Von da an hießes, ohne Rücksicht auf eigene Gedanken, Gefühle, Schwäche- undKrankheitszeichen einfach: Durch! Nämlich mit nichts anderemals im Glauben mit Jesus allein rechnen. Noch nie habe ich michdabei verrechnet! Allen irdischen Naturgesetzen zum Trotz lernte

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ich es im Glauben wagen, mit den himmlischen Gnadengesetzenunserer Erlösung in Christus zu rechnen, und erlebte dabei Wun-der über Wunder. Aus sterbenselender Herzschwäche herausstand ich auf und redete vor Tausenden in Kraft des Leibes unddes Geistes. Oder es gefiel dem Herrn, mich in äußerster Leibes-schwachheit zu lassen, aber er gab es mir, zu reden in aller Kraftdes Geistes. Stets erlebte ich es: Sobald der Glaube bewährt war,endete die Versuchung. Wohl musste die Versuchung erst erlittenund geduldig harrend (Jes 40,31) erduldet werden, aber umsoheller leuchtete nachher das Wort: »Glückselig der Mann, der dieVersuchung erduldet!« (Jak 1,12). Dann kann man in Wahrheitmit der Dichterin singen:

Liebster Jesu, sieh ich hülle mich in dich hinein;o da bin ich gut geborgen, kann ich sicher sein.Kommt Versuchung, Satan, Sünde, kann ich

stille sein,kann mich bergen hinter Jesus, hinter ihm allein.Und steht Jesus mitten innen, bin ich aus dem Krieg,denn schon lange hat mein Jesus mir erkämpft

den Sieg.

So ist und bleibt der Kampf des Glaubens ein guter Kampf; denner hat den Sieg voraus und den Sieger immer bei sich, der de-nen hilft, die versucht werden (Hebr 2,18). Dennoch gehören dieVersuchungen mit zu den Leiden dieser Jetztzeit (Röm 8,18), dieerlitten werden müssen. Furcht vor Leiden ist aber ein wesentli-cher Grund der Furcht vor Versuchungen. Man hat aber immernur so viel Furcht, als man noch für sein geliebtes Ich fürchtet.Gerade deshalb ist das Erleiden und Erdulden von Versuchungenzur Loslösung von uns selbst und zu unserer herrlichen Offenbar-werdung mit dem wiederkommenden Christus so unerlässlich.Irgendwo fand ich den Wandspruch vor: »Schütz uns vor allemLeid!« Ich strich das Wörtlein »vor« durch und schrieb darüber»in«. Nun war der Spruch biblisch. Vor Leid kann und will unsGott nicht schützen, aber in allem Leid will er uns schützen,nämlich, dass wir uns im Erleiden des Leides nicht versündigen.Unsere eigenwillige Selbstbejahung sieht die Leiden als das grau-sigste Übel an. Chrysostomus, der treue Goldmund, sagt aberganz recht:

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»Nur ein Übel gibt’s, das ist die Sünde! Leiden heißt den WillenGottes erleiden, und das ist kein Übel.« Aber im Leiden den Wil-len Gottes verfehlen und sich durch Unglaube und Ungehorsamversündigen: das ist Übel! Und nun werden es der bösen Leidennoch mehr. Denn es gibt zweierlei Leiden, gute und gesegneteLeiden, die aus der Ichverneinung und Jesusbejahung entsprin-gen und als Fortsetzung der Leiden Christi zum guten Kampfdes Glaubens gehören; und böse, trost- und segenslose Leiden, dieaus der Jesusverneinung und Ichbehauptung entspringen undals selbstgeschaffene Leiden zum bösen Kampf des Unglaubensgehören.

Von den ersteren heißt es: »Denn gleichwie wir des LeidensChristi viel haben, also werden wir auch reichlich getröstet durchChristus« (2Kor 1,5); durch die letzteren aber sollen wir zur Bußebetrübt werden, um endlich in den vollen Segen des Glaubenseinzutreten (2Kor 7,9–10).

Bei den trostreichen Leiden Christi, die den guten Kampf desGlaubens in allen Versuchungen begleiten, können wir unter-scheiden:

Leiden für uns,Leiden mit anderen,Leiden für andere.

Was wir leiden müssen, müssen wir zunächst alles für unsere ei-gene Vollendung erleiden. Musste der Sohn Gottes, an dem, dasser litt, Gehorsam erlernen (Hebr 5,8) und durch Leiden vollendetwerden (Hebr 2,10), wie viel mehr wir! Er hat den Willen seinesVaters durch immer schwerere Versuchungen hindurch erlittenbis zum Tod am Kreuz. Wir haben gehört, dass Kampf und Leidaus dem Vorhandensein von Gegensätzen kommen, und je größerdie Gegensätze, desto größer Kampf und Leid. Welche Kämpfeund Leiden muss er also durchlebt haben, denn er war der eineGegensatz zur ganzen Welt.

Ein gläubiger Soldat erzählte mir: »Erst als ich aus der from-men Elternstube in die rohe Kasernenstube kam, begann ichetwas von den Leiden Christi zu verstehen. Wenn mir dieserWechsel schon die bittersten Kämpfe und qualvollsten Leidenbrachte, wie muss dem Sohne Gottes zu Mute gewesen sein,der aus der reinen, heiligen Himmelsstube in diese schmutzige,sündige Erdenstube kam!«

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Das war ein guter Vergleich. Gerade weil dem Herrn die zweiteVersuchung, die Versuchung aus sich selbst zum Bösen, fehlte,muss er unter dem Widerspruch der Sünder (Hebr 12,3) um soUnvergleichlicheres zu erdulden gehabt haben. Der Gegensatzbedeutete hier das Unerträglichste, und Jesus ertrug es! Ja, under ertrug es sogar, in eben diesen grässlichen Gegensatz als insein fremdestes Gegenteil hinein gebildet zu werden: Der Sünd-lose wurde für uns zur Sünde gemacht! (2Kor 5,21). Der einstin göttlicher Gestalt war (Phil 2,6), wurde ein Fluch für uns!(Gal 3,13). Und das alles erlitt er zunächst für sich selbst, nämlichum durch dies alles im Leidensgehorsam vollendet und fähigzu werden, das Werk der Erlösung zu vollbringen, das ihm derVater aufgetragen hatte, dass er es tun sollte. Und in solchemErdulden den Willen seines Vaters zu tun, nannte er seine Speise(Joh 4,34).

Willst du etwas von dieser bitteren Speise nachschmecken,dann schau in seinen blutigen und doch guten Glaubenskampf inder unvergleichlichen Versuchungsstunde von Gethsemane hin-ein, wo ihn Gott zum Besten versuchte, indem er das Schlimmstemit ihm tat: Er warf der Welt Sünde und damit allen Satansgrausauf ihn! Denn es war nicht möglich, dass dieser bittere Kelchvorübergehen konnte. Und die Stunde war so namenlos furchtbar,dass der, der so oft zu den Seinen gesagt: »Fürchtet euch nicht,ich bin bei euch!« vor der Finsternis dieser Stunde zitterte undzagte und nicht allein in sie hineingehen wollte, und der, dersonst den betrübten Seelen half, nun, mit bis an den Tod betrüb-ter Seele die Hilfe der Menschen begehrte, so dass der Meisterden Lehrlingen rief, dort mit ihm zu wachen und zu beten, nurdiese eine Stunde: so bangte ihm vor des Kelches Bitterkeit!

Und so ist der Sohn Gottes in den Tagen seines Fleisches vonGott und Teufel versucht und durch Leiden zum Opferlammvollendet worden. Und wegen dieses Leidensgehorsams gab esin seinem Leben keine unfruchtbare Sekunde!

In dem Maße, als auch wir bereit sind, durch alle Versuchungenhindurch den Willen Gottes nach der Schrift, gemäß unsererBerufung, für unsere Vollendung zu erleiden, wird auch unserLeben dem seinen gleichen.

Dabei wird es sich herausstellen: nur wer für sich selbst leidenlernt, lernt auch mit anderen leiden. Wer dauernd vor Leidenzu fliehen sucht, flieht vor der fruchtbarsten Segensquelle; denn

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nichts hat im Neuen Testament solche Verheißung wie die Leiden:sie sollen durch Teilhaben an der Herrlichkeit Christi belohntwerden! (Röm 8,17). Wer aber die Leiden Christi flieht, flieht auchdas Mitleiden mit anderen im Geist und in der Liebe Christi. Dieganze im Argen liegende Welt ist eine einzige Versuchung durchGott zu erbarmungsreichstem Mitleiden. Mitleid mit uns trieb Je-sus auf diese Erde. Wie hat er mit den Kranken, Armen, Verirrtenund Verlorenen gelitten! Und als mitleidiger Hohepriester wirkter vom Throne Gottes herab, bis er wiederkommt (Hebr 4,15).Fleischlich-seelisches Mitleid gibt’s viel unter den Menschen,geistlich-göttliches umso weniger. Wie hat Jesus das rührseligeMitleid der Töchter Jerusalems für sich selbst abgelehnt und siezum geistlichen Mitleid mit ihrem eigenen unheilvollen Lebenund dem Leben ihrer Nachkommen, nämlich zu Tränen der Bußeaufgefordert (Lk 23,28). Nur wer mit Christus leidet, kann wieChristus mit den Menschen leiden.

Solches Mitleiden wird aber auch immer zum Leiden für ande-re. Auf dem Boden des Glaubens, dem allein die reine göttlicheLiebe entsprosst, verliert man sein Leben; man wird zum Opfer.Den Willen Gottes erleiden, heißt den Verlust des eigenen Le-bens erleiden. Nur mit solchem Leidenssinn gewappnet, vermagman die immer schwerer werdenden Versuchungen zu erdul-den und im Kampf des Glaubens bis aufs Blut zu widerstehen(1Petr 4,1; Hebr 12,4). Wie unzulänglich bliebe Jesu Reden undHeilen ohne sein Sterben für uns! Keine seiner machtvollen Re-den und Wundertaten hätte uns vom Fluche des Gesetzes vomSinai und vom Gesetz der Sünde und des Todes erlösen können.Kein Wunderwirken Moses packt mich so gewaltig, wie jenerwunderbare Entschluss: »Und nun vergib ihnen doch ihre Sünde;wo nicht, so tilge mich aus deinem Buche, das du geschriebenhast!« (2Mos 32,32). Und im Briefe des Apostels Paulus an dieRömer gibt’s nur eine Stelle, die die Höhe am Schluss des achtenKapitels noch überragt; das sind die ersten fünf Verse im neuntenKapitel.

Der Mann, der eben in hehrer Glaubensüberzeugung ausgeru-fen hat, dass ihn nichts zu scheiden vermag von der Liebe Gottesin Christo Jesu, der wünscht jetzt durch einen Fluch von Christushinweg verbannt zu sein für seine Brüder, seine Verwandtennach dem Fleisch, die Juden! Der, für den es nur ein Glück aufErden gab, nämlich die Gemeinschaft mit dem Herrn, war bereit,

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diese rettende Gemeinschaft preiszugeben, wenn nur sein Volk,die Juden, dadurch in Gemeinschaft mit Jesus kommen können.Derselbe Apostel war aber auch freudig bereit, für das neutesta-mentliche Gottesvolk, nämlich für die Glieder am Leibe Christi,an seinem eigenen Fleische stellvertretend zu erdulden, was demLeibe Christi an Trübsalen noch mangelte (Kol 1,24). Das heißtfür andere leiden, nämlich für andere sogar die Versuchungenund Heimsuchungen erdulden.

Das kann man aber nur dann, wenn der gute Kampf des Glau-bens im Licht der seligen Ewigkeit geschehen und geführt wird.Was ist denn der Glaube anderes als die gottgeschenkte Fähigkeit,mit biblisch erleuchteten Augen das Unsichtbare zu sehen, näm-lich nicht zu zweifeln an dem, was man nicht sieht (Hebr 11,1).Und was ist der Glaube dann anderes als die gottgeschenkteFähigkeit, mit biblisch verheißenen Kräften dem Unsichtbarenunaufhaltsam zuzustreben, um es zu erreichen und zu verwirkli-chen. Erst enthebt uns der Glaube im Aufblick zum Gekreuzigtendem Bleigewicht der Sündenschuld, dann enthebt er uns im Hin-blick auf den Auferweckten der irgendwie noch umstrickendenSündenmacht, dann enthebt er uns im Aufblick auf unser erhöh-tes Haupt dem Truggebiet der Selbstliebe, und damit enthebter uns sicher dem Dunstkreis der Weltliebe, um uns hinaufzu-heben ins weite Ewigkeitsreich der enthüllten Gottesliebe. Undin dem Maße, als die völlige Gottesliebe dem völligen Glaubenentsprießt, treibt sie in uns die Furcht vor Leiden und die Peinin Leiden aus (1Joh 4,18). Denn wenngleich wir auf Erden nochLeiden haben müssen, so sollen wir doch die Furcht vor Leidenverlieren, und obgleich uns der Vater im Himmel die Leidennicht ersparen kann, so will er uns doch die Pein im Leidenersparen; denn Furcht und Pein sind nur in der Selbstliebe, abernicht in der Gottesliebe. So will uns Gott durch den guten Kampfdes Glaubens auf der Stufenleiter der Versuchungen und Leidenherausheben aus Zeit und Leid und hinaufheben in Ewigkeitund Herrlichkeit, dass wir wohnen dürfen bei der ewigen Glut,weil da nichts mehr zu verzehren ist durch ihr richtendes Feuer.Und im tröstenden Scheine jenes ewigen Friedenslichtes wis-sen auch wir schon jetzt mit dem Apostel: »Unsere Trübsal, diezeitlich und leicht ist, verschafft uns eine ewige und über alleMaßen gewichtige Herrlichkeit, uns, die wir nicht sehen auf dasSichtbare, sondern auf das Unsichtbare; denn was sichtbar ist,

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das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig« (Apg 9,16;2Kor 4,17–18).

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Unsere Umwandlung in das Bild Christi

Nun aber spiegelt sich in uns allen des Herrn Klarheitmit aufgedecktem Angesicht,

und wir werden verklärt in dasselbe Bildvon einer Klarheit zu der anderen,

als vom Herrn, der der Geist ist.

2. Korinther 3,18

Dieser Vers offenbart uns in klarer Weise den Vorgang unsererUmwandlung in das Bild Christi. Und zwar nennt uns der ersteSatzteil die Bedingung für unsere Umwandlung, der Mittelsatzsagt uns, wie wir umgewandelt werden, und der letzte Satzteilenthüllt uns, wer uns umwandelt.

Alle Arbeit des Heiligen Geistes in diesem Zeitalter geht daraufaus, uns das Bild Christi zu verklären, um uns in dasselbe Bildzu verklären. So wie der Sohn Gottes uns das Bild des Vatersoffenbart hat (Joh 1,14–18; 12,45; 14,7–10; 17,25–26), so will unsder Heilige Geist das Bild des Sohnes offenbaren (Joh 16,12–15).Darum, wer irgend vom Geist geleitet wird, der wird zum SohneGottes hingeleitet, um im Sohne den Vater zu erkennen und demSohne gleichgestaltet zu werden. Bekehrung ist die entschlosseneAbkehr von unserem eigenen Bilde und die endgültige Hinkehr zuChristi Bild. Gläubig werden heißt, vor Christus, dem erschautenLichte der Welt, sehend werden. »Wir sahen seine Herrlichkeit,eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, vollerGnade und Wahrheit«, das ist und bleibt das Ergebnis jederrechten Hinkehr zu Jesus. Das Glaubensleben ist ein Leben nichtnur mit erneutem Sinn (Röm 12,2), sondern auch ein Leben miterneuten Sinnen (Hebr 5,14). Es ist die gottgeschenkte Fähigkeitneu zu hören, zu sehen, zu tasten usw.

Das erneuerte Ohr hört Gott aus den Worten des Sohnes Gottes,das erneute Auge schaut Gott im Sohne Gottes. In ihm ließGott aus der Finsternis das Licht scheinen, das hineinschien inunsere Herzen zur Erleuchtung der Erkenntnis der HerrlichkeitGottes im Angesichte Christi (2Kor 4,6). Nun gilt es: »Weil ihr

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das Licht habt, glaubet an das Licht, damit ihr Söhne des Lichteswerdet!« (Joh 12,36). Nur der Glaube an das Licht schaut dasLicht und macht uns im Schauen des Lichtes zu Söhnen desLichtes, die des Lichtes Widerglanz und Bildnis tragen. Darumist die Grundbedingung für unsere Umwandlung in Christi Bilddie Widerspiegelung der Klarheit oder Herrlichkeit des Herrnmit aufgedecktem Angesicht.

Also schau im Glauben Jesus an! Ohne fleißige und gesammel-te Anschauung Christi keine Widerspiegelung seiner Herrlichkeitund keine Umgestaltung in sein Bild! Die Anschauung Christiist das empfängliche Wachsein für den Eindruck, den er auf unsmachen will. Von ihm selbst gehen die umformenden Kräfteaus, die uns der Heilige Geist vermitteln soll; denn der Heili-ge Geist nimmt es immer von dem, das Christi ist (Joh 16,14).Darum ist alle Leitung durch den Heiligen Geist nichts anderesals das immer neue sanfte Hinwenden unseres Angesichtes zumAngesichte Christi hin. Aber die betrügerische List Satans gip-felt darin, den Gläubigen immer etwas anderes als Christus vorAugen zu halten. Fast alle Kranken am Glauben sind eigentlichkrank am Glaubensauge. Sie sehen Jesus nicht recht oder sehenihn sogar nicht mehr. Entweder ist das innere Licht bei ihnennoch zu schwach, so dass die erleuchteten Augen des Herzensfehlen, um die Paulus für die Epheser flehte (Eph 1,18), oder siesind aus Trägheit unfruchtbar in der Erkenntnis Christi gebliebenund dabei kurzsichtig und blind geworden (2Petr 1,8–9), oderes handelt sich um zeitweilige Verdunklungen des Bildes Christioder vorübergehende Ablenkungen von seinem Lichte. In allendiesen Fällen hat der Seelsorger nichts anderes zu tun, als Chris-tus wieder vor Augen zu malen (Gal 3,1), damit er wieder denBlick fesseln und dem Herzen Glauben und Vertrauen schenkenkann. Und wie ändert sich das Angesicht der Betrübten, Schwa-chen und Kranken im Glauben, wenn sie Jesu Angesicht wiederleuchten sehen! Sobald sie wieder in seinem Lichte stehen, wirdihr Antlitz strahlend (Ps 34,6). Nun, da sie zur Anschauung Chris-ti zurückgebracht sind, kann der Heilige Geist weitere Arbeitan ihnen tun; denn was der Mensch anschaut, in das wird erverwandelt.

Was deine Augen suchen, das wird dein Leben widerspiegeln. Worandeine Augen hängen, dem wandelst du nach und in das wirst duverwandelt. Wie oft habe ich die Damenwelt vor den Gruppen

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Unsere Umwandlung in das Bild Christi

von Modepuppen der Schaufenster beobachtet. Ei, wie haftenda die Blicke der Modesüchtigen an den zur Schau gestelltenKostümen und an der Stellung und Haltung der Puppen! Nureine Begierde brennt im Herzen und flammt aus den Augen,nämlich so schnell wie möglich auch so eine zu werden, wie dieda hinter der Glasscheibe ist. Oh sieh, die Welt formt sich ihreBilder und Götzen nach dem Betrug ihres Herzens und der Lustihrer Augen zu ihrem Verderben.

Aber, Kind Gottes, wie sollten deine Augen glückselig sichsättigen am schönsten der Menschenkinder! (Mt 13,16; Ps 45,3.)Die ihn für nichts achteten, wandten einst das Angesicht vonihm weg (Jes 53,3), und die sich an ihm ärgern, kehren ihmheute noch den Rücken. Wir aber, die wir wissen, dass nichtnur die Strafe auf ihm liegt, sondern auch der Abglanz derHerrlichkeit Gottes (Hebr 1,3), und in ihm verborgen liegen alleSchätze der Weisheit und Erkenntnis Gottes, wir sollten nichtloskommen von dem Angesichte, das immer noch heller leuchtetals die Sonne und immer noch bespien wird vom Munde derMenschheit und geschlagen von den Fäusten der Diener dieserWelt. Wie sollen denn unsere unruhigen, hungrigen Augen von derEitelkeit alles Sichtbaren genesen, wenn sie nicht haften und satt werdenan seinem Bilde? Was soll uns denn erquicken, leiten und halten,wenn nicht das Licht seines Angesichtes? Viel Anregung undGewinn empfing ich auf einer Konferenz durch die wirklichtüchtigen Redner, aber der lichteste Segen strahlte mir aus demSpruch entgegen, den ich über meinem Bette vorfand; es war dasalte, mir wieder wunderbar neu gewordene Wort: »Habe deineLust am Herrn, der wird dir geben, was dein Herz wünscht«(Ps 37,4)!

Was ist es denn, das uns dieser einzigen Lust, der keine Reueund kein Verderben folgt, nicht treu bleiben lässt, wie wir essollten? Es ist die Lust aller Lust des Fleisches, nämlich der Restder trügerischen Lust an uns selbst. Es ist immer wieder diebetrübende Rückkehr zu unserem eigenen Bild und Wesen, inder der Glaubens-Aufblick zu Jesus erschlafft und hinsinkt, biser zum Trugblick der Selbstbetrachtung heruntergesunken ist.Nichts versteht Satan, der Tausendkünstler, besser, als die Kunst,uns auf eine feine, unvermerkte, taschenspielerische Art vomAngesichte Christi hinweg und zu uns selbst zurückzuleiten.Wohl müssen wir bei der innigsten Jesusanschauung auch Acht

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haben auf uns selbst (1Tim 4,16), aber Selbstbetrachtung aufKosten der Jesusanschauung führt beinahe immer zum Hochmutoder zur Schwermut.

Hochmütig werden wir gewiss, wenn wir unter des FeindesTrugleitung allmählich wieder Wohlgefallen finden an uns selbst.Der unterm Kreuz von Golgatha vollzogene Einspruch gegenunser entwertetes, verurteiltes und verworfenes Ich verliert nachund nach an Ernst und Schärfe. Die wachsame Glaubensbetäti-gung, in der wir uns für mit Christus gekreuzigt, gestorben undbegraben, Gott aber in Christus lebend wissen, erschlafft underlahmt mehr und mehr. Selbstverneinung, diese unerlässlicheVoraussetzung für jede Jesusanschauung, weicht einer heimlichwachsenden Selbstbejahung, die auch den lockenden Begierdenwieder mehr und mehr die alten Rechte verleiht. Bald entsprichtder Rausch der Selbstsicherheit dem Betrug der geistentfremde-ten Sinne, und man lebt im Hochmut der Selbstgefälligkeit, ohnedass man es eigentlich recht weiß. Wie weit, weit ist man unterBeibehaltung der religiösen Gewohnheiten weg vom Angesichte Christi!Statt Widerspiegelung der Herrlichkeit des Herrn, Selbstbespiegelungim Truglichte der mehr oder weniger bewussten Selbstherrlichkeit! Underst wenn wir dem wieder ins Angesicht sehen, der kein Gefal-len an sich selber hatte (Röm 15,3), waschen Bußtränen unserAngesicht, dass es die Herrlichkeit des Herrn nun umso reinerwiderspiegele.

Schwermütig aber werden wir gewiss, wenn der Feind unsallmählich das Licht der Herrlichkeit des Herrn, in dem alleinunsere Seele die Fülle der Freude hat (Ps 16,11), zu dämpfen oderzu verdunkeln vermag. Dies wird stets in dem Maße gelingen,als er uns in den finsteren Bannkreis unserer alten Natur zurück-zuzaubern vermag. Allmählich oder plötzlich stellt er uns vordas dunkle Bild unserer eigenen Unzulänglichkeit, um unsereSeele in den Abgrund der Verzagtheit zu stürzen. Gewöhnlichknüpft er dabei an geschehene Sünden an, um den Glauben anderen Vergebung zu rauben. Oder er wälzt unübersehbare Sor-genberge zwischen uns und das Angesicht des Herrn, deren Lastund kalter Schatten zum Tod und Grab aller Glaubensfreudewerden sollen. Oder er sucht die Seele durch Neiden und Streitenzu vergiften und zu verhetzen oder durch Arbeit zu zermürben.Verlassen von Jesus, verwiesen nur noch auf die eigene Kraftund verloren in der eigenen Ohnmacht, sieht der also umstrick-

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te Mensch nichts anderes mehr als sein eigenes jämmerlichesIch, und erstarrt im Käfig der Schwermut, im Schatten seinerfluchvollen Ichbejahung, zu keiner anderen Ichverneinung mehrfähig als zu der der Selbstentleibung. Anstatt Widerspiegelungder Herrlichkeit des Herrn, Selbstbespiegelung im verfluchtenBilde des alten Menschen in schwärzester Selbstverzweiflung.Und nicht eher wird er frei, als bis er über alle düstere Ichengehinaus das Glaubensauge wieder der Herrlichkeit des Herrn imLichte des Angesichts Christi zu öffnen vermag.

Nicht wenige Gläubige taumeln aber auch von Hochmut zuSchwermut. Tiefes Mitleid erfasste mich, als mir ein gebildeterBruder einst beichtete: »Bei mir geht’s immer hinauf und hinunter.Liege ich ächzend und stöhnend im Schatten der Schwermutdanieder, so jammere ich so lange, bis mir der Herr hilft, und binich wieder froh und frei, so fange ich wieder an, mich zu fühlen,bis ich wieder den Kopf im Hochmut recke und der Herr michwieder in die Tiefe der Schwermut hinunter demütigen muss!«

Gegen diesen Doppelbetrug unseres Herzens hilft nichts alsder Glaubensblick von uns selbst hinweg und über uns selbsthinaus hinauf zu Jesus hin (Hebr 12,1ff). Wer unbeirrt auf ihnschauen lernt, wird geheilt von Hochmut und Schwermut. Vorihm, dem einen, der keinen Gefallen an sich selber hatte, obwohler der einzige war, der Gefallen an sich hätte haben können,vergeht uns, je länger wir ihn anschauen, desto mehr die Lustan uns selber. Und vor ihm, dem unveränderlich Treuen undGerechten, der uns immer wieder vergibt, wenn wir nur in glau-benstätiger Ichverneinung und Jesusbejahung zu ihm kommen,muss auch immer endgültiger jede Verzagtheit schwinden. Undgenau in dem Maße, als wir zwischen Hochmut und Schwermuthindurch stracks unser Angesicht ihm zuwenden, werden wirdie Herrlichkeit des Herrn widerspiegeln.

Ach, wie viele möchten so gerne die Herrlichkeit des Herrn wi-derspiegeln und als ein Licht im Herrn ihrer Umgebung leuchten!Aber was muss man denn tun, dass sich das liebliche Versleinerfülle: »Leuchten müssen wir, du in deiner Ecke, ich in meinerhier!«? Muss man sich da selber anzünden? Muss man sich et-wa Leuchtfarbe aufs Gesicht streichen? Manche gebärden sichähnlich. Sie machen verzweifelte Anstrengungen, sich selbst lichtund leuchtend zu machen. Aber je mehr sie sich in ichgläubi-ger Selbstbejahung abmühen, zu glänzen und zu strahlen, desto

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mehr wird nur ihre angeborene Finsternisnatur offenbar. Bis manes endlich lernt: Nichts hast du zu tun, um zu leuchten, als daseine: Tritt aus dem Schatten deiner selbst heraus und in denLichtstrom der Klarheit und Herrlichkeit des Herrn, der vonseinem Angesichte ausgeht, hinein, und siehe, alsbald beginnstdu zu leuchten!

Was muss man denn tun, um in der Sonne zu leuchten? Jeder-mann weiß es. Nichts anderes, als die Schattengrenze zu über-schreiten und in den Sonnenschein hineinzutreten. Und kommtgar die Sonne zu dir, so hast du nichts anderes zu tun, als dichvon ihr bescheinen zu lassen. Genau so ist’s mit dem Glanz desAngesichtes Christi:

Schau Jesum an, sonst nichts!Der größte Sünder wirdso nur ein Kind des Lichts.

Aber wo sollen wir denn Jesus anschauen? Nun, seine Herr-lichkeit strahlt uns immer wieder am reinsten aus seinem Wortentgegen. Im Lichte seines Wortes sehen wir ihn als Licht. Undzwar schauen wir da

die Herrlichkeit des Herrn im siebenfachen Lichtstrah-le seines siebenfachen Bildes.

Zuerst im Vorbilde des wandelnden und handelnden Meisters.Ihm gilt unser erster Glaubensblick, damit unser alltäglicherLebensgang nach seiner Gesinnung ausgerichtet werde (Phil 2,5)und wir Sanftmut und Demut von ihm lernen (Mt 11,29–30), umbeides widerszuspiegeln.

Der zweite Glaubensblick erhebt sich zum Bilde des Gekreuzig-ten, damit wir über unser mannigfaltiges Fehlen hinaus immerwieder glaubensfroh sagen lernen: »All Sünd’ hast du getragen,sonst müssten wir verzagen!« und ihn als Mitgekreuzigte wider-spiegeln.

So sehen wir ihn mit dem dritten Glaubensblick im Bilde desAuferstandenen, damit wir den Sieger über Sünde, Krankheit undTod im Gedächtnis behalten, mit dem auch wir auferstanden sind(Kol 3,1), damit die Kraft seiner Auferstehung, mit der der Vaterihn aus den Toten auferweckt hat, auch in uns, den Glaubenden,

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wirke, um sich als Neuheit des Lebens widerzuspiegeln (Eph 1,20;Phil 3,10; Röm 6,4–5).

Mit Christus auferstanden und durch seine Auferstehung wie-dergeboren zu einer lebendigen Hoffnung, sucht nun unser vier-ter Glaubensblick das, was droben ist, nämlich das Bild desErhöhten, damit wir ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt sitzensehen zur Rechten der Majestät, als Haupt und Heiland seinesLeibes und als barmherzigen Hohepriester und Fürsprecher, derimmerdar lebt und für uns bittet, und zu dem wir aufsehen,um im Empfang der Kraft des Heiligen Geistes unseren himm-lischen Wandel widerspiegeln zu können im Kampf, der hierunten noch vor uns liegt (1Petr 1,3; Kol 3,1; Hebr 2,9; Eph 1,20–23;5,23; Hebr 7,25; 5,15–16; 1Joh 2,1; Phi. 3,20; Hebr 12,2).

So nach und von oben lebend, heben wir unsere Häupter hochals Wartende, deren fünfter Glaubensblick dem Bilde des Wie-derkommenden gilt, den wir dann sehen werden, wie er ist, undder unseren Leib der Niedrigkeit dem Leibe seiner Herrlichkeitgleichgestalten wird, damit wir beim Empfang unseres Lohnesund Erbes im Bilde des Himmlischen ihm gleich sein werden, ummit ihm offenbar zu werden in seiner Herrlichkeit, und damit dieLiebe, mit der wir ihn lieben, obgleich wir ihn jetzt noch nichtsehen, und die Freude, mit der wir ihm dienen und ihn erwarten,bis dass er kommt, sich widerspiegele auf unserem fröhlich inHoffnung erhobenen Angesicht (1Joh 3,2; Phil 3,21; Offb 22,12;1Petr 1,4; 1Kor 15,49; Kol 3,4; 1Petr 1,8; Lk 21,28).

Der sechste Glaubensblick aber ist gerichtet auf das Bild desgerechten Richters, der vor der Türe steht, und der kommenwird, die bewohnte Erde zu richten in Gerechtigkeit. Ihn siehtdas Glaubensauge, wie er mit Frohlocken die Seinen vor dasAngesicht seiner Herrlichkeit stellt, um sie offenbar werden zulassen in den Werken, die die Gnade in ihnen wirken konnte. Ihnsieht es auch, wie er ein Belohner alles dessen sein wird, wasman den Seinen getan hat. Und ihn sieht es aber auch, wie er inmachtvoller Herrlichkeit durch die Erscheinung seiner Ankunftmit dem Zorne des Lammes seine Feinde richten und die Zügelder Weltregierung in seine Hand nehmen wird. Bis dahin hat derfeste Grund Gottes dieses Siegel: »Der Herr kennt die Seinen«,und: »Es trete ab von der Ungerechtigkeit, wer den Namen Christinennt«, und die Frucht der Gerechtigkeit wird widergespiegeltin der Geduld der Heiligen (2Tim 4,8; Jak 5,9; Apg 17,31; Jud 24;

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Was ist denn nun die Herrlichkeit des Herrn?

1Kor 3,13–15; 2Kor 5,10; Mt 25,31–46; 2Thess 2,8; Offb 19,11–21;20,11–15; 2Tim 2,19; Phil 1,11; Offb 14,12).

Am weitesten endlich trägt der siebente Glaubensblick, derden Herrn der Herrlichkeit (1Kor 2,8) bereits als allgewaltigenHerrscher, dem der Vater den Erdkreis unterworfen hat, auf demThrone seines Reiches sieht, so dass alle Knie sich vor ihm beugenund alle Zungen bekennen, dass er der Herr ist, dem man Ehregeben muss und der spricht: »Siehe, ich mache alles neu! Es istgeschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende.«Und noch weiter trägt dieser letzte Blick. Noch ein ganz fernerStrahl der Herrlichkeit des Herrn fesselt und leitet ihn. Er kommtaus dem Neuen Jerusalem, der Goldenen Stadt, die keiner Sonnenoch des Mondes bedarf; denn die Herrlichkeit Gottes, der nunalles in allen geworden ist, erleuchtet sie, und ihre Leuchte istdas Lamm (Phil 2,10–11; Offb 21,5 und 23; 1Kor 15,28). Und einGoldstrahl von dieser äußersten und reichsten Herrlichkeit desHerrn, als ewig leuchtendes Lamm in der Goldenen Stadt, spie-gelt sich auf eines jeden Gläubigen Angesicht, das das Jerusalem,das droben ist, unser aller Mutter, sucht.

So schaut das erleuchtete Glaubensauge des Herzens die sie-benstufige Herrlichkeit des Herrn in seinem Worte, damit sieunser Angesicht zur Verherrlichung des Herrn immer herrlicherwiderspiegele.

Was ist denn nun die Herrlichkeit des Herrn?

Es ist die durch den Heiligen Geist im Neuen Testament geof-fenbarte und enthüllte Lebenswürde des Sohnes Gottes. Es istdas erklärte Wesen und Wirken Christi im Lichte des ganzenGotteswortes. In der Klarheit des Wortes erklärt der Heilige Geistden Sohn Gottes, um ihn in uns zu verklären; denn die Klarheitwird zur Erklärung, und die Erklärung zur Verklärung. Die Ent-hüllung der Lebenswürde des Herrn offenbart seine Herrlichkeitvor uns zu seiner Verherrlichung in uns und durch uns. Er isterschienen als der Abglanz der Herrlichkeit Gottes, damit wirder Widerglanz seiner Herrlichkeit würden (Hebr 1,3). Er sagt:»Ich bin das Licht der Welt«, um dann zu den Seinen zu sagen:»Ihr seid das Licht der Welt« (Joh 8,12; Mt 5,14). Die Herrlichkeitdes eingeborenen Sohnes Gottes soll zum Reichtum der Herr-lichkeit Gottes werden in den Söhnen Gottes (Joh 1,14; Eph 3,16;

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Phil 4,19). Denn nicht nur der einzelne Gläubige soll diese Herr-lichkeit anschauen und widerspiegeln, sondern »wir alle aber«schreibt Paulus. Die ganze Gemeinde aller Jahrhunderte soll ste-hen vor der im Gottesworte aufgetanen Herrlichkeit des Herrn,um sie unter der Erklärung des Heiligen Geistes anzuschauenund sowohl als einzelnes Glied wie als Gesamtheit widerzuspie-geln. Ja, es wird dies hingegebene Anschauen und Widerspiegelnder Herrlichkeit des Herrn so recht zum eigentlichen Dienst desEinzelnen und der Gemeinde auf Erden. Denn die Widerspiege-lung wird zur Wiedergabe und Weitergabe der Herrlichkeit desHerrn; und eben darin besteht doch unser Dienst auf Erden. Esist der Dienst der

Diener des Neuen Bundes als herrlicher, freimütigerDienst des Geistes mit aufgedecktem Angesicht.

Das will zunächst sagen: Wir haben es nicht mehr mit Mose zutun, durch den das Gesetz gegeben wurde, sondern mit ChristusJesus, durch den die Gnade und Wahrheit geworden ist (Joh 1,17).Nicht mehr die vergängliche Herrlichkeit des Antlitzes Mosesleuchtet uns mit unerträglichem Glanze an, so dass es einerVerhüllung bedürfte (2Mos 34,29–35), sondern die Erleuchtungmit der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesichte JesuChristi hat es in unserem Herzen und auf unserem Antlitz lichtwerden lassen (2Kor 3,7f und 4,6). Vor diesem Gnadenangesichtbrauchen wir unser Sünderangesicht nicht mehr zu verhüllen.Nicht mehr dem in Stein eingegrabenen tötenden Buchstabendes Gesetzes gilt unser Dienst, als ein Dienst der Verdammnisund des Todes, sondern mit dem hellen Licht des Evangeliumsder Herrlichkeit Christi haben wir einen Dienst des Geistes undder Gerechtigkeit aus Gnaden empfangen, dass wir nun allezeitin Christus triumphieren und den Geruch seiner Erkenntnis anjedem Ort offenbaren können (2Kor 4,4; 3,8–9; 3,14).

Auch ist Satan, der Gott dieses Zeitalters, der einst unsere Sinneverblendete, nicht mehr unser Herr, sondern der Geist. Wo aberder Geist des Herrn ist, da ist Freiheit, nämlich sowohl Freiheitvom tötenden Buchstaben des Gesetzes vom Sinai, mit dem unsGott verurteilte, als auch Freiheit vom in uns wohnenden Gesetzder Sünde, mit dem Satan uns knechtete (2Kor 3,17; Röm 8,1–2).Also dürfen wir mit aufgedecktem Angesichte die Herrlichkeit

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Was ist denn nun die Herrlichkeit des Herrn?

des Herrn widerspiegeln, um sie im Dienste des Geistes und derFreiheit wieder- und weiterzugeben.

Aber das Wort vom aufgedeckten Angesicht hat doch auchnoch eine weitere Bedeutung für das rechte Anschauen undWiderspiegeln der Herrlichkeit des Herrn. Und das ist die: So wieuns Gott in rückhaltloser Gnade im Angesichte Christi anschaut, solasst uns auch ihn in rückhaltloser Aufrichtigkeit anschauen, nämlichnichts mehr vor ihm zu verbergen, bedecken und verhüllen suchen!

Wir wissen, Christus bringt nicht nur Gnade, sondern auchWahrheit, und man kann nicht eins ohne das andere haben. Eben,weil er die Wahrheit ist, ist er auch das Licht, das die Lügeals Finsternis straft. Nur wer aus der Wahrheit, das heißt nichtlichtscheu ist, kommt zu ihm in sein Licht und kann sein Lichtwiderspiegeln, um in Licht verwandelt zu werden. Er erwartetvon uns, dass wir uns nicht irgendwie seinem Lichte entziehen.Nicht um seinetwillen zumeist, denn vor ihm ist ja doch nichtsunsichtbar, sondern alles bloß und entdeckt (Hebr 4,13), under hat es verkündigt: »Es ist nichts verborgen, dass nicht offen-bar werde, und ist nichts Heimliches, das nicht hervorkomme«(Mk 4,22), sondern vor allem um unsertwillen, denn wer sichdem Licht nicht gibt, dem kann sich das Licht nicht geben.

Ich kam einst in ein, wie man mir gesagt hatte, gläubiges Haus.Man hieß mich im besten Zimmer Platz nehmen und warten. Dafiel mir ganz beiläufig auf, dass die Vase mit den künstlichenBlumen nicht in der Mitte des Tisches stand, an dem ich saß.Unwillkürlich zog ich sie mitsamt dem Deckchen unter ihr nachder Mitte zu. Aber oh weh! Auf der nun entblößten Stelle desTischläufers erblickte ich einen großen Tintenfleck. Anstatt denbefleckten Tischläufer zu entfernen, um ihn reinigen zu lassen,hatte man also ein gehäkeltes Deckchen auf den Fleck gelegt,eine Vase auf das Deckchen gestellt und in diese Vase künstlicheBlumen gesteckt. Sofort befürchtete ich, diese Handlungsweisekönnte dem Charakter des ganzen Hauses entsprechen. Und sowar es. Jedes Glied dieses Hauses lebte hinter sorgsam verber-genden Schutzdeckchen und sprach in künstlichen blumigenRedensarten: Das ganze Haus hatte kein aufgedecktes Angesicht!

Niemals können wir in das Bild der Klarheit des Herrn verklärtwerden, wenn wir nicht zuvor im Lichte seiner Klarheit geklärtwerden. Denn gerade nachdem wir in sein Licht hineingetretensind, zeigt uns dies Licht immer deutlicher und klarer, was an

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uns noch Finsternis ist. Nun erst beginnt die überführende, klä-rende und reinigende Wirkung des Wortes und Geistes Gottes.Es ist immer bezeichnend, wie Neubekehrte erst im Lichte Chris-ti frohlocken, dann allmählich erschrecken und schließlich reinverzweifeln. Nach ihrem Bankrott in der Buße sehen sie zunächstnichts als das rettende Licht der Gnade im Bilde des Heilandes.Bald aber fängt dasselbe Licht an, ihnen Unstimmigkeiten zwi-schen seinem Bilde und ihrem Bilde zu zeigen, die sie immermehr beunruhigen, und weiterhin entdecken sie Finsternis insich, die sie nie für möglich gehalten haben, und die sie zu qual-vollsten Zweifeln an ihrer Bekehrung veranlasst. Und doch istdieser Vorgang der deutlichste Beweis für das Vorhandensein desneuen Lebens, als Leben im Lichte Christi; denn im alten Lebender Finsternis hätten sie sich nie so erkannt.

Nun handelt es sich darum, den belichtenden und richtendenWirkungen des Lichtes Christi weiter standzuhalten, nämlichseinen Strahl nicht verzagt und schwermütig zu fliehen, nochihn leichtfertig zu übersehen oder, wieder selbstsicher und hoch-mütig geworden, ihm zu widerstehen Nein, sondern jetzt hatdie fortlaufende Reinigung einzusetzen, die darin besteht, jede imLichte als Unstimmigkeit, Verfehlung, Vergehung, Übertretung,Befleckung belichtete, erkannte und gerichtete Sünde sofort unterdas Blut Christi zu bringen, um da Vergebung und Reinigung zuempfangen.

Die große General-Reinigung unserer Sünden ist auf Golgathagemacht. Sie geschah ohne unser Zutun durch Gottes Gnade inChristus Jesus, und ihr können wir nichts hinzufügen. Alle, die inichverneinender Buße und bejahendem Glauben der erlösendenLiebestat Gottes am Kreuz recht geben, wissen: Wir sind abgewa-schen, wir sind geheiligt, wir sind gerecht geworden, wir habendie Erlösung durch sein Blut, nämlich die Vergebung unsererSünden nach dem Reichtum seiner Gnade (Röm 8,32; 1Kor 6,1;Eph 1,7); Christus hat gemacht die Reinigung unserer Sündendurch sich selbst (Hebr 1,3). Aber die Reinigung der nach unsererBekehrung geschehenen Sünden müssen wir fortlaufend selbstbesorgen.

Warum wohl diese fortlaufende Selbstreinigung? Weil sie ers-tens dem Achthaben auf den Herrn in der Anschauung seinerKlarheit und dem Achthaben auf uns selbst entspricht. Wir ha-ben immer nur so viel Selbsterkenntnis als wir Christuserkenntnis

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haben. Nur in der unausgesetzten Vergleichung unseres Bildesmit seinem Bilde lernen wir, wer wir sind und wo es uns fehlt.In dieser Vergleichung gipfelt also der erzieherische Hauptzweckaller Christusanschauung, durch die wir in dasselbe Bild ver-klärt werden. Wer immer nur im Anschauen der Herrlichkeit desHerrn selig schwelgen, aber nicht von ihr gerichtet sein will, umsich dann selbst zu reinigen, der wird nie in Christi Bild verklärtwerden können.

Zweitens entspricht diese fortlaufende Selbstreinigung unsererhohen Stellung als Kinder Gottes. Wir sind nicht mehr in derFinsternis Umherirrende, die nicht zu vernehmen vermögen, wasdes Geistes ist (1Kor 2,14). Wir sind wissende Kinder des Geistesund des Lichtes, die vom Geist geleitet werden (Röm 8,14). Wirkönnen und müssen wissen, was Sünde ist. Da soll sich der Geistder Kindschaft darin in uns erweisen, dass wir als wissendeKinder unsere Sünden erkennen und als gehorsame Kinder siedem Vater bekennen, um durch den Fürsprecher Vergebung undReinigung zu empfangen (1Joh 1,9 u. 2,1). Und gerade an derWachsamkeit und heiligen Besorgnis, mit der wir in Furcht undZittern uns vor dem Betrug der Sünde hüten, und gerade an derglaubensmutigen Freimütigkeit, in der wir mit den geschehenenSünden zum Gnadenthron hintreten, zeigt es sich, wie weit wirunsere hohe Berufung und Erwählung erkannt haben und sieimmer wieder neu festmachen.

Drittens hat die fortlaufende Selbstreinigung zu geschehen umder Verwirklichung der Verheißungen Gottes und um unsererHoffnung auf den wiederkommenden Herrn willen. Denn wennschon alle Gottesverheißungen Ja und Amen in Christus Jesussind, so sollen sie es doch auch Gott zur Herrlichkeit durch unswerden (2Kor 1,20). Gott will uns nicht nur in Christus, son-dern auch Christus in uns, als Hoffnung der Herrlichkeit sehen(Kol 1,27). Deshalb ermahnt Paulus so brünstig: »Da wir nun sol-che Verheißungen haben, Geliebte, so lasst uns uns selber reinigenvon aller Befleckung des Fleisches und Geistes, das Geheiligt-sein vollendend in der Furcht Gottes« (2Kor 7,1). Und Johannesmahnt: »Und jeder, der diese Hoffnung zu ihm hat, reinigt sichselbst, gleichwie jener (Christus) rein ist« (1Joh 3,3). Beide Schrift-stellen reden klar von der fortlaufenden Selbstreinigung auf demGrunde des Geweihtseins und der nun wachsenden ErkenntnisChristi als Frucht seiner beständigen Anschauung.

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Wir sehen also, wie diese fortlaufende Selbstreinigung gerade-zu die Probe auf den Wert unserer Christusanschauung bedeutet.Wer sie versäumt oder gar meidet, wird sich als träge und frucht-los in der Erkenntnis Christi erweisen (2Petr 1,8–9) und wederdie Früchte des Geistes (Gal 5,22) bringen noch die Züge Christiannehmen. Sein Glaubensleben wird kalt und dunkel werden.Die ungereinigten Befleckungen werden die Augen seines Her-zens trüben, so dass er nicht mehr klar sehen kann. Weder Lichtnoch Wärme werden in ihn hinein noch aus ihm heraus strahlen,und die Gefahr besteht, dass das letzte Licht in ihm Finsterniswerde (Mt 6,23). Immer mehr spiegelt er das Bild eines Gläubigenwider, mit dem es nicht stimmt. Und je mehr er sich bemüht,seinen Schaden zu bedecken und zu verbergen, desto unwahrerund zweifelhafter wird seine Erscheinung werden.

Gewöhnlich sucht man sich auf folgende viererlei Art undWeise der fortlaufenden Selbstverneinung zu entziehen.

Erstens, man will die geschehene Sünde gar nicht als Sündegelten lassen, wobei man sich nicht scheut, das Wort Gottes zuverdrehen.

Zweitens, man entschuldigt seine Sünde mit der Sünde anderer:Der und die tun das auch, und wenn die es tun, darf ich es auchtun!

Drittens, man will Vergebung ohne Buße. Anstatt die Sündeim Lichte der Klarheit des Herrn erst belichten und richten zulassen, will man sie gleich unters Blut bringen.

Viertens, man will die Sünde selber gutmachen, indem mansie mit dem Feigenblatt wohltätiger Werke zu bedecken sucht.

Alles dies duldet der Heilige Geist nicht. Mit welcher unver-gleichlich zarten Treue warnt er vor jeder Sünde, sei es durchinnere oder äußere Ermahnungen oder durch Umstände undEreignisse. Beachtet man in wachsamer, ichverneinender undJesus bejahender Glaubensbetätigung diese treue Warnung, soerfährt man dann auch, wie der Heilige Geist im Kampf desGlaubens in den Versuchungen hilft, so dass wir »durch denGeist« (Röm 8,13) des Fleisches Geschäfte zu töten und im Geistzu leben vermögen. Missachten wir aber die Warnung, indemwir über sie hinweg zur Sünde schreiten, so straft uns der HeiligeGeist durch unvergleichlich schmerzliche Betrübnis (Eph 4,30),um uns ins Licht und Gericht der Klarheit des Herrn zu führen,damit wir da sofort die Reinigung im Blute Christi suchen und

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Was ist denn nun die Herrlichkeit des Herrn?

empfangen. Wagen wir es aber sogar, auch die Strafe durch denHeiligen Geist und seine Betrübnis zu missachten, so schaltenwir damit mehr und mehr seine Zucht und Leitung aus unseremLeben aus und berauben uns dadurch des Lichtes vom Angesich-te Christi, und immer weniger Herrlichkeit des Herrn wird sichauf unserem mit der Decke des Unglaubens und Ungehorsamsbedeckten Angesicht spiegeln.

Darum hüte dich vor solcher Verdunkelung und Verarmungdeines Glaubenslebens! Denn, siehe, wie leicht ist doch die fort-laufende Selbstreinigung zu besorgen! Du brauchst nur den sün-digen Gedanken der Selbstsucht, der Lieblosigkeit, der Unrein-heit, den du soeben entgegen der Warnung des Heiligen Geistesgedacht hast, sofort als Befleckung des Geistes im Lichte desAngesichtes Christi belichten und richten zu lassen, und die Rei-nigung im Blute zu erbitten, und es ist geschehen. Du brauchstnur das Wort und den Satz, die eben der Warnung des Geistesentgegen aus deinem Munde gingen, ebenso dem Lichtgerichteund Blute Christi preiszugeben, und es ist geschehen.

Ebenso hast du jede Tat und jedes Werk, die nicht dem Worteund Geist Christi in der Zucht des Heiligen Geistes entspre-chen, sobald du ihren Unwert erkannt hast, sofort als Befleckungdes Fleisches ins Gericht der Klarheit des Herrn und unter diereinigende Kraft seines Blutes zu bringen, und es ist gesche-hen. Dabei musst du wissen: Befleckungen im Geist sind alledie Sünden, die der Gedanken- und Gesinnungswelt angehören(Phil 2,5; 2Kor 10,5); Befleckungen im Fleische hingegen betref-fen die Sünden, die durch Vermittlung unserer äußeren Gliedergeschehen (Röm 6,13 und 19; Kol 3,5). Es mag dir diese fort-laufende Selbstreinigung zuerst vielleicht mühevoll erscheinen,aber sobald du innerlich gewillt bist, auf sie einzugehen, wird sieimmer mehr eine Kurwirkung der göttlichen Natur werden, derdu durch die Innewohnung Christi im Heiligen Geist teilhaftiggeworden bist (2Petr 1,4), die sich in der Kraft Christi nach demLebensgesetz Christi (Röm 8,2) in dir vollzieht. Dabei wird esdein stetes Bitten werden:

Entdecke alles und verzehre,was nicht in deinem Lichte rein.Wenn mir’s gleich noch so schmerzlich wäre!Die Wonne folget nach der Pein.

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Unsere Umwandlung in das Bild Christi

Du wirst mich aus dem finstern Altenin Jesu Klarheit umgestalten!

Freilich gehört dazu noch mehr als ein gelegentliches Kommenins Licht der Klarheit des Herrn, aus der man nach geschehenerReinigung der Sünde wieder in die Finsternis zurückläuft, nein,es gehört dazu der Wandel im Licht. Der Anfang aber vom Wan-del im Licht ist das Bleiben im Licht, und das Bleiben im Lichtist gleichbedeutend mit dem Bleiben im Geist und im Glaubenund in der Liebe in Christus: Es ist die unausgesetzte, wacheIchverneinung und Jesusbejahung. Manche Gläubige haben dieGewohnheit, alle ein oder zwei Jahre einmal ins Licht der Klarheitdes Herrn zu kommen. Dann wollen sie gewöhnlich vor demfremden Evangelisten, der nun in ihrem Wohnort arbeitet, ihrenaufgetürmten Sündenhaufen »auspacken« und »abladen«. Sol-ches Sündenbekenntnis vor Menschen, so nötig es zuweilen seinmag, nützt erfahrungsgemäß sehr wenig, wenn die betreffendeSeele nicht zum Bleiben und zum Wandel im Lichte gelangt.

Was soll das heißen: Vor Menschen haufenweise auspackenwollen und vor dem Herrn im Einzelnen und Ganzen jahrelangalles verbergen? Das ist eine eigenwillige, böse Art. In der Finster-nis wandeln und dann mit einem gelegentlichen Sprung ins Lichthinein und wieder heraus sich zum Lichtskind machen wollen,welch ein Selbstbetrug! »Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaftmit ihm haben, und wandeln in der Finsternis, so lügen wir undtun nicht die Wahrheit. Wenn wir aber im Lichte wandeln, wie erim Lichte ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander, und dasBlut Jesu Christi, seines Sohnes, macht uns rein von jeder Sünde«(1Joh 1,6–7).

Was ist denn die Gemeinschaft mit Christus anderes als dasBleiben in seinem Licht und Leben! Gelegentliche Besuche inseinem Licht reichen nicht aus zur Gemeinschaft mit ihm. Aberauch ein bloßes Stehenbleiben in seinem Lichte genügt nichtzur Gemeinschaft mit ihm; denn er will mit uns weiter gehen.Die stehen bleiben sind eben die, die nicht weiter und vorwärtskommen im Lichte. Sie lernen nicht wandeln im Lichte. Deshalbmachen sie auch keine Fortschritte in der fortlaufenden Selbstrei-nigung; denn diese ist nur möglich im fortlaufenden Wandel imLichte. Sie machen immer wieder dieselben Befleckungen undkommen nicht von den sie umstrickenden Sünden los (Hebr 12,1).

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Was ist denn nun die Herrlichkeit des Herrn?

Sie sonnen sich nämlich lieber im Lichtstrahl, als dass sie derLichtquelle weiter entgegen wandeln; sie bleiben gerne bei ihrerBekehrung und Rechtfertigung liegen. Oder sie sind so mit ihrenBefleckungen beschäftigt, dass sie darüber Licht und Reinigungversäumen.

Der Wandel im Lichte aber bedeutet: Vom Lichte geleitet, imLichte vorwärts schreiten und immer hellerem Lichte entgegen-gehen. Es ist die Nachfolge Jesu ein fortschreitendes Bleiben inseiner Gemeinschaft, wohin immer er uns führe. Es ist der Wan-del ihm nach und ihm entgegen. Und genau in der Weise, wiewir im Lichte seiner Klarheit ihm nach und ihm entgegen wan-deln, werden wir in sein Bild verwandelt. Der Wandel im Lichtführt zur Verwandlung in Licht. Und zwar so, wie der Mittelsatzunseres Textwortes es sagt, nämlich: »Wir werden verklärt (umge-wandelt, umgeformt, umgestaltet) von einer Klarheit zur andern«oder von Klarheit zu Klarheit – von Herrlichkeit zu Herrlichkeit.

Welch eine Fülle von Arbeit des Heiligen Geistes liegt in diesenWorten! Welch ein Reichtum von Beziehungen und Möglichkei-ten! Unmöglich, sie alle in einer Bibelstunde zu behandeln! Nurdas Hervortretendste sei genannt.

Unsere Umwandlung in Christi Bild geht stufenweise vor sich. Wirwerden da geführt von Licht zu Licht, nämlich von Helligkeit zuHelligkeit. Lichtstufe um Lichtstufe muss erreicht und durchwan-delt werden. Leuchtet dir jetzt die erste Klarheit des Herrn unddurchschreitest du in ihr den ersten Lichtkreis, so wirst du all-mählich inne werden, dass du an seinem Ende anlangst, wo dasempfangene Licht wie aufgebraucht erscheint. Dann erschrickstdu; denn zwischen zwei Lichtsklarheiten pflegt gewöhnlich ei-ne Unklarheit, eine Art beängstigender Dämmerung zu liegen,durch die du nun hindurch musst. Ja, die Dämmerung kann zurNacht werden; es geht wie durch einen Tunnel. Aber fürchtedich nicht, glaube nur! Es geht nur einem helleren Lichtkreis mithöherer Fernsicht entgegen.

Aber du wirst die nächste Lichtstufe nur erreichen, wenn dasLicht der vorherigen seine umwandelnde Arbeit an dir hat tunkönnen. Soviel Licht du da empfingst, in so viel Licht solltest duwandeln und verwandelt werden. Ist das unter steter Selbstrei-nigung geschehen, so hat der Heilige Geist seine erste verwan-delnde Arbeit an dir tun können, und die zweite im zweitenLichtkreis beginnt. So geht es im Lichtswandel weiter von Licht

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Unsere Umwandlung in das Bild Christi

zu Licht, aber damit auch von Dunkel zu Dunkel, so dass es oftganz finster um dich und in dir sein wird, ehe dir das neue Lichtgnadenvoll aufgeht. Aber das ist nur die Glaubensprobe, in derdu lernen sollst, nicht zu zweifeln an dem, was du nicht siehst(Hebr 11,1). Nachher leuchtet dir die Klarheit des Herrn umsoheller, bis du im Lichte wandelst, wie er im Lichte ist. Dabei wer-den wir geführt von Erkenntnis zu Erkenntnis, d. h.: von Lichtstufezu Lichtstufe wird uns das Bild, Wesen und Werk Christi undGottes immer mehr verdeutlicht werden, damit wir das immerklarer im zunehmenden Lichte erkannte Bild auch immer klarerwiderspiegeln und erkennbarer wieder- und weitergeben könnenin immer treuerem Dienst. Denn diese wachsende Erkenntnis istja nichts Geringeres als das sich steigernde Teilhaben am ewigenLeben und Wesen Christi und Gottes! »Das ist aber das ewigeLeben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den dugesandt hast, Jesus Christus, erkennen« (Joh 17,3).

Nur wie wir von Klarheit zu Klarheit im Lichte wandeln, wer-den wir auch von Klarheit zu Klarheit in der Erkenntnis wach-sen. Denn was ist Erkenntnis anderes als Schauen des Lichtesim Lichte! Und was ist Wachstum anderes als ein aufbauenderUmgestaltungsvorgang durch tätige Lichts-Lebenskräfte! Darumkann niemand im Lichte der Erkenntnis Christi wandeln unddabei bleiben wie er ist. Ihn im Lichte erkennen, heißt seine Le-benskräfte in uns aufnehmen, durch die wir erneuert werdenzu der Erkenntnis nach dem Ebenbilde des, der uns geschaffenhat (Kol 3,10). Alles, was den Gläubigen an Christusähnlichkeitfehlt, fehlt ihnen an Erkenntnis Christi. Und alles, was ihnenan Erkenntnis Christi fehlt, fehlt ihnen an Selbstreinigung imWandel im Licht in der Anschauung Christi.

Aber auch in der Erkenntnis geht’s nur stückweise vorwärts,wobei zwischen zwei Erkenntniskreisen eine Zone der verblassen-den und verschwindenden Deutlichkeit zu liegen pflegt, die dienächste Erkenntnis, wenn wir die vorhergehende recht gebrauchthaben, einleitet. Dabei wird uns zuteil Gnade um Gnade. Manchekommen deshalb nicht weiter in Christi Bild hinein, weil sie diebisher empfangenen Gnadensegnungen nicht wieder loslassenwollen. Auf jeder weiteren Lichts- und Erkenntnisstufe erwartenuns neue Gnaden- und Segenskräfte, die wir der Wiedergabeund Weitergabe des Bildes Christi dienstbar machen sollen. Sinddie jeweiligen Gnadensegnungen getreu dem zu ihnen gehöri-

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Was ist denn nun die Herrlichkeit des Herrn?

gen Licht der Erkenntnis dazu verwertet worden, so verebbenihre Kräfte, weil neue kommen sollen (Jes 40,31). Anstatt nunauf die neuen Kräfte zu harren, indem man die alten preisgibt,will man die bisherigen Segnungen und Seligkeiten selbstsüchtigfesthalten.

Eine Schwester jammerte mir einst vor, ehe sie nicht die Seg-nungen wieder bekomme, die sie gehabt habe, werde sie nichtmehr froh. Ich fragte sie einfach: »Wenn Sie aber nun Größe-res bekommen sollen, als Sie hatten?« Da lernte sie vergessen,was dahinten ist, und sich nach dem strecken, was da vorne ist(Phil 3,13). Der Herr hat immer noch Größeres als das, was eruns schon gegeben hat (Joh 1,43–51). Er hat die Fülle, aus der wiralle empfangen sollen: Gnade um Gnade (Joh 1,16), aber alles nurfür den Dienst der Wieder- und Weitergabe des Bildes Christi.Dabei werden wir gebracht von Erneuerung zu Erneuerung. Dennwunderbar! Wie wir von Klarheit zu Klarheit wachsen in derErkenntnis Gottes und Christi und uns Gnade und Friede dabeivermehrt werden (2Petr 1,2), so wächst nun ein ganz Neues inuns. Das wunderbare Neue aber, das langsam doch sicher in unsGestalt gewinnt, ist eben der Christus in uns (Gal 4,19; Kol 1,27).

Wie das Sämlein auf dem Felde schon die zukünftige Pflanzekeimartig in sich birgt und nach dem ihr innewohnenden Le-bensgesetz zur Gestaltung bringt, so lebt im unverderblichenSamenkorn der Wiedergeburt, das wir als lebendiges Wort Got-tes bei unserer Bekehrung aufnahmen, bereits das Leben Christi(1Petr 1,23). Durch das Wort der Wahrheit gezeugt, entfaltet sichnun eine Neuschöpfung in uns (Jak 1,18; 2Kor 5,17); es ist der»neue« Mensch, der »innere« Mensch, der nach Gott geschaffenist in Gerechtigkeit und Heiligkeit der Wahrheit (Eph 4,24). Durchdas Licht und den Geist des Wortes in der steten AnschauungChristi genährt und gestärkt (1Petr 2,1; Eph 3,16–17), nimmt dieLichtschöpfung in uns mehr und mehr zu: Christus wohnt in unsdurch den Glauben. Wunderbar: Wir tragen das Geheimnis desGlaubens, wir tragen das Leben Christi in uns!

Dieses neue Leben in uns wird mehr und mehr erneuert durchjeden neuen Schritt, den wir tun im Lichtwandel und in derSelbstreinigung. Denn derselbe Geist, der dem Fleische und al-lem, was nicht Christus ist, nach dem Leben trachtet (Röm 8,13;Gal 5,17), führt dem neuen Menschen aus seiner lichten Him-melsheimat immer mehr Licht- und Lebenskräfte zu, um ihn

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Unsere Umwandlung in das Bild Christi

weiter nach dem Ebenbilde dessen zu erneuern, der ihn geschaf-fen hat (Kol 3,10). So bekommt der neue Mensch nach und nachimmer mehr die Lebensübermacht in uns, und wir frohlockenmit Paulus: »Ich lebe, aber nicht mehr ich lebe, sondern Christuslebt in mir!« (Gal 2,20)

Und diese Innewohnung Christi durch den Geist wird auchunserem sterblichen Leibe erneuernde Kräfte bringen. Nicht dassder Leib dadurch vor dem unvermeidlichen Abbruch errettetwürde, nein, sondern damit er der Tempel des Geistes und dasWerkzeug des Geistes sei (1Kor 6,19; 9,27; Röm 6,12–13) und einlebendiges Opfer für Gott werde (Röm 12,1). Getötet in seinenfleischlich-sündigen Geschäften durch den Geist, lebt er nundurch denselben Geist für Gott, auf dass Gott und Christus anihm gepriesen werden (1Kor 6,20; Phil 1,20) und, wenn er verfällt,wir nicht ermatten, sondern wissen, der innere Mensch wirddoch von Tag zu Tag weiter erneuert (2Kor 4,16). So muss unsereUmwandlung in Christi Bild also auch bis in die Gebärden un-seres Leibeslebens hinein Ausdruck und Gestalt gewinnen, undmit Recht hat ein alter Christ gesagt: »Wie weit Christus in einemMenschen wohnt, das will ich daran sehen, wie er die Türklinkein die Hand nimmt!« Bei unserer Umwandlung in Christi Bildmuss uns der Heilige Geist aber auch führen von Leiden zu Lei-den. Es handelt sich ja um die Durchstreichung und Entwertungdes Bildes unserer eigenen Natur und um den Abbruch unseresfleischlichen, unwilligen Wesens. Das kostet die mannigfaltigstenSchmerzen. Da wird der Gegensatz zwischen unserem Willenund Gottes Willen zur Quelle vieler Leiden; denn Leiden heißtden Willen Gottes erleiden. Diese Leiden sind nur zu erduldenim Hinblick auf ihren zeitlichen Läuterungs- und ewigen Herr-lichkeitswert. Paulus wusste, nichts hilft so ins Bild Christi hinein,wie die Leiden. Wie hatte er sich zeigen lassen, was er leidensollte um Christi Namens willen (Apg 9,16)! Und noch immermehr wollte er erkennen von der Gemeinschaft seiner Leidenund sogar dem Tode Christi gleichgestaltet werden (Phil 3,10).Und wie hat er dabei die Klarheit des Herrn widergespiegelt!

Auch wir wissen, das Bild des Herrn wird in diesem Lebenam deutlichsten von uns widergespiegelt, wenn wir im Schmelz-tiegel liegen, über den der Meister sich beugt. Es geht aber vonLeiden zu Leiden. Das heißt, die Versuchungen, Trübsale und Lei-den steigern sich. Da liegt unsere Seele oftmals wie unter einem

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Was ist denn nun die Herrlichkeit des Herrn?

Trümmerhaufen und möchte jämmerlich verzagen. Kein Lichtscheint mehr, alle Erkenntnis ist wie weggenommen, alle Gnadewie abgeschnitten, alle erlebte Erneuerung scheint Täuschung.Aber sobald dir der Geist das heilige: »Dennoch!« entgegen allerdich umgebenden Dunkelheit hat abringen können, umleuchtendich wieder die ersten Strahlen der Klarheit des Herrn und leitendich durch die Nacht, wie lange sie auch noch dauern möge. Undendlich kommt der erquickende Freudentag, der zwischen zweiLeidensnächten zu liegen pflegt. Du wandelst wieder in vollemLicht; aber dein Angesicht hat sich verändert: Du bist stiller, dubist einsamer, du bist innerlicher, du bist christusähnlicher, denndu bist leidenswilliger geworden. Im Dunkeln hat dir der Meisterneue Lichtszüge aufgeprägt. Nun leitet dich der Geist weitervon Reinigung zu Reinigung. Das war der Segen des Leides, dassdu im tiefsten Dunkel einige Lichtstrahlen finden solltest, diein jener Dunkelkammer dein eigenes unzulängliches Bild malenmussten. Umso sorgsamer achtest du nun auf die Vollendungdeines Geheiligtseins, das heißt Gottgeweihtseins, durch weitereSelbstreinigung im Lichtwandel. Dabei wirst du folgende sonder-bare Erfahrung machen: Du wirst nämlich deinen eigenen Augenimmer unreiner, den Augen deiner Beobachter aber immer reinervorkommen.

Und das geht so zu: Hast du gemäß dem empfangenen Lichtdeine Befleckungen erkannt und treulich im Blute Christi gerei-nigt und bist dabei den Warnungen des Heiligen Geistes immerfolgsamer geworden, so werden es der groben verdunkelndenFlecken in deinem Bilde immer weniger geworden sein, so dassdie anderen die Früchte des Lichtes in deinem Lichtwandel wahr-nehmen und den Vater im Himmel darüber preisen (Mt 5,16).Du aber, je näher du der Lichtquelle entgegen schreitest und inimmer schärfere Beleuchtung gerätst, wirst immer mehr kleinereund noch kleinere Fleckchen und Pünktchen an dir entdecken,die doch noch feine und feinste Äußerungen deines fleischli-chen Ichwesens bedeuten, so dass du dabei gezwungen bist,immer geringer von dir zu denken und in immer gründliche-rem Misstrauen gegen dich selbst wie Paulus sagen musst: »Ichweiß, das in mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes«(Röm 7,18).

Und das ist gut; denn es bewahrt dich davor, entgegen denWorten des Paulus zu denken und zu sagen, du seiest bereits der

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Unsere Umwandlung in das Bild Christi

Vornehmste unter den Heiligen und der Geringste unter den Sün-dern geworden (Eph 3,8; 1Tim 1,15). Gerade so wird es mit dirumso sicherer von Reinigung zu Reinigung gehen, bis du in derHerrlichkeit rein bist, gleichwie er rein ist (1Joh 3,3). Aber diesenAbschluss deiner Reinigung kannst nicht du feststellen, sondernnur Christus, der gerechte Richter, vor dessen Thron du offenbarwerden wirst (2Kor 5,10). Denn »es ist noch nicht erschienen, waswir sein werden. Wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, d aßwir ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie erist« (1Joh 3,2). Das wird Herrlichkeit sein. So werden wir also tat-sächlich umgewandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit in dasselbeBild. Ja, die Herrlichkeit des Herrn wird am Tage seiner Offenba-rung (1Petr 1,13) kund werden in seinen Heiligen. Was sich hierunten als Herrlichkeit des Herrn auf unserem aufgedeckten An-gesichte widerspiegelt, ist wesentlich Leidensherrlichkeit. Abereben diese Leidensherrlichkeit wird vor dem wiederkommen-den und richtenden Christus in Lebensherrlichkeit verwandeltwerden (Röm 8,17; 2Kor 4,17). Da erst wird offenbar werden,was der Heilige Geist in den Tagen unseres Fleisches hinter derHülle unseres Leibes hat formen und bilden können. Und dannwird auch die Hülle selbst in Herrlichkeit umgewandelt werden,damit wir auch dem Leibe nach ihm, dem Auferstandenen undVerklärten, bei seiner herrlichen Ankunft gleich seien (Phil 3,21).Denn wir werden ihm gleich sein. Beide Apostel sagen es. Dasheißt, wir werden als strahlende Teilhaber seines Lichtwesensund Lichtlebens offenbar werden.

Alle, die seine Erscheinung lieb hatten und von seinem Lichteauf Erden lebten, werden dazu gehören (2Tim 4,8). Und dochwird die Herrlichkeit, in der wir offenbar werden, eine verschie-denartige sein. Ich glaube, es wird jedes in dem Lichte offenbarwerden, in dem es hier unten gewandelt ist. Da werden die einendie Lichtherrlichkeit der Sonne, die andern die des Mondes, dieanderen die der Sterne haben (1Kor 15,41–42; Mt 13,43). Au-ßerdem wird jedes in einer ganz persönlichen Weise des HerrnBild widerstrahlen. Das wird ein unvergleichliches Widerspie-geln sein! Nicht mehr wie hier unten im Spiegel eines Rätsels(1Kor 13,12), sondern nun im enthüllten Schauen von Angesichtzu Angesicht. Denn mit frohlockender und verherrlichter Freude(1Petr 1,8) werden wir nun den, um den sich unser ganzes Lebendrehte, sehen, wie er ist.

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Was ist denn nun die Herrlichkeit des Herrn?

In anbetendem Staunen werden wir alle vor ihm wissen, dassnicht wir uns in sein Bild umgewandelt haben, sondern dasser es gewirkt hat, er, der Herr, durch den Heiligen Geist. Waswir dabei tun konnten, war nur: unter dem sanften Ziehen desHeiligen Geistes immer wieder das Glaubensauge auf ihn zurichten und die umformenden Kräfte seines Lichtes und Lebensdurch sein Wort und durch den Geist an uns wirken zu lassen.Wir durften durch seine Gnadenmacht Glauben halten, nämlichimmer wieder uns absagen und ihm zusagen; das war alles.

Und in diesem Glauben (Phil 1,6; Kol 1,22.23) wollen wir ste-hen bleiben, wenn wir nun im Lichte weiter wandeln. Wir dürfenglauben, welche Seligkeit! Sehe ich mich elenden, erbärmlichenMenschen an, mit meinen unzähligen Unzulänglichkeiten, diemir alle Tage schmerzlicher offenbar werden, so finde ich auchnicht das Geringste an mir, was mir Mut machen könnte, zuglauben, ich könnte einmal dem verklärten Sohne Gottes gleichwerden. Aber da schlage ich die Bibel auf und lese, was derGeist des Herrn einst Paulus verkünden hieß, dass er es jenenKorinthern schriebe: »Nun aber spiegelt sich in uns allen desHerrn Klarheit mit aufgedecktem Angesicht, und wir werdenverklärt von einer Klarheit zu der andern, als vom Herrn, der derGeist ist«, und lese aus zweitem Zeugenmund das übergewaltige,triumphierende Johanneswort dazu: »Wir wissen aber, dass wirihm gleich sein werden!« Dann vermag ich überall mein armseli-ges Denken, Fühlen und Tun hinaus dem gelesenen Gottesworterecht zu geben und zu sagen: Ich glaube es, und im Glaubenweiß ich es: Auch ich werde ihm einst gleich sein! So bete undbitte ich:

Komm, all dein Wesen in mich lege,komm, für die Ewigkeiten prägemir deines Lebens Bildnis ein!

Und so mache auch du es, teures Gotteskind, und zweifle nichtlänger mehr daran, dass auch du dazu bestimmt bist, dem Eben-bilde seines Sohnes (Röm 8,29) gleichgestaltet zu werden!

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Betet allezeit!

. . . allezeit beten und nicht lässig werden . . .

Lukas 18,1

Beten ist die Hauptarbeit der Gläubigen. Das Gebet soll die Ein-leitung zu jeder anderen Arbeit sein und es muss die Gewähr füreinen rechten Fortgang und für die gottwohlgefällige Vollendungjeder Arbeit sein. Ohne Gebetsarbeit fruchtet kein Bibellesen,gedeiht kein Bibellesen, erfüllt sich kein Berufsleben. Kulturar-beit tun ist der stolze Lebensausdruck der Kinder dieser Welt.Gebetsarbeit hingegen ist der besondere Lebensausdruck der Kin-der Gottes. Ich sage ausdrücklich: »Lebensausdruck der KinderGottes«, denn viele meinen, das Beten sei nur ein Vorrecht derKinder Gottes. Gewiss ist es das auch. Aber wäre es nur das,dann wäre es zu wenig.

Von einem Vorrecht kann man Gebrauch machen, wie es einembeliebt. Beten oder nicht beten ist aber nicht in unser Beliebengestellt, sondern allezeit zu beten ist der treuste, notwendigsteund unverlierbarste Ausdruck unseres neuen Lebens aus Gottund ist darum, wie gesagt, unsere Hauptaufgabe vor und fürGott.

Viele Gläubigen kennen aber die Bedeutung der Gebetsarbeitnoch gar nicht, weil sie den Zweck des Gebets noch gar nichterkannt haben. Eine zum Grübeln geneigte Schwester meinte ein-mal: »Ich verstehe gar nicht, wieso ich beten soll. Wenn der Vaterim Himmel weiß, was wir bedürfen, ehe wir Ihn bitten, warumbrauchen wir Ihn nachher noch zu bitten? Und wenn letztlichdoch alles nach Gottes Willen geschieht, was brauchen wir danoch beten: Dein Wille geschehe!?« Ich fragte diese Schwesterzunächst, ob sie verheiratet sei, was sie verneinte. Danach forsch-te ich weiter: »Werden sie als dereinstige Mutter, die weiß, wasihre Kleinen bedürfen, nie wünschen, dass ihre Kinder sie umetwas bitten und für Empfangenes bedanken?« – »Doch, gewiss«,antwortete sie. Und ich fragte weiter: »Aber, werden sie ihrenKleinen Messer, Gabel Schere und Licht geben, wenn sie darum

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bitten?« – »Nein gewiss nicht!« – »Sehen Sie«, so schloss ich, »somacht es auch Gott, unser liebender Vater im Himmel. Er willunser Danken und Bitten zunächst als Ausdruck unserer kindli-chen Abhängigkeit von Ihm. Dann aber gebraucht Er unser Bittenund Beten auch zur Läuterung unseres Willenslebens, indem Erdurch Verweigerung unserer verkehrten Bitten uns zur Erkennt-nis Seines allein guten Vaterwillens erzieht, damit wir unserenWillen verneinen lernen und betende Bejaher und MitarbeiterSeines Willens auf Erden werden. So gebraucht Gott unser Gebetals Ausdruck unseres erkennenden und vertrauenden Glaubens-gehorsams, der Sein Königreich auf Erden aufrichten hilft. Unddazu dürfen Sie durch Ihr Bitten, Danken und Beten mithelfen!«

Ich hoffe, die Schwester ist durch diese praktische Unterwei-sung klug und willig zur Gebetsarbeit geworden. Es wird nie-mand Gebetsarbeit lernen wollen, der nicht gelernt hat, sich vonGott abhängig zu wissen, und nicht lernen will, Ihm glaubendzu vertrauen. Die erste aller Voraussetzungen des Gebets ist unsereBettelarmut im Geist. Wer sich selber für weise, gerecht undstark hält, hält sich auch für unabhängig von Gott; wie sollteer Bitte, Dank und Anbetung darbringen? Wer sich selber ver-traut, wie sollte der sein Vertrauen auf Gott setzen? Wer, großin sich selbst, nur das Königreich seines eigenen Willens aufzu-richten versucht, was soll dem am Kommen das Reiches Gottesund am Geschehen des Willens Gottes liegen? Darum preist Je-sus Christus, der Verkündiger und Bringer des Königreichs derHimmel, zuallererst die Bettler im Geist glückselig, denn ihrebettelarm ausgestreckten Hände werden zu bittenden und be-tenden Händen, die das Himmelreich der Hilfe und des WillensGottes erbitten und empfangen werden (Mt 5,3). Weil uns allenvor der wirklichen Bettelarmut graut, weil wir alle noch viel zuselbständig sind und uns viel zu wenig abhängig wissen und wirdarum unabhängig von Gott leben, beten wir so wenig, ja vielzu wenig. Und somit ist so wenig von Gottes Himmelreich inunserem Leben sichtbar.

Lasst uns Jesus, den Meister, auch in der Gebetsarbeit an-schauen! In welcher bettelarmen Abhängigkeit vom Vater hat Erdoch Sein Lebens und Tagewerk vollbracht! Wie hat Er allezeitSein Ohr an des Vaters Mund und Seinen Mund an des VatersOhr gehabt! Darum gab es auch in Seinem Leben nicht eineunfruchtbare Sekunde, sondern allezeit ein völliges Geschehen

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Betet allezeit!

des Willens Gottes. Und bei uns gibt es noch so vieles irrseli-ges Aufhalten und dürre Unfruchtbarkeit, als es noch Minutenund Zeiten der ichseligen Selbstsicherheit und böse wucherndenUnabhängigkeit Gott gegenüber gibt; es sind die gebetsarmenoder gar gebetslosen Zeiten in unseres Glaubens bzw. Kleinglau-benslebens. Wahrhaft von Gott abhängiges Beten hat aber alsweitere Voraussetzung: Die Erkenntnis Gottes nach dem Wort Gottes.Es gibt ein über die Erde verbreitetes, blindes Beten zum »unbe-kannten Gott« (Apg 17,23), ausgeübt von religiösen Leuten allerArt. Solches Beten kann sogar vollauf Erhörung finden (Ps 65,3;Jer 32,27), aber ein Beten in den Richtlinien des Wortes und desReiches Gottes ist das nicht. Ich treffe überall Leute, die, wiesie sagen, auch beten. Jedoch haben sie keine Erkenntnis Gottesoder Christi. Weil sie nur aus religiöser Gewohnheit oder Notdes Lebens beten, so ist ihr Beten ein Hersagen toter Formelnoder ein stumpfes seelisches Schreien und Lallen.

Soll das Gebet geistlich werden, so muss es aus dem Geistdes Wortes Gottes gespeist werden. So wie uns Gott Sein Wortgegeben hat, um mit uns zu verkehren, so müssen wir lernen,Sein Wort zu benutzen, um mit Ihm zu verkehren. Ohne Leitungund Zufluss aus dem Wort Gottes verirrt sich das Gebet undverarmt. Erst neige dein Herz und Ohr dem Worte, dann wirddas Wort dem Gebet deines Herzens und Mundes Richtung, Fülleund Aufstieg geben. So wird deine Abhängigkeit von Gott immermehr zur Abhängigkeit von Seinem Wort und dein Gottvertrauenimmer mehr ein Vertrauen auf Gottes Wort werden. Dabei wirstdu immer deutlicher erkennen, dass Bekehrung, Buße und Neu-geburt unerlässliche Voraussetzungen sind, um im Willen Gotteszu beten. Bekehrung ist Abkehr von allem im Licht des WortesGottes erkannten, gottfeindlichen Weltwesens (= gleicher Sinnwie Ungläubige); somit auch die Abkehr vom eigensinnigen Wegin Sünde und Ichsucht. Dementsprechend ist Bekehrung nunHinkehr zum himmlischen Wesen des Reiches Gottes, Hinkehrzum Weg des Friedens der Seligkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit(Lk 1,79; Apg 16,17; 2Petr 2,2.21) und somit Hinkehr zu Jesus,der selbst der lebendige und einzige Weg zu Gott ist (Joh 14,6;Hebr 10,20).

Ohne solche Bekehrung kann kein Menschenherz sich wahrhaftbetend Gott zuwenden. Nur die alles durchdringende Bekehrungführt zur rechten Buße und zum lebendigen Glauben, und das

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erste wahre Glaubensgebet ist immer ein Bußgebet! Buße istAbsage an uns, Glaube Zusage an Gott in Christus. Die Bußeentspricht unserer Bettelarmut vor Gott, der Glaube unserem Ver-trauen zur Gnade Gottes. Ohne diese bettelarme Ichverneinungund glaubensreiche Jesusbejahung gibt es kein schrift- und gott-gemäßes Gebetsleben. Denn ohne Bekehrung, Buße und Glaubengibt es auch keine Neugeburt durch Innewohnen des HeiligenGeistes, der alleine Gott gemäß beten lehrt. Bis dahin mag unserGebet gottesfürchtiges Gewohnheitsgebet oder frommes Herzens-gebet gewesen sein, doch erst nach dem Empfang des HeiligenGeistes wird es zur Anbetung im Geist und in der Wahrheit nachdem Willen Gottes kommen.

Derselbe Heilige Geist, der uns in alle Wahrheit leiten will,leitet uns auch ins rechte Beten hinein. Wie der erhöhte Chris-tus unser Vertreter gegenüber den Anklagen Satans am ThroneGottes ist, so ist der Heilige Geist unser Vertreter in unserenGebeten auf Erden. Er, der die Herzen erforscht und alleine weiß,was der Sinn der Geistes ist, nimmt sich unserer Schwachheitund Unfähigkeit, recht zu beten an, indem Er für uns eintritt inunaussprechlichem Seufzen und die Heiligen so vertritt, wie esGott angemessen ist (Röm 8,26.27). Nun empfangen wir unsereGebetsanliegen nicht mehr durch Gewohnheit oder Not von un-ten her, sondern durch die Leitung des Heiligen Geistes von obenher. Die Liebe Gottes, die durch den Heiligen Geist in unsereHerzen ausgegossen ist (Röm 5,5) wird nun zur Seele unseres Ge-bets. Durch sie erinnert uns der Heilige Geist an die VerheißungGottes, deren Gnadeninhalt wir betend und bittend empfangensollen. Durch sie eröffnet Er uns den Einblick in den HeilsplanGottes, dass wir diesem Plane gemäß beten und denselben be-tend mit verwirklichen helfen. Durch sie, die Liebe Gottes, drängtuns der Heilige Geist zu jeder Art von geistlicher Fürbitte. DesWeiteren will Er uns auch hinleiten zu einem betenden Fragennach unserer persönlichen Berufung und Erwählung, um diesefest zu machen und ihr gemäß wandeln zu lernen. So ist dieInnewohnung des Heiligen Geistes die unerlässliche Vorausset-zung für geistliches, gottgemäßes Beten. Und infolgedessen istsie auch die Voraussetzung für erhörliches Beten.

Gebetserhörung ist ein sehr wichtiges Kapitel. Da darf mangleich sagen: Je mehr wir Gott in Christus durch den HeiligenGeist gehören, desto ehrlicher wird unser Gebet sein. Je inniger

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Betet allezeit!

die Übereinstimmung unseres Willens mit dem Willen Gottes aufGrund des Wortes Gottes, desto gewisser ist die Erhörung unse-res Gebets. Je schriftgemäßer wir glauben und beten, desto treuer wirduns geschehen nach unserem Glauben. Unser Gebetsleben ist über-haupt allezeit die Probe auf unser Glaubensleben. Heißt GlaubenGott beim Wort nehmen, welche Kraft und welche Aussicht aufErhörung muss dann im Gebet des Glaubens liegen! Tatsächlichmacht der Herr Jesus die Erhörung unseres Gebets zuallererst vonunserem Glauben abhängig (Mt 10 und 13). Lebendiger Glaubenist überall dort, wo vom Heiligen Geist gewirkte Ichverneinungund Jesusbejahung ist; solcher einfältigen Jesusbejahung soll dasJa der Gebetserhörung entsprechen.

Wachsamkeit ist ein zweites Erfordernis für Gebetserhörung.Unser Herr sagt nie: Betet und wachet, sondern: Wachet undbetet! Warum wohl? Weil Beten ohne Wachen unerhörliches Betenist. Wachen heißt offene Sinne für Gott haben, damit uns derHeilige Geist zur Erkenntnis und Erfüllung des Willens Gotteshinleiten kann. Wie vielen mangelt diese wache Gemeinschaftmit Gott; wie verfehlt muss also ihr Beten verlaufen. Ins Blauehinein glauben und beten bringt keine Erhörung. Der Glaubemuss nicht nur geistgewirkt sein, sondern auch geistgeleiteter,das heißt wacher Glaube sein. Geistliche Wachsamkeit entstehtaber immer nur aus dem tätigen (aktiven) Misstrauen gegenuns selbst. Jedes auf sich selbst Bauen bringt uns weg von dertätigen Abhängigkeit von Gott. Es lähmt unsere Wachsamkeit,hebt unsere bewusste Gemeinschaft mit Gott im Geist auf undverwirrt und verdüstert unser Beten. Darum will unser Herr immerzuerst unser Ohr und Auge haben, ehe Er unseren Mund begehrt(Mt 13,16; Offb 2,7).

Wie viele jammern, den Willen Gottes als Richtschnur für ihrGebetsleben nicht erkennen zu können! Sie sollten sich fragen,ob sie ein waches inneres Ohr und Auge für das Wort und denGeist Gottes haben. Was wider das Wort Gottes ist, ist auch wi-der den Willen Gottes und kann nicht Gebetsziel werden. Undwas im unbestechlichen Licht des Angesichtes Christi nicht dieFeuerprobe des Geistes verträgt, sondern von der ewigen Glutals eigenwilliger Wunsch verzehrt wird, hat auch keine Aussichtauf Erhörung. Im Übrigen bete und bitte nach deiner wachstenErkenntnis und überlasse im Glauben den Ausgang deiner Ge-betsarbeit der Weisheit und Güte Gottes. Wachend und wartend

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im Gebet wirst du ganz gewiss am Stand und Verlauf der Dingezur rechten Zeit den Willen Gottes erkennen (1Joh 5,14.15).

Ein drittes Erfordernis für Gebetserhörung ist Aufrichtigkeit;denn dem Aufrichtigen lässt es Gott gelingen (Spr 2,7). Werwachend den Willen Gottes erkannt hat, soll ehrlich danachhandeln. Manche aber wollen um den klar erkannten WillenGottes herum beten, damit dennoch ihr eigener Wille geschehe.Da gibt es keine Erhörung, sondern nur Sünde. Gäbe es dennochErhörung, so wäre sie nur die Strafe für die Sünde.

Eine gläubige Tochter bat mich, mit ihr zu beten, ob sie aneiner weltlichen Hochzeit teilnehmen dürfe. Schon die Darlegungihres Anliegens ließ unaufrichtigen Eigenwillen durchblicken.Wir knieten zusammen nieder, und ich bat sie: »Bitte beten Siezuerst.« Nun bat sie in den schmeichelhaftesten Worten, derHeiland möge doch so gut sein und ihr erlauben, das Fest zubesuchen – dafür wolle sie Ihm nachher umso williger dienen.Amen. Und nun erwartete sie, ich solle in derselben Weise beten.Aber ich stand einfach auf. »Wollen Sie denn nicht für michbeten?« fragte sie. »Ist es denn noch nötig?« fragte ich sie ernstzurück. »Wissen Sie nicht bereits ganz genau, dass Sie auf demFest nichts zu suchen haben? Glauben Sie, den Herrn in Ihrenschmeichelhaften Reden für sich gewinnen zu können, wobeiich Ihnen noch helfen soll? Schämen sie sich!« So stellen sichzahllose Beter unwissend vor Gott, obgleich sie längst wissen,was wider den Willen Gottes und somit Sünde ist. Hier gilt: Wasnicht aus dem Glauben geht, ist Sünde (Röm 14,23).

Umgekehrt zweifeln viele an der Erhörlichkeit ihrer Gebete,obgleich diese längst durch Gottes Wort zugesichert ist. DasGebet um den Empfang des Heiligen Geistes ist zum Beispielnach Lukas 11,13 immer ein erhörliches Gebet; wer es im Glaubenbetet, darf sich in demselben Glauben einfach aufs Wort hin auchdie Erhörung aneignen. Ebenso hast du nicht eine Sekunde aufdie Vergebung deiner Sünden zu warten, wenn du im biblischenGlauben an den Gekreuzigten darum bittest. Gleicherweise sind dieGebete des Glaubens um Bekehrung anderer immer erhörliche Gebete,auch wenn man von der Erhörung selbst weder etwas sieht noch hört;denn keines dieser Gebete bleibt völlig wirkungslos.

Andererseits müssen als besondere Hindernisse der Gebetser-hörung genannt und erkannt werden: Unwissenheit als Mangelan Erkenntnis, Zweifel als Hängenbleiben an den eigenen Gedan-

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Betet allezeit!

ken und Gefühlen, Herzensverhärtung als andauernde Sünden-und Ichliebe, Lässigkeit als Mangel im Ausharren im Gebet.

Nicht wenige Kinder Gottes haben wohl kümmerliche Einzel-gebete, aber ein eigentlich erhörliches Gebetsleben führen sienicht. Gewöhnlich klagt man, man könne nicht recht beten. Werso spricht, der soll den Herrn bitten: »Herr lehre mich beten«(Lk 11,1). Und: »Wenn jemand Weisheit mangelt, der bitte vonGott, der allen willig gibt ohne zu schelten, so wird sie Ihmgegeben werden« (Jak 1,5). Ganz gewiss gehört das Gebet umWeisheit und Erkenntnis zu den erhörlichen Gebeten. Beinahein jedem Brief teilt Paulus am Anfang den Gläubigen mit, dasser für sie bitte, sie möchten mit Erkenntnis erfüllt werden; erwusste, was jene bedurften. Wir haben heute als Quelle der Wahrheitund Erkenntnis die ganze Bibel, die die Auslegung des Wesens Gottesund Christi ist. Aus ihr schöpfe betend die Weisheit zum Beten; sielehrt lauter erhörliche Gebete. Wer aber ein Kapitel der HeiligenSchrift ohne vorhergehendes Gebet um Weisheit liest, der hates umsonst gelesen. Im Übrigen lerne aus den Psalmen, demalttestamentlichen Gebetsbuch und auch aus den neueren – aberbibeltreuen – Gebetsbüchern beten.

Der allergrößte Feind aber des erhörlichen Gebetes sind dieZweifel als Hängenbleiben an eigenen Gedanken und Gefühlen(Jak 1,6–7). Glauben heißt: biblisch denken lernen. In diesem Sin-ne heißt beten: mit biblischen Gedankenwerten rechnen lernen,nämlich Gott bittend beim Wort nehmen. Dabei gehört es ebenmit zum ichverneinenden Glaubensgehorsam, die unzulängli-chen eigenen Gedanken und unzuverlässigen eigenen Gefühlenunter den Gehorsam Christi gefangen zu nehmen und sie auszu-schalten (2Kor 10,5). Die menschliche Vernunft wird nie eine gläubigeBeterin. Sie liebt überhaupt nicht das von Gott abhängige Beten,sondern reizt stets zum selbstweisen, eigenmächtigem Handeln.Darum will sie das Gebet des Glaubens als eine unerhörte undunerhörliche Einbildung in Verruf bringen und seine Ausübungbeeinträchtigen, ja verhindern.

Ebenso sind die Wellengänge unserer Gemütsbewegung stete Beun-ruhiger des Glaubensgebetes. Wie viele Kinder Gottes hegen denWurm des Zweifels in jedem Blütentrieb ihres Glaubens, derjede Fruchtbildung verhindert! Ihre ängstliche Gebetsversuchekommen über die eigene, verzagende Gedankenhöhe nicht hin-aus. Entweder stört sie der lähmende »Zweifelsgedanke« oder

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verwirrt sie die so genannte »Gedankenflucht« oder quält sieder Feind gar mit »Lästergedanken«, so dass sie sich der »Sündewider den Heiligen Geist« schuldig glauben. Oder sie klagenüber »trockene« Gebete, weil sie, wie sie sagen, nichts dabei füh-len oder sie halten sich ihrer erlittenen Niederlagen wegen fürunwürdig, weiter beten zu dürfen.

Alles dies ist törichte Ichbejahung, statt fruchtbarer Jesusbeja-hung. Man rechnet mit der Weisheit der eigenen Gedanken, stattmit der Weisheit der Gedanken Gottes in der Bibel. Man bleibthängen an den eigenen Herzensbewegungen und Gefühlen, an-statt sich an das erbarmungsreiche Herz Gottes zu werfen, dasimmer größer ist als unser Herz (1Joh 3,19–23). Man erliegt derUnzulänglichkeit der eigenen Taten, anstatt der allein zuläng-lichen Tat Gottes am Kreuz Christi auf Golgatha zu vertrauen.Dies alles ist nichts als elender Unglaube! Wie kommst du davonlos? Nur so: Missachte und verneine den ganzen Ichschwindel!Gib Gott recht! Dringe durch das Heer deiner gebetsfeindlichenGedanken, durch die Öde deiner Gefühlsleere, durch die Wüs-te deiner Verzagtheit, dennoch am Stabe des Wortes Gottes imJesus bejahenden Glauben betend zur Gegenwart Gottes empor.Habe keinen anderen Halt als Christus und Sein Wort und keinanderes Begehren als des allein weisen Gottes! So bete all deinemDenken und Fühlen zum Trotz und dann sage dein Amen! Soalleine erlernst Du das freie und frohmachende Beten, das zurErhörung ausreicht. Fordere dann auch nicht klügelnd und Gottversuchend Zeichen der Erhörung. Wohl wurde dem Gideondas Zeichen gewährt, Zacharias aber ward bestraft (Ri 6,37–40;Lk 1,18–20). Und wie viele werden durch Fordern von Zeichengetäuscht! Er selbst, dein Herr, wird dir zeigen, was du sehensollst.

Erkenne nun auch den dritten Feind des erhörlichen Gebetes:die andauernde Herzensverhärtung als Folge von Sünden- undIchliebe. Diese im Dunkeln geschäftige Räuberin frisst zahllosenGebeten die Pfahlwurzeln ab. So gewiss uns jede Sünde erlassenwird, wenn wir in biblischer Buße ihre Vergebung im Blute desKreuzes erbitten, so gewiss führt die versäumte Reinigung vonSünden zur Nichterhörung der Gebete. Dasselbe ist der Fall,wenn wir wohl Vergebung geschehener Sünden begehren, aberdiese Sünde selbst trotzig festhalten, um in ihr weiter zu leben.Oder wenn wir wohl die Folgen der Sünden, aber nicht die

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Betet allezeit!

Sünden selbst los sein möchten, für uns wohl Vergebung derSünden suchen, aber anderen nicht vergeben wollen. Dies alleshindert die Erhörung unserer Gebete. Darum: Reinigt die Hände,ihr Sünder, ehe ihr sie zum Gebet faltet! Hebt heilige Hände auf,ohne Zorn und Zweifel! Hört auf, übel zu bitten, indem ihr dasErbetene mit euren Wollüsten verzehrt! Gebt eure Leiber zumOpfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei, welchessei euer vernünftiger Gottesdienst! Und vergebt einander, so wirdeuch vergeben (Jak 4,8; 2,8; 4,3; Röm 12,1; Mt 6,14–15)!

Aber auch Hoffart, Undankbarkeit und Geiz (als Ausdruck derherzensharten Ichliebe) vereiteln die Erhörung der Gebete. DemHoffärtigen widersteht Gott auch im Gebet. Dem Undankbaren,besonders dem, der seine Gelübde nicht bezahlt und den WillenGottes in Christus Jesus zu umgehen sucht, wird der Gebetssegenfehlen. Und ebenso kann der Geizige und Unbarmherzige keineErhörung seiner Gebete ernten (Jak 4,6; Kol 2,7; 1Thess 5,18;Lk 12,15; 1Tim 6,10; Eph 5,5). Ich habe es wiederholt erlebt, dassSchwermütige erst dann wieder einen offenen Himmel hatten, alssie sich von Undankbarkeit und Geiz, die die Wurzel ihres Übelswaren, lösen ließen. Und manche beten andauernd vergeblich fürdie Errettung ihrer Lieben, weil der Geiz der Bann ist, der aufder ganzen Familie lastet!

Endlich ist auch Lässigkeit als Mangel an Ausharren in denGebeten ein Hindernis für die Erhörung der Gebete. UnsereGebete müssen durchgebetet werden. Lebendiger Glauben istimmer fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal und hält an imGebet (Röm 12,12). Wir dürfen einen Gebetsgegenstand nur dannfallen lassen, wenn sich seine Erfüllung als nicht gottgewollterweist. Aber wie wenige Gebete werden wachsam und treu zumAustragen gebracht! Das Gebet des Gerechten vermag viel, wennes ernstlich (energisch) ist (Jak 5,16). Wer Beten als nicht dieernstlichste Arbeit, die es auf Erden gibt, auffasst, wird nie imGebet anhalten und aushalten lernen. So viele Gebete gleichen»Zufrühgestorbenen«, von denen man sagt: Was hätte aus denennoch werden können, wenn sie länger gelebt hätten.

Weißt du dich nun von all diesen Hindernissen der Gebetser-hörung frei, und deine erhörlichen Gebete werden doch nichterhört, so wisse, dass es eine Erhörung unserer Gebete auch aufhöherer Stufe gibt. Das heißt: Gott hat deine Gebete noch nichtverworfen, wenn Er sie nicht so erhört, wie du es dir wünscht.

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Wann sollen wir beten?

Oft kann Er unsere Gebete nur teilweise gebrauchen, muss sieaber in Seiner Weisheit ergänzen und ganz anders verwenden,als wir es uns dachten. Und wie oft mag die scheinbare Nicht-erhörung unserer Gebete gerade deren höchste Erfüllung sein!Lasst uns deshalb nie sagen: Ich habe nun schon so lange gebetetund es hat nichts genützt! Lasst uns vielmehr hoffen, dass unserein Glauben, Wachsamkeit und Aufrichtigkeit anhaltenden Gebe-ten eine Erhörung tatsächlich über Bitten und Verstehen findenwerden (Eph 3,20.21).

Wann sollen wir beten?

Jesus der Meister auch im Gebet, antwortete in unserem Text-wort: ». . . allezeit«. Dasselbe sagt Paulus: »Betet ohne Unter-lass« (1Thess 5,17). Eine solche Ermahnung verstehen viele nicht.»Was!«, sagen sie, »wir haben nicht einmal Zeit zu gewissenStunden zu beten, und nun sollen wir allezeit beten.« Ja, höre:Gerade weil du vielleicht nicht Zeit hast, gewisse längere Zeit fürdas Gebet abzusondern, musst du lernen, allezeit zu beten. Soverteile du das, was du zu beten hast über Tag und Nacht unddie ganze Lebenszeit. So kannst Du nicht mehr sagen, du hättestkeine Zeit zu beten. Allerdings will nun gerade das allzeitigeBeten erlernt sein. Eben deshalb musst du es die ganze Zeit üben.Das erscheint dir so schwierig, nicht wahr? Aber, fällt dir denndas Reden mit deinem geliebten Manne oder deinem geliebtenKinde schwer? Ganz gewiss nicht. Ist es nicht das Wesen derGemeinschaft, die du hast mit deinen Lieben, dass du mit Ihnenaufs Innigste verbunden redest? Und sieh, so ergibt sich aus derinnigen Gemeinschaft mit Christus in Gott das allzeitige Betenzu Gott. Es wird dir einfach zum Lebensbedürfnis, immerzumit deinem Vater im Himmel und mit Jesus Christus, deinemLebensretter und Herrn, zu reden.

»Aber«, sagst du, »wie kann ich das bei all meiner Arbeit?«Höre: Gerade wegen deiner vielen und mühsamen Arbeit hastdu das allzeitige Beten so nötig! Dein Herr hat ja gesagt: »ohnemich könnt ihr nichts tun!« (Joh 15,5) Also bist du doch daraufangewiesen, wegen allem und jedem mit deinem himmlischenVater zu reden, von Ihm Weisheit und Kraft für dein Tun zuerbitten und Ihm für alle dir erwiesene Hilfe zu danken. Und

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Betet allezeit!

zudem stehst du doch auch alle Zeit in der Gefahr zu sündigen.Solltest du da nicht auch allezeit um Hilfe, Leitung und Bewah-rung bitten, für im wachsamen Glauben empfangene Siegeskraftdanken und für geschehene Verfehlungen um Vergebung flehenmüssen? Siehst du jetzt, wie wichtig das allzeitige, unablässigeBeten ist? Oh lerne begreifen, dass von deinem allzeitigen wachenBeten dein Sieg im Glaubenskampf und die ganze Freude deinesGlaubens abhängt! Denn, was will das doch sagen, allezeit wegenallem mit Gott, deinem gütigen Vater, und Jesus deinem Erlöserreden zu dürfen! Es ist das gottselige Leben in der stetigen Un-terordnung des eigenen Willens und Jesusbejahung, das uns dieNachfolge in den Fußstapfen des guten Hirten so unveräußerlichköstlich macht!

Kannst du das fassen, dann wirst du auch verstehen lernen,dass ein Gebetsverkehr mit Gott sich nicht nur so beim Herum-sitzen, Laufen oder bei der Arbeit als festes Herzensgesprächerschöpfen kann, sondern dass dein Gebetsleben auch feste Zei-ten der Ruhe braucht. Das sollen die Zeiten des Morgen-, Mittags-und Abendgebets sein.

Vom Morgengebet hängt die Arbeit des ganzen Tages ab. UnserErwachen am Morgen muss ein Erwachen zu Gott sein. Schonehe wir die Augen und Lippen öffnen, sollen unsere Gedankenund unausgesprochenen Worte Gott gehören. So können wirunserem Vater in den Himmeln und Jesus, unserem Haupteam Thron Gottes, schon ein Lob und Dankopfer bringen, ehewir auf den Beinen und angezogen sind. Freilich muss dazudie träge Seele sozusagen am Ohr gezupft werden. Das tue ichseit meiner Bekehrung, indem ich meine Seele allmorgendlichmit dem 103. Psalm zu wecken suche. Willst nicht auch du dasüben? Es ist ein vorzügliches Mittel gegen jeden Trübsinn undgedanklichen Leichtsinn; allerdings, bloßes Plappern hilft auchnichts.

Danach, wenn du angekleidet bist, lass Gott mindestens fünfMinuten lang aus Seinem Wort zu dir reden. Damit kannst Dunun auch mit deinem eigentlichen Morgengebet zu Gott reden.Ohne Rücksicht auf deine eigenen hinderlichen Gedanken undGefühlen wirf dich vor Ihm nieder und weihe Ihm aufs Neueals ein Bettler im Geist dein hilfsbedürftiges Leben, dass Er esnach Geist, Seele und Leib in Seine gnädige Zucht und Bewah-rung nehme. Bete besonders, dass du während des ganzen Tages

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wachend und betend in Christi Sieg am Kreuze auch Sieg überdeine Lieblingssünden habest. Und dann wirf dich glaubensvollmit all deinen übrigen Sorgen, Bitten und Fürbitten auf Ihn.

Dieses Morgengebet solltest du verrichten, ehe du mit einemMenschen gesprochen hast. Mindestens musst du es stets gegenMenschengeschwätz, aber auch gegen deine eigene Trägheit undArbeitseile zu bewahren suchen. So wirst du erfahren: »Zuchtist der Weg zum Leben« (Spr 10,17); denn der meisten Gläubi-gen Gebets- und Siegesleben wird schon in den Morgenstundenverwüstet. Ich kenne eine Mutter einer großen Familie, die sichjeden Morgen für ihre viertelstündige Gebetsarbeit ins Kämmer-lein einschloss und so ihre ganze Familie zum Herrn hin betete.»Mutter, was machst du eigentlich da drinnen?« fragte einmal ihrJüngster, »allemal, wenn du da herauskommst bist du so schönwie der liebe Gott.« Möchtest du in deinem Hause nicht auch soschön werden?

Das Gebet in der Mittagstunde sollte die Sammlung auf der Höheder Tagesarbeit bedeuten. Es kann, wenn nicht anders, auch mit derFamilienandacht am Mittagstisch zusammenfallen. Keinesfallssollte aber die morgendliche Familienandacht dein abgesondertesGebet verdrängen. Was dir ganz wichtig ist und dir vielleichtauch Not bereitet, solltest du deinem Herrn nicht erst in derFamilienandacht sagen.

Dasselbe gilt auch fürs Nachtgebet. Es ist das Gebet der rückbli-ckenden, ernsten Einkehr. Da gebührt sich’s, Dank darzubringenfür jede empfangene Gnadengabe des Tages und jede versäumteReinigung von jeder Befleckung des Fleisches und des Geistes(2Kor 7,1) zu besorgen. Gewöhne dich daran, nicht eine unberei-nigte Sünde in die Nacht mit hineinzunehmen; das fördert dieWachsamkeit am Tage und hilft, dein Geheiligtsein in der FurchtGottes zu vollenden. Bedenke, dass der hingelebte Tag deines Le-bens nie wiederkommt, dass er aber für die Ewigkeit beschriebenist mit deinen Gedanken, Worten und Werken und dich dem Todund der Ewigkeit nähergeführt hat. Freue dich aber auch, dassjeder Tag eine Stufe mehr und näher zum großen Tag Christibedeutet, und vergiss nicht, am Morgen und am Abend zu flehen:Herr Jesu komme bald! Und so weihe dich, wie auch schon fürden Tag, auch für die Nacht wiederum aufs Neue deinem Herrnund wirf dich auf Ihn mit allen deinen Anliegen. Dein letztesWort auf deinem Lager sei ein Gotteswort, dein letzter Gedanke

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und Seufzer: Jesus! Und nichts sei dir beim Erwachen in derNacht natürlicher, als dass Sein Name auf deinen Lippen sei.

Glückselig, wer so ein gesegnetes Gebetsleben führt! So kannJesus Christus in uns mehr und mehr Gestalt annehmen undwir können uns in Ihm geborgen wissen. Unglücklich aber, dieam Morgen noch zu müde und am Abend schon zu müde sindund dazwischen vermeintlich keine Zeit zum Beten haben. Mitdem Gebetsleben ist ihr Glaubens-, Liebes- und Hoffnungslebentödlich erkrankt. Möchten sie doch eiligst bei unserem großenArzt anklopfen!

Indes lasst uns auch das äußere Wo und Wie des Gebetslebenserörtern. So wie das Gebetsleben wohl zuallermeist im stillenKämmerlein geboren wird durch Gottes Geist im Verborgenendes Menschenherzens, so mag es auch an seiner Geburtsstät-te, verborgen vor Menschen, am liebsten reden zu dem Vaterim Verborgenen. Wie sehr entspricht doch das Verborgene desKämmerleins dem Verborgenen des Menschenherzens und demverborgenen Gott! Und wie ruht und wirkt das Geheimnis desGlaubens selbst so ganz im Verborgenen! Der Gott, der wesent-lich von innen nach außen wirkt, will auch, dass die Seinen sowirken lernen. Wie alle entscheidenden Arbeiten aus dem Ver-borgenen hervor wachsen, so ganz besonders die Gebetsarbeit.Sie soll sogar hinter verschlossener Tür getan werden. Noah mitseiner Familie wurde in die Arche eingeschlossen und so unterAbschluss zur Bildung einer neuen Menschenwelt bewahrt undgebraucht. So wird auch die kommende Gotteswelt wesentlichhinter der verschlossenen Tür des Gebetsraumes zubereitet.

Diese verschlossene Tür bildet auch die Scheidewand zwischenaller nur menschlichen Religiosität, die immer nur eine Religionder Gasse ist, und dem Reich Christi. Wie bezeichnend ist es,dass der Herr Jesus den Straßengebeten der Pharisäer, dieserreligiösen Komödie, das Gebet hinter verschlossener Tür vorGott gegenüberstellt (Mt 6,5.6) Diese Gebete haben keinen Lohn,weil sie ja gar nicht Gott, sondern die Beifall spendende Mengeim Auge haben.

Das Gebet im Kämmerlein, das nichts sucht als Gott, hat dieErhörung bei Gott. Der Vater, der ins Verborgene sieht, wird esvergelten; das heißt, die Wirkung solcher Gebete im Verborgenenwird wiedergefunden werden in unserem inneren und äußerensowie zeitlichen und ewigem Leben, aber auch im Leben de-

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rer, für die wir beten! Nun gibt es dennoch Leute, die meinen,das Gebet gehöre ausschließlich in das Kämmerlein. So hat esaber der Heiland nicht gemeint. Er hat doch selbst öffentlichgebetet, sowohl im Kreise der Seinen, wie auch vor der Men-ge (Mt 11,25.26; Joh 11,41.42). Ebenso haben die Apostel baldgemeinsame Gebetsarbeit mit der gläubigen Gemeinde getan(Apg 2,42; 4,24–31), und Jakobus ordnet auch das gemeinsameGebet für Kranke an (Jak 5,14). Also gehört das Gebet sowohlin die Gemeinde, wie auch in die Familie. Doch wird niemandrecht Gebetsarbeit in Gemeinde und Familie tun können, dersie nicht recht im Kämmerlein für sich übt. Es gibt Kreise derGebetstätigkeit.

Der erste Kreis ist und bleibt das (eigene) Kämmer-lein.

Der zweite Kreis ist gewöhnlich der Boden der Familie. Aufdem gehe betend und arbeitend durch den Tag. So du nun Fa-milienvorstand bist, so walte da im Umgang mit den Deinenund besonders mit der Hausandacht königlich und priesterlich(1Petr 2,9; Offb 5,10). Wie viel Gebetsarbeit wird da versäumt!Wie viel Schelten statt Beten! Wie viel polternder Egoismus stattgottgeheiligter, stiller, treuer Gebetsgeist! Wo es nie Friede, nieEinigkeit, nie erquickende Ruhe, nie sättigende Liebe, nie frucht-baren Segen der Wortbetrachtung, nie eine Bekehrung in einer»gläubigen« Familie gibt, da fehlen die Beter im Geist, die denHimmel ins Heim bringen, weil sie Ihn im Herzen tragen. Oh,wem es gilt, der fliehe in seine Stube und beginne mit einemBußgebet!

Als dritten Kreis der Gebetstätigkeit muss ich den Kreis derBerufstätigkeit ansehen. Wie viel Gebet ist doch nötig, um einenBeruf bis ins Kleinste getreu nach Gottes Wort und in der Ge-sinnung Christi auszuüben! Und wie würde sich diese Arbeitlohnen! Wie würde sie nach innen den Sorgengeist und nachaußen das Ärgernis wegnehmen, das unzuverlässige oder garunredliche »christliche« Geschäftsleute nicht selten geben. Gott-lob, ich kenne mehr als einen gläubigen Geschäftsmann, derzum Wohle seiner selbst und seines Geschäftes den fluchvollenGeschäftsgeist gegen den segensreichen Gebetsgeist vertauschteund seine Arbeitsräume zu Gebetsarbeitsräumen erweiterte!

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Endlich, als vierter Kreis der Gebetstätigkeit sei die eigentli-che Familie Gottes, die Gemeinde bzw. Gemeinschaft genannt(Mt 12,36–50). Ihre Gebetsaufgabe ist so umfassend groß, dassich sie zum Schluss besonders erwähnen möchte, ebenso auchdas Gebet für die Kranken.

Weiterhin ist ein fünfter Kreis der Gebetstätigkeit die sogenann-te Reichgottesarbeit in Kirche, Schule, Mission, Evangelisationund Sozialarbeit. Hier wächst die auch so nötige Gebetsarbeit,die immer mit Matthäus 9,38 beginnt und schließt, zur beinaheunerfüllbaren Riesenaufgabe an. Hier sieh die Beterhände derganzen Erde, wie sie um das ringen, was droben ist (Kol 3,1.2;Mt 6,38; 28,19), um es auf Erden heimisch zu machen. Hier höreden Himmel und Erde bewegenden Widerhall aus dem Gebetaller Gebete, das uns als erstes der Herr gelehrt hat: »Dein Reichkomme«. Und du, Gotteskind, darfst mitbeten!

Und noch einen sechsten Kreis der Gebetstätigkeit gibt es,das Gebet für alle Menschen, für Könige und alle Obrigkeit(1Tim 2,1.2).

Nicht wahr, jetzt siehst du, dass Gebetsarbeit, wie ich amAnfang sagte, die Hauptarbeit der Gläubigen ist. Dies ist eineso unbedingt notwendige, große und umfangreiche Arbeit, dassjede Arbeitsunterbrechung Verlust und jede ArbeitsverweigerungSünde ist! Gottlob, dass wir vor der Größe dieser Arbeit nichtzu erschrecken brauchen, denn die Kraft aus der Gnade reichtaus für sie! Bei rechter Arbeitsteilung kannst du im Kämmerlein,in der Familie und Gemeinde auf allen Kreisen mitwirken. Nur,dass du es von jetzt an einsichtiger und vor allem ausdauerndertust! Und wirst du ein allzeitiger Beter, der sich jederzeit in derGegenwart Gottes weiß und deshalb auch überall beten kannund muss, so kommt es immer weniger auf den Ort an. Du wirstbeten, wo du stehst und gehst.

Über das »Wie« lässt sich Folgendes sagen. Es gibt keine würde-vollere Arbeit, als zu beten. Leichtfertiges, oberflächliches Wesenwird nicht nur die Erhörung, sondern auch das Beten selbst ver-hindern. Nur wer in Gottes Gegenwart lebt, wird immer undüberall auch würdig zu beten vermögen. Manche beten wohlwürdig in der Gemeinschaft, aber im Kämmerlein oder in derFamilie lassen sie sich gehen. Immer soll unsere Stellung oderLage der Würde des Gebets entsprechen. Ob du die Hände faltestoder die Augen schließt, ob du stehest oder sitzest, auf beiden

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Knien liegst oder auf einem, wird aber als äußerliches würdigesVerhalten immer nur durch die innere Würde im Geist erhalten.Wandelst du im Geist würdig deiner Berufung, würdig des Evan-geliums, würdig des Herrn und würdig Gottes (Gal 5,25; Eph 4,1;Phil 1,27; Kol 1,10; 1Thess 2,12), so wird dein allzeitiges Betenauch ohne äußerliche Gebetsstellung immer ein würdiges sein,aber du wirst jede Gelegenheit suchen und nutzen, um auch äu-ßerlich der Würde des Gebets Ausdruck zu verleihen. So wird esdir ein herzliches Verlangen sein, morgens und abends in deinerKammer für dich alleine mit deinem Herrn zu verbringen, drücktdoch diese Stellung am deutlichsten unsere anbetende Ehrfurchtund hilfsbedürftige Bettelarmut aus (Mt 26,39; Eph 3,14).

Eben deswegen sollten wir auch diese bedeutsame Gebetsstel-lung vor geläufigem Missbrauch schützen und nur bei ernsteroder gemeinsamer Arbeit anwenden. Auch heute meinen nochviele, sie würden um ihrer vielen Worte willen erhört werden(Mt 6,7.8). Beim öffentlichen Gebet und in Gebetsstunden wirkensolche Gebete nur geistdämpfend, zumal, wenn sie sich deutlichals pharisäische (heuchlerische) Paradegebete verraten. Und wieviele bringen das, was in die stille Kammer gehört, breitspurigund zuchtlos vor die Ohren der Versammlung! Andere wieder-um bleiben stets stumm beim gemeinsamen Gebet und erklären,überhaupt nicht öffentlich beten zu können. Auch sie sind miteinem Ich-Geist befangen; denn ihre Scheu entspricht fast immerder erbärmlichen Menschenfurcht. Wie schnell würde Ihnen dieZunge gelöst, wenn sie es im lebendigen Glauben allein mit demHerrn zu tun hätten!

Sodann hört man oft die Frage: Soll man zu Gott dem Vateroder zu Jesus beten? Ganz gewiss sollen wir zuerst zum Vater,aber im Namen Jesu beten. Religiöse, aber biblisch unwissendeBeter wollen gewöhnlich mit Umgehung Jesu unmittelbar zumVater gelangen, der ja groß genug ist, auch solche Unwissendenzu erhören, aber doch will Er, dass auch sie Jesus als alleinigenMittler und Weg erkennen sollen. Söhne des Geistes und desLichts sollten jedoch nie anders als im Namen Jesu dem VaterAnbetung, Dank und Bitte darzubringen wagen. Solche Befol-gung der klaren Anweisung ihres Herrn (Joh 14,13.26; 16,23.24.26)gehört mit zur Würde und Weihe des Glaubensgebets.

Außerdem gehört die unmittelbare Anrufung des NamensJesu zum goldenen Bestand unseres allzeitigen Betens. Denn

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Betet allezeit!

obgleich das Neue Testament nur zwei unmittelbar an Jesus, denVerklärten, gerichtete Gebete enthält (Apg 7,58.59; Offb 22,17.20),so hat doch der Herr die Jünger geheißen, alles in Seinem Namenzu tun, und haben auch die Apostel den Gläubigen empfohlen,alles in dem einen Namen zu tun, in dem allein Heil, Rettung,Seligkeit und Erhörung liegt (Apg 4,12; Röm 10,13; Kol 3,17).»Und alles, was ihr tut, mit Worten oder mit Werken, das tut allesin dem Namen des Herrn Jesu und dankt Gott, dem Vater durchIhn.«

Wie wenig geschieht dies! Wie wenige Lippen erheben täglichdas Heil, das in dem wunderbaren Namen Jesu liegt! Nicht alsmagische Zauberformel, aber als deutlicher Ausdruck der Wahr-heit, dass nicht mehr wir leben, sondern dass Er in uns lebt undwir tatsächlich nichts mehr ohne Ihn tun können! Es ist gewiss:Nur wer im Namen Jesu lebt, lebt als ein allzeitiger Beter vorGott und weiß, was es heißt: Abba, lieber Vater! Was soll dessenGemeinschaft mit dem Vater und mit Seinem Sohne Jesus Chris-tus (1Joh 1,3) anders sein als Gebetsgemeinschaft? Was soll unserEinssein untereinander mehr sein, als im Namen Jesu weltergrei-fende, welterrettende Gebetseinheit? Oh Herr Jesu, so wie Duuns den Namen Deines Vaters kundgetan hast, so wirke doch,dass Dein seligmachender Name durch unser allzeitiges Gebetsle-ben einer namenlos unseligen Welt kund werde! Und vergib unsunser unerlöstes und unerlösendes Denken, Reden und Tun inunserem Namen! Lass unser Gebetsleben die Verklärtheit Deinesheiligen Namens werden! – Was ist nun der praktische Inhalt desallzeitigen Betens im Namen Jesu? Zunächst unablässige Anbetungdes Vaters und des Sohnes im Geist und in der Wahrheit. DieseAnbetung wird sich nur für gewisse Zeiten auf den Knien, aberfür jede Tag- und Nachtzeit im Innersten unseres Wesens alsstetes bewusst pulsierendes Vereintsein mit dem Vater und demSohne im Geist vollziehen. Wer dem Herrn anhängt, der ist einGeist mit Ihm (1Kor 6,17).

Dieses wache, tätige, innere Anhangen mit seinem unterirdi-schen Fluss der gedanklichen Rede, der bald als Seufzer im Geist,bald als preisendes Wort hervorbricht und sich durch all unseräußeres Tagewerk hindurch zieht, diese verborgene, innere Zu-stimmung zu jeder Gottesäußerung in uns und um uns, das istdie eigentliche gottselige und fruchtbare Anbetung Gottes undChristi im Heiligen Geist. Sie macht selbst unser Denken zum

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Wann sollen wir beten?

Gebet. Erst aus ihr heraus ergibt sich als Zweites das allzeitigeDanken im Namen Jesu. Es ist der Ausdruck unserer völlig genü-genden und überströmenden Gottseligkeit. Es ist der friedereicheAusgleich, der freudevolle Ausklang all unserer Schwankungenim Gemütsleben. Allezeit und für alles danken können, welcheglückselige Übereinstimmung mit dem väterlich segnenden Wal-ten Gottes in Christus Jesu durch den Heiligen Geist! Wahrlich,die erlösende Läuterung unseres Willens wird sich in dem Maßvollenden, als wir für alles und jedes in unserem Leben einsichts-vollen, anbetenden Dank darbringen lernen! Nichts zerstört jedetrübsinnige Klage und alle schleichende List Satans schneller undgründlicher als unser grundsätzliches, allzeit Gott lobendes Dan-ken. Unser Gang durch Tag und Nacht sei ein einziges Bejahender Güte Gottes im aufschauenden Dankgebet (1Thess 5,18)! Dableibt nur eine Klage: die Klage über mangelnde Dankbarkeit.

Nun erst, aus der allzeitigen Danksagung heraus, lernen wirim Namen Jesu allzeit bitten. »Sorgt euch um nichts, sondernin allen Dingen lasset eure Bitten durch Gebet und Flehen mitDanksagung vor Gott kundwerden« (Phil 4,6). Wer nicht für Emp-fangenes dankt, der kann Fehlendes nicht bekommen. Aber ist esnicht anbetungswürdig? Gott fordert uns durch den Mund Jesuzum Bitten auf (Mt 7,7)! Unsere Willensäußerung wird wachge-rufen. Wir sollen gerade heraus sagen, was uns noch fehlt. AlsDankende haben wir und als Bittende sollen wir die Fülle haben(Mt 13,12)!

Nichts soll uns fehlen und in nichts sollen wir zweifelnd undbangend sorgen. Aber indem wir aufgefordert werden, unserenWillen zu äußern, und daraufhin anfangen zu bitten, soll es sichzeigen, wonach wir trachten und wieweit wir in Erkenntnis Got-tes bereits mit dem Willen Gottes übereinstimmen. So soll durchunser Bitten unser Willensleben geläutert und unser Glaubens-vertrauen gehoben werden. In beiden erweist sich sowohl dieFreiheit als der Gehorsam unserer Gotteskindschaft.

Stimmt es mit beidem, das heißt, gehört unser Wille unseremGott, so dürfen wir bitten, was irgend wir wollen, es wird unsim Namen Jesu werden. »Wenn ihr in mir bleibet und meineWorte in euch bleiben, möget ihr bitten, was ihr wollt, so wirdes euch widerfahren« (Joh 15,7). Mit welcher Zuversicht dür-fen wir also bitten! Sollte nicht unser ganzes Glaubensleben eineinziger freudiger Bittgang sein? Christus, mit dem uns alles

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Betet allezeit!

geschenkt ist, sollten wir nicht auch immerdar bittend von Ihmleben (Hebr 7,25)? Warum sorgen und klagen wir aber noch soviel und bitten so wenig? Weil unsere Ichbejahung noch immergrößer als unsere Jesusbejahung ist. Klagen und Sorgen sind nichtder Ausdruck des hingegebenen Glaubenslebens. Glückselig dieganze Abhängigkeit, die als Bettler ständig den Glaubensthronumlagern! Sie werden vom Reichtum Christi leben.

Und aus der Bitte im Namen Jesu geht die allzeitige Fürbitteim Namen Jesu hervor. Sie ist der Ausdruck unseres königlichenPriestertums. Wie steigert sich mit ihr die Bedeutung unseresGebetslebens! Niemand kann sonst seinen Bruder erlösen, aberals Erlöste dürfen wir eintreten für unsere Brüder und Schwesternund alle Menschen. Im Namen des Mittlers darf ich vermittelnzwischen Gott und einer Seele.

Welche ganz unvergleichliche Beziehung zum höchsten Thro-ne! Manche stellen sich den Thron so fern vor, dass sie meinen,ihre Fürbitte erreiche ihn nicht. Aber die Nähe Gottes ist eineso unmittelbare, dass leider nur immer wir so fern sind vondem, der nie fern von einem jeden von uns ist. Hat uns aber dasBlut Christi so nahe gebracht, dass Gott in Seinen Kindern Wohnungmachen konnte, wie unverkürzt haben wir da Seine von der zagendstenFürbitte zu erreichende Gegenwart. Höre! Gott selbst ist es ja, derdie Namen derer aufs Beterherz legen will, für die du Fürbittetun sollst! Wie oft, den Tag über, ruft Er mir solche Namen zu!Oh dass wir doch allezeit wach wären für diesen heiligen Fürbit-terdienst! Wach bei der Arbeit, wach in der Ruhe, wach auf derStraße und auch auf dem Nachtlager. Wach für unsere Freundeund wach für unsere Feinde, wach für die, die uns segnen undfür die, die uns fluchen oder beleidigen oder auch verfolgen.Auf dass wir wahrhaft vollkommene Kinder unseres Vaters inden Himmeln werden (Mt 5,44–48). Der Geistesträger aber klagtlieber, als dass er bittet und richtet lieber, als dass er fürbittet.Doch macht uns nichts dem Hohepriester am Throne so ähnlichwie unser allzeitiger Fürbittedienst auf Erden.

Ein besonderer Zweig der Fürbitte ist das Gebet im Namen Jesufür die Kranken. Es hat als Einzelgebiet und als Gebet der Ältesten(Jak 5,14–15) seine ganz besondere Verheißung. Viele meinen,zur rechten Ausübung des Gebets für Kranke gehört eigent-lich die besondere Gabe der Krankenheilung (Mt 10,8; Apg 3,6;19,12; 1Kor 12,19); ich bin aber gewiss, dass diese Gabe ganz

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Wann sollen wir beten?

von selbst dem vermehrten Glauben an Krankenheilung folgenwürde. Träger Kleinglaube auf der einen und ungeistliche, treiberi-sche Machenschaften auf der anderen Seite haben das so notwendigeGebet des Glaubens für Kranke beinahe in Verruf gebracht. Wo aberlebendiger Glaube wirksam wird, macht er nicht halt vor Krank-heitszeichen und Naturgesetzen, sondern betritt den Boden derGnadengesetze, auf dem uns auch Leibesheilung zugesichert ist.Freilich gehört dazu geistgeleitete, für den Einzelfall geltendeGlaubenszuversicht und ein von Sünde und Eigenwille gereinig-tes, glaubenswilliges Verhalten des Kranken. Auch für unsereeigenen Erkrankungen sollten wir das Gebet des Glaubens vielernster und zuversichtlicher gebrauchen. Ich habe, je durchhal-tender ich glaubte, desto herrlichere Wunder der Erhörung erlebt.

Weiterhin ist ein Gebet ganz besonderer Art das Gebet am »bösenTag« im Namen Jesu gegen den Feind. Habe die ganze Waffenrüs-tung Gottes ergriffen und angezogen (Eph 6,11–17), um bestehenzu können gegen die listigen Anläufe des Teufels und die bö-sen Geister unter dem Himmel. Wenn du das Gebet vergisst, sogleichst du einem voll ausgerüsteten Soldaten, der aber in derEcke liegt und schläft. Im Gegenteil: Im Kampf gegen die über-menschlichen Herrschaften, Gewaltherrscher und Weltbeherr-scher der Finsternis muss unser Gebet zum anhaltenden, unterUmständen schlaflosen Gebet (Mk 13,33; Lk 21,36; Eph 6,18; He-br 13,17; 2Kor 6,5; 11,27 (im Grundtext ein anderes Wort als das,was sonst für »Wachen« gebraucht wird), ja unter Umständenzum Gebetskampf werden. Da gilt ein ausharrendes Gebetsringenin der Macht der Stärke des Herrn, bis der Feind flieht (Jak 4,7),alles wohl ausgerichtet und das Feld behalten ist.

Es kann aber niemand so kämpfen im Gebet, ringen und schlaf-los ausharren, der sich nicht bewusst ist, dass er aus sich selbstzu schwach ist und dass nur die Kraft und Macht des Herrn ihndazu befähigt (2Kor 12,10). Denn das Anlegen der Waffenrüs-tung Gottes (Eph 6) ist ja nichts anderes, als das Anziehen desHerrn Jesu selber (Röm 13,14), und auch das machtvolle Gebetnichts anderes als der siegreiche Hauch Seines Mundes durchuns. Dies alleine ist auch das Gebet, das in Verbindung mit demrechten Fasten zur Austreibung der bösen Geister aus Besessenenausreicht (Mt 17,21). Aber auch in allen leichteren und gewöhn-licheren Fällen ist das Gebet des Glaubens die sicherste Waffegegen jede Art von Versuchung. Es ist der Ausdruck unserer größ-

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Betet allezeit!

ten Ohnmacht in uns selbst, und zugleich der Ausdruck nahezuunserer Allmacht in Christus. Es ist unser Not und Fluchtschrei,der zum Siegesschrei wird. Eingeschlossen in Christus und SeinWort steht auf unserem Schild und Schwert: Es steht geschrie-ben! Und dringt über unsere Lippen: Im Namen Jesu; hebe dichhinweg, Satan! Und welches Gebilde der Luft sonst auch nochlocken möge: das Messer, mit dem du dein Auge ausgräbst undHand und Fuß abhauest (Mt 5,29.30), bleibt das geistgehauchteund geistgeschärfte Gebet. Lass aber die Waffe, die du gegendich selbst richtest, zum Heilmittel für andere werden, das heißt:Bete sofort für die, durch die du versucht wirst! (Egal, wie dieVersuchung auch aussieht!)

Zum Schluss wollen wir uns noch dem Gebet der gläubigenGemeinde zuwenden. Es ist der Lebensnerv des Leibes Christi.Ich habe das schon am Anfang gesagt: Gebetsarbeit ist der Le-bensausdruck der Gläubigen. Sie besteht aus lauter Einzelarbeit,bei der es auf keine so sehr ankommt wie auf die deine. Du hastdie Aufgabe, für und mit der Gemeinde zu beten. Die »Liebe desGeistes«, durch die Paulus (Röm 15,13) die Brüder ermahnt, dasssie ihm helfen kämpfen mit Beten für sich und seinen Dienst,will auch dich lebensmächtig durchpulsen, dass du ihr Mitarbei-ter werdest. Jeder Knecht und jede Magd Christi, deren Namenund Dienst dir der Geist einprägt, bedarf deiner mitkämpfen-den Gebete. Jede Evangelisation und Wortverkündigung, derenKreise dein Leben schneidet, hängt von deiner Fürbitte mit ab.Ebenso lebt auch die ferne Missionstätigkeit noch durch denregelmäßigen Pulsschlag deines Gebetslebens. Wenn du auchsonst zu keiner anderen Arbeit im Dienste Christi fähig bist, zurGebetsarbeit, die zugleich die kleinste und auch die größte ist,sollst du doch tauglich werden. Gerade »für alle Heiligen« heißtes schlaflos anhalten mit Beten und Flehen (Eph 6,18). Es istder ununterbrochene Kreislauf der Gebete füreinander in allenGliedern des Leibes Christi.

Und in diesem Kreislauf stehend wirst du auch ein Mitbeterfür die Bewahrung aller Heiligen in allen Trübsalen, Leidenund Verfolgungen, durch die der Leib Christi vollendet wird.Ganz besonders aber wirst du ein allzeitiger Mitbeter werden fürden gnadenreichen Tag der Offenbarung Jesu Christi, dass alleGläubigen würdig werden mögen zu stehen vor des MenschenSohn (Lk 21,36).

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Wann sollen wir beten?

Und kommt dieser Tag, so wird er auch die Frucht all deinerund aller Gläubigen Gebete enthüllen. Wenn die vierundzwanzigÄltesten am Throne Gottes vor dem Lamme knien, hat jeder eineHarfe und eine Schale voll Räucherwerk, welches sind die Gebeteder Heiligen (Offb 5,8). Es ist die Gott dargebrachte Anbetung dergottgeweihten, erlösten Seelen, beides, auf Erden und im Him-mel. Und vermischt mit himmlischem Räucherwerk steigt vomgoldenen Altar vor dem Throne der Rauch des Räucherwerksvon den Gebeten aller Heiligen auf von der Hand des Engels zuGott (Offb 8,3–5). Das ist der große Augenblick der zusammen-fassenden Erhörung aller Gebetsarbeit, die jemals im Himmelund auf Erden geschehen ist, zur Vollendung der Segnungen undGerichte Gottes mit aller Kreatur. Auch dein betendes Teilhabenan Gottes Weltregierung, liebes Gotteskind, kommt damit zurewigen Auswirkung.

In Erwartung dieses göttlichen Geschehens heben wir dieHäupter hoch (Lk 21,28) und beten: Komm, Herr Jesu! Ja kommebald!

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In allen Dingen Diener Gottes

Und wir geben niemand irgendein Ärgernis, auf dass unser Dienstnicht verlästert werde; sondern in allen Dingen erweisen wir uns alsDiener Gottes: in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten,in Schlägen, in Gefängnissen, in Aufruhren, in Arbeit, in Wachen, in

Fasten, in Keuschheit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, indem Heiligen Geist, in ungeheuchelter Liebe, in dem Wort der

Wahrheit, in der Kraft Gottes, durch Waffen der Gerechtigkeit zurRechten und zur Linken, durch Ehre und Schande, durch böse

Gerüchte und gute Gerüchte: als die Verführer und doch wahrhaftig;als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe,

wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht ertötet; als dieTraurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich

machen; als die nichts innehaben, und doch alles haben.2. Korinther 6,3–10

Es gibt zweierlei Dienste auf Erden: Ichdienst und Gottesdienst.Der Ichdienst entspricht der Ichbejahung und dem Selbstleben,der Gottesdienst der Jesusbejahung und dem Leben für Gott.Der Ichdienst entspricht der Sucht nach Ehre und Besitz, derGottesdienst der Hingabe des Lebens an Gott. Der Ichdienst be-ginnt mit den heranreifenden Äußerungen unseres natürlichenLebens von Mutterleibe an, der wirkliche Gottesdienst mit demneuen Leben aus Gott durch Bekehrung, Buße, Glaube und Wie-dergeburt. Der Ichdienst macht unmittelbar oder mittelbar dasIch zum Ausgangspunkt, Mittelpunkt und Endpunkt, wirklicherGottesdienst hat nichts als Gott im Auge. Ichdienst ist immerAbgötterei, wirklicher Gottesdienst ist das Ende aller Abgötterei.

Jeder Glaube, der nicht den Ichdienst aufgibt und den wirkli-chen Gottesdienst annimmt, ist Selbstbetrug, der Ärgernis erregtund den wirklichen Gottesdienst verlästert. Es gibt zweierlei Är-gernisse: ein unvermeidliches und ein durchaus zu vermeidendes.Das unvermeidliche Ärgernis ist das Ärgernis Christi, das er gab,indem er in einer ichdienerischen Welt allein Gott diente; diesunvermeidliche Ärgernis muss auch bei den Nachfolgern Christigefunden werden. Es zu verbreiten ist Notwendigkeit, dafür zu

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leiden Glückseligkeit, ja die einzige Glückseligkeit, die es nichtim Himmel, sondern nur auf Erden gibt; denn im Himmel gibt’snicht Hass und Schmach um Christi willen. Wehe den Gläubigen,deren Jesusnachfolge so blass ist, dass sich niemand daran stößt;sie werden auch nichts von der verheißenen Glückseligkeit aufErden erfahren (Lk 6,22 und 26)!

Aber nun das andere, das durchaus zu vermeidende Ärger-nis! Es ist das unglückselige Ärgernis der Heuchelei, nämlichscheinbar Gott zu dienen, in Wirklichkeit aber sich selbst zuleben. Es ist überall da, wo man wohl gewisse Formen der Gott-seligkeit hat, nämlich einen äußerlichen Gottesdienst pflegt, aberihre Kraft verleugnet (2Tim 3,5). Wir reden von Gott, als gingeuns nichts über ihn, und in Wahrheit geht uns nichts über dieAbgötter der Ehre und des Besitzes. Wir reden von Jesus, alsob er uns alles wäre, und in Wirklichkeit geht uns nichts überuns selber. Wir reden vom Segen der Bekehrung und von derKraft und Freude der Gotteskindschaft, und dabei findet manuns in den alltäglichsten Lüsten, Leidenschaften, Launen und inden gewöhnlichsten Äußerungen des ichsüchtigen Selbstlebens.Das ist das böse Ärgernis, wo die Leute allerlei Übles wider unsreden und nicht daran lügen (Mt 5,11). Das ist die größte Fins-ternis, wo wir, die wir das Licht der Welt sein sollen, Finsternisgeworden sind (Mt 6,23). Und das ist die faulste Fäulnis, wenndas Salz dumm geworden ist und unter den Füßen der Menschenzertreten wird (Mt 5,13).

Ich kenne manchen Ort, wo keine Evangelisation mehr fruchtet,weil dort das durchaus zu vermeidende Ärgernis herrscht. DerDienst des Herrn ist verlästert worden durch Neid und Streit derGläubigen untereinander oder durch Hochmut, grobes Wesen, jaoffenbaren Geiz, ja sogar grob unsittliches Leben der Einzelnenund ganzer Familien. Von Jesus und der Notwendigkeit der Be-kehrung hatte man geredet und gepredigt und dabei sich selbergelebt. Man beanspruchte, Träger des einzig richtigen Gottes-dienstes zu sein, und blieb stecken im Ichdienst. Man bejahteJesus in den Versammlungen und verneinte ihn im Familien- undBerufsleben. Wie viele Tausende im Lande mögen sich nicht bekeh-ren wegen der Ärgernis erregenden Verlästerung des Dienstes Gottesund Christi durch das offenbar gewordene Selbstleben der »Bekehrten«!Welch eine Abrechnung wird das vor dem Richterstuhl Christigeben!

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In allen Dingen Diener Gottes

Wie beschämend für solche und wie ermutigend andererseitsfür willige Jesusnachfolger redet da unser Textwort. Paulus kannbezeugen: »Wir geben niemand irgendein Ärgernis.« Der Mann,der das unvermeidliche Ärgernis Christi so rücksichtslos uner-schrocken und reichlich gegeben hat, dass man ihn als eine Pestund als einen Aufruhrerreger unter allen Juden des Erdkreisesgefunden hatte (Apg 24,5), irgendein Ärgernis! Er hat also nieeinen anderen Anstoß gegeben, als den Anstoß zu Jesus hin. Sorücksichtslos er das eine Ärgernis gab, so zart hütete er sich vordem anderen. Mochte man ihn als ein Allerwelts-Scheusal undals einen Auswurf aller ansehen (1Kor 4,13), so war doch niemalsder Dienst eines Apostels Christi durch ihn verlästert worden.Er redet aber nicht nur von sich allein, sondern sagt »wir« und»unser«. Gewiss meint er damit die Apostel und viele Gläubige,die also allesamt weder der Welt noch der Gemeinde das böseÄrgernis gegeben haben.

»Sondern erweisen uns in allen Dingen als Diener Gottes.«Eine höhere Zusammenfassung der Ichverneinung und Jesusbe-jahung gibt es nicht. Kein Ichdienst mehr! Keine Bezugnahmemehr auf irgendein persönliches Interesse eigenwilliger Art! Nurnoch für Gott in Christus da sein, um ihm dienend zu tun, was erwill! Und das in allen Dingen! Nicht nur in den ausgesprochenfrommen, sondern in den alltäglichsten! Nie und in nichts sichmeinen, sich suchen, sondern immer und in allem Gott in Chris-tus! Immer als Diener und nie als Herr erfunden werden! Stetsabhängig, nie selbständig! Keine Pause im Dienst! Kein ermatte-tes Zurücksinken ins ichsüchtige Selbstleben, weder in Gedankennoch Worten noch Werken! Welch ein Ausleben des Wortes: Nichtaber ich lebe, sondern Christus lebt in mir! (Gal 2,20) Und welchein Gegensatz zu dem: Sie suchen alle das Ihre, nicht, das ChristiJesu ist! (Phil 2,21)

Welch eine unbiblische Auffassung vom Gottesdienst hat sichdoch bei uns eingebürgert! In Kirche, Kapelle oder Versamm-lung zu gewissen Stunden am Sonntag oder auch noch in derWoche einige Lieder mitsingen, einige Gebete beten hören undeine Predigt über sich ergehen lassen, das ist nicht nur für diereligiöse Welt, nein, das ist auch für viele Gläubige der einzige»Gottesdienst«. Auf den Besuch dieser »Gottesdienste« berufensie sich, wenn sie ihr Christentum beweiskräftig machen wollen.Schön und notwendig sind diese »Gottesdienste«, und schön

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und notwendig auch ihr Besuch. Aber wenn’s weiter nichts ist!Zunächst ist’s doch wohl so, dass in solchen »Gottesdiensten«Gott vielmehr uns dient, als wir ihm dienen. Er dient uns dabesonders mit der Predigt und Auslegung seines Wortes durchseine Diener, die in jenen Stunden tatsächlich ihren beruflichenGottesdienst haben.

Der eigentliche, andauernde und entscheidende Gottesdienst beginntaber immer erst, nachdem uns Gott gedient hat. Er hat uns in derPredigt dazu mit seinem Wort gedient, damit wir ihm daheimund überall immer besser und ununterbrochener mit dem gan-zen Leben dienen sollen. Diese biblische Auffassung von einemernsthaft alle Stunden des Lebens währenden Gottesdienst istvielen ganz fremd, ja so fremd wie die Ichverneinung und Je-susbejahung angesichts des Kreuzes von Golgatha. Ichselig sitztman im »Gottesdienst«, und mit aller Selbstverständlichkeit stehtman im Alltagsleben im Ichdienst; den »lieben Gott« aber hatman hauptsächlich nur als nicht ganz zu entbehrenden Inter-essenvertreter der Ichgeschäfte, die sich beinahe durchweg umEhre und Besitz und Genuss drehen. Welch ein Abstand von demherrlichen Apostelwort: In allen Dingen Diener Gottes! DiesemAbstand entspricht dann auch das Ärgernis, das man an einerernsthaften Jesusnachfolge nimmt, und das man in Welt undGemeinde durch seinen Ichdienst gibt.

Paulus aber zeigt einen anderen Weg. Mit fester Hand beginnter in den weiteren Versen eine Linie zu ziehen, die Punkt umPunkt geradewegs hinab führt in die tiefste Tiefe der Ichvernei-nung und Selbstentleerung. Nur allein auf dieser Linie vermagsich ein Kind Gottes in allen Dingen zu erweisen als Diener Got-tes. Es ist der Weg, auf dem man die Selbstherrlichkeit verliertund die Herrlichkeit Christi gewinnt. Seine erste Station heißt:

In großer Geduld.

Das ist gerade das entscheidende Kenn-Wort für einen allzei-tigen und allseitigen Gottesdienst. Jeder eigenwillige Ichdienstist gekennzeichnet durch Ungeduld. Das Selbstleben befürchtet,überall und immer zu spät und zu kurz zu kommen, daher fiebertes in innerer und äußerer Hast. Soviel Ichkraft, soviel bebendeUngeduld, soviel schreiende Ungerechtigkeit in der Ausübungdes rücksichtslosen Ichdienstes. Aber die Einübung zum end-losen Gottesdienst beginnt mit der Erlernung und Erweisung

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In allen Dingen Diener Gottes

der großen, endlosen Geduld. Sie ist der erhabene Ausdruckder machtvollen Weisheit und heiligen Güte Gottes, dargestelltin der Geduld Christi, zu der unsere Herzen gerichtet werden(2Thess 3,5), auf dass wir »Mitgenossen« dieser Geduld werden(Offb 1,9). Unter dem vom Heiligen Geist gewirkten Einfluss derGeduld Gottes und Christi wird unsere Seele zum göttlichenTaktmaß erzogen, und unser Leben nimmt himmlische Gangartan. So lernen wir als Diener Gottes Geduld mit Gott, Geduld mitden Menschen und Geduld mit uns selber. Diese »große Geduld«erweist sich

. . . in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten . . .

Trübsale sind die Erprobungen unseres Gottesdienstes. Da wirdes offenbar, ob wir uns oder Gott meinen. Meinen wir uns, lebenwir im eigenwilligen, aber frommen Ichdienst, so wird uns inder Trübsal sicher über kurz oder lang der dreifache Geduldsfa-den der Geduld mit Gott, Menschen und uns selber reißen, undes wird Ärgernisse absetzen. Mit Gott werden wir hadern, mitMenschen grob werden und schließlich den Tag unserer Geburtverwünschen. Solange alles nach unserem Willen ging, waren wirlammfromm, nun aber in der Trübsal bäumt sich der verletzteEigenwille in seiner alten Gottfeindlichkeit auf und offenbart da-mit den noch vorhandenen Rest unseres selbstsicheren Ichlebens.Verdichten sich dann gar die Trübsale zu ausgesprochenen Nö-ten, so kennt Not oft, anstatt beten zu lehren, kein Gebot Gottesmehr und reizt den fiebernden Eigenwillen zur ungeduldigstenSelbsthilfe. Steigern sich die Nöte sogar zu verwirrenden Ängs-ten, so kündigt die anklagende Verzweiflung nicht selten Gottden letzten Dienst, und die Trümmer des Glaubens versinken imMeere des Trotzes und der Verzagtheit.

Wie anders, wenn wir uns in Trübsalen, Nöten und Ängsten ingroßer Geduld als Diener Gottes erweisen! Zwar sitzt dann dieSeele im Trüben wie hinter angelaufenen Fensterscheiben, diekeine Aussicht erlauben, und die Nöte schrecken und die Ängsteschütteln sie, aber der Geist bleibt im Dienste seines Herrn. Ja,er rühmt sich sogar der Trübsal, weil er weiß, dass die TrübsalGeduld bewirkt, die Geduld aber Bewährung, die Bewährungaber Hoffnung, die Hoffnung aber wird nicht beschämt, weildie Liebe Gottes in unser Herz ausgegossen ist, von der uns

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nichts zu scheiden vermag (Röm 5,3–5; 8,35–39). Wenn Gott unsderart in der Trübsal mit seinem Besten dient, wie sollten wiruns also von seinem Dienste scheiden? Nein, nur noch mehrsterben soll der irgendwie noch aufbegehrende Eigenwille, und,»fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal und anhaltend amGebet« (Röm 12,12), wollen wir uns erweisen als Diener Gottesin Trübsalen, Nöten und Ängsten. Auch

. . . unter Schlägen.

Die Ängste sind nicht unbegründet gewesen: Es kommt zu Schlä-gen! Oh ja, Gott schont seine Diener nicht im Geringsten! DieRache einer Frau darf den Dienst Johannes des Täufers beenden(Mt 14,3–12), der eigene Sohn wird nicht verschont, sondern füralle dahingegeben (Röm 8,32); denn Gott gefiel es, ihn zu zer-schlagen (Jes 53,10), Stephanus darf gesteinigt, Jakobus mit demSchwert getötet werden (Apg 7,58; 12,2), und was musste Pauluserdulden und berichten!

Wie ichverliebt ist doch zuweilen unsere Auffassung von der be-wahrenden Gnade Gottes! Als müsste Gott seine Lieblinge allezeitin Watte und Seidenpapier einwickeln! Wie anders, wie unge-schminkt hat Jesus seine Jünger auf Not und Tod eingeschult!(Mt 10). Hat wohl eines von uns im Dienste Gottes schon Schlägeerlitten? Wohl kaum. Aber Paulus hat sie erlitten. Und wie? Ingroßer Geduld! Woher weiß ich das? Hört! Er empfing seineSchläge in solch großer Geduld, dass er jeden einzelnen Schlagzählen konnte. Fünfmal vierzig weniger einen Streich, schreibter, habe er von den Juden empfangen (2Kor 11,24). Auch hat ihnein Satansengel mit Fäusten schlagen dürfen (2Kor 12,7). Aberweder die Juden noch der Satansengel konnten seinen Dienstzerschlagen. Im Gegenteil, nur noch eifriger diente er seinemHerrn mit der Gnade, die ihm, trotz der Schläge, vollauf zumDienst genügte. Das heißt, sich als ein Diener Gottes erweisenunter Schlägen in großer Geduld!

Und wir? Es gibt andere Schläge, die uns treffen. »Schicksals-schläge« nennen wir sie gerne. »Als ich meinen Mann verlor,das war ein Schlag!« heißt es da. »Und dann kam der zweiteSchlag: Wir verloren unser Vermögen!« Ja, das sind auch Schläge.Aber auch sie dienen nur dazu, dass wir Gott noch besser undgeduldiger dienen lernen. Sie sollen nur Reste des Eigenwillens

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In allen Dingen Diener Gottes

zerschlagen helfen und uns zerschlagenen Herzens endgültigerzu Gott hintreiben.

In Gefängnissen

heißt es weiter. Ist eines von uns um seines Gottesdienstes willenschon im Gefängnis gewesen? Ich glaube kaum. Aber Paulusmusste erleben, wovon er schreibt. Besonders in Philippi. Dortschloss der Herr der Lydia das Herz auf, damit sie, gläubiggeworden, den Dienern Christi nachher ihr Heim aufschließensollte. Danach wurden Paulus und Silas wegen des ausgetriebe-nen Wahrsage-Geistes ins Gefängnis eingeschlossen, aber durchein Erdbeben wurde ihnen von Gott das Gefängnis wieder auf-geschlossen, damit durch ihren Dienst hernach auch das Herzdes Kerkermeisters aufgeschlossen werden konnte. Welch einsonderbarer, zwischen Macht und Ohnmacht sich bewegenderDienst war das doch!

Aber nie wäre er so zur Ehre des Herrn geraten, wenn Paulusund Silas sich nicht im Gefängnis in großer Geduld als DienerGottes erwiesen hätten. Im innersten Gefängnis, mit den Füßenim Stock, beteten sie und lobten Gott um Mitternacht, bis derHerr der Erde die Grundfesten des Gefängnisses und der Herrder Herzen das Innerste des Kerkermeisters erbeben ließ (Apg 16).Welch ein durchdringend gesegneter Gottesdienst im Gefängnis!Und welch ein gnadenreicher Dienst später im Gefängnis zuRom, wo Paulus, angekettet an einen römischen Soldaten, denBrief an die Philipper, den Brief der Freude, schrieb, an dem wiruns heute noch erfreuen!

Jawohl, Paulus war im Gefängnis, um des Dienstes Christiwillen. Aber Paulus war auch noch im Gefängnis in der FreiheitChristi, zu der er sich frei gemacht wusste (Gal 5,1). In dieserFreiheit blieb er frei zum Dienst auch zwischen Kerkermauern.Er litt in Banden wie ein Übeltäter, aber Gottes Wort war nichtgebunden (2Tim 2,9). Und wäre ihm auch jeder äußere Dienstin Reden und Schreiben verunmöglicht worden, wie es ja wohlspäter geschah, so hätte er doch Gott in seinem Inneren weitergedient. Denn er wusste sich in Christus und Christus in sich.Die Weite dieses inneren Freiheits- und Herrlichkeitsreiches kön-nen keine Gefängnismauern einengen. Den Dienst in diesemReiche kann kein Scherge verbieten. Paulus sah durch die Mau-ern. Sein Glaubensauge sah das Unsichtbare. Paulus war nicht

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geknechtet durch die Kerkerstunde; er lebte im Ewigen; denndas Unsichtbare ist ewig (2Kor 4,18).

Viele Gläubige klagen über die unerträgliche Enge ihrer Ver-hältnisse, in der sie sich vorkommen wie im Gefängnis. Wennich in anderen Verhältnissen wäre, sagen sie, wie wollte ich dadem Herrn dienen! Es ist wahr, es gibt bedrückende Engen fürein gläubiges Herz, aber es gibt dennoch keinen Ort und keineMacht, die es uns unmöglich machen könnten, unserem Gott undHerrn zu dienen. Die Enge, über die wir klagen, ist zuerst undzuletzt in uns selber. Es ist unser Unglaube! Es ist unser armseligbeschränktes Selbstleben! Es ist unser kleinlicher Ichgeist! Werein Sklave seines Ichs bleibt, bleibt auch ein Sklave seiner Verhältnisse.Es kommt weniger darauf an, wo wir sind, als vielmehr, wie wirsind. Hätte unser Glaubensauge Licht und Kraft genug, wahrlich,es sähe durch alles hindurch und über alles hinaus den allmäch-tigen Gott, dem wir dienen, und den einen, der mit uns in jedenFeuerofen geht! (Dan 3,25). Hätte unser Glaubensgehorsam Frei-heit und Reichtum genug, wahrlich, wir blieben Priester undKönige selbst in der entwürdigendsten Lebenslage!

Niemand in der Welt als ich bin schuld, wenn mein Gottes-dienst verfällt! Schmach und Schande über mich, wenn ich dieanderen als die Verwüster meines Heiligtums bezeichnen will!So gewiss mich nichts von der Liebe Gottes zu scheiden vermagals nur meine eigene Lieblosigkeit gegen die höchste Liebe, dieaber dennoch von eben dieser höchsten Liebe überwältigt werdenwird, so gewiss kann mich niemand von dem Dienst lösen, dermich an meinen Gott und Herrn bindet, als nur der Rebell inmir selbst, dem aber dennoch Gott weiter dient. Darum mögeder klägliche, kleingläubige Jammerlaut hinsterben, als ob esirgendeine Enge eines »Gefängnisses« gäbe, in der wir uns nichtals Diener Gottes erweisen könnten in großer Geduld!

Auch

in Aufruhren.

Wo Kinder Gottes ungeteilt ihrem Herrn dienen, gibt’s über kurzoder lang Entscheidung, Erregung und irgendwelchen Aufruhr.Paulus hat das wiederholt mit Lebensgefahr erleben müssen.Aber wie erwies er sich auch in Aufruhren in großer Geduld alsein Diener Gottes! Den Griechen in Athen hielt er in aller Geistes-ruhe eine wohlgesetzte Bußpredigt, den zusammengelaufenen,

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In allen Dingen Diener Gottes

wütenden Juden in Jerusalem erzählte er, gebunden mit zweiKetten, geistesfest und geistesklar seine Bekehrungsgeschichte,so dass der Herr selber, der ihm in der Nacht des folgendenTages erschien, das Zeugnis seines Dieners bestätigen konnte(Apg 17,22–31; 22,1–21; 23,11).

Ich bin auch schon um des Dienstes willen wiederholt in Auf-ruhre gekommen. Einmal, in der Nacht, umhagelten uns dieSteinwürfe aufgeregter Bauern, und trafen auch, besonders mich.Als ich schmerzlich zusammenzuckte, meinte mein Begleiter, einreifer Diener Christi: »Musst nicht erschrecken! Den alten Men-schen trifft es nicht, der ist nicht mehr da; und dem neuen macht’snichts; denn der ist Christus in uns: Der ist das gewohnt!« Mitwelchem Frieden erlebten wir den Ausgang dieses nächtlichenAufruhrs!

Es gibt aber auch andere Aufruhre, nämlich Streit unter denGläubigen. Wohl den Brüdern und auch Schwestern, die sichda als Diener und Dienerinnen Gottes, die Frieden stiften, er-weisen in großer Geduld! Und wie ist es mit den Aufruhren inden Familien, wenn da plötzlich der Satan, gewöhnlich wegenNichtigkeiten, einen Sturm zu entfesseln vermag? Erweisen wiruns da in der großen Geduld Christi als Diener Gottes oder inempörter Selbstherrlichkeit als geärgerte und Ärgernis erregendeaugenblickliche Diener Satans?

Die nächste Dienststelle heißt:

In Arbeit.

Wer sich da als geduldiger Diener Gottes erweisen will, musszweierlei lernen. Erstens: Nimm deine Arbeit niemals aus der Men-schen Hand! Zweitens: Tue sie niemals in eigener Kraft! Kennst dunur die Menschen als deine Arbeitgeber, so wirst du mehr oderweniger ein augendienerischer Menschenknecht oder ein em-pörter Menschenhasser; in beiden Fällen bist du kein DienerGottes mehr. Ein Menschenknecht wirst du, wenn du nur fürAnerkennung und Lohn arbeitest; und ein Menschenhasser wirstdu, wenn du beides nach deiner Meinung nicht reichlich genugempfängst; in beiden Fällen gedeiht nur ichdienerische Unge-duld. Empfängst du aber deine Arbeit aus der Hand Gottes,indem du dich dünken lässt, dass du dem Herrn dienst undnicht den Menschen (Eph 6,7), und ist der Herr allein dein Rich-ter und Lohnherr, so wird dein Arbeitsdienst den größten Teil

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deines Gottesdienstes ausmachen und bald wunderbar geadeltund gesegnet werden. Dazu gehört auch, dass du deine Arbeitin der Kraft Gottes tust. Andernfalls wird dich dein gelingendesWerk ruhmselig oder dein weniger gelingendes Werk trübseligstimmen; in beiden Fällen bleibst du an dir selber hängen. Sowirst du dich entweder wie ein ichsicherer Held in die Arbeitstürzen oder es wird dir vor ihr grauen; in beiden Fällen fiebertdie fleischliche Ungeduld. Darum so viele Nervöse.

Also rechne weder mit deiner eigenen Macht noch Ohnmacht;denn beides ist törichter, selbstischer Ichglaube, sondern rechnefür jede Arbeit allein mit der Kraft Gottes. Beginne und vollendejedes Werk betend im Namen Jesu. Sobald du merkst, dass dichdie Arbeit ungeduldig macht und nicht mehr das Gepräge einesDienstes für Gott trägt, so bete erst wieder um Stillung deinerSeele, und dann wirke in der Ruhe des Glaubens weiter. Wieviel Ärgernis würde vermieden, wenn wir so arbeiten lernten!Lasst uns den Musterarbeiter Paulus ansehen! Er hat gesagt: »Ichhabe viel mehr gearbeitet als sie alle; nicht aber ich, sondern dieGnade Gottes mit mir« (1Kor 15,10). In dem Maße, als wir dieGnade mit uns arbeiten lassen, werden auch wir uns in jederArbeit als Diener Gottes erweisen können in großer Geduld.

Sodann

in Wachen.

Das Wort bezeichnet Schlaflosigkeit. Gewiss dachte Paulus anfür den Herrn in besonderem Dienste durchwachte Nächte. Wirdürfen aber auch an schlaflose Nachtstunden im allgemeinenSinne denken. Was machen wir mit solchen Stunden? Hört: Siesollen zum nächtlichen Gottesdienst werden! Wie denn? Indemwir sie zum betenden Umgang mit dem Herrn und zur Erfüllungdes Fürbittedienstes benutzen lernen. Wie viele Gläubige klagen,es fehle ihnen am Tage Zeit und Stille zum rechten Gebetsdienst,und zugleich klagen sie über schlaflose Nachtstunden. Hast duda noch nie darüber nachgedacht, warum du nicht ein- oder nichtdurchschlafen kannst? Du sollst den nächtlichen Gottesdienstüben lernen!

Anstatt eigenwillig mit gequälter Seele vergeblich nach demwie man meint unbedingt nötigen Teil Schlaf zu haschen, wendedich dem Herrn zu, um von ihm erquickt zu werden auf deinem

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Lager. Jetzt ruhen deine Glieder und Sinne, jetzt beginne zu be-ten: »Komm, du nahes Wesen, dich in mir verkläre, dass ich dichstets lieb und ehre!« Jetzt sammle dein ganzes Wesen zu ihm hin,dass er dich tränke mit Wonne wie mit einem Strom (Ps 36,9).Jetzt nenne ihm auch fürbittend die Namen, die er dir längst aufsHerz gelegt hat. Jetzt wirf auch alle deine Sorgen und Anliegenauf ihn, anstatt sie Nächte hindurch auf deinem Herzen herum-zuwälzen. Du wirst staunen, wie friedlich du einschläfst oderselbst bei wenig Schlaf erquickt am Morgen aufstehst, und wirstjene alte, schwache Schwester verstehen lernen, die, wenn mansie am Morgen fragte, wie sie geschlafen habe, bedeutungsvollantwortete: »Danke, ich habe gut gewacht!« Siehe, das heißt imWachen sich als Diener Gottes erweisen in großer Geduld!

Eine weitere Dienstarbeit: in Fasten.

Gemeint ist hier wohl besonders das unfreiwillige Fasten, infolgeMangels an Nahrung. Wahrscheinlich will Paulus sagen: Wirhaben auch unter Entbehrung der nötigen Speise Gott weitergedient und uns so auch »in Fasten« als Diener Gottes erwiesenin großer Geduld. Es gab aber auch ein freiwilliges Fasten inder neutestamentlichen Gemeinde, an dem Paulus auch teilhatte(Apg 14,23) und worin man sich ebenfalls als Diener Gotteserwies. Wie fremd ist uns doch solcher Dienst geworden! Inungeminderter Freudigkeit auch bei Hunger und EntbehrungenGott weiterdienen, kann noch lange nicht jedes Kind Gottes. Esscheint aber, wir werden es noch lernen müssen in der letztenZeit. Da wird es auch noch heißen: Siehe, hier ist Geduld derHeiligen – in Fasten!

Wie aber sieht es gar mit dem freiwilligen Fasten aus! DassFasten eigentlich zum Beten gehört, wissen die meisten gar nichtmehr. So wie man sein Teil Schlaf beansprucht, so noch vielmehr sein Teil Speise. Wer mag sich da als ein Diener Gottes imFasten erweisen! Welche ichbeleidigende Zumutung, nicht wahr?Das halten ja die schwachen Nerven nicht aus! Und es wäredoch auch nur »gesetzlich!« Nein, sondern es wäre eine rechtegeistliche Übung zur Gottseligkeit, die all denen, die dem Baucheals ihrem Gott dienen (Phil 3,19), ein wegweisendes Beispielgeben könnte. Zudem wird auch das Fasten unter gläubigenEheleuten (1Kor 7,5) geradezu als Voraussetzung für jede weitereEnthaltsamkeit behandelt. Ärgert uns das?

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Die nächste Dienstgelegenheit heißt: in Keuschheit.

Es betrifft dies Wort die sittliche Reinheit, von der 1. Johannes 3,3in Verbindung mit der Hoffnung auf die Wiederkunft des Herrndie Rede ist. In solcher Reinheit zu leben, bedeutet ein unerläss-liches Stück Gottesdienst. Ja, es bedeutet nichts Geringeres alsdie dienstwillige Darbringung unseres Leibes als eines lebendi-gen, heiligen und Gott wohlgefälligen Opfers für Gott, welcheDarbringung geradezu unser vernünftiger Gottesdienst genanntwird (Röm 12,1). Und da Paulus bei den Erbarmungen Gotteszu solchem Gottesdienst ermahnt, wie sehr sollten wir uns alsoin ihm als Diener Gottes zu erweisen suchen! Viel Dienst fürGott bleibt ungetan, weil wir Gott nicht das Opfer unseres Leibesbringen. Wie weit wir wahrhaft Gott unser Herz schenken, zeigtsich daran, wie weit wir Gott unseren Leib einhändigen. Und wieweit wir uns im Glauben für mit Christus gekreuzigt, gestorben,begraben und zu neuem Leben lebendig gemacht halten, wirddaran offenbar, wie weit wir mit unseren Gliedern und Sinnennicht mehr uns selbst, sondern Gott leben und dienen. Paulusmachte seinen Leib zum Sklaven im Dienste für Gott (1Kor 9,27).Wie viele Gläubige sind noch durch ihren Leib im Dienste ih-res wollüstigen Ichs versklavt! Darum so viel Schlappheit undSchwachheit, auch Krankheit! Der Leib dem Herrn, und der Herrdem Leibe! (1Kor 6,13 und 15) Denn unsere Leiber sind GliederChristi. Dann hat das Leibesgefäß Öl, und sein Licht, das Auge,leuchtet in Einfalt und Reinheit (Mt 25,1–13; 6,22). Und wie vielStreit und Ärgernisse verschwinden dann! (Jak 4,1). So vermö-gen wir uns in großer Geduld zu erweisen als Diener Gottes inKeuschheit.

Auch

in Erkenntnis.

Keuschheit und Erkenntnis bedingen einander. Gott kann sichuns nicht mehr geben, als wir uns ihm geben. Und Gotteserkennt-nis ist weit mehr als Bibelwissen: sie ist bewusstes Teilhaben amewigen Leben, pulsierendes Gottesleben in uns! Wer dazu sei-ne Sinne und Glieder nicht hergibt, gleicht einem Instrument,dessen Tasten nicht funktionieren. Gott in Erkenntnis dienen,heißt mit im Geist erneutem Sinn (Röm 12,2) und geübten Sinnen(Hebr 5,14) ihm zu Willen sein. Ohne solche Erkenntnis ist unser

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Gottesdienst leerer Brauch oder blinder Eifer. Der Dienst der Er-kenntnis bleibt aber ganz gebunden ans Wort der Wahrheit unddes Lebens in der Heiligen Schrift, in der sich Gott zu erkennengibt.

Rechthaberisches Wortgezänk, bei dem man sich mit demStückwerk der nur wortgemäßen Erkenntnis übereinander er-hebt, ist jedoch kein Dienst in Erkenntnis. Gerade weil unserErkennen ein stückweises ist, haben wir uns in großer Geduldals Diener Gottes in Erkenntnis zu erweisen, indem wir gedul-dig Stück an Stück zu fügen haben, um auf diese Art hinzuzugelangen zur Einheit der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zumvollkommenen Mannesalter, zum Maße der Lebensgröße derFülle Christi (Eph 4,13). Gemeinsam das Stückwerk eines zer-brochenen Topfes aneinander zu passen erfordert einen anderenGeduldsdienst als das überlegene Triumphieren des Einzelnen,er habe mit seiner Scherbe in der Hand bereits den ganzen Topf.Oh wie fehlt es doch weit und breit am großen Geduldsdienst inErkenntnis! Und wie viel starrköpfiger, Ärgernis erregender Ich-und Formdienst wirtschaftet stattdessen!

Ebenso viel fehlt uns am Dienst

in Langmut,

in Nachsicht. Denn hier handelt es sich wohl hauptsächlich umdas Ertragen von Beleidigungen, Beschimpfungen und allerleiUngerechtigkeiten. Wer im Ichdienst stecken bleibt, erträgt der-gleichen nicht. Er sucht Ehre, Berücksichtigung, Bequemlichkeit,und vor allen Dingen – sein Recht. Nichts ist ihm ferner alsLangmut in diesen Stücken. Geärgert, wird er kurzerhand her-ausfahren und wieder zu ärgern suchen. Der Ichdiener widerstrebtjedem Übel; denn er findet in jeder Belästigung einen Angriff gegen seinSelbst, der ihm unerträglich scheint. Wie könnte er Geduld habenmit seinen Peinigern! Entweder er wehrt sich gegen sie, oder erflieht sie. Wer aber Gott allein dient, tut beides nicht. Er dientweiter; denn er weiß, niemand hat den Dienst Gottes nötiger alsdie Schmäher und Beleidiger und Ungerechten. Sein Ich aberist in dem Maße von Menschen nicht mehr zu treffen und zustürzen, als es bereits von Gott getroffen und gestürzt am Bodenliegt. So bekommt der Diener Gottes sogar Wohlgefallen an Miss-handlungen wie Paulus (2Kor 12,10), weil sie ihn vor Rückfall ins

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Eigenleben bewahren helfen und Gelegenheiten bedeuten, sichselbst weiter zu verlieren und die Gesinnung Christi zu gewinnen(Phil 2,5; 1Petr 2,23). Wie köstlich ist solcher Dienst in Langmut!

Und

in Freundlichkeit.

Soweit ich Gott seit meiner Bekehrung kennengelernt habe, ist ermir als ein unausprechlich freundliches Wesen erschienen. Ja, erist freundlich, und seine Güte währt ewiglich! Und ich denke, jemehr wir seine Nachahmer (Eph 5,1) in seinem Dienste werden,desto freundlicher müssen auch wir werden. Jedenfalls ist schonviel Dienst der Seinen misslungen – wegen Unfreundlichkeit.Soviel Ichleben wir beibehalten, soviel Laune, Härte, Grobheit,Plumpheit wird uns begleiten. Ein Geschäftsmann, dem die un-freundliche Härte auf dem Gesicht geschrieben stand, meinte,je mehr sein Angesicht einem Kieselstein gleiche (Jes 50,7), de-sto ernster sei sein Christentum. Aber seine Familie und seineAngestellten zitterten vor seinem Christentum. Während einerEvangelisationswoche barst dieser fromme Kieselstein. Aus ei-nem zum ersten Male wirklich zerschlagenen Herzen flossennun wehe, wehe Selbst-Anklagen wegen böser, böser Härte. Undbeinahe sichtbar flutete der Golfstrom der Freundlichkeit undGüte Gottes heilend und befruchtend an dies zertrümmerte Her-zensgestein heran. Zwei Jahre später stellte sich mir der Mannaufs Neue vor. Mit blühendem vom Sonnenglanz der Freundlich-keit Gottes mild beleuchtetem Kindergottes-Angesicht erzählte ermir, zwei seiner Kinder und einer seiner Angestellten hätten sichinzwischen bekehrt, und ihm gehe es gut. Seine Frau, die umzehn Jahre verjüngt aussehend, danebenstand, bestätigte alles.Gehe hin, unfreundlicher Diener Gottes, und erlebe desgleichen!

Als weitere Dienstart verzeichnet Paulus die Erweisung alsDiener Gottes

im Heiligen Geiste.

Vor einigen Jahren erlaubte es mir die Freundlichkeit eines KindesGottes, Rom zu sehen. Es ging mir dort umgekehrt wie Luther,ich bekam vom christlichen Leben manchen sehr guten Eindruck.Sehr zogen mich die Katakomben des Calistus an, diese un-terirdischen Versammlungsräume der ersten Christengemeinde

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während der Verfolgungszeiten. Viele der trockenen Verbindungs-gänge benutzte man später als Begräbnisstätten, indem man dieSärge in ausgehauene Nischen einschob und darunter die Namender Toten auf Stein- oder Metalltafeln bezeichnete. Geschäftsmä-ßig schnell eilte unser Führer und Erklärer mit der Gruppe vonBesuchern an diesen Grabkammern entlang. Ich aber zögerte undleuchtete mit dem ruhigen Lichte meines langen Wachsfadensmanche Grabtafeln ab. Plötzlich las ich unter dem Namen einerda begrabenen Christin (in Deutsch wiedergegeben) die Worte:»Sie lebte im Heiligen Geist.« Wie von Gott angeredet durchfuhres mich. Welch eine Grabschrift! Welch ein Nachruf! »Sie lebteim Heiligen Geist!« Und im Nu hieß es in mir: Wenn man daseinmal von dir sagen könnte: »Er lebte im Heiligen Geist!« Oh,musste ich denken, dann wäre ja alles, alles erfüllt, was dein Gottmit dir hat tun wollen und womit du ihm hast dienen sollen! ImHeiligen Geist leben! Nicht im Ichgeist! Nicht im Zeitgeist! Nicht inirgendeinem menschlich-frommen Geist! Nein: im Heiligen Geist!

Nicht nur vom Heiligen Geist geleitet, gelehrt und zuweilengestärkt, nein: im Heiligen Geist leben! Ein vom Heiligen Geisterfülltes und zur Erfüllung gebrachtes Leben! In ihm denken unddienen, wandeln und handeln, ruhen und reden! Schauerlicherschrak ich über die Geistlosigkeit meines Lebens. Schauerlichfand ich mich allein in dem unterirdischen Grabgang Roms undeilte vorwärts, doppelt bange vor Verirrung. Und was ich auchan jenem Tage von Roms verfallener und lebender Herrlichkeitnoch sah, nichts überstrahlte die Herrlichkeit jener Grabschriftunter der Erde: »Sie lebte im Heiligen Geist.«

Und nun

in ungefärbter (ungeheuchelter) Liebe.

Da stehen wir vor den drei Worten wie vor unserem schreiends-ten Mangel; denn jeder Mangel in unserem Dienst ist Mangelan ganzer, voller, echter Liebe. Ach ja, die Selbstliebe, die gerätecht, voll und ganz, ohne dass man sie zu düngen braucht! Aberlasst uns nach dem sehen, der Sein Haupt neigte und mit einemlauten Schrei für uns starb, und der zuvor gesagt: »Niemandhat größere Liebe, denn die, dass er sein Leben lässt für seineFreunde« (Joh 15,13), und seine Freunde waren – seine Fein-de, denen seine Liebe mit diesem grässlichen Tode diente! Und

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Paulus, der uns auffordert, die Liebe Christi zu erkennen, diedoch alle Erkenntnis übersteigt! (Eph 3,19). Lasset uns achten aufseine Dienstauffassung 1. Korinther 13,1–8: »Und wenn ich . . . !«All unser vieler, vieler »Dienst« ohne die ungeheuchelte Liebe:metallisch-kaltes Wortgetöne, klingender Schellendienst, und wirselber: »nichts«!

Welch entsetzliche Menschen müssen wir doch sein, dass unsvor dieser Möglichkeit nicht mehr, nicht viel mehr graut! Dennunser Gesamtvorrat an Liebe, mit dem wir die Menschen bedie-nen könnten, ist – gefärbt! Er zeigt die Giftfarbe der Ichliebe. Wirlieben um Gegenliebe oder um eigenliebiger Selbstbewertungwillen; das heißt, wir lieben uns in unserem Lieben. Auch könnenwir Gott nicht in ungefärbter Liebe dienen, wenn schon in Furcht,aus Selbstliebe. Oder wir lieben und dienen aus Genuss, um derAnmut des Fleisches, um des Behagens, um des Standes und derBildung willen: alles »gefärbte« Liebe!

Aber wie können wir uns dennoch als Diener Gottes in unge-heuchelter Liebe erweisen? Wenn wir in herber, tieferfahrenerIchverneinung gar nicht mehr mit der menschlichen Liebesfähig-keit und Liebenswürdigkeit, sondern allein mit der Liebe Gottesin Christus Jesus rechnen. Das ist das Ende alles Götzendienstesin der Liebe und der Anfang alles Gottesdienstes in der Liebe.Wir lieben dann die Menschen nicht mehr um unsret- und nichtmehr um ihretwillen, sondern grundsätzlich nur noch um Gottesund Christi willen. Das heißt, wir lieben sie fortan in und mitder Liebe Gottes und Christi. Oder noch einfacher gesagt: Wirlieben die Menschen mit dem Herzen Jesu! Nun können wirbedingungslos, das heißt ohne selbstisches Interesse, also unge-heuchelt lieben. Denn das ist die Liebe, die durch den göttlichenHass (Lk 14,26) hindurchgegangen ist, der uns im Zeichen desKreuzes auf Golgatha von allem Fleisch scheidet. Und das istzugleich die Liebe, durch die das göttliche Erbarmen hindurch-geht, das uns im Zeichen des Kreuzes auf Golgatha mit jederMenschenseele verbindet.

Diese Liebe ist ausgegossen durch den Heiligen Geist in unsereHerzen (Röm 5,5), und wir empfangen und haben sie nur imGlauben. Es ist die Liebe Christi, von der er sagt: »Bleibt in meinerLiebe« (Joh 15,9). Sollten wir durch das Bleiben in unserer Liebeuns als Diener Gottes erweisen müssen, wo blieben wir und unserDienst! Nun aber vermögen wir in seiner Liebe, ungeheuchelt

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uns zu erweisen als Diener Gottes in großer Geduld. Diese Liebetreibt jedes Ärgernis aus. Diese Liebe lasse der Herr in uns völligwerden! (1Thess 3,12).

Nächste Diensterweisung:

in dem Wort der Wahrheit.

Das heißt gewiss zuallererst, dass wir die Lüge ablegen sollen(Eph 4,25). Dann aber gewiss auch, dass sich unser Dienst inden Richtlinien des Wortes Gottes zu erweisen habe, in demunser ganzes Leben Schriftdarstellung und Schrifterfüllung wird(Phil 2,16; 2Kor 1,20). Denn es ist ein großer Unterschied, ob ichdas Wort der Wahrheit als Lehrsystem im Kopf oder als Wahrheitdes Wortes im Leben habe, um mich darin als allzeitiger undallseitiger Diener Gottes zu erweisen, womit zahllose Ärgernissewegfallen.

Sodann

in der Kraft Gottes.

Der Ichdiener pocht auf die eigene Kraft und möchte, um seinerreligiösen Selbstbewertung willen, mit seiner Kraft auch Gottunter die Arme greifen. Er glaubt an sich selbst und sänge amliebsten: »Ach, mein Herr Jesu, wenn du mich nicht hättest.« SeinDienst ist Entfaltung der Kraft eines Menschen.

Dienst in der Kraft Gottes ist aber etwas ganz anderes. Der setztunsere stete Schwachheit, ja unseren immer völligeren Bankrottvoraus. Gottes Kraft wird nur in unserer Schwachheit vollkom-men (2Kor 12,9). Und nur, weil uns so sehr vor dem Schwach-werden in uns selber graut, fehlt uns so sehr die Kraft Gottes inunserem Dienst.

Wohl entschuldigen wir uns gerne mit unserer Schwachheit imDienst für Gott, in Wirklichkeit aber sind wir so stark gegen Gott.Stark im Eigenwillen, stark in der Selbstweisheit, Selbstgerech-tigkeit und Selbstgefälligkeit, und stark in den ichdienerischenLüsten des Fleisches. Oh, wenn wir einmal willig würden, unsschwach machen zu lassen in uns selbst, wie würde sich GottesWilligkeit erweisen können, uns stark zu machen in sich! Dannwürden auch wir ehrlich mit Paulus sagen können: »Wenn ichschwach bin, bin ich stark!« und könnten uns auch wie er unsererSchwachheiten rühmen: so aber müssen wir uns ihrer schämen.

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Und beschämt sinne ich dem nach, was es sein würde, wenndie Kinder Gottes sich als Diener Gottes erweisen würden in derKraft Gottes! Schon bei kleiner Kraft würden sie »Philadelphia«gleichen (Offb 3,8).

Durch Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten undzur Linken.

Entwaffnet in uns, werden wir bewaffnet durch Gott.In einer Stadt kam ein ganz unscheinbares Frauchen zu mir

und erzählte mir die Bekehrungsgeschichte ihres Mannes. densie geheiratet hatte, als sie selbst noch unbekehrt war. Schon amHochzeitstage fing er an, sie zu prügeln; diese Prügel aber triebensie zum Heiland und zur Bekehrung hin. Von da an begann sieum seine Errettung zu flehen und betete: »Herr, er prügelt mich.Mach mich so, dass er mich nicht mehr schlagen kann, sondernsich bekehrt!« Aber zu ihm sagte sie: »Ich weiß, wenn ich wäre,wie ich sein sollte, könntest du mich nicht mehr schlagen!«

Nach einigen Monaten hörte er mit dem Prügeln auf, fing aberan zu trinken. Da klagte sie dem Herrn: »Herr, er trinkt. Ichdanke dir, dass er mich nicht mehr prügeln darf. Mach michnun so, dass er auch nicht mehr trinken kann!« Zu ihm sagtesie: »Womit hab ich’s verdient, dass du mich nicht mehr schlägst?Denn, wenn ich wirklich wäre, wie ich sein sollte, bliebst du dochbei mir, und könntest nicht alle Nächte im Wirtshaus sitzen!«

Nach einigen Monaten trank er nicht mehr; aber er blieb dochnicht bei ihr, sondern wollte sich scheiden lassen. Da schrie siezum Herrn: »Nun will er sich scheiden lassen! Herr, ich dankedir ja, dass er nicht mehr trinkt. Aber nun mach mich doch so,dass er nicht von mir gehen kann, sondern sich bekehrt!« Ihmaber sagte sie: »Ich kann’s schon begreifen, dass du dich scheidenlassen willst. Aber wart doch noch ein wenig, ich will dir dochnoch die rechte Frau werden!«

Nach einigen Monaten sagte er, er wolle einmal mit in dieGemeinschaft, und dort hat er sich bekehrt. – Als das Frauchendiese Geschichte beendet hatte, musste ich denken: Die ist dielebendige Verkörperung von 1. Petrus 3 Vers 1 bis 4. Und alssie das Zimmer verließ, sah ich dem schwachen, armen Weib-lein nach, und sah, dass es lichte, unüberwindliche Waffen derGerechtigkeit hatte zur Rechten und zur Linken.

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Durch Ehre und Schande.

sagt unser Textwort weiter; denn von nun an redet der Apostelnur noch in Gegensätzen zu uns. Es ist, als ob der Weg desDienstes, den er zeichnet, jetzt steiler bergab führe und nur alsein schmaler Dienst auf der einen Seite droht, heißt Ehre, und dieauf der anderen Seite, Schande. Wird uns in unserem Dienst fürGott Ehre zuteil und wir lassen sie in der eigenen Tasche stecken,anstatt sie dem zu geben, dem allein Ehre gebührt, so sinkt unserGottesdienst zum Menschen- und Ichdienst herab und verdirbt.Treibt uns aber gar eitle Ehr- und Ruhmsucht (Phil 2,3–5), sokann von Geduld und Gottesdienst keine Rede mehr sein. DieEhrliebe ist die Mörderin der Gottesliebe. Wie viel Opfer liegen daam Wege! Wer Ehre nicht vertragen kann, kann aber gewöhnlichauch Entehrung, Schande, nicht vertragen. Jene steigt ihm zuKopf, diese bricht ihm das Herz. In beiden Fällen ist geheimerIchdienst die Todesursache des Gottesdienstes.

Durch böse Gerüchte und gute Gerüchte.

Derselbe Gegensatz unter anderen Namen. Wer sich wie Paulusin seinem Dienste für Gott übt, allenthalben ein unverletzt Ge-wissen Gott und Menschen gegenüber zu haben, und dabei keineandere Gerechtigkeit als die im Blute Christi besitzt (2Kor 5,21),der dient Gott geduldig weiter auch unter der Gefahr des bösenoder guten Gerüchtes. Er geht geradewegs durch beide hindurch.Beide Gerüchte dienen ihm zum Einspruch gegen jede Selbstliebe;so bleibt er gefeit.

Als ein Knecht Gottes gut gepredigt hatte und eine seinerVerehrerinnen ihn am Fuß der Kanzeltreppe anhimmelte: »Wun-dervoll, wundervoll!« sagte er nur: »Sie kommen zu spät. Dashat mir der Teufel schon auf der Kanzel gesagt!«

Als die Verführer und doch wahrhaftig.

Wieder wechselt der Apostel die Sprechweise. Die gegensätzlicheRede bleibt, aber fortan handelt es sich weniger um ein dienendesAufwärtsschreiten mitten durch Gefahren hindurch, als vielmehrum eine Vollendung unseres Dienstes wie unter einer Maske.Man versieht sich an den Dienern Gottes. Sie sind etwas anderesals sie scheinen. Aber nicht zu ihrem Schlechten und zum bösen

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Ärgernis, sondern nur zu ihrem Guten. Aber dennoch sehensie bald aus wie Verdächtige, bald wie Nichtssagende, bald wieVerendende, bald wie Todunglückliche, bald wie Herunterge-kommene und endlich wie ganz Verlumpte; solchergestalt siehtman sie ihrem Gott dienen.

Sie scheinen unwahrhaftige Verführer, denn Verführer sinddurchweg unwahrhaftige Menschen, die es aufs Verderben ihrerOpfer abgesehen haben. Aber sie sind wahrhaftig; denn sie habenes auf die Rettung von Opfern abgesehen. Aber Verführer sind sie,denn sie wollen die Menschen überredend zu Jesus hinführen.Tatsächlich muss jeder Evangelist, jeder Prediger, jeder Hirte,jeder Missionar, ja jedes Kind Gottes etwas Verführerisches ansich haben; wo das fehlt, fehlt etwas in unserem Dienste für Gott.Aber nie darf die Wahrhaftigkeit dabei fehlen; wennschon dieSchlangenklugheit zuweilen listige Dienste tun kann (2Kor 12,16).

Eine Tochter der Großstadt wird am dunklen Abend von ei-nem Herrn auf der Straße angeredet, ob er sie begleiten dürfe.Bitte, er solle nur mitgehen. Er tänzelt, schwatzt und träumt vonallerlei Lust, und sie führt ihn – in die Evangelisationsversamm-lung. »Aber Fräulein?« – »Bitte, Sie haben mich nur gefragt, obSie mich begleiten dürften, und ich wollte hierher.« Dennochhoffend, bleibt er ihr zuliebe, und kommt dabei, als unwahrhafti-ger Verführer, aus der Hand der wahrhaftigen Verführerin aufder Straße in die Hand des ebenso wahrhaftigen Verführers amRednerpult im Saal und schließlich in die Hand Jesu.

Eine weitere Sonderbarkeit:

Als die Unbekannten, und doch bekannt.

Was war Paulus bei Lebzeiten für die große Kulturwelt: in Jeru-salem ein Sektenhäuptling, in Athen ein Lotterbube, in Rom einGefangener! Wie unbekannt war er als das, was er wirklich war.

Aber was war Saulus von Tarsus, um deswillen der Himmelzerriss und den der Sohn Gottes bei Namen rief und über denJesus dem Ananias in Damaskus den bedeutsamsten Ausweisgab und dem der Herr wiederholt erschien, um ihm persönlichWeisung für seinen unvergleichlich wichtigen Dienst zu geben, –was war dieser Saulus-Paulus bei Gott!

Und ging es nicht all jenen Dienern Christi so? Ein Haufevon Unweisen, Törichten, Unedlen und Verachteten (Mt 11,25;

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1Kor 1,27), lauter der großen Welt Unbekannte. Aber wie ewigangenehm und hochbekannt bei Gott! (Lk 10,20; Röm 8,29.30;Eph 1,4; 1Petr 2,9).

Und heute? Auch heute noch sind die wahren Diener Gottes,die nicht sich, sondern Gott in Christus leben, ein Haufe vonUnbekannten, deren Namen die Kulturwelt nicht des Wissens fürwert hält und deren Leben und Dienst sie verlacht und verspottet.

Aber was sind sie bei Gott! Nicht die gewaltigen und weisenKulturmenschen, nein, sie sind das Licht der Welt und das Salzder Erde, und ihrer wartet die Kreatur und das Königreich derHimmel und der Besitz des Erdreichs und die ewige Gottesstadt!Wo werden die Namen der Diener dieser Welt bleiben, wenndie Namen der Diener Gottes, als Träger des Himmelreiches,aus dem Buche des Lebens verlesen werden? Ja, selig die DienerGottes, die sich erweisen in großer Geduld als die Unbekannten,und doch bekannt!

Ihr Dienstausweis lautet:

Als die Sterbenden, und siehe, wir leben!

Die große Welt hält sie für Absterbende, Hinsterbende, Ausster-bende, für Narren, die sich selbst ums Leben betrogen haben.Sie selbst achten ihr Leben wie das Leben von Schlachtscha-fen (Röm 8,36). Sie werden getötet den ganzen Tag. Sie sterbentäglich (1Kor 15,31). Als mit Christus Gestorbene sterben siesekündlich neu sich selbst. Sie sterben ab ihrem Eigenwillen,ihrer Selbstweisheit, Selbstgerechtigkeit, Selbstgefälligkeit, Selbs-terlösungsfähigkeit, jeder eigenen Kraft, jeder Lust des Fleisches,jedem Behagen der Sinne, jeder Regung von Selbstbemitleidungund Selbstverschonung, jedem Anspruch auf Berücksichtigungund Verschonung durch andere, jedem Halt und jedem Aufent-halt in der Welt der Sichtbarkeit (Phil 1,23); denn jede Art vonSterben halten sie für Gewinn.

Und siehe, dieselben Leute leben! »Wir leben!« jubeln sie. Es istwie ein Schrei der Verwunderung aus ihrem eigenen Munde. Esist wie der immerwährende Auferstehungsmorgen eines jedenEinzelnen. Dieselbe Welt, die sie als Sterbende sieht, muss sie alsLebende erkennen. Sie wirken, sie dienen, sie glauben, lieben,hoffen noch immer. Sie sind noch immer da. Sie sterben nicht aus.Sie sind nicht totzukriegen. Und triumphierend bekennen sie:

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»Wir haben allenthalben Trübsal, aber wir ängstigen uns nicht;uns ist bange, aber wir verzagen nicht; wir leiden Verfolgung,aber wir werden nicht verlassen; wir werden unterdrückt, aberwir kommen nicht um; wir tragen allezeit das Sterben Jesu anunserem Leibe herum, auf dass auch das Leben Jesu an unseremLeibe offenbar werde. Denn immerdar werden wir, die wir leben,dem Tode preisgegeben um Jesu willen, damit auch das LebenJesu offenbar werde an unserem sterblichen Fleisch!« (2Kor 4,8–11). Siehe, so erweisen sich die Diener Gottes und Christi als diesterbend Lebenden in großer Geduld!

Dazu gehört auch das folgende Dienstsiegel:

Als die Gezüchtigten, und doch nicht ertötet.

Was würde aus Kindern und Dienern Gottes ohne Züchtigung!Wie unbeschnittene holzige Reben würden sie sein, ohne Frucht.Wie Bastarde, die der Vater verleugnet. Wie Mitarbeiter, denender Vorarbeiter fehlt. Wie verlotterte Werkzeuge, mit denen derWerkmeister nichts mehr ausrichten kann. Darum geschieht desHerrn Dienst an seinen Dienern, damit sie Seine Heiligung er-langen. Es gehört mit zu ihrem Dienst für Gott, dass sie seineZüchtigung erdulden. Seine Züchtigungen sind ihnen die Zei-chen seiner Liebe. Zwar sprechen sie: »Alle Züchtigung, wenn sieda ist, dünkt uns nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein; aberdanach wird sie geben eine friedsame Frucht der Gerechtigkeitdenen, die dadurch geübt sind« (Hebr 12,5–13).

Ei, wie werden nach solcher Züchtigung die schlaff geworde-nen Hände und erlahmten Knie wieder ausgestreckt und auf-gerichtet und die Tritte wieder gewiss und das Lahme wiederheil! Nicht getötet, nein, neu belebt hat die Züchtigung! Darumerweisen sich die Diener Gottes, durch Züchtigung neu belebt,in großer Geduld.

Dabei erscheinen sie im Dienste

als die Traurigen, aber allezeit Fröhlichen.

Wie sollten die Diener Gottes nicht traurig sein über das un-gläubige und verkehrte Geschlecht (Mt 17,17) einer im Argenliegenden Welt, das verblendet, ohne Jesus, den Gerichten Gottesentgegen reift? Und traurig über das Volk Gottes, das anstatt impriesterköniglichen Schmuck des Glaubens wie ein Mann seinem

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In allen Dingen Diener Gottes

Herrn zu dienen, kleingläubig mit ichverengtem Sinn meist nurdie fünf Brote und zwei Fischlein zählt! Und traurig jeder ein-zelne Diener über sich selbst wegen der fluchvollen Neigung,immer wieder sich selbst anstatt Christus zu dienen.

Oh würde diese Traurigkeit nur immer anhaltender und grö-ßer! Sie bedeutet keine mürrische Kopfhängerei, sondern eineallezeit würdige Betrübnis, Gott gemäß (2Kor 7,9). Dann wäreauch das Gegenteil, nämlich die allzeitige Freude und Fröhlich-keit im Herrn umso größer. Nämlich allezeit fröhlich, weil unserGott dennoch die Reiche der Welt einnehmen, dennoch sein Volkim Reichtum der Herrlichkeit seines Erbes sich darstellen unddennoch als der in uns angefangen hat ein gutes Werk, es auch injedem Einzelnen auf seinen Tag hin vollenden wird (Offb 11,15;Eph 1,18; Phil 1,6). So können sich Gottes Diener, obwohl traurig,allezeit fröhlich erweisen in Geduld.

Ebenso erscheinen sie

als die Armen, die aber doch viele reich machen.

Ja wahrlich, Gott hat seine meisten und treuesten Diener unterden Armen! Die Reichen müssen zu viel ihrem Besitz und ihrerEhre dienen; sie sind nicht frei zum Dienst für Gott. Aber dieArmen hat Gott auf dieser Welt erwählt, dass sie reich am Glau-ben und Erben des Reichs seien (Jak 2,5). Die an Wissen und GutReichen sind immer die Ausnahme gewesen. Mit armen Leutenhat der Herr sein Werk begonnen, und durch arme Leute erhälter’s heute noch. Noch immer legt die arme Witwe am meisten inden Gotteskasten und erweist sich als am reichsten. Und nochimmer sind die Reichsten am geizigsten und erweisen sich alsam ärmsten.

Wie äußerlich arm waren die Apostel! Und wer in der erstenChristengemeinde noch etwas hatte, wollte so arm werden wiesie, brachte es und legte es zu ihren Füßen (Apg 4,35). Allewollten »als die Armen« mit allen eins sein. So meinte es auchPaulus: der Überfluss der Reichen sollte dem Mangel der Armenabhelfen, »damit Gleichheit werde« (2Kor 8,14, wörtlich).

Bestünde die Echtheit unserer Liebe heute die Geistesprobe(Vers 8), wahrlich, jedes Glied der Gemeinde schämte sich reichzu sein! Alle würden mit Freuden »als die Armen« erscheinenwollen. Leider aber ist’s umgekehrt. Umso lieber redet man irre-führend von der »inneren Armut«, als ob Paulus nur die gemeint

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hätte. Gewiss hat er die zuallererst gemeint, aber eben: Lebtendie Reichen in mehr »innerer Armut«, so lebten sie in wenigermateriellem Reichtum! Und hätten alle Gläubigen mehr »innerenReichtum«, so schätzten sie mehr die äußere Armut. Und wieviel mehr würden sie dann, »›als die Armen‹ doch viele reichmachen!« Nämlich von ihrem inneren Reichtum an Glauben,am Wort und in der Erkenntnis und in allerlei Fleiß und Liebe(Vers 7) der armen ungläubigen Welt geben können und sichals wirkliche Diener Gottes als reiche Arme erweisen in großerGeduld.

Die so Gott dienen, stehen zu guter Letzt da

als die nichts haben und doch alles haben.

Das ist also das End- und Gesamtergebnis ihres Gottesdienstes:Sie haben nichts Eigenes mehr! Auf dem Wege des Dienstes, dender Apostel zeichnet und ging, haben sie alles verloren, wassie hatten. Mit großer Geduld ließen sie sich hinab leiten in dietiefste Tiefe der Selbstentäußerung und folgerichtigen Ichvernei-nung und Jesusbejahung. Das Kreuz war ihrer Wallfahrt Zeichen,innere und äußere Heimatlosigkeit auf Erden, und Entblößungist die letzte Station ihrer Dienstreise. Das Ende ihres Lebens fürGott findet sie als arme Habenichtse.

Zeige ihnen das Sichtbare, das im irdischen Sonnenlicht er-scheint: Sie schütteln das Haupt. Zeige ihnen die Güter, die sieeinst suchten und für die sie einst fürchteten: Sie weisen dichlächelnd ab. Weise sie hin auf ihr frommes gottgeweihtes Leben,auf das Verdienst ihres Dienstes: Weh und schmerzlich wehrensie ab. Lenke ihren Blick auf ihre Lieben, die ihnen geblieben:Sie lächeln innig; aber der Blick haftet nicht. Siehe, sie habennichts mehr. – Nun zeige nach oben und sprich ein Wort, duweißt es: Jesus! – Da nicken sie dankend, selig, unaussprechlichreich. Da fließt ihr Mund über von der Fülle des Reichtums inihrem Herzen. Siehe, da haben sie – alles!

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Preist Gott an eurem Leib!

Der Leib aber nicht der Unzucht, sondern dem Herrn, und der Herrdem Leibe . . . Wisset ihr nicht, dass eure Leiber Glieder Christi sind?

. . . Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des in euchwohnenden Heiligen Geistes ist, welchen ihr von Gott empfangen habt,

und dass ihr nicht euch selbst angehört? Denn ihr seid teuer erkauft;darum so preist (verherrlicht) Gott an (in, mit) eurem Leib!

1. Korinther 6,15–20

Kinder Gottes wissen, dass sie ihren himmlischen Vater mitGeist und Seele zu preisen haben; denn er hat sich durch seinrettendes Erbarmen machtvoll an ihrem Geist und ihrer Seeleverherrlicht. Dass Gott aber auch an ihrem Leibe gepriesen seinwill, wissen viele nicht. Gott preisen heißt, sein Wesen durchuns zu offenbaren. Gewöhnlich meint man, dazu tauge der Leibnicht, weil er zu niedrig, zu irdisch sei. Gottes Wort spricht abergerade unserem Leibe eine sehr hohe Bedeutung zu, die in einhimmlisches Ziel ausläuft. Es sind besonders vier biblische Gründe,die uns veranlassen wollen, Gott an unserem Leibe zu preisen.

Gott will sich in unserem Leibesleben verherrlichen, erstens,weil wir teuer erkauft sind und auch mit unserem Leibe nichtmehr uns, sondern ihm gehören; zweitens, weil unsere LeiberGlieder am Leibe Christi sind, dessen regierendes Haupt der Herrist; drittens, weil unser Leib ein Tempel des in uns wohnendenHeiligen Geistes ist, den die Herrlichkeit Gottes erfüllen will;viertens, weil unser Leib das Samenkorn für den zukünftigenhimmlischen Auferstehungs- und Herrlichkeitsleib ist.

Betrachten wir das Erste: Wir gehören nicht mehr uns selbstan; denn wir sind teuer erkauft. Der natürliche Mensch meintganz und gar, er gehöre sich selbst an. So glaubt er auch vonseinem Leib:

Ich dachte doch, der Leib sei mein,und mein sei’n auch die Nächte,die ich mit Weib und Würfelspielbei rotem Wein verzechte.

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Das Opfer des Leibes Jesu Christi

Da ist der Leib ein übel behandeltes oder ausgesucht gepflegtesWerkzeug zur Befriedigung der Lüste. Zu diesem Zweck ist erauch Kleiderstock, Essbehälter, Trinkfilter, Wertstück zur Erzie-lung von Bewunderung, Arbeitsmaschine zum Geldverdienenoder Diener des Ehrgeizes; jedenfalls soll er immer eine Stützedes selbstischen Behagens sein, das man gemein hin »Wohlerge-hen« nennt.

Kinder Gottes aber sollen wissen, dass sie mit Geist, Seeleund Leib nicht mehr sich selbst, sondern Gott gehören; denn siesind um einen Preis erkauft. Was ist denn der Preis, um den sieerkauft sind? Es ist:

Das Opfer des Leibes Jesu Christi

Wer die Bedeutung dieses Opfers erkannt hat, hat auch die Be-deutung seines eigenen Leibes als lebendiges Opfer zur Verherr-lichung Gottes erkannt. Es sollte uns doch zu betendem Nachsin-nen bewegen, dass nicht Jesu Geisteswirken und Seelenarbeit unserlösen konnten, sondern sein Leib musste geopfert werden. Anseinem Leibe musste er unsere Sünden hinauftragen ans Holz,damit wir der Sünde entnommen werden konnten (1Petr 2,24).Sein Leib musste für uns gegeben werden zur Vergebung unsererSünden (Lk 22,19). Und nur durch die Aufopferung des LeibesJesu Christi sind wir geheiligt auf einmal (Hebr 10,10).

Warum dies Leibesopfer? Weil unsere Erlösung von der SündeZug um Zug unserem Fall in die Sünde entsprechen musste.Adam und Eva entzogen Gott die nach seinem Ebenbilde ge-schaffenen Leiber, als sie das Gebot übertraten. Sie lieferten Sinnum Sinn, Glied um Glied ihres Leibes der Herrschaft des Wi-dersachers Gottes aus, als sie der betrügerischen Schlangenredelauschten und gehorchten und die verbotene Frucht ihrem Leibeeinverleibten. Damit hörte ihr Leib auf, im ursprünglichen Sinnefür Gott gebräuchlich zu sein. Wohl deshalb war die Strafe, diedem Sündenfall folgte, hauptsächlich Leibesstrafe (1Mos 3,16–19),nämlich leibliche Lebensbeeinträchtigung als Leibesschmerz undLeibesmühe bis zum Zerfall des gefallenen und nun verfallen-den Leibes. Aus dem gottebenbildlichen Leibe war ein »Leibder Sünde und des Todes« geworden (Röm 6,6; 7,24). Und nachdem »Gesetz der Sünde und des Todes« (Röm 8,2) zeugte der

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Preist Gott an eurem Leib!

gefallene Adam mit Eva, der gefallenen »Mutter der Lebendi-gen«, ein gefallenes Geschlecht, in dessen Gliedern die Sündeund der Tod wohnen, die durch alle Menschen hindurch gedrun-gen sind (Röm 5,12; 7,23). Seitdem lautet der Schrei des elendenMenschen: Wer befreit mich von der Herrschaft der Sünde imLeibe der Sünde? Und: »Wer wird mich erlösen aus dem Leibedieses Todes?« Schaudervoller Schrei; denn sowohl das Gesetz,das geschrieben steht im Herzen und Gemüt des Menschen, alsauch das Gesetz, das geschrieben steht in den steinernen Tafelnvom Sinai (Röm 2,15; 7,12.23), fordern vom Menschen das Gute,das er doch wegen des Gesetzes der Sünde in den Gliedern seinesLeibes nicht zu erbringen vermag!

Da sandte Gott um der Sünde willen seinen Sohn in derÄhnlichkeit des sündlichen Fleisches und richtete die Sündeim Fleisch (Röm 8,3), indem er sie strafte am Leibe seines Soh-nes. Denn dazu hatte sich Gott geoffenbart im Fleische, dassder durch den Heiligen Geist gezeugte Leib Jesu (Lk 1,35) daszulängliche Sühnopfer für unsere Sünden werden sollte. Durchdie Zeugung von oben her war Jesu Leib der einzige Leib, deraußerhalb des Gesetzes der Sünde und des Todes stand, somitwar er auch der einzige Leib, der zum vollgültigen Schuld- undSühnopfer für uns alle dahingegeben werden konnte; denn erwar der einzige Leib, der nicht gesetzmäßig, als der Sünde Lohn,den Tod erleiden musste, sondern ihn freiwillig durch GottesGnade für uns alle schmeckte (Hebr 2,9). Damit war er auch dereinzige Leib, durch dessen Tod das Gesetz der Sünde und desTodes durchbrochen und das Gesetz vom Sinai erfüllt werdenkonnte. Und so ist und bleibt er der einzige Leib, durch dessenOpferung wir gerechtfertigt und geheiligt, also aus der Schuldund Macht der Sünde errettet und für Gott zurückerkauft sind.

Aber fürwahr, welch einen Preis zahlte da Gott für unsereLoskaufung aus dem Gesetz der Sünde und des Todes, aus demFluche des sinaitischen Gesetzes und aus der Obrigkeit der Fins-ternis! Er verschonte seinen eigenen Sohn nicht. Er gab ihn füruns dahin (Röm 8,32). Er warf unser aller Schuld auf ihn. Esgefiel ihm, ihn zu zerschlagen (Jes 53,6 und 10). Er machte den,der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde (2Kor 5,21).Und wie zahlte der Sohn den vom Vater angeordneten Preis!Bereit, den Willen Gottes zu tun, ließ er sich den Leib bereiten,der für die Sünde der Welt geopfert werden sollte (Hebr 10,5–9).

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Das Opfer des Leibes Jesu Christi

Er gab die Gottesgestalt preis, machte sich selbst zu nichts, nahmKnechts- und Menschengestalt an, erniedrigte sich selbst, erdul-dete den Widerspruch der Sünder, ließ sich zur Sünde machenund starb wie der allein Schuldige auf Golgatha. »Die Strafe liegtauf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wundensind wir geheilt« (Phil 2,5–8; Jes 53,5). Wer kann die Höhe diesesKaufpreises ausrechnen?

Angesichts dieses unermesslich hohen Preises, den die erbar-mungsreiche Liebe Gottes für unsere Rückgewinnung gezahlthat, sollen wir nun gläubig erkennen, dass wir nicht mehr unsselber angehören, also nicht mehr uns selber leben dürfen. Nichtetwa aus bloßer menschlicher Dankbarkeit gegen Gott und Chris-tus; denn zu solcher Dankbarkeit sind wir gar nicht fähig, undsie würde nie genügen. Nein, sondern die geistliche Erkenntnisder Bedeutung und Tragweite des Leibesopfers Christi, in derdie werbende Liebe Christi pulsiert, drängt uns zur Preisgabeunseres Selbst und damit weiterhin zur Hingabe unseres Lei-bes zum Preise Gottes. Als Christus an unserer Stelle für unsseinen Leib ans Kreuz gab, hat er als berufener Stellvertreterunseres Geschlechtes aller Menschen Leib mit ans Kreuz gezogen(Joh 12,32).

Damit wissen wir uns mit ihm gekreuzigt. Das heißt, wir wis-sen, er hat bei der Hinopferung seines Leibes unseren »altenMenschen«, nämlich unser adamitisch ererbtes, unter die Sündeverkauftes Wesen, mit an sich und ans Kreuz genommen, so dassder gesetzmäßig von der Sünde beherrschte »Leib der Sünde«abgetan sei (Röm 6,6). Das ist der Abbruch unserer unfreiwilligenSündenknechtschaft im Leibe. Wir wissen aber auch, dass wir beider Aufopferung seines Leibes mit ihm gestorben sind; denn wirhaben mit Paulus im Glauben urteilen gelernt, dass wenn einerfür alle gestorben ist, sie alle gestorben sind, das heißt, alle inder Gleichheit seines Todes mit ihm verwachsen sind (2Kor 5,14;Röm 6,5). Und zwar wissen wir uns durch den leiblichen TodChristi erstens dem Gesetz getötet (Röm 7,4), zweitens der Sündeabgestorben (1Petr 2,24; Röm 6,11), drittens uns selbst gestorben(Gal 2,19.20; Kol 3,3) und viertens den Grundsätzen der Welt ab-gestorben (Kol 2,20). Das ist das Ende unserer Selbstbehauptungauf allen bisherigen Lebensgebieten.

Und schließlich wissen wir uns auch mit Christus begraben(Röm 6,4; Kol 2,12). Das ist das tatsächliche Verschwinden unse-

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Preist Gott an eurem Leib!

res Selbstlebens vor Gott und Menschen. So mit dem Tode seinesLeibes verwachsen, sind wir aber nun auch mit seiner Auferste-hung verwachsen; denn wir sind samt ihm lebendig gemacht, umin der Kraft seiner Auferstehung fortan in einem neuen Lebennicht mehr uns, sondern in dem Glauben des Sohnes Gottes fürGott zu leben (Eph 2,5; 1,19.20; Gal 2,20). Das ist ja der letzte,tiefste Sinn des Leibesopfers Christi, dass Christus uns durchsein Blut für Gott erkauft und sich ein Eigentumsvolk gereinigthat, das fleißig wäre zu guten Werken (Offb 5,9; Tit 2,14; 1Pe-tr. 2,9). Nur für diesen Gewinn wurde der Einsatz seines Leibesbeschlossen.

Dies Ziel kann Gott aber nur erreichen, wenn die Kinder Gottesin glaubensvoller Erkenntnis der Bedeutung und Tragweite desLeibesopfers Christi begreifen lernen, dass sie nicht mehr sichselbst angehören, sondern durch das teure Blut Christi für Gotterkauft sind und ihm ganz besonders die Einhändigung ihresLeibes schulden.

Der Leib dem Herrn!

Diesen Entschluss will Gott durch das Wort vom Kreuz wirken.Was erkauft ist, gehört dem Käufer. Glauben heißt hier, das Eigen-tumsrecht Gottes und Christi über uns erkennen und anerkennen.Wir sind nicht eher in die rechte biblische Glaubensstellung zuGott gekommen, als bis wir ihm unseren durch den Preis desLeibesopfers Christi bluterkauften Leib zur Verfügung stellen.Wir meinen gerne, wenn wir dem Herrn unser Herz gegebenhaben, so genüge das. Das ist aber nur der Anfang unseres Ver-ständnisses und unserer Hingabe. Gottes herzliches Erbarmengab sich uns im Leibesopfer seines geliebten Sohnes. Christusgab sich ganz für uns und will uns auch ganz für sich. Er willnicht nur unsere frommen Gedanken und Gefühle: Er will auchunseren durch den Sündenfall für Gott verloren gegangenen unddurch das Lösegeld des blutigen Leibesopfers am Kreuz für Gottzurückerkauften Leib.

Und wenn wir erkennen wollen, wie weit wir dem Herrn unserHerz gegeben haben, so brauchen wir uns nur zu prüfen, wie weitwir ihm unseren Leib gegeben haben. Dem Herrn das Herz schen-ken und den Leib für das Selbstleben behalten wollen, ist Torheit

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Der Leib dem Herrn!

und wird zur Sünde. Das Endziel aller Glaubenserkenntnis undHeiligung ist die restlose Rückgabe unseres Leibes an den Herrn.Darum muss der Apostel Paulus nach vielen Belehrungen undEnthüllungen den Römern schreiben: »Ich ermahne euch nun,Brüder, durch die Erbarmungen Gottes, eure Leiber darzustellenals ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer,welches sei euer vernünftiger Gottesdienst« (Röm 12,1).

Beachten wir ernstlich dies Wort. Der Apostel setzt es allenweiteren praktischen Ermahnungen, die den zweiten Teil seinesBriefes bilden, voran. Bisher hat er hauptsächlich belehrend vondem geschrieben, was Gott in Christus getan hat, nun schreibter ermahnend von dem, was wir in Christus zu tun haben. Undda stellt er allem voran die Hingabe des eigenen Leibes. DemSühnopfer, das Gott in der leiblichen Hingabe seines Sohnesdargebracht hat, muss nun das lebendige Opfer unseres eigenenLeibes entsprechen. Gott gab Christus zu unserer Versöhnung alsSünd- und Schuldopfer, wir geben nach erlangter Versöhnungunseren Leib als Brand- und Heilsopfer, wozu wir ermahnt undbefähigt werden durch die Erbarmungen Gottes, die wir in derHeilsoffenbarung erkannt haben.

Dies Opfer unseres Leibes ist ein lebendiges Opfer, kein totesTieropfer. Es ist aber nicht nur ein natürlich lebendiges Opfer,sondern auch ein geistlich lebendiges Opfer; denn es handelt sichum die Hingabe des mit Christus in seiner Auferstehung lebendiggemachten Leibes, nicht um das Opfer des geistlich toten »Leibesder Sünde«, der ja am Kreuz abgetan wurde. Irrtümlich meinenviele, die Hingabe ihrer leiblichen-fleischlichen Sünden sei dasOpfer des Leibes für Gott. Wie könnten wir aber Gott das alslebendiges Opfer bringen, was er als tot, wertlos, gerichtet undverflucht am Kreuz beiseite geschafft hat? Wir wollen doch nichtdie Preisgabe unserer Sünden ein Opfer nennen! Hier handeltes sich um Gehorsam und nicht um Opfer; denn unsere Sündengehören im Gehorsam der Buße ans Kreuz und ins Grab, abersie können nimmermehr eine lebendige Opfergabe für Gott sein.Denn das Opfer des Leibes wird nicht nur lebendig, sondernauch heilig genannt.

Heiligen kann nur Gott, indem er in seine Gemeinschaft auf-nimmt, nämlich von seinem Wesen mitteilt. Das hat er mit unse-rem Leib getan; denn der Leib ist durch das Blut Christi für Gotterkauft, also Gott geweiht worden; das heißt aber »heilig« sein.

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Preist Gott an eurem Leib!

Der Heilige Geist, der unseren Leib geistlich lebendig gemachthat (Röm 8,10.11), hat ihn auch heilig gemacht; das eben ist jader Sinn der Aufforderung: »Der Leib dem Herrn!« Es bedeutet:Weihe, heilige dem Herrn, was er sich geweiht, geheiligt hat! Eshandelt sich dabei nicht um den Stoff des Leibes, sondern umdie Verwendung des Leibes.

Drittens wird das Opfer des Leibes auch Gott wohlgefälliggenannt, weil es dem Willen und Plane Gottes und der ureigent-lichen Bestimmung unseres Leibes entspricht. Und schließlichbezeichnet der Apostel die Opferung unseres Leibes geradezuals unseren vernünftigen Gottesdienst. Will er damit nicht sa-gen: Die stete Hingabe unseres Leibes an Gott ist der einzigeGottesdienst, der vernünftigerweise der Frohen Botschaft vonunserer Errettung am Kreuz und dem besseren Neuen Bunde imBlute Christi entspricht? Fürwahr, jeder andere »Gottesdienst«ist sinnlos unvernünftig und eitel.

Worin besteht nun diese gottesdienstliche Hingabeunseres Leibes?

Paulus sagt es im nächsten Vers: »Stellt euch nicht dieser Weltgleich, sondern verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes,um zu prüfen, was der Wille Gottes sei, der gute, wohlgefälligeund vollkommene« (Röm 12,2). Es handelt sich beim gottesdienst-lichen Gebrauch unseres Leibes zunächst um unsere Abkehr vonder Weltart. Macht es nicht wie die ungläubigen Menschen diesesZeitlaufes! Nehmt euch beim Gebrauch eures Leibes nicht siezum Muster! Bildet euch nicht nach ihnen!

Wie notwendig ist diese Ermahnung auch heute! Wie sehr nei-gen wir mit dem Leibe zum weltförmigen Ichdienst, indem dieFragen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womitwerden wir uns kleiden? (Mt 6,31) uns noch viel zu viel beschäfti-gen und beschweren! Wie viel Feinschmecker und Modesüchtigegibt es noch unter den Gläubigen! Ist nicht auch heute der Bauchder allgegenwärtige und allmächtige Gott vieler, die sich zumEigentumsvolke des Herrn zählen? Und zwar nicht nur in Bezugauf Ess- und Trinkgelüste, sondern auch in Bezug auf alle ande-ren fleischlichen Bauchesgelüste. Sind sie nicht deshalb Feindedes Kreuzes Christi, nämlich Verächter aller Selbstverneinung in

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Worin besteht nun diese gottesdienstliche Hingabe unseres Leibes?

Dingen der Hingabe des Leibes? Ihnen gilt: Stellt euren Leib zumOpfer dar oder euer Ende ist das Verderben! (Phil 3,18f).

Und wie leicht erliegen wir dem Vorbilde der Welt in Bezugauf knechtenden Modedienst, ausgesuchte Künste der ichgefäl-ligen Körperpflege und Ansprüche verweichlichender Bequem-lichkeit! Stehen nicht auch noch zahllose Leiber der Bekennerdes Herrn Jesu ganz im weltförmigen Dienste des Mammonsund des Ehrgeizes? Oh wie sehr mangelt uns bei allem viel zuvielen äußerlichen »Gottesdienst« doch der einzig wahre, der»vernünftige Gottesdienst« des lebendigen Leibesopfers!

»Sondern verändert euch (seid verändert, umgeformt, umge-wandelt) durch Erneuerung eures Sinnes . . . « Das Wort, das fürGleichstellung mit der Welt im Grundtext steht, bezeichnet mehrdie äußerliche Haltung, während das für »verändert« gebrauch-te Wort mehr die Gestaltung von innen heraus meint. Wer inrechter Buße (Sinnesänderung) gläubig geworden ist, hat eineErneuerung seines Sinnes und dadurch eine innerlich fortwir-kende Umgestaltung erlebt. Anstelle des unter der Herrschaftder Selbstliebe stehenden natürlichen, fleischlichen Sinnes ist einunter der Herrschaft der Gottesliebe stehender geistlicher Sinngetreten, der allein uns zum rechten gottesdienstlichen Gebrauchunseres Leibes Anleitung geben kann.

Denn dieser neue Sinn allein befähigt uns, den guten, wohl-gefälligen und vollkommenen Willen Gottes zu unterscheidenund als die neue Lebensordnung für unsern Leib, im Gegensatzzu dessen bisherigen weltförmigen Handlungen (Röm 8,13), zugewinnen. In dem Maße, als wir nun dem Herrn unseren Leibweihen, schreitet die geistliche Erneuerung unseres Sinnes fort,und umgekehrt. Warum wird es uns oft so schwer, den Wil-len Gottes zu erkennen? Antwort: Weil es uns meist so schwerscheint, unseren Leib dem Dienste Gottes zu weihen. Nur wertäglich neu seinen Leib zum Opfer bringt, wird vermöge dieserGewohnheit geübte Sinne empfangen zur Unterscheidung desGuten sowohl als auch des Bösen (Hebr 5,14).

Lasst uns nun sehen, wie Paulus, das auserwählte WerkzeugJesu Christi, praktisch seinen Leib zum Werkzeug des Geistesgegeben hat. Wie hat dieser Mann es doch bis ins alltäglichsteLeibesleben hinein bezeugt, dass er nicht mehr sich selber ange-hörte! In 1. Korinther 9,27 schreibt er: »Ich laufe aber also, nichtals aufs Ungewisse; ich kämpfe also, nicht wie einer, der in die

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Preist Gott an eurem Leib!

Luft schlägt, sondern ich betäube meinen Leib (schlage ihn insAngesicht) und zähme ihn (führe ihn in Knechtschaft), dass ichnicht, nachdem ich anderen gepredigt, selbstverwerflich werde.«

Paulus, der gehorsame Knecht Christi, sieht sich in einergroßen, für uns beinahe unglaublichen Gefahr. Er befürchtet,trotz seines reichen Dienens am Ende doch noch verwerflichwerden zu können. Warum? Wegen mangelnder Hingabe seinesLeibes! Um diesen Mangel zu decken und der furchtbaren Gefahrzu entgehen, betäubt er seinen Leib wie man einen Feind insGesicht schlägt, um sich seiner zu erwehren, und führt dannden betäubten Feind in Knechtschaft, damit er nicht von ihm inKnechtschaft geführt werde. Als ein gezähmter Feind muss derLeib nun Jesus dienen. Dieses außerordentlich ernste Wort zeigtuns erstens, wie unumgänglich notwendig die Hingabe unseresLeibes für die Durchrettung unserer Seele ist, und zweitens, mitwelcher selbstverneinenden geistlichen Energie diese Hingabedurchgeführt werden muss.

Viele Gläubige, wenn sie dergleichen lesen, meinen sich gleichgegen »mönchische Askese«, planmäßige Übung in der Leibes-quälerei, wehren zu müssen. Sie sollten bedenken, dass der Apo-stel keine Gerechtigkeit aus Gesetzeswerken suchte (Phil 3,9)und dass er sich ausdrücklich gegen jedes selbsterwählte, selbst-gerechte »Nichtverschonen des Leibes« wandte (Kol 2,23). Hatnicht gerade er von der »reichlichen Ehre« geschrieben, die wirselbst den uns unehrbar scheinenden Gliedern unseres Leibeszuerkennen? (1Kor 12,23.24). Aber eben weil gerade ihm die hoheBedeutung des Leibes und des göttlichen Zieles mit demselbenoffenbart worden war, wollte er um jeden Preis seinen Leib die-sem göttlichen Ziele entgegenführen. So nahm er seinen Leib ineine Geisteszucht, die uns ganz fremd geworden ist. Wir kennenbeinahe nur noch selbsterhaltende Diät-, Mast-, Fasten-, Licht-,Luft-, Wasser-, Lehm-, Liege- und gymnastische Kuren, lauterleibliche Übung, die nur zu wenigem nützlich ist (1Tim 4,8); woaber ist die selbstverneinende, gottselige Übung in der Geistes-zucht, die den Leib dem Dienst und Zweck Gottes weiht? Wiewenige zum Beispiel fasten zu geistlichem Zweck, wie Paulusund die erste Gemeinde fasteten? (Mt 17,21; Apg 13,2; 14,23;1Kor 7,5; 2Kor 6,5; 11,27)

An »sozial-ethischen« und gesetzlich-religiösen Übungen inallerlei »Enthaltsamkeit« fehlt es ja gerade heute nicht. Zur Erhal-

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Worin besteht nun diese gottesdienstliche Hingabe unseres Leibes?

tung des geliebten Ichs gibt man schädliche Genüsse und Lebens-gewohnheiten preis, aber sich selbst gibt man nicht preis! DieEnthaltsamkeit des Apostels entstammte aber dem Mitgestorben-und Mitlebendiggemachtwordensein im Kreuzestode und in derAuferstehung Christi. Geistgewirkte Enthaltsamkeit kann nurkommen aus der glaubensgehorsamen Erkenntnis Christi, in derdie Liebe Gottes wirkt. Und wenn ich sonst meinen Leib bren-nen ließe, es wäre mir nichts nütze (1Kor 13,3). Wie sehr liebtdie Welt moralische Satzungen, an denen sich ihr Pharisäismusemporzuranken vermag.

Aber auch unter den Gläubigen ist ein Suchen nach starrenRegeln, nach denen man essen, trinken, genießen, ehelichen undehelich leben billig ordnen möchte. Das ist welt- aber nicht geist-förmig. Solchen Satzungen sind die Söhne des Geistes gestorben.Lies Kolosser 2! Ihr leiblicher Gottesdienst im Geist hat als einzigeOrdnung das innerlich leitende Geistesgesetz des Auferstehungs-lebens Christi (Röm 8,2.14). Fasse es, wer es durch den Geist zufassen vermag!

Jedenfalls gilt: Hingabe des Leibes an den Herrn ist Unter-werfung des Leibeslebens unter die Zucht des Heiligen Geistes,und geist-gewirkte Enthaltsamkeit ist die Enthaltung von allemdem, was den Heiligen Geist betrübt (Eph 4,30), weil es seineHerrschaft aufhält. Gerade in Bezug auf die Geschäfte des Lei-bes schreibt Paulus, unserem Textwort vorangehend: »Alles istmir erlaubt, aber nicht alles frommt! Alles ist mir erlaubt, aberich will mich von nichts beherrschen lassen« (1Kor 6,12). DerGläubige steht ständig vor der Entscheidung, entweder von seinem Leibbeherrscht zu werden im Fleisch oder seinen Leib zu beherrschen imGeist. Denn obgleich der »Leib der Sünde« am Kreuz abgetan ist,so tragen wir doch noch den Leib des Fleisches, der von untenher stammt und in dessen Gliedern die Lust des Fleisches im-mer wieder aufleben möchte gegen die Lust des Geistes, die vonoben her stammt (Gal 5,17). Da gilt es, jede erkannte geistwidrigeHandlung des Leibes im gegebenen Augenblick durch den Geistzu töten (Röm 8,13), damit die Sinne und Glieder des Leibesgeistbeherrscht werden und wir bezähmten Leibes siegreich imGeist zu leben vermögen.

Zu diesem Zweck bedarf es der fortgesetzten, wachend undbetend im Glauben zu betätigenden Auslieferung unserer Sinneund Glieder an den Herrn. Freigemacht von der Sünde und

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Preist Gott an eurem Leib!

Sklaven Gottes und der Gerechtigkeit geworden, stellen wir unsreGlieder nun nicht mehr in den Dienst der Unreinigkeit undUngerechtigkeit, sondern in den Dienst der Gerechtigkeit zurHeiligung (Röm 6,12–23), damit sie Waffen der Gerechtigkeitwerden. Diese stets zu erneuernde Darstellung unserer Gliederzum Dienste in der Gerechtigkeit und Heiligkeit Christi ist derhohe Sinn und Inhalt des vernünftigen Gottesdienstes unsererLeibesopferung. Und dieser Gottesdienst setzt sich fort, bis jederSinn und jedes Glied unseres Leibes geistbeherrscht, der ganzeMensch in Christus dargestellt (Kol 1,28) und sein Sterben undLeben an unserem Leibe offenbar geworden ist zum Preise Gottes(2Kor 4,10; Gal 6,17; Phil 1,20).

Willst du diesem einzig vernünftigen Gottesdienst beitretenund es bezeugen, dass du dich teuer erkauft weißt und nichtmehr dir selbst angehörst, dann weihe deinem Herrn täglichdeine Augen! (Mt 5,29; 6,22.23; 7,4.5; 2Petr 1,4) Was heißt das unsärgernde Auge ausreißen anders, als es dem Sündendienst ent-nehmen und Jesus übergeben? Weihe ihm deine Ohren! (Mt 11,15;Offb 2,7). Weihe ihm deinen Mund und deine Zunge! (Mt 12,34;Röm 10,9; Eph 4,29; Offb 14,5; Jak 1,26; 3,5–8). Weihe ihm Händeund Füße! (Mt 5,30; Lk 9,62; 1Kor 4,12; Eph 4,28; Hebr 12,12;Jak 4,8; Mt 18,8; Lk 1,79; Eph 6,15; Hebr 12,13). Und so weihe ihmtagaus, tagein deinen ganzen Leib! – Wenn du es so aufrichtigwahr machst: »Der Leib dem Herrn!« wird der Herr auch dasandere treulich für dich wahr machen, nämlich:

Der Herr dem Leibe

Die Augen deines Herzens werden aufgetan werden. Immer kla-rer wirst du erkennen, was geistlich und fleischlich, gut und böse,Christi Leben und Eigenleben ist. Die zunehmende Herrschaftdes Geistes macht sich bemerkbar. Dein Leibesleben kommt unterden Einfluss der Kraft aus der Höhe. Christi Auferstehungslebenbeginnt in deinen Gliedern zu kreisen. Du empfängst Machtüber die Sünde. Vielleicht unversehens wirst du gewahr, dasseine Gebundenheit, in der du jahrzehntelang seufzend gingst, dirabgenommen worden ist; du weißt selbst nicht, wie. FleischlicheLüste, die bisher erfolgreich gegen die Ruhe deiner Seele stritten,sind, wie aufs Haupt geschlagen, ohnmächtig geworden. Ein

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Der Herr dem Leibe

Ekel gegen die Sünde ist an die Stelle der früheren Lust getreten.Allerlei gelüstige Angewohnheiten, ohne die du nicht leben zukönnen glaubtest, beginnen ihren Reiz zu verlieren; du bedarfstihrer nicht mehr.

Deine Seele wird freier und froher, dein Leibesleben einfacherund zuträglicher. Dein Auge wird friedlich ruhiger, dein Gehörgeistlich schärfer, deine Rede geistlich gewichtiger, deine Haltungund Bewegung würdevoller. Siehe da, der Herr hat angefangen,sich deinem Leibe zu geben! Das Fleisch ist in Knechtschaft, derGeist in Freiheit gekommen; die Glieder stehen in der Einübungzum Dienst in der Gerechtigkeit, die in Christus erschienen istund die nun auch in dir erscheint. Mehr und mehr lernst duauch, als ein Sohn des Geistes über dem Wechsel in der äußerenleiblichen Versorgung zu stehen und zu sagen: »Alles vermagich durch den, der mich mächtig macht!« (Phil 4,13). SelbstischeAnsprüche, Launen und Verstimmungen schwinden. Die für denLeib im gegenwärtigen Zeitalter bestimmten Gottesverheißun-gen beginnen sich zu verdeutlichen. Um ihrer Erlangung willenwandelst du in der fortgesetzten Selbstreinigung von jeder er-kannten Befleckung des Fleisches und des Geistes (2Kor 7,1). Inden Versuchungen, obgleich sie schwerer werden, vermagst dusiegesgewisser zu überwinden. Aller Schwachheit des Fleischesund allen Listen des Feindes gegenüber verstehst du dem Geis-tesappell des Apostels zu folgen: »Zuletzt, meine Brüder, seidstark in dem Herrn und in der Macht seiner Stärke!« Denn deinLeib ist eingekleidet und eingehüllt in die ganze WaffenrüstungGottes (Eph 6,10–18). Alle deine Glieder haben Christus angezo-gen (Röm 13,12–14) und sind in Waffen des Lichtes verwandeltworden. So gibt sich der Herr dem Leibe zu seinem Preise!

Aber der Herr will nicht nur unseren Leib und gibt sich nichtnur unserem Leibe, weil er uns durch das Opfer seines Leibesteuer erkauft hat und wir uns nicht mehr selber gehören. Nein,unsere Loskaufung vom Gesetz der Sünde und des Todes unterder Obrigkeit der Finsternis war nur die notwendige Vorberei-tung zur Erreichung weiterer und höherer Absichten mit unseremLeibe. Das führt uns zum Zweiten:

Wir sollen Gott preisen an unserem Leibe, weil unsereLeiber Glieder des unsichtbaren, himmlischen LeibesChristi sind, dessen regierendes Haupt der Herr ist.

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Preist Gott an eurem Leib!

Die Errettung unseres Leibes hat mehr als nur eine Einzelbe-deutung. Wunderbar! Unser Leib wird bei der Genesung unse-rer Seele in Buße, Bekehrung und Wiedergeburt einer himmli-schen Machtordnung im Reiche Christi angegliedert und einver-leibt: Er gewinnt die Bedeutung eines Gliedes am Leibe Chris-ti (1Kor 12,13). Das ist etwa nicht nur bildlich im Sinne von1.K̇orinther 12,14–26 zur Veranschaulichung unserer Dienstbar-keit für den Herrn gemeint, sondern entspricht einer in derunsichtbaren Welt wirklich und wirksam seienden urbildlichenGottesschöpfung, deren unzulängliches Abbild der irdische Men-schenleib ist. Es handelt sich um die Christus, dem Haupte, plan-und rangmäßig untergeordnete Gemeinde der Gläubigen, diesein Leib ist als die »Fülle« dessen, der alles in allem erfüllt(Eph 1,22.23). Dieser himmlische Leib Christi wird im gegenwär-tigen Zeitalter durch den Heiligen Geist auferbaut (Eph 4,11–16) und am Ende dieses Zeitalters in Herrlichkeit geoffenbart(Eph 1,18; Kol 3,3.4). Was man von dieser Auferbauung im Lebenund Tun der Gläubigen auf Erden sieht, ist nur der irdisch be-grenzte Teil, der vollkommene, himmlische bleibt hier verborgen(1Joh 3,2).

So dient auch unser irdischer, räumlich und zeitlich begrenzterLeib in dieser sichtbaren Welt dem vollkommeneren Wirken desLeibes Christi in der unsichtbaren Welt. Wir dürfen unseren Leibein irdisches Werkzeug für ein himmlisches Werk nennen. In dieserVerbindung mit dem himmlischen Leib Christi bleibt nichts, waswir hier unten mit unserem Leibe tun, gleichgültig oder neben-sächlich. Es wird Lohn oder Gericht empfangen vor dem Richter-stuhl Christi und dementsprechend drüben in Erscheinung treten(2Kor 5,10). Der Herr will unseren irdischen Einzelleib für die Ge-samtauferbauung seines himmlischen Leibes haben. Unser Leibgehört nicht unserer Willkür, sondern dem Leibesverband desLeibes Christi unter der Herrschaft Christi, des Leibeshauptes.Welch eine Verantwortung bringt diese Erkenntnis!

»Wisst ihr nicht«, so schreibt der Apostel den Korinthern, »dasseure Leiber Glieder Christi sind?« Er packt sie bei ihrer besserengeistlichen Erkenntnis, die sie ja durch ihn empfangen haben.Wisst ihr nicht, dass eure Leiber dem geheimnisvollen himm-lischen Leibe Christi angegliedert und Dienstwerkzeuge eureshimmlischen Hauptes geworden sind? »Wollt ihr die GliederChristi nehmen und Hurenglieder daraus machen?« (1Kor 6,15).

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Zunahme der Nervenplage und Krankheitsmacht?

Oh, wie leicht lösen auch wir den Leib – entgegen unserer geist-lichen Erkenntnis – praktisch aus dem Geistleib-Verband desLeibes Christi und vom Regiment des Leibeshauptes los undgeben ihn in den Dienst irgendwelcher groben oder feinen Hu-rerei und Unzucht! Welche Verschuldung dem Haupte und denanderen Gliedern gegenüber in dieser und jener Welt!

Dreifach ist der Dienst im Leibe Christi: Erstens dient dasHaupt den Gliedern des Leibes, zweitens dienen die Glieder sichuntereinander, und drittens dienen die Glieder gemeinsam demHaupte. So oft wir uns mit unserem Leibe dieser Dienstrundeentziehen, stören wir den Kreislauf der Kraft aus der Höhe vomHaupt her und zum Haupt zurück und verursachen Stockungenim Wachstum und in der Arbeit des Leibes Christi. Wie vielWachstum stockt täglich deshalb! Wie viel Dienst bleibt ungetan,weil man die Leiber dem gliedlichen Dienste für den Herrnentzieht! Und wenn ein Paulus, der doch gerade an seinem Leibefür den Leib Christi zu leiden bereit war (Kol 1,24), befürchtetwegen mangelnder Leibeszucht verwerflich werden zu können,was sollen dann wir sagen, die wir uns das Christsein zum Teilso unheimlich bequem gemacht haben und so übersättigt sindmit so genannter Erkenntnis? Wie wenn der Apostel uns einmalzurufen würde: »Wisst ihr nicht . . . ? « – Und er tut es.

Weshalb fehlen dem Leibe Christi so manche Geistes- und Gna-dengaben für den heutigen Dienst auf Erden? Ist es nicht, weildie Leiber fehlen, die diesen Gliederdienst übernehmen könn-ten? Und woher auch heute Kriege und Streitigkeiten unter denGläubigen? Nicht daher, aus den Wollüsten, die in den Gliedernstreiten? (Jak 4,1). Und nicht auch daher, dass man im gliedlichenWachstum das Haupt werden möchte? (Kol 2,19; Eph 4,15). Undwarum eine solch böse

Zunahme der Nervenplage und Krankheitsmacht?

Es fehlt der Widerstand in der Geisteskraft aus der Höhe. Die Lei-ber sind gliedlich nicht eng genug an das Haupt angeschlossen.Oft trennt die unmittelbare Sünde. Meistens fehlt das Bindemitteleines wirklich lebendigen Glaubens. Vielfach herrscht statt desfestigenden Geistes die schwankende Seele, mit der der Feindzu spielen vermag. Denn Satan will um keinen Preis Geistes-

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Preist Gott an eurem Leib!

menschen. Deshalb will er auf jeden Fall den praktischen, heilsa-men, gliedlichen Anschluss unseres Leibes an unser himmlischesHaupt verhindern. Dazu macht er sich hinter die Seele. Kann ersie durch Zweifelseinflüsterungen, Sorgen, Furcht usw. beunruhi-gen und ängstigen oder durch Erregung von allerlei Begierdenverwirren und betrügen, so hat er allemal zum Schaden unseresLeibes gewonnen. Denn »die stärkste Kraft unseres Leibes ist dieSeele, und die stärkste Kraft der Seele ist Gott.« Ist erst die Seelegeschwächt, indem sie sich irgendwie aus der Herrschaft desGeistes hat weglocken lassen, so folgt ganz gewiss Leibesschwä-chung. Dieser Schwächung erliegen zuerst die Nerven, durch dieja die Seele auf den Leib wirkt. Vom geschwächten Leibe ausergibt sich aber wieder eine schwächende Rückwirkung auf Ner-ven und Seele; und wird diese böse Wechselwirkung bleibend, soerzeugt sie das Bild eines nervösen und schließlich nerven- odertatsächlich leibeskranken Menschen. Bei weitem nicht alle Krank-heiten sind durch solche Seelenschwächung verursacht, jedenfallsaber mehr als wir glauben, und nahezu alle Nervenplagen.

Gegen diesen »Nerventeufel« gibt’s nur eine siegreiche Abwehrund gründliche Heilung, sie heißt: Kind Gottes, nimm Christusals Haupt und Heiland deines Leibes! Wird er wirklich deinesLeibes Herr und Haupt, so wird er auch wirklich deines LeibesHelfer und Heiland; denn er ist sowohl Haupt als auch Heilandseines Leibes (Eph 5,23). Über alle Schwankungen in deinemGedanken-, Gemüts- und Leibesleben betätige die durch GottesWort und Geist geoffenbarte Glaubenstatsache: Ich gehöre dem,der zur Rechten Gottes ist (Apg 7,55; Röm 8,34). Von ihm auslebe ich; denn er lebt in mir. Nicht kalten, unerbittlichen Natur-gesetzen bin ich preisgegeben, nicht Krankheitsmächten, nichtererbten schädlichen Anlagen, nicht drückenden Verhältnissen,nicht Welt, Menschen, Arbeit, Sünde, Satan noch mir selbst! Son-dern du, Herr, du ewige Liebe, von der mich nichts zu scheidenvermag, du hast mich, du hältst mich! Du bist auch meines Leibesunversiegbare Kraft, bis ich als Glied an dir, dem Haupte, denDienst auf Erden getan habe, für den du mir den Leib bereitethast!

Oh, wie hebt diese Glaubensbetätigung im Geist über allesDenkbare, Sichtbare und Fühlbare hinaus! Wie beruhigt sie diegeängstigte Seele! Und wie stärkt sie damit die Nerven und denganzen Leib! Wer sich immer neu in ihr übt weiß, wie wunderbar

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Zunahme der Nervenplage und Krankheitsmacht?

der Herr, als Haupt an seinem Leibe, unserem Leibe unmittelbarund spürbar immer zur rechten Zeit neue, für den Dienst nötigeLebenskraft zuströmen lässt, die über die irdischen Naturgeset-ze hinaus den himmlischen Gnadengesetzen des Leibes Christientspricht. Was dich hindert, diese Himmelskraft zu empfangen,ist nur die törichte Selbständigkeit deines eigenen trotzigen oderverzagten Wesens, durch das du dich von Christus, dem Haupte,trennst. Gib dich ihm in immer endgültigerer Selbstverneinungund Christusbejahung hin, und deine Nerven werden dem unter-tan werden müssen, dem du als Haupt deines Leibes untertangeworden bist.

Das eben Gesagte gilt in der Hauptsache auch für organischeErkrankungen unseres Leibes. Was auch die Ursache der Erkran-kungen sein mag, betätige sofort das Apostelwort: »Der Leibdem Herrn und der Herr dem Leibe!« Wolle also nicht zuerstLeibesgesundheit, sondern Leibeshingabe. Kann der Herr durchdie Erkrankung deinen Leib mehr gewinnen, so ist der Zweckdeiner Erkrankung bald erreicht und meist die Gesundung nahe.Darum achte nicht zuerst auf äußere Krankheits- oder Genesungs-zeichen, sondern auf die wesentliche Verbindung mit deinemhimmlischen Haupt. Grübeleien über die Verschuldung deinerErkrankung, und ob der Herr dich auch heilen wolle und obdies unmittelbar durch ihn oder mittelbar durch Handauflegungoder durch Arzt und Naturkräfte zu geschehen habe, sind nutz-los. Wolle nur ihn, alles Weitere wird dann nebensächlich! SogarSiechtum und Tod.

Aber je unmittelbarer du im Glauben, der nicht zweifelt andem, was er nicht sieht, den Herrn für deinen Leib fassest, de-sto unmittelbarer wird auch irgendwie sein Eingreifen sein. Ichkenne einen Diener des Herrn, der urplötzlich beim Genuss desAbendmahls geheilt wurde, und ein Menschenkind, das beiminnigen Gebet Befreiung von Muskelschwund und Halskrebserlebte. Ich selbst bin erst nach mehrjährigem Glaubenskampfegeheilt, aber in der Wartezeit unzählige Male wunderbar ur-plötzlich leiblich gestärkt worden. Andere wiederum, mit sehrfreudigem Glauben an ihres Leibes Heilung, sind noch krankoder schon heimgegangen. Nicht Leibesheilung ist das Ziel Got-tes mit uns, sondern Geistesreife in der Hingabe unseres Leibes.Zur Erzielung dieser Reife greift der Herr in unser Leibeslebenein mit Erkrankung sowohl als mit Genesung. Darum können

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Preist Gott an eurem Leib!

wir ihn an unserem Leibe preisen in Gesundheit und Krankheit,in Leben und Sterben, wenn es nur in der Hingabe unseres Lei-bes praktisch wahr wird: ». . . wir sind des Herrn« (Röm 14,7.8;Phil 1,20). Er kann sich nur verherrlichen in seinen Leibeigenen.

Kommen wir zum Dritten:

Gott will gepriesen sein an unserem Leibe, weil unserLeib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, den dieHerrlichkeit Gottes erfüllen will.

Wie gering reden doch oft Gläubige von ihrem Leibe! Der heiligeFranz von Assisi (gest. 1226) soll ihn »einen alten Esel« genannthaben. Der wortreiche Wiener Kanzelredner Abraham a SantaClara (gest. 1709) schimpft über ihn: »Lass sterben diesen Maden-sack, Mistfinken, dies Wurmnest, Leimhaus, diesen Knollfinken,Kotbutten, dies Eitergeschirr, diesen Erdstrollen, dies garstigeRathaus, diese lebendige Wüste, diesen Leimlümmel, Wildfang,Sauwinkel, diese Gestankbüchsen, diesen zierlichen Unflat, dieslebendige Aas, diesen Aprillanten, diese verhüllte Senkgruben,diesen geschwärsüchtigen Dalken, diesen Krätzenmarkt, diesessechs Schuh lange Nichts!«

Ja, so sieht dieser »Leib der Niedrigkeit«, wie ihn Paulus Phil-ipper 3,21 nennt, seiner gefallenen Natur nach aus. Er ist nurnoch eine gebrechliche Hütte, ein irdenes Gefäß, das einmal inVerwesung, Unehre und Schwachheit dem Staube wieder gege-ben wird (2Kor 4,7; 1Kor 15,42.43). Aber dennoch nennt ihn dieHeilige Schrift »Tempel des Heiligen Geistes!«

Denn Gott, der Vater, Sohn und Heiliger Geist wohnen in ihm,sofern jemand in der Liebe zu Jesus seinen Leib als Wohnstättefür die Gottheit hergibt (Joh 14,23). Ja, diese niedrige und ge-ringe Leibeshütte der Gläubigen ist sogar der eigentliche undeinzige Tempel, in welchem Gott im Neuen Bund wohnen undverherrlicht sein will (2Kor 6,16). Wenn eine steinerne Kirchenoch so gedrängt voll Menschen wäre, so wohnte da doch Gottnicht, wenn nicht aus Gott geborene Söhne des Geistes unter derMenschenmenge wären, deren Leiber Gottes Wohnung sind, inder er sich verherrlichen kann.

Zu welcher Würde wird doch durch diese Innewohnung Gottesim Geist unser Leib erhoben! Vor unserer Bekehrung ein Leibder Sünde und des Todes, nun ein Werkzeug Gottes als Glied

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Zunahme der Nervenplage und Krankheitsmacht?

am Leibe Christi und eine Wohnstätte Gottes, ein Tempel desHeiligen Geistes! Als gliedliches Werkzeug und Waffe dient unserLeib der wirksamen Gerechtigkeit Gottes, als Wohnstätte undTempel dient er der ruhenden Heiligkeit Gottes. Dort wird Gottin ihm gepriesen durch Dienst, hier durch Würde. Und so wie dievielen Leiber der Gläubigen insgesamt der Leib Christi genanntwerden, so werden dieselben vielen Leiber als viele Tempel desHeiligen Geistes insgesamt das »Haus Gottes« und der »TempelGottes« genannt (1Petr 4,17; Eph 2,22). Und so wie die Leiberals dienende Glieder in dienendem Wachsen und wachsendemDienen zu Christus, dem Haupt, heranwachsen und dabei derganze Leib Christi, durch Gelenke und Bande der Darreichungbei seiner Selbstauferbauung in Liebe, das Wachstum Gotteswächst (Eph 4,15.16; Kol 2,19), so werden dieselben Leiber als»lebendige Bausteine« aufgebaut zum »geistlichen Haus«, zueinem »heiligen Tempel im Herrn«, nämlich zu einer »BehausungGottes im Geiste« (1Petr 2,5; Eph 2,19–22). Der Leib Christi wächstaus zum vollen Wuchs der Fülle Christi für das Werk des Dienstes(Eph 4,12.13), der Tempel wird aufgebaut zur geistlichen, heiligenBehausung Gottes in ruhig ragender Herrlichkeit.

Welche Verantwortung bringt uns diese Erkenntnis von derBedeutung unseres Leibes als eines würdevollen Geistestempelsund lebendigen Bausteins zu einem ewigen Gotteshause! Undwiederum heißt es: »Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempeldes in euch wohnenden Heiligen Geistes ist, welchen ihr vonGott empfangen habt, und dass ihr nicht euch selbst angehört?«Und: »Wisset ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der GeistGottes in euch wohnt? Wenn jemand den Tempel Gottes verdirbt,den wird Gott verderben; denn der Tempel Gottes ist heilig, undder seid ihr« (1Kor 3,16.17). Und: »Zieht nicht am gleichen Jochmit den Ungläubigen! Denn was haben Gerechtigkeit und Gesetz-losigkeit miteinander zu schaffen? . . . Wie reimt sich der TempelGottes mit Götzenbildern zusammen? Ihr aber seid ein Tempeldes lebendigen Gottes, wie Gott spricht: Ich will in ihnen wohnen. . . Drum gehet aus von ihnen . . . , so will ich euch aufnehmen. . . « (2Kor 6,14–18). Und: »Ihr aber seid nicht fleischlich, sonderngeistlich, wenn anders Gottes Geist in euch wohnt. Wer aberChristi Geist nicht hat, der ist nicht sein« (Röm 8,9). Dazu: »Versu-chet euch selbst, ob ihr im Glauben seid; prüfet euch selbst! Odererkennet ihr euch selbst nicht, dass Jesus Christus in euch ist?

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Preist Gott an eurem Leib!

Wenn ihr nicht etwa Unbewährte (Verwerfliche) seid! (2Kor 13,5).»Denn es ist Zeit, dass anfange das Gericht am Hause Gottes(1Petr 4,17).

Alle diese unerbittlich ernsten Schriftworte gehen auf unse-re Heiligkeit als Eingefügte in den Tempel Gottes und findenihre Probe in der Hingabe unseres Leibes. Wer irgendwie denLeib verdirbt, verdirbt den Tempel Gottes. Wie viel vermesseneTempelschänder unter uns! Wer sich irgendwie leiblich mit derUngerechtigkeit und Unreinheit dieser Welt zusammenjocht, derliefert den Tempel Gottes an Belial aus, indem er ihn seiner ab-gesonderten Heiligkeit beraubt. Wie viel freche Tempelräuberunter uns! Wer angibt, Christi Geist zu haben und lebt fleischlich,indem er nicht durch den Geist die Geschäfte des Fleisches tötet(Röm 8,13), der reift seiner Verwerflichkeit im Gericht entgegen.Sollte es mich treffen?

Warum so viele Gebundene unter den Gläubigen? Die Antwortsteht in Matthäus 12,43–45. Nächst Gott verlangt keiner mehrnach der Bewohnung unseres Leibes als der Feind und seineGeisterbanden. Da schützt nur eins: Der Leib dem Herrn zumheiligen Tempel, und der Herr dem Leibe zu dessen Erfüllungmit seiner Herrlichkeit!

Die innere Gegenwart Gottes in Christus durch den Heiligen Geistweihe und heilige unser gesamtes Leibesleben Augenblick um Augen-blick. »Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahreunsere Herzen und Sinne in Christus Jesus« (Phil 4,7). Und derFriede Christi gewinne den Kampfpreis in unserem Herzen, zuwelchem wir auch berufen sind in einem Leibe (Kol 3,15). Alles,was die innere Stille und äußere Würde des Leibestempels stö-ren und verletzen könnte, sei ausgeschlossen. Christus in unssei der Tempelfriede. Keine äußere Satzung ordne das heiligeTempelleben, aber das Lebensgesetz des Geistes Christi, als deshehren Tempelherrn, wandle unverbrüchlich in allen Raumge-bieten. Der Heilige Geist schalte als warnender und strafenderTempelhüter mit mehr als zweischneidigem Schwerte (Hebr 4,12).Er habe sein unversehrtes Siegel am ganzen Bau und bleibeurbetrübt (Eph 4,30). Unter seiner Tempelpflege empfange dasBauwerk jede Notdurft; und den weniger ehrbaren Teilen werdedurch ihn umso reichlichere Ehre gegeben (Eph 5,29; Röm 13,14;1Kor 12,23). Der ganze Leibestempel sei durch ihn Licht (Mt 6,22).Liebe, Freude, Friede usw. umranke und ziere als Frucht des

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Zunahme der Nervenplage und Krankheitsmacht?

Geistes (Gal 5,22) das ganze heilige Haus, aus dem alle Werkedes Fleisches in heiliger Tempelreinigung (Mt 21,12) verbanntseien (Gal 5,16–21).

Besonders sei die Liebe Gottes reichlich mit dem HeiligenGeist ins Allerheiligste des Tempels ausgegossen, damit durch sieStröme lebendigen Wassers über seine Schwelle fließen können(Röm 5,5; Joh 7,38). Des Hauses Stärke aber bestehe in dem,der selbst zuerst seinen Leib einen Tempel genannt hat, den erfür uns abbrechen ließ, damit wir zum Tempel erbaut würden(Joh 2,19–21).

So herrlich nun der Tempelbau unseres Leibes im Geist auchprangen mag, so gilt doch auch ihm des Meisters Wort: »KeinStein wird auf dem andern bleiben!« (Mt 24,2). Trotz des Geistes-dienstes, der ihn zur Würde bringt, bleibt er doch »der Leib derNiedrigkeit«; denn er entstammt der gefallenen Welt, in der allesverfällt und schließlich zerfällt. Fleisch und Blut, der Stoff, ausdem er besteht, können das Reich Gottes nicht erben (1Kor 15,50).Er bleibt das »irdene Gefäß«, das den Schatz vom Himmel herauf die Dauer nicht bergen kann (2Kor 4,7). Der Leib verdirbtund verfällt. Gemäß dem Fluche, dem die gefallene, erste Schöp-fung verfallen ist, zu der er stofflich noch gehört, muss er wiederzum Staube zurückkehren (1Mos 3,19); es sei denn, dass seinHerr zum Anbruch eines neuen Zeitalters vom Himmel kommt,um das Verwesliche der Leiber seiner alsdann noch auf Erdenlebenden Glieder in einem Nu ins Unverwesliche zu verwandeln(1Kor 15,51–58; 1Thess 4,13–18).

Dann würden wir nicht durch den Tod unserer Leibeshülle»entkleidet«, sondern in Verwandlung unseres Fleisches undBlutes bei unserer Entrückung zum Herrn im Nu mit einemneuen himmlischen Leib »überkleidet« werden, damit das letzteSterbliche an uns verschlungen werde vom Leben. So hat es sichPaulus gewünscht, und so ersehnen auch wir es; denn auch wirseufzen beschwert in der jetzigen Hütte unseres Leibes, weilsie des Geistes Fülle je länger, desto weniger zu bergen vermag(2Kor 5,1–4). Aber deshalb ermatten wir nicht, sondern »wennauch unserer äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innereTag für Tag erneuert« (2Kor 4,16). Und wir wissen, dass es unsgut ist, den himmlischen Geistesschatz vorläufig noch im irdenenGefäß zu tragen, damit die überschwängliche Kraft von Gott seiund nicht von uns (2Kor 4,7). Wie hochmütig würden wir, trügen

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Preist Gott an eurem Leib!

wir nicht den »Leib der Demütigung« (Phil 3,21), in dem wirabhängig von der Kraft Gottes bleiben und den guten Kampf desGlaubens in Versuchungen und Leiden kämpfen müssen! Undwie träge würden wir, belebte uns nicht die Hoffnung auf einewiges Leben in der vollen Freiheit der Herrlichkeit der KinderGottes in der »Erlösung unseres Leibes!« (Röm 8,20–23)

Denn nicht um eine einfache Erlösung von unserem Leibe han-delt es sich, so dass er einfach als »Wurmfraß« ins Grab sänkeund ihn Geist und Seele als einen beengenden Kerker und pein-lichen Erdenrest endlich los wären. Oh nein! Sondern der Leibselbst soll auch noch eine Erlösung erleben. Seine Rolle ist mitseiner Erstarrung im Tode und Verwesung im Grabe noch nichtausgespielt. Auch er geht durch den Tod nur zu neuem Lebenempor. So wie wir in Christi Kreuzestod nur mitstarben, um inChristi Auferstehung neues, ewiges Leben zu empfangen, so sollauch unser Leib teilhaben an Christi Auferstehung, weil ChristiGeist in ihm wohnt (Röm 8,11). Und eben diese Ewigkeitsbe-deutung unseres Leibes wird uns zu einem vierten und letztenGrund, warum wir Gott an unserem Leibe preisen sollen. Denn:

Gott will an unserem Leib verherrlicht sein, weil un-ser Leib das Samenkorn für den himmlischen Aufer-stehungs- und Herrlichkeitsleib ist.

»Aber«, wird jemand sagen, »wie sollen die Toten auferstehen?Mit was für einem Leibe sollen sie kommen?« »Du Narr, wasdu säest, das ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern einbloßes Korn . . . Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auf-erstehen ein geistiger Leib . . . Es wird gesät verweslich und wirdauferstehen unverweslich; es wird gesät in Unehre und wird auf-erstehen in Herrlichkeit; es wird gesät in Schwachheit und wirdauferstehen in Kraft . . . Und wie wir getragen haben das Bild desIrdischen, so werden wir auch tragen das Bild des Himmlischen. . . Wenn aber dies Verwesliche Unverweslichkeit anziehen unddies Sterbliche Unsterblichkeit anziehen wird, dann wird dasWort erfüllt werden, das geschrieben steht: Der Tod ist verschlun-gen in Sieg! Tod, wo ist dein Stachel? Wo ist, oh Tod, dein Sieg«(1Kor 15,35–58). »Denn wir wissen, dass, wenn unsere irdischeZeltwohnung abgebrochen wird, wir einen Bau von Gott haben,ein Haus, nicht mit Händen gemacht, ein ewiges, im Himmel«

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Zunahme der Nervenplage und Krankheitsmacht?

(2Kor 5,1). »Denn unser Bürgertum ist in den Himmeln, vonwoher wir auch den Herrn Jesus Christus als Heiland erwarten,der unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten wird zur Gleichför-migkeit mit seinem Leibe der Herrlichkeit, nach der wirksamenKraft, mit der er vermag, auch alle Dinge sich zu unterwerfen«(Phil 3,20.21).

Das also ist die himmlische Zukunft unseres Leibes: Er soll ein»geistiger Leib« werden, und als solcher dem HerrlichkeitsleibChristi gleichgestaltet sein. Denn das ist zu unserer völligen Er-lösung unbedingt nötig. Auch unser Leib muss den Schrankender gefallenen Welt entrissen werden. Als Glied Christi sowohlwie als Tempel des Heiligen Geistes muss auch er gänzlich inshimmlische Wesen versetzt werden. Eher ist er kein zulänglichesWerkzeug und Wohnhaus Gottes. Eher haben auch wir nicht dievolle »Sohnschaft« (Röm 8,23); denn zu unserem himmlischenStand gehört auch ein himmlisches Gewand. Darum warten dieGläubigen im Himmel und auf Erden auf die Erlösung ihresLeibes. Sie wird kommen, wenn der Herr kommt. Er selbst wirdbei seiner Ankunft die Leiber der Entschlafenen zur Herrlichkeitauferwecken und die der Lebenden himmlisch verwandeln. Daswird geschehen »mit gebietendem Zuruf«, das heißt in neuschöp-ferischer Vollmacht, in einem Nu (1Thess 4,13–18; 1Kor 15,51.52).

Und mit ihm kommt sein Lohn (Offb 22,12). Es wird wesentlichLeibeslohn sein, der offenbar wird bei unserer Erhöhung vor demRichterstuhl Christi, gleichwie es wesentlich Leibesstrafen beimGericht nach dem Fall waren (1Mos 3,16–19). Da müssen alleGläubigen vor Christi Richterstuhl offenbar werden, damit einjeder das davontrage, wofür er mittels des Leibes gewirkt hat, essei gut oder böse (2Kor 5,10). Oh hören wir es: Was wir »vermit-tels des Leibes« gewirkt haben, wird offenbar und entscheidendwerden für unseres Leibes Verherrlichung! Denn am himmlischenLeibe werden wir ernten, was wir vermittels des irdischen Leibesgesät haben. Ich denke, wir werden genau in dem Licht obenoffenbar werden, in dem wir hier unten gewandelt haben undin dem unser Leib auf Erden licht geworden ist (Mt 6,22). Anunserem Auferstehungs- und Herrlichkeitsleib wird zu sehen sein, wiewir auf Erden Gott an unserem Leibe gepriesen haben. So wie sichder Glanz der Sonne, des Mondes und der Sterne voneinanderunterscheidet, so wird es sein mit der Herrlichkeit der Gläubi-gen, die Christus angehören, bei der Auferstehung der Toten, bei

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Preist Gott an eurem Leib!

seiner Ankunft (1Kor 15,41.42). Ein jeder Leib wird lebendig undherrlich gemacht werden nach seiner eigenen Ordnung« (Vers 23).Hier steht im Grundtext für »Ordnung« ein militärischer Aus-druck, der sonst nie im Neuen Testament gebraucht ist. Es wirdeine Ordnung in abgestufter Herrlichkeit sein, der dann auchder abgestufte Dienst entsprechen wird, den wir im neuen Leibdroben zu tun haben.

Nun, liebes Gotteskind, wenn es denn so mit unserem Leibesteht, wie wollen wir nach Erlangung dieser Erkenntnis weiterhinbereit sein, Gott an diesem unseren Leibe zu preisen! UnserLeib werde geist- und lichterfüllt! Lasst uns auch bedenken,dass die klugen Jungfrauen sich nur dadurch von den törichtenunterschieden, dass sie einen Vorrat von Öl in ihren Gefäßenhatten. Dies war ihre ganze Bereitschaft zum Hochzeitsfest.

»Er selbst aber, der Gott des Friedens, heilige uns vollständig,und bewahre unseren Geist und die Seele und den Leib unver-sehrt tadellos bei der Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus!Treu ist der uns ruft; er wird es auch tun« (1Thess 5,23).

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Werdet nicht der Menschen Knechte!

Ihr seid teuer erkauft, werdet nicht der Menschen Knechte!1. Korinther 7,23

Zweimal schreibt der Apostel Paulus den Korinthern: »Ihr seidteuer erkauft!« Wie Sklaven, die ihr Herr um einen Preis gekaufthat, werden die Gläubigen an das ausschließliche Eigentums-recht erinnert, das Gott in Christus Jesus über sie gewonnenhat und geltend macht. An den ersten diesbezüglichen Hinweis(1Kor 6,20) knüpft der Apostel die Aufforderung: »Darum preistGott an eurem Leib! « und bringt damit zum Ausdruck: Ihr ge-hört mit Leib, Seele und Geist nicht mehr euch selbst, sonderneurem himmlischen Herrn! Die zweitgenannte Warnung aberwill sagen: Ihr gehört auch nicht den Menschen!

Es ist allezeit sehr nötig, diese Warnung neu zu beachten.Denn das Glaubensschifflein strandet immer an zwei Klippen:herrschender Eigenwille heißt die eine, knechtender Fremdwilledie andere. Die einen verführen sich selbst durch ihren blindenEigensinn, die anderen werden verführt durch den blendendenHerrschersinn anderer Menschen. Meist wohnen sogar beideGefahren in einem und demselben Menschen. Lasst uns daherder bedeutsamen Warnung des Apostels ein williges Ohr leihen!

Wie beschämend ist es da zunächst, dass Gottes Wort die Men-schen vor den Menschen warnen muss! Ja, die Menschheit istein gefährliches Geschlecht geworden, wer sich vor diesem Ge-schlecht nicht in Acht nimmt, wird von ihm mit ins Verderbenhinab gezogen. In unserem selbstsüchtigen Eigenwillen habenwir den allernächsten Feind gegen Gott, und im Allgemeinenselbstsüchtigen Menschenwillen haben wir denselben Feind mil-lionenfach um uns. Darum ist die Heilige Schrift tatsächlich dereine, große Protest Gottes gegen alles Menschliche. Dem WorteGottes im Glauben rechtgeben, heißt deshalb in die Gegenwehrgegen uns selbst und alles Menschliche eintreten. Eine tatsächlichbuchstäblich außerordentliche Stellungnahme!

Es war und blieb die Stellungnahme Jesu unter den Menschen-kindern. Nie leitete ihn Eigenwille, nie knechtete ihn der Men-

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Werdet nicht der Menschen Knechte!

schen Wille. Ganz gebunden an seinen Vater in den Himmeln,ging er beinahe losgelöst von jeder menschlichen Beeinflussung.Bedeutete es nicht geradezu die Beiseitesetzung der natürlichenmenschlichen Blutsbande und nahezu die grundsätzliche Los-lösung von der Familie, als er seine Mutter mitsamt seinen ihnsuchenden, draußen stehenden Brüdern mit der Frage abwies:»Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder?« und dieHand über seine Jünger ausstreckend sagte: »Siehe, meine Mutterund meine Brüder . . . !« (Mt 12,46–50). Welche, man möchte bei-nahe sagen, rücksichtslose Abweisung berechtigter menschlicherAnsprüche, wenn sie irgendeinen göttlichen Anspruch störten!

Desgleichen die Antwort an jenen, der sich freiwillig zur Nach-folge stellte, aber zuvor seinen Vater begraben wollte: »Lass dieToten ihre Toten begraben . . . !« (Mt 8,22). Und welcher Ärgerniserregende Abbruch aller menschlichen Beziehungen zu Nazareth,seiner Vaterstadt, in strikter Erfüllung des himmlischen Vaterwil-lens! (Lk 4,14–30). Und wie muss das Menschliche des »reichenJünglings« verletzt gewesen sein, als er betrübt von Jesus hinwegging! (Mt 19,16–22). Wie anders hätte ein »Seelsorger« von heutediesen ansprechenden, einflussreichen jungen Mann behandelt!

Und was brachte die Pharisäer in tödlichen Hass? Dass Jesusihre religiösen Satzungen und ihr frommes Gebaren als Men-schenmache entlarvte und verwarf (Mt 15,1 ff). Wie zwingendlegte er ihnen den Unterschied zwischen Göttlichem und nurMenschlichem vor, als er sie fragte: »Die Taufe des Johannes,woher war sie? Vom Himmel oder von Menschen?« (Mt 21,25).Wahrlich, der Herr hat das Nur-Menschliche, wo es sich demGöttlichen neben- oder überordnen wollte, mit rücksichtsloserVollmacht in die niederen Schranken zurückgewiesen. Da er nunso außerordentlich widersprechend auftrat, musste er notwendigselber zu einem Zeichen werden, dem widersprochen wurde(Lk 2,34). »Wir wissen, dass du nicht das Ansehen der Men-schen achtest«, bekannten die Pharisäer heuchlerisch vor ihm(Mt 22,16).

Und doch brachten sie ihn gerade wegen seiner unerhörten Un-abhängigkeit von Menschen unter der Begründung: »Was machstdu aus dir selbst!« (Joh 8,53) aus Neid ans Kreuz. VerletzterPharisäerdünkel war die äußere, die menschliche Ursache seinerHinrichtung. Ohne sich vor Herodes, seinem gottlosen Landesva-ter, den er einmal »Fuchs« genannt (Lk 13,32), und vor Pilatus,

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dem machtstolzen Menschenknecht, gebeugt zu haben, befahlder Außerordentliche freiwillig, wie er sich gefangen gegeben,auch freiwillig seinen Geist in seines Vaters Hände. Der unmit-telbar mit Gott Lebende konnte nur mittelbar durch Menschensterben. Zuvor aber hatte er dem Petrus, der ihm den Kreuzeswegversperren wollte, die Antwort gegeben: »Gehe hinter mich, Sa-tan! Du bist mir ein Ärgernis; denn du meinst nicht, was göttlich,sondern was menschlich ist!« (Mt 16,23).

So hat Jesus, der auserwählte Knecht Gottes (Mt 12,18–21;Jes 42,1–3), in seiner unantastbaren Niedrigkeit und Hoheit unsauch ein Beispiel gelassen, was es heißt, nicht durch Eigenwillenherrschen wollen und sich nicht durch Menschenwillen beherr-schen lassen wollen. Als das Abbild des unsichtbaren Gottes undUrbild wahrer Menschlichkeit erschien der Gottessohn als derverkörperte Protest gegen die gesamte Menschenart und gegenjeden menschlichen Anspruch, der dem Anspruch Gottes an unswiderstreitet.

Wie hat doch Paulus, der auserwählte Knecht Jesu Christi, diesBeispiel seines Herrn so trefflich befolgt! Vor seiner Bekehrungein Knecht des Eigen- und Menschenwillens, hielt er die Kleiderderer, die Stephanus steinigten, und war gerade im Dienste derFeinde Jesu mit Haftbefehlen auf dem Weg nach Damaskus, alser die Befreiung von jeder Menschenknechtschaft erlebte. Ge-rade ihm bedeutete die Erkenntnis Gottes und Christi die ausGnaden erlangte Fähigkeit zwischen Göttlichem und Menschli-chem klar zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ordnet fortanall sein Denken und Tun. Er steht im steten Protest gegen sichund alles verwirrende Menschliche, vor dem er vorausschauendmit unerbittlichen Worten warnt. Zu tief durch die göttlichenGnadenwirkungen in sich und anderen erfahren, hat er die Er-tragfähigkeit des alten Menschen als auf Null stehend bezeichnenmüssen: nichts Gutes! (Röm 7,18).

Diese Erfahrung scheidet ihn von allem Fleisch. Nie kann ersich wieder an sich selbst oder an Menschen verlieren. Er siehtsich samt Menschen und Welt im Zeichen des Kreuzes, und dieWelt soll ihn so sehen (Gal 6,14). Wie sehr bleibt er sich des Ge-gensatzes zwischen den Wirkungen seines eigenen Wesens undden Wirkungen des Geistes Christi in sich bewusst! (Apg 16,6.7;1Kor 9,27; 2Kor 12,7) Wie gründlich sagte er der Menschenweis-heit (1Kor 2,4.13), den Menschensatzungen (Klgl 2,20; Gal 5,1),

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Werdet nicht der Menschen Knechte!

dem Herrschenwollen über Menschen (1Kor 1,13; 2Kor 1,24) unddem Beherrschtwerden durch Menschen (1Kor 9,1; Gal 2,4.5.6.11)ab! Zweifellos, Paulus war entronnen der Herrschaft des Eigen-willens und der Herrschaft des Menschenwillens. So allein ver-mochte er seiner hohen, himmlischen Berufung und Erwählungtreu zu bleiben. Und so allein war er frei, ein Knecht Christi unterMenschen zu sein.

Erstens: damit wir nicht unserer persönlichen, himmlischenBerufung untreu werden.

Zweitens: damit wir Christi Knechte auf Erden zu sein vermö-gen.

Das erste ist die Voraussetzung für das zweite; denn von derrechten Erkenntnis unserer Erwählung und Berufung und derenGefährdung durch Menschenknechtschaft hängt unser rechterDienst für Christus ab. Es gibt, soweit ich sehe, drei Kreise göttlicherErwählung und Berufung.

Erstens einen weitesten Kreis der allgemeinen Erwählung undBerufung der Menschen zur Errettung aus der Sünde und vordem kommenden Zornesgericht Gottes über die Sünder;

zweitens einen engeren Kreis der besonderen Erwählung undBerufung der Menschen nach Zeitaltern, Völkern und Volkszu-gehörigkeit, innerhalb deren Gott nach seinem Heilsplan dieErrettung der Menschen vollzieht. Dass wir nicht vor dreitau-send Jahren, sondern jetzt, und nicht in Zentral-Afrika, sondernhier leben, entspricht diesem zweiten Kreis göttlicher Erwählung;

drittens einen allerengsten Kreis der persönlichen Erwählungund Berufung, der eigentlich immer nur ein Punkt ist, nämlichein menschliches Eigenleben bedeutet. Dass ich bin, wer ichbin, ist einmalig, und dass ich als solcher von Gott innerhalb derbeiden ersten Kreise erwählt und berufen bin, ist ebenso einmalig.Was will das aber besagen? Eben davon lasst uns hören.

Es bedeutet für eine gläubige Seele: Kind Gottes, werde das,wofür du, gerade du, erschaffen, erwählt und berufen bist! Hatdein Leben eine einzigartige Bedeutung, dann hat es auch eineneinzigartigen Wert, der in deiner einzigartigen Bestimmung liegt.Diese deine Bestimmung sollst du um jeden Preis erkennen underreichen. Zu nichts gehört eine feinere, zartere, sorgsamere,geistlichere Aufmerksamkeit, als dazu, die Linie in deinem Le-ben herauszufinden, die Gott vor Grundlegung der Welt für dichabgemessen und abgesteckt hat, dass sie deine Lebenshilfe werde.

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Mit Furcht und Zittern dein Seelenheil schaffen, heißt da nichtsGeringeres als: Herr, lass mich dir in keiner Weise entgleiten!Lass mich ganz werden, wozu ich geboren und wiedergeboren,erwählt und berufen bin! Welch ein verantwortungsreiches, wach-sames Glaubensleben bringt das! Es ist das Ende aller Ich- undMenschenherrschaft. Es ist der Weg durch Selbstverneinung zurSelbstgewinnung. Manche meinen, Selbstverneinung sei Selbstver-nichtung. Das ist unvernünftig und unbiblisch. Wir haben nichtsKostbareres als unser Selbst. Aus diesem Selbst soll ein Ewig-keitswert für Gott werden. Eben dazu muss alles Gottfeindlichein uns verneint und ausgeschieden werden. Das Gottfeindlichstein uns ist aber unsere vermeintliche Selbständigkeit als Ichherr-schaft wider Gott und Menschen. Selbstverneinung ist nur dieVerneinung unserer Selbständigkeit als Selbstherrlichkeit. Es seihier wiederholt: Die Selbstverneinung schließt nicht das Selbst-bewusstsein aus, sondern schließt es in allerhöchstem Maße insich ein. Man muss ein Selbst haben, um ein Selbst geben zukönnen. Jesus hatte das größte Selbstbewusstsein und infolge-dessen das Vermögen zur größten Selbsthingabe als Preisgabejeder Selbstherrlichkeit. Und je mehr auch wir die eigenwillige,eigenmächtige Selbstherrlichkeit unseres persönlichen Lebenspreisgeben, desto gottgewollter, gottesmächtiger und gottesherr-licher werden wir gerade unser persönliches Leben gewinnen(Mt 16,25).

Diese Erkenntnis schließt aber auch die andere Seite in sichein, nämlich durch Selbstbehauptung zur Selbstgewinnung. Hier han-delt es sich um unsere Stellung den Menschen gegenüber. Gottwill nie unser persönliches Selbst auslöschen, aber die Menschentrachten beinahe durchweg danach. In dem Maße als die Menscheneigenmächtig und selbstherrlich Gott gegenüber bleiben, treten sie aucheigenmächtig und selbstherrlich ihren Mitmenschen gegenüber auf. Jeweniger sie sich von Gott in Christus beherrschen lassen wol-len, desto mehr werden sie ihre Mitmenschen zu beherrschensuchen. Eben da heißt es: Werdet nicht der Menschen Knechteum eures von Gott geprägten einmaligen Selbst willen, in demeuch Gott erwählt und berufen hat! Lasst dieses Selbst nichtdurch der Menschen herrschlüsterne Ansprüche verwirrt, ver-wüstet und seiner göttlichen Bestimmung entzogen werden! Ihrgehört Gott in Christus an, behauptet euch gegen die Herrsch-sucht selbstherrlicher Menschen! Siehe aber bei der Befolgung

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Werdet nicht der Menschen Knechte!

dieser Mahnung ja gut zu, dass du nicht etwa nur deine eigeneeigenwillige Selbstherrlichkeit gegenüber der Selbstherrlichkeitanderer zu behaupten suchst, wie es so nahe liegt und leider sovielfach geschieht! Mancher trotzt: Werdet nicht der MenschenKnechte! und ist doch nichts anderes als ein trotziger Ichknecht.

Denn es herrscht ebenso sehr Mangel an gottgewolltem Selbst-bewusstsein unter den Gläubigen wie andererseits Überflussan eigenwilligem Selbstbewusstsein. Auf der einen Seite billige,fromme Dutzendware, immer unreif, immer ungeistlich, ungeübtund urteilslos, immer nur unpersönliche Mitläufer und Anhänger,die nie zu sich selber aufgewacht sind, nie eine SonderprägungChristi werden konnten, die weniger Schwache im Glauben sind,sondern Verkrüppelte im Glauben durch eigene Trägheit in derErkenntnis Christi und ihrer hohen göttlichen Berufung. Sind sienicht immer Knechte der Menschen? Auf der anderen Seite wieviele biblisch äußerlich wohlgeschulte, selbstbewusste Ichlinge,die glückselig sind, wenn sie nur irgendwo und irgendwie sichgeltend machen, ein Röllchen spielen, in Selbstklugheit lehrenund Selbstherrlichkeit regieren können. Immer sind sie überle-gen, immer selbstweise, selbstgerechte Kritiker der anderen, undreden in Hochmut fließend von der Demut und vom ganz nahenKommen des Herrn. Sie sind es, die uns weismachen möchten,ihr armseliges Menschliche sei bereits das Göttliche und ihreSorte Christentum die einzig zukunftsfähige auf Erden und imHimmel.

Und zwischen beiden Lagern die wenigen in Christus vonsich und Menschen freigewordenen Seelen, die nicht mehr inselbstischer Anmaßung sich über andere erheben, aber auchnicht mehr von der Anmaßung anderer sich bedrücken lassenwollen. Oh wie erquicken sie doch, wenn man ihnen durch GottesGnade begegnet, diese wahrhaft freien, wahrhaft vornehmenSeelen, in deren Gegenwart man vertrauen darf, weil man esihnen anmerkt, dass sie ohne selbstische Absicht denken, redenund handeln, die gerade, weil sie nicht herrschen wollen, umso gewisser durch Christus im Glauben herrschen (Röm 5,17),und gerade, weil sie sich nicht menschlich beherrschen lassenwollen, um so freiwilliger und wahrhaftiger in dienender Demutgehen. Wir wollen uns doch sehr ernstlich fragen, ob wir zudiesen erquickenden Menschen, diesen allein echten Söhnen desFriedens, gehören; denn der Ichmensch sinnt immer auf Krieg.

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Betrachten wir nun praktisch die Gefährdung unserer hohenErwählung und Berufung durch die üblichen Formen der Men-schenknechtschaft. Da ist an erster Stelle die allgemeine Menschen-furcht zu nennen. Wie bezeichnend für den gefallenen Menschen,dass er seine Mitgeschöpfe mehr fürchtet als seinen Schöpfer!Die nie vor Gott gezittert, zittern vor vergänglichen Menschen! Vondiesen glauben sie sich abhängig, aber von Gott unabhängig! Sosuchen sie statt der Gotteshilfe die Menschenhilfe und liebendie Ehre bei Menschen mehr als die Ehre bei Gott (Joh 12,43).Wie viele Erweckte kommen nicht zur vollen Bekehrung wegendieser elenden Menschenfurcht! Statt glückselige Knechte Christizu werden, bleiben sie erbärmliche Menschenknechte. Und dieMänner erweisen sich hier feiger als die Frauen. Es ist gewiss,dass Christus mehr aus feiger, blasser Menschenfurcht als umgrober, roher Sündenliebe willen verleugnet wird.

Im scheinbaren Gegensatz zur blassen Menschenfurcht stehtdie bunte Menschenvergötterung. Und doch ist auch sie nureine Abart der Menschenfurcht; denn auch sie entstammt dertörichten Überschätzung der Menschennatur. Die Ehrfurcht undhingebende Liebe, die zuallererst Gott zukommt, wird dem Ge-schöpf, dem »Abgott«, dargebracht. In dieser abgöttischen Krea-turenliebe stehen auch noch viele Gläubige. Ihr Fleisch begehrtnoch das Fleisch; ihre ungestillte Seele verliert sich noch an dieandere Seele. Man liegt gebunden und versklavt in erlaubtenund unerlaubten, offenbaren und geheimen Neigungen, die eseinem unmöglich machen, Jesus nachzufolgen, Erwählung undBerufung festzumachen und Christi Knecht zu werden.

Zu dieser Form der Menschenknechtschaft gehört auch diefromme Abgötterei: Knechte und Mägde Gottes sind ihr Gegen-stand. Aus Dankbarkeit ihnen gegenüber wird Verhimmelung,aus Verehrung Vergötterung. Blindlings hängt man an unzuläng-lichen Staubgeborenen, deren Bild je länger desto mehr das BildChristi verdrängt, und schwört auf sie, bis man durch Entde-ckung ihrer so genannten Schattenseiten allmählich oder plötz-lich enttäuscht wird. Aber welches Unheil birgt solche Menschen-knechtschaft in sich!

Eine besondere Form dieser Knechtschaft ist sodann die lei-dige Nachahmungssucht gegenüber dem vergötterten Vorbilde.Man möchte nur noch werden wie der Abgott ist. So ahmt manihn nach in Sprache, Kleidung, Haltung, Gebärden, Schrift und

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Werdet nicht der Menschen Knechte!

Dienst und setzt sich in solcher albernen Menschenknechtschaftein ganz falsches Ziel, das uns nicht werden lässt, was wir nachGottes Willen werden sollen. So gesegnet das Studium edlerVorbilder ist, so fluchvoll kann das sklavische Hängenbleibenan ihnen werden. Für wie viele gibt es nur einen annehmbarenGottesknecht, nur eine vorbildliche Magd des Herrn, und allesandere ist in ihren Augen und in ihrem Munde nichts. Da siesich so für die wahrhaft Freien halten, sind sie zu bedauerlichenKnechten der Menschenvergötterung geworden. Sie können wohlder Abdruck ihres Abgottes werden, aber niemals ihre eigenepersönliche Bestimmung erreichen.

Dieser massenhaft betriebenen, abgöttisch-knechtenden Vereh-rungssucht steht die knechtende Herrschsucht zahlloser Einzel-ner gegenüber. Diese Art geht planmäßig darauf aus, sich denMenschen überzuordnen, um sie dem eigenen Willen gefügigzu machen. Es gibt eine göttliche Gnadengabe, in der Arbeitfür den Herrn gebietend und ordnend ein- und durchzugreifen(1Kor 12,28), indem Gott neben Aposteln usw. auch »Helfer« und»Regierer« in der Gemeinde gesetzt hat, deren göttliche Gna-dengabe zur Erfüllung ihrer göttlichen Gnadenaufgabe dienensoll.

Aber wehe, wenn diese Berufenen samt unzähligen Unberufe-nen sich zu eigenwilligen Herren in der Gemeinde aufwerfen!Und es wimmelt von solchen fleischlichen Herrschernaturen,großen und kleinen Päpsten, wie man sie nennt. Nicht alle sindvon Natur aus herrschsüchtig gewesen. Viele sind es erst gewor-den durch eben die sklavische Verehrungssucht ihrer Verehrerund Verehrerinnen. Ihre Anhängerschaft hat sie auf den Throngesetzt. Welch unheilvolle Krönung!

Nun kennen diese »Herren« nur eines: Herrschen! Und es istfurchtbar unheimlich, wahrzunehmen, wie sie dabei die geistli-che Aufsicht über sich selbst verloren haben, indem sie immerblinder ihren Eigenwillen mit Gottes Willen verwechselten. Wehedem, der nicht ihr Gepräge anerkennt und annimmt! Sie könnenihm nie verzeihen. Wehe dem, der bewusst oder unbewusst inihr Reich eindringt! Ihre geheime oder offene Rachsucht kenntda keine Grenzen. Und wie viele werden und bleiben solcherMenschen Knechte!

Unser Herr hat einst gesagt: »Ihr wisset, dass die Fürsten derVölker sie unterjochen, und dass die Großen sie vergewaltigen;

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unter euch aber soll es nicht also sein . . . « (Mt 20,25.26). UndPaulus schrieb damals: »Nicht dass wir Herren seien über eurenGlauben, sondern wir sind Gehilfen eurer Freude; denn ihr stehetim Glauben« (2Kor 1,24). Die ganze Kirchengeschichte ist eineeinzige Sündengeschichte angesichts dieses Christus- und die-ses Apostelwortes; denn sie ist die Geschichte der weltförmigenHerrschsucht im so genannten Reiche Christi. Unterjochung undVergewaltigung des Glaubenslebens anderer durch herrschsüch-tige Glaubensgenossen, ist die schändlichste und verderblichstealler Formen der Menschenknechtschaft. Früher wurde sie mehrim Großen betrieben, jetzt wird sie nicht minder schändlich imKleinen und einzelnen ausgeübt.

Kleine Päpste legen allenthalben ihre Joche auf. Nur ihre Mei-nung, Auslegung und Art darf gelten. Nur ihre Glaubensregelwird geduldet. Alles andere wird von ihnen verdächtigt undverketzert. Soweit ihr Einfluss reicht, wird alles planmäßig ih-rer allein gültigen Auffassung untertan gemacht und fein odergrob innerlich vergewaltigt. Mit welchem Ergebnis? Starre, ödeGedankenlosigkeit ringsum, platte oder ängstliche oder auchdummstolze Nachschwatzerei des immer wieder Gehörten, un-brauchbare Stumpfheit oder knechtsselig funktionierende Dienst-barkeit oder aufgestachelte, angelehrte Parteilichkeit, jedenfallsaber hässlich und bedauerlich verkrüppeltes Seelenleben, verdor-bene Entwicklung, verfehlte Bestimmung. Der Gräuel menschli-cher Verwüstung an der heiligen Stätte eines Menschenherzens.Ich kenne ganze Gemeinschaften, ja ganze Gemeinschaftsgebiete,die von solchen ichstarken Herrschernaturen in geistliche Wüste-neien verwandelt worden sind. Sie sind Knechte von Menschengeworden.

Sehr oft aber erzeugt Druck Gegendruck, und dann kommt esin solchen versklavten Herden zu Aufständen. Ein Gegenherr-scher, den die eigene Herrschlust und der Neid geschult, trittauf und reißt die Gewonnenen mit sich unter das Banner seinerLehre und in den Bann seines Wesens. Wieder ein Verderber imWeinberg mehr. So entsteht und blüht das knechtende Rotten-und Sektenwesen. Für mich ist Sekte alles was nicht Christus,das Haupt, im gemeinsamen Wachstum festhält (Kol 2,18–23),sondern sich selbst als Haupt gebärdet. Da muss man sich dannunterscheiden durch Sonderlehren, Sondergebräuche, Sonderhei-ligkeit, in denen man nach eigener Wahl einhergeht in Demut

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und Geistlichkeit der Engel, in seinem aufgeblasenen fleischli-chen Sinn, in eigenwilligem Gottesdienst. Sektenwesen entstehtimmer durch herrschsüchtigen Eigenwillen; darum ist es gleich-bedeutend mit Menschenknechtschaft, möge es im Größten oderim Kleinsten wirksam sein, möge es als breite Hierarchie (Pries-terherrschaft) oder als Konventikel (Winkelwesen) regieren. WoMenschenwesen herrscht, herrscht Sektenwesen.

Und da herrscht auch immer der knechtende religiöse Betrieb.Er ist heute die häufigste Form der Menschenknechtschaft unterden Gläubigen. Man hat dem Staate, den Machtkirchen, demSozialismus und Industriealismus das Organisieren nachgeahmtund das Glaubensleben auf menschlich gelegten Geleisen in Be-wegung setzen wollen. Da sollte es nach menschlicher Zahl undZeit laufen. Da sollten die Erfolge äußerlich gemessen, gezähltund gebucht werden wie die Geschäfts-Erfolge in einem Kon-tor oder die statistischen Erhebungen im Amt. Dazu bedurftees, genau wie in den weltlichen Betrieben, der Arbeitsteilungund äußerlich geordneten Arbeitsleistung. Dies führte aber, un-gleich schädlicher als in weltlichen Betrieben, zur abstumpfendenArbeitseintönigkeit und zugleich zur aufreibenden Arbeitshet-ze. Da blieb immer weniger Zeit und Raum für unmittelbaregöttliche Geisteswirkungen, die sich ja nicht nach der Uhr derMenschen richten. Und doch sollte immer etwas geschehen; dennman wollte doch »Erfolge« sehen. So trat denn immer unheil-voller an Stelle des Wirkens Gottes das eigenmächtige Wirkender Menschen, die menschliche »Mache«, die kulturell-religiöse»Leistung«, und damit die elende Versklavung an den religiösenBetrieb, diese Geist, Seele und Leib tötende Form der modernenMenschenknechtschaft.

Wie viele arme Sklaven zerarbeiten sich heute in ihrem Dienst!Wie viele »Reichsgottesarbeiter« sind doch nur religiöse Tage-löhner, nämlich schauerlich arme Menschenknechte! Nur nochzwangsmäßige Abhängigkeit von Menschen, vorgesetzten Behör-den, Komitees, Vorständen usw. bewegt sie. Und diese Behörden,Komitees, Vorstände usw. selber sind nichts anderes als meistüberlastete, gehetzte Sklaven ihres Amtes und Pöstchens, oderrichtiger: ihrer vielen Ämter und Pöstchen, die sie nicht mehr zuwahrhaft geistlichem Atemholen kommen lassen.

Auf der anderen Seite aber steht die gläubige Menge, dienun von Gottesdienst zu Gottesdienst, von Versammlung zu

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Versammlung gehetzt wird, so viel hört, so wenig behält, nochweniger lebt, so viel läuft und so wenig erjagt, so viel liest, sowenig weiß, so Herrliches ersehnt und so Gewöhnliches aufweist!Was kann denn bei all diesem geräuschvollen Betrieb anderesherauskommen als Selbstbetrug und Betrug anderer, nämlich in-nere Leere = äußerer Wortschwall, innere Erschöpfung = äußeresHeldenspiel, innerliche Überführung von Unwahrhaftigkeit = äu-ßerliches Streiten für die Wahrheit, Entartung der Persönlichkeit,Verlust am göttlichen Selbst!

Wohl denen, die im verödenden Dienste des religiösen Betrie-bes bereits zu dieser notwendigen Einsicht gelangt sind! Undwehe denen, die vor lauter Dienstrausch oder Predigtzauber denFluch des knechtenden religiösen Betriebes, der sie bannt, nichteinmal spüren! Oh Menschenknechtschaft, unsere hohe Erwäh-lung und Berufung schwer beeinträchtigende, ja gefährdendeMenschenknechtschaft!

Eine böse Seite der menschlich-religiösen Betriebsherrschaft unterGläubigen ist die Titel- und Geldherrschaft. Es gibt doch keinen eh-renderen Titel als den Titel »Bruder« und »Schwester im Herrn«;ich wenigstens wünsche mir keinen höheren und bedauere es al-lemal, wenn Kinder Gottes mich statt »Bruder« »Herr« nennen. Ja,ich will lieber missbräuchlich »Bruder« als gebräuchlich »Herr«genannt werden. Wie viel weniger sollte doch bei Christen »Herr«statt »Bruder« gelten! Aber es ist leider umgekehrt. Wer irgend-wie innerlich noch ein »Herr« sein möchte, hört sich auch gerneäußerlich so nennen. Darum ertragen viele den biblischen Titel»Bruder« ebenso wenig, wie sie sonstige biblische Wahrheiten,die der Selbstherrlichkeit ans Leben gehen, nicht ertragen mögen.Mir graut immer ein wenig vor jedem als gläubig bezeichnetenMenschen, den ich nicht freimütig »Bruder« oder »Schwester«nennen kann. Da ist immer ein Bann von Menschenknechtschaft.Wie sind wir da Sklaven einer so bezeichnenden Weltsitte ge-worden. Wo unterjocht und vergewaltigt wird, da mag der Titel»Herr« ein beliebter und doch ach, so täuschender Klang sein,aber bei Kindern Gottes soll es nicht also sein; da heißt nur einer»Herr«; wir alle aber sind Brüder (Joh 13,13; Mt 23,7–11). Wieaber, wenn man sich in gläubigen Kreisen gar nicht genug tunkann mit An- und Aufführungen von Titeln, denen gegenüberder Titel »Herr« beinahe eine nackte Schande ist! Lest sie nur,die großartigen Unterschriften unter großartigen Aufschriften,

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Werdet nicht der Menschen Knechte!

die prunkenden Rednerlisten und stolzen Komiteeherrennamen!Lest sie nur, damit ihr sehen lernt, wie Gottes Volk auch nachdieser Seite hin das Apostelwort nötig hat: »Werdet nicht derMenschen Knechte!«

Und das gilt auch in Bezug auf die Geldherrschaft. Die Ja-kobus 2,1–9 bezeichnete Sünde geschieht unter uns alle Tage.Wo reiche Brüder infolge ihrer Geldmacht in Gemeinde oderGemeinschaft herrschen, sind andere Brüder gewöhnlich so gutwie entmündigt. Was der Mann mit dem »goldenen Ring« und»herrlichem Kleide« sagt, geschieht. Es ist aber andererseits sehrzu betonen, dass es unter Gläubigen auch eine demokratischeHerrschsucht gibt, die nichts mit Christi Geist zu tun hat, sonderndem Zeitgeist entstammt, dessen Züge sie trägt; denn sie pochtauf Menschenrechte, und ihre fleischlichen Waffen heißen: Neid,Begehren nach Besitz, Macht und Genuss, Ichtrotz, Klassentrotz.Auch da gilt: »Werdet nicht der Menschen Knechte!«

Wo und wie aber auch menschlicher Herrschgeist sich un-ter Kindern Gottes entfaltet, überall und immer zeitigt er diegleichen Früchte, nämlich Ungeduld, Unbarmherzigkeit, Un-gerechtigkeit, infolgedessen ist sein Gesamtergebnis geistlicheUnfruchtbarkeit. Wie der menschliche Herrschgeist in der Ge-meinde wirkt, habe ich einmal aus dem Munde eines geistge-salbten Führers gehört, der sich selber seines früheren hartenHerrscherregimentes anklagte. Seine Stimme bebte vor bittererReue, als er erklärte: »Mein größter Fehler war die Ungeduld. Ichkonnte weder auf die Einzelnen noch auf die Gemeinde warten.Ich wollte vorwärts. Ich wollte zum geistlichen Ziele hin. Aberich bediente mich dabei fleischlicher Mittel und wusste es nicht.Wenn jemand von meinen Leuten sein Ich nicht so schnell undso gründlich in den Tod geben wollte, wie ich es wünschte undselber glaubte getan zu haben, so schlug ich ihn »tot«. Ja, ichhabe auch einige unbarmherzig tot getreten. Nun war ihr Ichertötet, aber keine Spur von Christi Leben entwuchs diesem Tod.Was der Geist hatte tun wollen, hatte meine Herrscherfaust ge-tan, aber zum fruchtlosen Verderben.« Welch ein erschütterndes,lehrreiches Bekenntnis! Möge es allen Seelsorgern zur Warnungdienen, gleichwie es auch mir gedient hat.

Dieselbe Unfruchtbarkeit wirkt derselbe Herrschgeist in derFamilie. Wie manches Ehepaar hat mir schmerzlich erklärt: »Kei-nes unserer Kinder ist bekehrt. Aber wir sind selber daran schuld.

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Wir sind zu streng gewesen. Wir glaubten in gewissen Jahren dieBekehrung erzwingen zu müssen, und damit hatten wir alles ver-dorben. Wir wollten eben selber machen, was allein Gott wirkenkann. Nun können wir nur noch beten, der Herr möge unsereTorheit wieder gut machen.« Müssen nicht auch Frauen in Bezugauf ihre Männer dasselbe bekennen, und umgekehrt Männer inBezug auf ihre Frauen?

So hat also die Menschenknechtschaft vielerlei Formen, aberimmer die gleiche geisttötende Wirkung. Stets entspringt derHerrschsinn dem Eigensinn, sei es in guter oder böser Absicht.Und stets entspricht auch der Sklavensinn irgendeinem törich-ten Eigensinn; denn Christi Sinn macht weder selbstbewussteGebieter noch an Menschen verkaufte Sklaven.

Wie aber entfliehen wir sowohl dem Verderben der Herrsch-sucht als auch dem der Knechtschaft?

Nicht dadurch, dass wir es aufgeben, auf Menschen zu wir-ken, und auch nicht dadurch, dass wir es vermeiden, Menschenauf uns wirken zu lassen. Sondern allein dadurch, dass wirMenschen in Christus werden, die mehr und mehr allein vonihm beherrscht, auch mehr und mehr allein ihm dienen, undzwar gerade mitten unter den Menschen. In ihm sind wir er-wählt, in ihm allein werden wir, was wir werden sollen für unsund für die Menschen. Lernen wir es also inmitten der Menschennach oben leben! Das ist befreiende Glaubensarbeit. Das ist bin-dende Gebetsarbeit. Das ist Einsamkeit im Gedränge. Das istFestigkeit bei aller Beweglichkeit, Selbsthingabe und Selbstge-winnung in einem. Von Jesus uns beherrschen lassen, macht unszu Herrschern unter den Menschen ohne Herrschsucht und istdie einzige Sicherheit gegen jede Beherrschung durch Menschen.Abhängigkeit von ihm gibt eine staunenswerte Unabhängigkeitvon allen Staubgeborenen. Aus ihm leben, zu ihm hinleben, istdie einzige Gewähr für die Erreichung unserer ewigen Bestim-mung in persönlicher Vollendung. Nach oben leben erhebt unsüber die Menschen und macht uns doch nicht hochmütig. Nachoben leben löst uns von den Menschen und trennt uns doch nichtvon ihnen. Nach oben leben entrückt uns allem Jammer der Erdeund macht uns doch nicht mitleidslos. Nach oben leben bringtuns völlige Geduld und lässt uns doch keine Zeit versäumen.Nach oben leben nimmt uns alle Sorgen und hält uns doch inder einen Sorge, der Verbindung nach oben, nämlich das Leben

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Werdet nicht der Menschen Knechte!

in Christus nicht zu verlieren. Nach oben leben das heißt, getreuunserer himmlischen Erwählung und Berufung, das Gotteswun-der unserer menschlich-persönlichen Einmaligkeit erleben, dieihre besondere Arbeit bringt auf Erden und ihre gottgewollte,persönliche Herrlichkeit bringen wird im Himmel.

Die besondere, ureigene Arbeit auf Erden – das leitet uns hin-über zum zweiten, das wir betrachten wollen. Denn wir müssenuns nicht nur hüten, der Menschen Knechte zu werden, damitwir unser göttliches Selbst nicht verlieren und unserer ewigen,himmlischen Erwählung und Berufung nicht untreu werden, son-dern wir dürfen auch nicht Knechte der Menschen werden, weil wirsonst nicht Christi Knechte auf Erden zu sein vermögen.

Nicht nur die Erhaltung unseres Persönlichkeitswertes, dersich mit dem Werte unserer Seele deckt, nötigt uns zur Befreiungaus der Menschenherrschaft, sondern praktisch sind wir ganz be-sonders zur Abweisung der Menschenknechtschaft genötigt, weilwir sonst nicht Freiheit erlangen und behalten, Christi Knechtezu werden und zu bleiben. Unsere himmlische Erwählung undBerufung wird in irdischer Arbeit, nämlich im Dienst für denHerrn festgemacht. Befreiung von der Menschenknechtschaft solluns praktische Freiheit zum und im Dienste Christi bringen. EinMenschenknecht kann kein Knecht Christi sein. Das ist das Ent-scheidende. Viele versuchen es, den Menschen und dem Herrnzu dienen, aber sie können es nicht vollbringen. Der Gegensatzbleibt und zwingt uns zum Entweder-Oder. Aber wunderbar! Jeungeteilter wir Christi Knechte werden, desto ungeschmälerterkommt unser Knechtsdienst für den Herrn den Menschen zu-gute. Also müssen wir auch um der Menschen willen, nämlichum ihnen wirklich dienen zu können, aufhören, der MenschenKnechte und Diener zu sein. Das lasst uns verstehen lernen.

Schauen wir Jesus an, wie er in allem, was er tat, doch nurGott allein diente. Denn wäre der Sohn Gottes ein Menschendie-ner gewesen, so wäre er ein Sündendiener gewesen (Gal 2,17).Das sei ferne! Nur weil sein Dienst vollkommener Gottesdienstwar, konnte er den Menschen völlige Erlösung bringen. Wie un-vergleichlich hat sich der Herr dienend den Menschen geneigt;aber er hat dabei nur das Werk getan, das der Vater ihm auf-getragen hatte, dass er es tun sollte. Alles geschah, damit dieSchrift als die Offenbarung des unverbrüchlichen Vaterwillenserfüllt würde und die Menschen glauben sollten an den, der den

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Sohn gesandt hatte. Wie sehr dabei Jesus jeden selbständigenEigenwillen und jeden andringenden fremden Menschenwillenausschloss, haben wir einleitend ein wenig gesehen. Sein Tunwurde nur göttlich bestimmt, nie menschlich. So sehen wir den,den die Menschen mit Recht »Herr« nannten (Joh 13,13), als al-ler Knecht und Diener (Mt 23,11), und er war doch ganz alleinGottes auserwählter Knecht. Wie aber waren die Pharisäer, diealles durch sich selbst und vor Menschen taten, und sich dabeirühmten: »Wir sind nie jemandes Knecht gewesen!« (Joh 8,33)richtige Ich- und Menschenknechte!

Und schauen wir Paulus an. Gleichwie die anderen Apostel be-zeichnet er sich grundsätzlich als »Knecht«, eigentlich Sklave JesuChristi. Die Apostel hätten sich ja auch »Freunde« Jesu Christinennen können; denn der Herr hat einmal zu ihnen gesagt: »Ichsage hinfort nicht, dass ihr Knechte seid, denn ein Knecht weißnicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich gesagt, dass ihr Freun-de seid; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habeich euch kundgetan. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, wasich euch gebiete« (Joh 15,14). Und sie hätten sich auch »Brüder«Jesu Christi nennen können; denn der Auferstandene trug derMaria auf: »Gehe hin zu meinen Brüdern . . . « (Joh 20,17). Abernein, sie nannten sich grundsätzlich Knechte Jesu Christi. Warumwohl? Nun ich denke, um ihre bedingungslose Abhängigkeit vonihrem Herrn und ihre ebenso bedingungslose Unabhängigkeitvon den Menschen zum Ausdruck zu bringen. So gab es für siekeinen höheren Dienst- und zugleich Freiheitsgrad als eben den»Knechte Jesu Christi«.

Das hat Paulus, der »geringste unter den Aposteln« (1Kor 15,9),ganz besonders bezeugt. Keiner hat seine totale Abhängigkeit vonJesus so betont wie er. Von und durch Jesus Christus wusste erApostelamt, Offenbarungen, Evangelium, Weisheit und Predigt,also allen Dienst empfangen zu haben, in dem er seinem Herrnein Sklave geworden war. Aber eben deshalb wusste er sich auchin der Gebundenheit an seinen Herrn frei allen Menschen gegen-über. »Predige ich denn jetzt Menschen oder Gott zu Dienst?«fragte er die unverständig gewordenen Galater. »Oder gedenkeich, Menschen gefällig zu sein? Wenn ich den Menschen nochgefällig wäre, so wäre ich Christi Knecht nicht« (Gal 1,10). Deut-licher kann man seine Freiheit in Christus nicht zum Ausdruckbringen. Und wunderbar! Derselbe Mann, der solche Sprache

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führt, schreibt den in sich selbst verengten Korinthern: »Dennwiewohl ich frei bin von jedermann, habe ich mich doch zu je-dermanns Knecht gemacht, auf dass ich ihrer viele gewinne«(1Kor 9,19). Und dann führt er auf, wie er allen alles gewordenist, auf dass er auf alle Weise etliche errette (Verse 20–23). So hatder große Apostel, um den Menschen recht zu dienen, aufge-hört, ihr Knecht zu sein, und um Christus recht zu dienen, ist eraller Knecht geworden. Wie treulich hat Paulus seinen Meisterverstanden!

Von hier ging auch Luther aus, als er im Jahre 1520 an denAnfang seiner Schrift: »Von der Freiheit eines Christenmenschen«die zwei Beschlüsse setzte: »Ein Christenmensch (Knecht Chris-ti) ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.Ein Christenmensch (Knecht Christi) ist ein dienstbarer Knechtaller Dinge und jedermann untertan.« Wie haben wir doch die-se apostolische und reformatorische Begründung des Gesetzesder vollkommenen Dienstbarkeit so schmählich vergessen! Undwie haben wir es, angesichts der verführerischen Zeitideen undfalschen Freiheitsbestrebungen, die auch die Gläubigen erfassen,so hochnötig, neu in dieser allein heilsamen, christlichen, voll-kommenen Freiheit und vollkommenen Dienstbarkeit zu stehenund zu bestehen! Werden wir ganze Knechte Christi, wie Paulus,wie Luther, und wir werden ganz freie Herren und ganz froheDiener! Nichts hilft uns, der Gemeinde und der Welt, als dieses!

Aber der größte Feind dieser gottseligen freien Dienstbarkeitist und bleibt eben die betrügerische, ichselige Versklavung anuns selbst; denn sie führt allezeit auch zur unseligen Verskla-vung an die Menschen. Heute wollen Millionen nicht mehr derMenschen Knechte sein, aber dieselben Millionen wollen auchnicht Christi Knechte werden, sondern selbstherrlich leben, undgerade deshalb bleiben sie der Menschen Knechte. Denn werselber Herr sein will, braucht die Menschen immer irgendwie alsKnechte, und eben dadurch begibt er sich in die Abhängigkeitvon Menschen, die ihm dann selber zur Knechtschaft wird, weiler die Menschen zur Aufrechterhaltung seiner Herrschaft nötighat, und weil diese wiederum selber Herren sein wollen. Nureiner und eines kann diese fluchvolle gegenseitige Versklavungauflösen und beenden: Christus unser einziger Herr, wir einzigseine Knechte allein! Allen Menschen aber freie Diener.

Dann tun wir je länger desto mehr alles, was wir Menschen

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dienend tun, nicht mehr um unseretwillen, auch nicht um derMenschen willen, sondern tatsächlich um Christi willen. Tun wir,was wir tun, um unseretwillen, das heißt im Eigenwillen zumEigennutz, so beanspruchen und erwarten wir selbstsüchtigenMenschen gerade dann um so mehr Anerkennung, Ansehen,Dank und Lohn. Und die raffinierteste Selbstsucht ist dabei diescheinbar selbstlose Selbstsucht, die zu vornehm ist, um den ge-wünschten Lohn von Menschen zu erwarten und zu empfangen,sondern sich selbst mit dem Bewusstsein der Uneigennützigkeitbelohnt und bewertet. Der Mensch kommt eben niemals durchsich selbst von sich selbst los; er bleibt ein Knecht seiner selbst,bis er Christi Knecht geworden ist.

Und tun wir andererseits, was wir tun, um der Menschenwillen, so werden wir Sklaven ihres und unseres Ansehens, ih-rer und unserer Artverschiedenheit, Begierden, Launen, Einfälle,Ausfälle, Vorliebe und Ablehnung, Vorzüglichkeit und Abscheu-lichkeit, Schmeichelei und Dreistigkeit, Dünkelhaftigkeit undErbärmlichkeit. Oh, welch bunte Menschenknechtschaft! Bis wir,je besser wir die Menschen mit biblisch geöffneten Augen ken-nenlernen, einsehen, dass sie um ihrer selbst willen durchausnicht liebenswürdig sind, und wir einsehen, dass wir es auchnicht sind. Diese biblische Einsicht leitet uns hin zum Ende allerfleischlichen Menschenliebe und alles fleischlichen Menschen-hasses. Endlich bleibt uns nur noch eine Stellung den Menschengegenüber übrig, nämlich die in Christus, und nur noch einDienst, nämlich der um Christi willen.

Fortan ziehen und schrecken uns die Menschen nicht mehrbesonders. Wir suchen und fliehen sie nicht eigentlich mehr.Wir verehren und verachten sie nicht mehr wie früher. Wir ge-brauchen sie weniger und lassen uns weniger gebrauchen. Abergerade so vermögen wir, frei von ihrer und unserer Willkür, freivon knechtender Zuneigung oder Abneigung, frei von knechten-der Ehr- und Habsucht, ihnen in steter Unwillkürlichkeit desGeistes zu dienen und allen alles zu werden, ohne uns an sie zuverlieren und sie an uns zu binden-, denn wir sind teuer erkaufteKnechte Christi, und sie sind sein Erbgut, und wir wollen nurGehilfen ihrer Freude an ihm werden. Und wie wird uns dannjede einzelne Menschenseele um Christi willen so lieb und teuer!Mag ein Mensch seiner fleischlichen Art und Erscheinung nachnoch so abstoßend auf unser Fleisch wirken, wir können ihn

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Werdet nicht der Menschen Knechte!

doch lieben. Denn wir lieben ihn ja nicht mit unserer eigenenLiebe und Liebesfähigkeit, sondern mit der Liebe Christi, ja mitdem Herzen Christi, dem unser Herz gehört. Wir brauchen nurim Geist zu erwägen, dass Gott auch um dieses Menschen wil-len seines eigenen Sohnes nicht verschont, sondern ihn für ihnhingegeben hat zur Versöhnung und Erlösung, und der unan-genehmste Mensch wird uns annehmbar; denn siehe, Gott liebt,Christus liebt ihn!

Wir können dem Menschen, der für Christus bestimmt ist, mitdem, was in Christus für ihn bestimmt, nämlich mit Christi Liebe,in herzlichem Erbarmen und in großer Geduld dienen, für ihnglauben, beten und hoffen, auch durch und für ihn leiden. Unddas alles umso williger, wenn ein Mensch bereits im Glaubensteht und selber Christi Knecht ist. Wie viele Mängel er auchnoch haben mag, wir kennen ihn nicht mehr nach dem Fleische(2Kor 5,16), so dass unser Fleisch sich an seinem Fleisch ärgernmüsste, wie es in Hochmut, Neid, Hass so oft geschieht. Son-dern wir begegnen ihm helfend, wartend im Geist, und achtenihn höher als uns selbst (Phil 2,3); denn wer bin ich, dass icheinen fremden Knecht richte? Er steht und fällt seinem eigenenHerrn, und sein Herr ist Christus (Röm 14,4). Auch legen wirniemandem ein knechtisches Joch auf, noch lassen wir uns selbstin ein solches Joch fangen (Gal 5,1), sondern kennen nur dassanfte Joch Christi. Und so erleben wir das Wunderbare, näm-lich: Nichts kann uns zu Menschenknechten machen, wenn wirwirklich Knechte Christi und um seinetwillen aller Diener sind!

Dann kommt es auch nicht mehr darauf an, in welcher äußerengesellschaftlichen Lage wir uns befinden. Knechte Christi sindüberall Herren und überall Knechte. Der Ich- und Menschen-knecht erwartet sein Heil beinahe durchweg von einem Wechselseiner äußeren persönlichen und wirtschaftlichen Lebensverhält-nisse. Mehr äußerer Besitz und mehr äußere Macht scheint ihmgleichbedeutend mit mehr Freiheit-, denn auch die Freiheit kennter nur als äußerliche Ichfreiheit, nämlich Freiheit, zu tun, wasman selber will. Natürlich bleibt er ein Knecht seiner selbst undder Menschen in allen Lebenslagen.

Wie anders der wahre Knecht Christi! Er ist immer frei, weilnur einer überall sein Herr ist, Christus, dem er allein gehorcht.Und wäre er unter erdrückendster menschlicher Gewalt undin beengendster äußerer Lage, er hätte es doch immer nur mit

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einem Herrn zu tun, der ihn nimmer drückt und beengt, Christus.Fasse es, wer es kann! Wie sein Herr einst vor Pilatus zeugte:»Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht wäre vonoben herab gegeben« (Joh 19,11), so darf auch der Knecht Christizeugen vor jeder ungerechten Gewalt. Er bleibt doch nur anChristus gebunden und bänden sie ihn mit den dicksten Stricken.Dem Ichknecht scheint das lächerliche Scheinfreiheit, dem KnechtChristi wird es beseligende Loslösung von jeder Scheinfreiheit.Nie war Stephanus freier, als im Sterben unter der Juden Gewalt.

Aber andererseits bleibt der Knecht Christi immer ein Knecht;denn eben um Christi willen bleibt er in jeder Lebenslage allerDiener. Besitzt er in der Freiheit Christi Geld, so besitzt er esals Knecht Christi zum Dienen. Sonstige Güter, Gaben, Macht,Einfluss, Ansehen ebenso. Alles ist sein, er aber ist mit allemChristi Knecht, Diener und Haushalter (1Kor 3,22.23; 4,1.2). Hater Überfluss, so dient sein Überfluss dem Mangel, ebenso dienter auch noch mit seinem Mangel dem Herrn (Mk 12,43.44). Niewerden die Menschen die so genannte »soziale Frage« lösen undeine gerechte Wirtschaftsweise herbeiführen können, die Men-schenherrschaft und Menschenknechtschaft ausschließt; dennsie sind weit überwiegend Ichknechte, und nur der wiederkom-mende Christus wird Gerechtigkeit schaffen. Aber die KnechteChristi haben es im Dienen um Christi willen zu beweisen, dasssie den Weg zur Gerechtigkeit kennen, wenn sie auch jetzt nichtGerechtigkeit schaffen können. Versagen die Knechte Christiin diesem Dienst, so sind sie eben keine treuen Knechte ihresHerrn. Was ihnen an Dienstfähigkeit fehlt, wird ihnen auch anHerrscherfähigkeit fehlen; sie gleichen dann nur den weltlichenIchknechten.

Den aber im eigentlichen äußeren Knechtsstande dienendenGläubigen schreibt Paulus noch einen besonderen Freibrief. Erschreibt ihnen Epheser 6,7: »Denkt daran, dass ihr dem Herrndient und nicht den Menschen!« Sie könnten sich ja zuallermeistfür Menschenknechte halten, aber da belehrt er: Haltet euch fürChristi Knechte, und euer Jammer und Trotz hören auf! Sehtnicht auf die ungerechten Menschen als auf eure Dienstherrn,seht auf euren vollkommen gerechten Dienstherrn im Himmel!Den Menschen könnt ihr nur mit Schmeichelei oder Groll fürvergänglichen Lohn dienen, eurem göttlichen Herrn aber, dereuch mit seiner Gnade dient, vermögt ihr mit Freuden zu dienen!

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Werdet nicht der Menschen Knechte!

(Kol 3,22–25). Und habt ihr gläubige Herren, so wisst: Sie sindauch nur Knechte Christi, gleichwie ihr, und ihr, obgleich ihrKnechte der Menschen seid, seid Freie im Herrn, gleichwie sie!(1Kor 7,22)

Und ich möchte hinzufügen: Verstehet, dass der Apostel da-mals an wirkliche Sklaven schrieb, solche seid ihr nicht. Darumdienet Eurem Herrn ohne Kummer in Eurem jetzigen Stande. Erkann Euch aber auch den Weg in äußerlich höhere Stellungenbahnen (Vers 21). Jedenfalls: Werdet nicht der Menschen Knechte(Vers 23)! Seid aber untertan aller menschlichen Ordnung um desHerrn willen (1Petr 2,13; Röm 13,1–8; Mt 17,24–27).

Wie oft hört man den Vorwurf, das Christentum erziehe zurverdummenden, knechtsseligen Kriecherei vor Menschen. Das istjedoch nur da wahr, wo es zu herrschsüchtigen Zwecken miss-braucht wird. In Wirklichkeit ist das Evangelium das einzige Mittel,durch das wir jede menschliche Fessel los werden. Es gibt uns unserehöchste Würde wieder. Es entreißt uns aller erniedrigenden Men-schenherrschaft und bindet uns allein an Gott. Es ist der immerneue göttliche Einspruch gegen jede menschliche Überhebung inanmaßender Selbstherrlichkeit. Aber es ist auch der immer neuegöttliche Einspruch gegen jede versklavende Erniedrigung desMenschen durch Menschen zur schmachvollen Verkrüppelungunseres Selbst. So ist es die einzige Kraft, die uns wirklich si-cher zwischen Despotismus (Willkürherrschaft) und Servilismus(Kriecherei) durchbringt. Aber mehr als das! Es stellt Gottes Bildwieder in uns her, indem es uns christusförmig und zu wirklichenHerren der Erde und zu Erben des Himmels macht. Es macht ausFreien Knechte und aus Knechten Freie und aus beiden DienerChristi, Diener Gottes. Und so ist es die einzige Macht, die unswahrhaft frei, wahrhaft froh und wahrhaft glücklich zu machenvermag; denn es ist die einzige Macht, die uns, gemäß unsererewigen göttlichen Erwählung und Berufung, unserer ureigenenBestimmung entgegenführt, nämlich für Gott da zu sein. Überein-stimmung aber mit unserer Bestimmung ist allein Glückseligkeit:Gottseligkeit!

Darum: »Werdet weder der Menschen Herren noch Knechte!Werdet aber in Wahrheit Knechte des Allerhöchsten als KnechteJesu Christi!

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Die Hoffnung des Evangeliums

. . . euch darzustellen heilig und tadellos und unverklagbar vorseinem Angesicht, wenn ihr nämlich im Glauben gegründet

und fest bleibet und euch nicht abwendig machen lasset von derHoffnung des Evangeliums . . .

Kolosser 1,22–23

Fest gegründeter Glaube und unbewegliche Hoffnung sind nachdiesem Apostelwort die beiden Grundbedingungen für unsereVollendung in Christus. Unser Glaube gründet sich fest auf dieHeilsbotschaft Jesu und seiner Apostel, und unsere Hoffnungrichtet sich unbeweglich auf die volle Auswirkung des erschie-nenen Heils in uns und in der ganzen Schöpfung. Der Glaubean das Evangelium (Mk 1,15) brachte uns den Beginn unsererLebenserneuerung, die Hoffnung des Evangeliums verbürgt unsdie Vollendung dieser Lebenserneuerung. Glaube und Hoffnungentsprechen einander wie die tiefgründige Wurzelfestigkeit einerPflanze und die zielstrebige Gipfelhöhe ihres Wuchses. So wieder Glaube ohne Werke tot ist, so ist er ohne die Hoffnung hilflosverkrüppelt. Darum muss jede gesegnete Bibelstunde unserenGlauben tiefer gründen und festigen und unsere Hoffnung hö-her beleben und stärken. Dabei wird sich unser Glaube als derimmer gewissere Grund der Hoffnung erweisen, die in uns ist(1Petr 3,15), und wir werden den Ruhm dieser Hoffnung festbehalten bis ans Ende (Hebr 3,6). Und so allein werden die vielenschmerzlichen »Aber« unseres Glaubenslebens zum fröhlichen»Dennoch« unseres Hoffnungslebens.

Denn wir sind wohl errettet und freudig im Glauben, aberin Hoffnung (Röm 8,24; 12,12). Im Glauben wissen wir uns alsKinder Gottes, aber »es ist noch nicht erschienen, was wir seinwerden« (1Joh 3,2), und unseren Vater in den Himmeln, derim Verborgenen ist (Mt 6,6), haben wir noch nicht gesehen. ImGlauben leben wir als Glieder am Leibe Christi, aber unser Haupt,das wir über alles lieben, kennen wir noch nicht sichtbar, wie esist (1Petr 1,8). Im Glauben halten wir uns für Diener Christi, aber

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Die Hoffnung des Evangeliums

wir dienen ihm vorerst wie Knechte, die auf ihren Herrn warten(1Kor 4,1; Lk 12,37). Im Glauben haben wir unser Bürgertum inden Himmeln, aber sind noch Fremdlinge auf Erden (Phil 3,20;1Petr 2,11). Im Glauben wissen wir uns als Erben Gottes undMiterben Christi (Röm 8,17), die versiegelt worden sind mit demHeiligen Geist der Verheißung, der das Unterpfand unseres Erbesist (Eph 1,13.14; 4,30; 2Kor 1,22), und danken dem Vater, der unsfähig gemacht hat zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in demLichte (Kol 1,12), aber unser Erbe wird noch für uns aufbewahrtin den Himmeln (1Petr 1,4).

Im Glauben wissen wir uns bestimmt, dem Bilde des SohnesGottes gleichförmig zu werden (Röm 8,29; 1Joh 3,2), aber jetzttragen wir noch das Bild dessen, der vom Staube ist (1Kor 15,49).Im Glauben haben wir die Erlösung durch Christi Blut, näm-lich die Vergebung unserer Sünden (Eph 1,7), und wissen unsabgewaschen und gereinigt (1Kor 6,11; Offb 1,5), aber täglichbedürfen wir noch der fortlaufenden Selbstreinigung von jederBefleckung des Fleisches und des Geistes (2Kor 7,1), und es bleibtein Ziel unserer Hoffnung (1Joh 3,3), einmal rein zu sein, gleich-wie er rein ist. Im Glauben erkennen wir uns in Christus undChristus in uns (Joh 14,20; 2Kor 13,5; Kol 3,3), aber beides nurim betrübenden Gegensatz zu unserem selbstischen Ich, vor demwir uns nicht genug hüten können, und um ganz von uns loszu kommen, damit Christus ganz in uns erscheine, bleibt dieHoffnung der Herrlichkeit (Kol 1,27).

Im Glauben wissen wir, dass unsere Trübsal zeitlich und leichtist und uns eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herr-lichkeit verschafft (2Kor 4,17.18), aber trotzdem fühlen wir unsoft über die Maßen beschwert, so dass wir am Leben verzwei-feln möchten (2Kor 1,8). Im Glauben kämpfen wir den gutenKampf, der uns verordnet ist (1Tim 6,12; Hebr 12,1) und jagendem Kampfpreis unserer Berufung nach (Phil 3,13.14), aber er-griffen haben wir es noch nicht. Im Glauben können wir wissen,dass uns die Krone der Gerechtigkeit bereit liegt (2Tim 4,8), aberaufgesetzt wird sie uns noch nicht. Im Glauben sind wir errettetaus der Gewalt Satans und versetzt in das Reich des Sohnes(Kol 1,13), aber der Feind geht noch umher, uns zu schreckenund zu übervorteilen (2Kor 2,11; 11,14; 1Petr 5,8) und ist unterunseren Füßen noch nicht zertreten (Röm 16,20).

Im Glauben wissen wir, dass, wenn unsere irdische Leibeshütte

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abgebrochen wird, wir einen Bau von Gott haben in den Him-meln, aber in diesem jetzigen Leibe seufzen wir vor Sehnsucht,mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet zu wer-den (2Kor 5,1–5); denn wir haben den Schatz immer noch inirdenen Gefäßen (2Kor 4,7). Im Glauben wissen wir, dass einmalalle Knie sich vor Christus beugen werden (Phil 2,10.11), aberjetzt sehen wir ihm den Erdkreis noch nicht unterworfen. ImGlauben erwarten wir eine Gemeinde, die herrlich sei (Eph 5,27),aber jetzt sehen wir sie noch voller Schäden und Flecken.

Im Glauben wissen wir, dass auch einmal die Schöpfung frei-gemacht werden wird von dem Dienst der Vergänglichkeit, demsie auf Hoffnung unterworfen ist, aber noch seufzt sie und liegtin Geburtswehen (Röm 8,19–22). Im Glauben erwarten wir neueHimmel und eine neue Erde, in welchen Gerechtigkeit wohnt(2Petr 3,13), aber noch nimmt die Ungerechtigkeit auf der altenErde überhand, und kein Friede wohnt auf ihr (Mt 24,12). Wohlhaben wir im Glauben desto fester das prophetische Wort als einLicht am dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgen-stern aufgehe in unseren Herzen (2Petr 1,19), aber doch sehenwir jetzt nur wie durch einen Spiegel, undeutlich, ein Rätsel, underkennen nur stückweise (1Kor 13,12).

Wie überzeugend reden diese vielen »aber« von dem, was unsnoch fehlt, weil es noch zukünftig ist. Da begreifen wir: Sollenwir im Glauben an das Evangelium immer fester gegründetwerden, so müssen wir in der Hoffnung des Evangeliums immerunbeweglicher werden. Dabei lernen wir den Glauben immerbesser begreifen als ein Beharren auf dem, das man hofft, und alseine Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht (Hebr 11,1).Denn Hoffnung, die gesehen wird, ist keine Hoffnung (Röm 8,24).

Wäre die Hoffnung des Evangeliums begründet im Sichtbaren,so wäre sie veränderlich und eitel wie dieses selbst. Wohl wächstdie Hoffnung des Glaubens mit der Erfahrung des Glaubens;denn Erfahrung bringt Hoffnung (Röm 5,4), aber sie muss einenviel tieferen Grund haben, als den unserer Erfahrung. Sie mussauch einen besseren Grund haben, als den unserer Gefühle. Wäredie Hoffnung des Evangeliums etwa nur ein Ergebnis unsererSehnsucht, die dem schmerzlichen Unterschied zwischen Wunschund Wirklichkeit entstammt, so wäre sie gar keine wirklicheHoffnung, sondern nur wechselvolles, träumendes Wähnen undWünschen des Menschen.

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Die Hoffnung des Evangeliums

Nein, die Hoffnung des Evangeliums muss selber unbewegli-chen Grund haben, wenn wir in ihr unbeweglich werden sollen.Und den hat sie. Ihr unbeweglicher Grund sind die Offenba-rungen und Verheißungen Gottes in der Heiligen Schrift, dieallesamt in Jesus Christus Ja und Amen sind (2Kor 1,20). So ist al-so die Hoffnung des Evangeliums gegeben mit dem Evangeliumselber. Sie entspricht der Offenbarung über die Tragweite unsererErlösung in Christus und der Vollendung des HeilsratschlussesGottes mit den Seinen, mit der Menschheit und mit der ganzenSchöpfung.

Diese göttlich gesicherte Hoffnung des Evangeliums ist uns zunächstzu unserer Unterweisung gegeben. Ihre belebenden Lichtstrahlen er-hellen die Finsternis und die Todesschatten, die auch die Zukunftder Menschheit bedecken. Wir hatten früher »keine Hoffnung«(Eph 2,12); grausiger kann die Nacht des Unglaubens nicht be-zeichnet werden. Der Sinn des Lebens und Sterbens war denVölkern, trotz der Weisheit der Griechen, verborgen geblieben,und auch dem Volke Israel fehlte noch die zureichende frei undfroh machende Einsicht in den Gang Gottes mit der Welt undMenschheit. Die erlösende Hoffnung für das Menschengeschlechtist erst mit dem erschienenen Erlöser in die Welt gekommen. AlsChristus dem Grabe entstieg, wurde die Hoffnung des Evangeliumsgeboren. »Gelobt sei Gott und der Vater unseres Herrn Jesu Chris-ti, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeborenhat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung JesuChristi von den Toten« (1Petr 1,3).

Der Sinn unserer Wiedergeburt ist gottgeschenktes Erwachenzu einer lebendigen Hoffnung. Sind wir wiedergeboren, so sindwir hoffnungsberechtigt; denn die lebendige Hoffnung ist Hoff-nung des ewigen Lebens, das mit der Wiedergeburt seinen An-fang in uns nahm (Tit 1,2; 3,7). Die lebendige Hoffnung ist aberauch zugleich die eine Hoffnung unserer Berufung, in der wirgemeinsam eben zum Empfang des ewigen Lebens und zur Er-langung der Herrlichkeit unseres Herrn Jesu Christi (2Thess 2,14)berufen sind (Eph 4,4).

Und zwar hat diese Hoffnung unserer Berufung zwei Seiten.Einmal gilt sie als Hoffnung, die wir auf Gott setzen dürfen, deruns ja sein Leben und damit Kind- und Erbschaft geschenkt hat,und zum anderen besteht sie als Hoffnung, die Gott auf uns setzt,da wir ja nun sein Eigentum und Erbe in Christus geworden sind.

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In letzterem Sinne erbat Paulus für die Epheser erleuchtete Augendes Herzens, zu wissen, welches die Hoffnung seiner (Gottes)Berufung und welches der Reichtum der Herrlichkeit seines(Gottes) Erbes in den Heiligen ist (Eph 1,18). Wie weittragend undinhaltsreich ist also diese Doppel-Hoffnung unserer Berufung.Sollten nicht auch wir erleuchtete Augen des Herzens erflehen,um in der Hoffnung des Evangeliums unterwiesen zu werden,also in der Hoffnung des ewigen Lebens und der Hoffnungunserer Berufung?

Sodann ist uns die Hoffnung des Evangeliums eröffnet zumTrost. Was wären wir mit einem für uns gekreuzigten Christusohne die Hoffnung des ewigen Lebens! »Hoffen wir allein indiesem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter allenMenschen« (1Kor 15,19). Warum? Unsere Erlösung hätte keinenEnd- und Ewigkeitssinn, erlaubte keine Ewigkeitshoffnung undböte darum auch keinen wirklichen Trost. Zulänglicher Trost fließtnur aus zureichender Hoffnung. Solche zureichende Hoffnung kannnur die Offenbarung Gottes geben, die über alle Höhe des Men-schenwissens und alle Lebenslänge der Menschheit hinaus inewige Gewissheit reicht. Gott kann uns nur zum »Gott alles Tros-tes« werden (2Kor 1,3; Röm 15,5), indem er uns als »Gott derHoffnung« mit aller Freude und allem Frieden im Glauben er-füllt, damit wir völlige, überreichliche Hoffnung haben durch dieKraft des Heiligen Geistes (Röm 15,13). Und wiederum ist unsalle Heilige Schrift nebenher der Belehrung zu dem besonderenZweck geschrieben, durch die Geduld und durch den Trost derSchrift Hoffnung zu fassen (Röm 15,4). Ja, er selbst, unser HerrJesus Christus, und unser Gott und Vater, der uns geliebt undeinen ewigen Trost und gute Hoffnung durch Gnade gegebenhat, tröstet unsere Herzen (2Thess 2,16).

Wie könnten wir uns der Trübsale rühmen, wenn wir unsnicht, in der Gnade stehend, der Hoffnung der Herrlichkeit Got-tes rühmen könnten? (Röm 5,2.3). Wie könnten wir in Trübsalengeduldig sein, wenn wir nicht zuvor fröhlich wären in Hoffnung?(Röm 12,12). Wie könnten wir die Leiden der Jetztzeit ertragen,wenn wir nicht in Hoffnung, die nicht zuschanden werden lässt,wüssten, dass diese Leiden nicht in Betracht kommen gegenüberder zukünftigen Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll?(Röm 8,18; 5,5). Wie könnten wir es in dieser Welt voll Ungerech-tigkeit aushalten, wenn wir nicht im Geist durch den Glauben

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Die Hoffnung des Evangeliums

die Gerechtigkeit erwarteten, auf die man hoffen muss? (Gal 5,5).Und wie könnten wir die Unzulänglichkeit des Volkes Gottesertragen, wenn nicht die gnadenreiche Vollendung der Gemein-de vor unserem Herrn Jesus Christus bei seiner Zukunft unsereHoffnung wäre (1Thess 2,19)? Ja, wie könnten wir uns nochselbst ertragen, wüssten wir nicht in sehnender und seufzenderHoffnung, dass wir elenden Menschen dennoch dem Sohne Got-tes einmal gleichgestaltet sein werden? (Röm 8,29; 1Joh 3,2). Sokönnen wir tatsächlich nur selig leben und sterben, weil wir dieHoffnung des Evangeliums zum Troste haben (1Thess 4,18).

Damit haben wir zugleich die Hoffnung des Evangeliums alsHalt und Kraft für unser Glaubensleben. In festem Glaubenhalten wir uns an der dargebotenen Hoffnung als an einem si-cheren und festen Anker unserer Seele, der hineinreicht in dasInwendige des Vorhanges, wohin Jesus als Vorläufer für unseingegangen ist (Hebr 6,18–20). Denn die völlige Hoffnung desEvangeliums vermittelt uns durch die Kraft des Heiligen Geistes(Röm 15,13) bereits die Kräfte der zukünftigen Welt (Hebr 6,5),die unser Denken und Tun erfüllen, so dass wir durch sie ge-stärkt, ernüchtert und geschützt einhergehen als im Helm derHoffnung (1Thess 5,8), damit wir das Bekenntnis und den Ruhmder Hoffnung festhalten können bis ans Ende (Hebr 10,23; 3,6).

Diese licht-, trost- und kraftreiche Befestigung in der Hoffnungdes Evangeliums, die nicht zuschanden werden lässt, werdenwir aber nur in dem Maße erleben, als wir in jeder anderenHoffnung erschüttert und zuschanden werden. Deshalb mussuns Gott in den Tagen unseres Fleisches je länger desto mehrjeder nur menschlichen Hoffnung berauben, damit die Hoffnungdes Evangeliums unsere letzte und einzige werde. So müssenwir immer einsichtsvoller die Hoffnungslosigkeit aller Menschen-weisheit erkennen lernen; denn menschliches Wissen kann unskeine erlösende Antwort auf die Frage nach dem Woher? Wozu?Wohin? unseres Geschlechtes geben. Wie hoffnungslos lichtarmsind da zum Beispiel die Auskünfte der Naturwissenschaft.

Aber auch die Geschichts- und philosophische Wissenschaftlassen uns zuletzt im Dunkeln. Was sie im besten Fall als Licht-glanz ausstrahlen, ist schließlich nur Widerschein vom göttlichenOffenbarungslichte der Heiligen Schrift. Aber da liegt eben dieGefahr; denn jeder Irrtum macht, um leben zu können, seineWahrheits-Anleihe bei der Bibel, und je mehr Bibelwahrheit ei-

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ne Irrlehre enthält, desto gefährlicher ist sie. Das gilt von jederPhilosophie und Theologie, die Gotteswort irgendwie dem Men-schenworte beugt und die Hoffnung des Evangeliums zugunstenmenschlicher Trughoffnungen verkürzt.

Es gilt aber besonders von jenen zahllosen Sonderlehren überdie letzten Dinge, in denen vorwitzige Menschenweisheit sichals Hoffnung des Evangeliums ausgibt, wird doch kein Stückchristlicher Erkenntnis mehr zum widerlichen, rechthaberischenParteistreit ausgenutzt, als eben die Hoffnung des Evangeliums.Wie sehr müssen wir da noch lernen, allen Künsten frommerMenschenweisheit abzusagen, die mit der Hoffnung des Evan-geliums ihr gewagtes Spiel treiben. Andernfalls werden wir hin-und hergeworfen und umhergetrieben von jedem Wind der Lehre,anstatt unbeweglich zu werden in der Hoffnung des Evangeliums(Eph 4,14; 1Tim 6,3–5 und 20).

Ebenso müssen wir in jedem Trost erschüttert und zuschan-den werden, der auf nur menschlicher Hoffnung beruht. Wietrösten und täuschen sich doch Irr- und Halbgläubige in unbibli-schen Hoffnungen in Bezug auf die Erlangung des Königreichsder Himmel und den Empfang ewigen Lebens. Aber auch wieviele Kinder Gottes geben sich in trügerischer Hoffnung einemfalschen Trost hin. Sie leben in selbstsicherer, selbstgefälliger Ich-bejahung und wollen sich dabei der Hoffnung des Evangeliumsgetrösten. Das geht nicht.

Es muss erst jeder Halt, an den sich die unbiblische Hoff-nung klammert, knicken und brechen, ehe die Hoffnung desEvangeliums unser starker Trost und sicherer Halt werden kann.Zerbrechen muss der so genannte Glaube an die Menschheit, derauf »Weltverklärung« durch Kulturentwicklung hofft. Knickenund brechen muss auch jeder Halt, den wir an religiösem Men-schenwirken zu gewinnen suchen oder schon zu haben meinen.Zuschanden müssen wir zum Beispiel werden in der unbibli-schen Hoffnung, die man auf die Arbeit der Weltmissionierungsetzte und noch setzt. Gutgemeinter frommer Menschenwillewollte die Welt für Jesus erobern, um sie dann dem Meister alssein Herrschaftsgebiet zu Füßen zu legen. Welch eine törichteAnmaßung, ihm den Erdkreis unterwerfen zu wollen! Welch ei-ne trügerische Hoffnung, durch unser Wirken die Welt für ihnbesiegen zu können!

Zuschanden müssen wir auch werden in jeder unbiblischen

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Die Hoffnung des Evangeliums

Hoffnung, die wir in Bezug auf Evangelisation hegen. Wir müs-sen einsehen lernen, dass der Vater seinem Sohn im gegenwärti-gen Zeitalter nicht ganze Völker, ja noch nicht einmal ganze Land-oder Stadtgebiete, sondern nur Einzelseelen zuführt (Joh 6,44).Ebenso müssen wir zuschanden werden in jeder unbiblischenHoffnung, in der wir eine Verherrlichung der Gemeinde vor derWiederkunft des Herrn, etwa in strotzender Geistes- und Gaben-fülle oder als sichtbare »Einheit der Gläubigen« erwarten. Amallermeisten aber müssen wir in jeder unbiblischen Hoffnungerschüttert und zuschanden werden, die wir irgendwie auf un-ser eigenes Ich und seine religiöse Leistung setzen. Wohl dem,der, je älter er im Glauben wird, desto beschämter einsieht, wieunzulänglich all sein Wirken für den Herrn ist und wie sehr erin sich selber nichts ist!

Wenn wir so in jeder menschlichen Hoffnung erschüttert undzuschanden werden, dann allein werden wir »unbeweglich« inder Hoffnung des Evangeliums. Und dann hat diese Hoffnungnur einen Namen und Inhalt: Jesus! Er, der Herr Jesus Christusist dann unsere einzige Hoffnung (1Tim 1,1). Und zwar ist erunsere Hoffnung als der wiederkommende Christus. »Setzt eureHoffnung ganz auf die Gnade, die euch angeboten (dargereicht)wird durch die Offenbarung Jesu Christi (1Petr 1,13). Was keineKulturentwicklung, keine Missions- und Evangelisationsarbeit,keine Belehrung und Bemühung der gläubigen Gemeinde, keinWollen und Wirken des Einzelnen hat bringen können, das wirduns Christi Wiederkunft bringen.

Er selbst, der wiederkommende Christus, wird die Hoffnung desEvangeliums verwirklichen. Darum darf unsere Hoffnung und Er-wartung auf nichts Geringeres als auf ihm selber beruhen.

Freilich mischen sich auch da gleich wieder trügerische Hoff-nungen ein. Wollen wir in der hohen Hoffnung auf das Kommendes Herrn unbeweglich werden, so dürfen wir uns zu allererstnicht zu den so schwankenden Berechnungen über die Stundeseiner Ankunft verführen lassen. Es gehört mit zu der feinenWeisheit unseres Gottes, uns die Stunde nicht zu offenbaren(Mt 24,36.42.44; 25,13). Denn wüssten wir Tag und Stunde, sowürden wir tatsächlich wie jener Knecht sprechen: »Mein Herrkommt noch lange nicht!« (Mt 24,48) und anfangen, die nochvorhandene Zeit für die Besorgung der Fleischesgeschäfte aus-zukaufen; denn so ist der Mensch. Oder aber die Annäherung

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Wie haben wir nun das Kommen des Herrn recht zu erwarten?

an den gewissen Tag des Herrn würde uns derart in Aufregungbringen, dass wir in die fieberhafte fromme Menschenmachehineinkämen oder in gespannter Erwartung untätig erstarrenwürden (1Thess 4,11; 2Thess 2,2; 3,11). Welche Enttäuschungenhaben doch schon solche vorwitzigen Berechnungen verursacht!Sie wollten in der Hoffnung des Evangeliums befestigen undunbeweglich machen und haben schließlich gerade das Gegenteilbewirkt.

Ebenso unfruchtbar zur Befestigung in der Hoffnung des Evan-geliums ist der immer neue Streit, ob der Herr vor oder in derMitte oder nach der prophezeiten Trübsalszeit kommen werde;denn die Schriftbelege lassen schließlich alle drei Deutungen zu,das heißt, sie lassen uns wohl absichtlich im Unklaren. Ande-rerseits aber geben uns der Herr und die Apostel allgemeineErkennungszeichen für die Bestimmung der Nähe der AnkunftChristi genugsam an die Hand, die vollauf genügen, uns in derHoffnung des Evangeliums und ihrer Verwirklichung durch denkommenden Herrn unbeweglich zu machen (Mt 24; Mk 13; Lk 21;1Thess 4,13–18; 5,1–3; 2Thess 2,1–12; 1Tim 4,1–3; 2Tim 3,1–9; 4,3–4;2Petr 1,19; 3,3 und 4,9–10; 1Joh 2,18; Offb 5 – 20).

Wie haben wir nun das Kommen des Herrn rechtzu erwarten?

Als einst die Jünger den Herrn fragten: »Welches wird das Zei-chen sein deiner Zukunft (Ankunft) und des Endes der Welt(Vollendung des Zeitalters)?« (Mt 24,3), antwortete ihnen Jesuszunächst: »Seht zu, dass euch nicht jemand verführe! Denn es wer-den viele kommen unter meinem Namen und sagen: ›Ich binChristus‹ und werden viele verführen.« In dieser Antwort desHerrn haben wir die erste Antwort auf unsere Frage, wie wirihn erwarten sollen. Hütet euch vor den Irrgeistern und Irrleh-rern! heißt sie. Denn nicht nur falsche Berechnungen über dieZeit der Ankunft Christi, sondern auch falsche Christusse undPropheten haben dem Unbeweglichwerden in der Hoffnung desEvangeliums immer wieder geschadet. Wie viele Trennungenunter den Gläubigen sind aus dem Streit über die WiederkunftChristi entstanden, den solche Irrgeister veranlasst haben. Und

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Die Hoffnung des Evangeliums

noch immer läuft man jedem falschen Christus und Prophetennach, wenn es sich um die Hoffnung auf das Kommen des Herrnhandelt.

Woran erkennt man aber den Irrgeist? Daran: Er wird von sichselber reden, die Menschen an sich und seine rechthaberischeLehre zu binden suchen und also Trennungen unter den Gläubi-gen verursachen, um herrschen zu können. Da gilt: Geht nichtzu ihm hinaus! Glaubt ihm nicht! (Mt 24,23–26). Lasst euch auchnicht durch große Zeichen und Wunder verführen, die jene tun,und von denen auch heute viel zu sehen ist. Siehe, der Herr hates euch zuvor gesagt!

Die zweite Bedingung für das rechte Erwarten des Herrn lautet:»Wachet, denn ihr wisset nicht, in welcher Stunde euer Herr kommenwird« (Mt 24,42).

Wir haben bereits gehört, dass gerade das Nichtwissen derStunde seiner Ankunft uns in der Hoffnung des Evangeliumswach und unbeweglich halten soll. Bis zum Ende in Wachsamkeitbeharren (Mt 24,13), darauf kommt alles an. Es ist erstens einWachsein für Christus selbst und zweitens ein Wachsein für dieBeobachtung der Zeichen der Zeit auf Grund des Wortes Gottes.Wie sollte uns doch die Hoffnung auf die Ankunft Christi wachhalten! Aber leider muss uns der Herr im Gleichnis sagen, dassnicht nur die törichten Jungfrauen, sondern auch die klugenschläfrig wurden und einschliefen (Mt 25,5).

Und so ist es noch immer. Das Nichtwissen der Stunde unddie scheinbar verzögerte Ankunft des Herrn wird zu einer Pro-be für unser Hoffen, Wachen und Warten, die wir gewöhnlichnicht bestehen. Darum mahnt der Herr: »Hütet euch aber, dasseure Herzen nie beschwert werden mit Rausch und Trunkenheitund Nahrungssorgen und jener Tag unversehens über euch kom-me! Denn wie ein Fallstrick wird er kommen über alle, die aufdem ganzen Erdboden wohnen. Darum wachet jederzeit undbittet, dass ihr würdig werden möget, zu entfliehen diesem al-lem, was geschehen soll, und zu stehen vor des Menschen Sohn«(Lk 21,34–36). Wir sind aber, trotzdem das erwachende Mitter-nachtsgeschrei längst erscholl, alle noch nicht völlig aufgewacht.Wie viel Rausch aller Art hält doch die Söhne des Lichtes und desTages noch umfangen! In wie viel Unnüchternheit ist man nochtrunken! Mit wie viel Sorgen ist man noch beschwert! (1Thess 5,1–8). Wer von uns weiß, was ganz wach sein heißt? Wahrlich, wenn

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Wie haben wir nun das Kommen des Herrn recht zu erwarten?

wir über diese Frage aufwachend nachsinnen, in wie viel Schlaffinden wir uns da noch!

Aber Aufwachen ist noch nicht einmal genug, sondern es handeltsich auch ums Aufstehen. Wir alle wissen, welch ein Unterschiedzwischen dem Aufwachen und Aufstehen ist. Nie scheint unsdas Bett behaglicher, als in der Zeit zwischen dem Aufwachenund Aufstehen. So ist’s auch im geistlichen Leben. Es ist derUnterschied zwischen Erkennen und Tun. Man ist leidlich wachgeworden für Christus und die Bedeutung der Zeit, aber manliegt trotzdem träge auf dem Lotterbett des selbstischen, fleisch-lichen Behagens und steht nicht auf zum tätigen Kampf desGlaubens. Darum mahnt der Apostel: »Die Zeit erkennend, näm-lich, dass die Stunde schon da ist, da wir vom Schlafe solltenaufgestanden sein; – denn jetzt ist unser Heil näher, als wir gläu-big wurden; die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe; – solasst uns nun ablegen die Werke der Finsternis und anziehendie Waffen des Lichts. Lasst uns anständig wandeln als am Tage,nicht in Schmausereien und Schlemmereien, nicht in Unzuchtund Ausschweifungen, nicht in Hader und Neid; sondern ziehtan den Herrn Jesus Christus, und treibt nicht Vorsorge für dasFleisch zur Erfüllung seiner Lüste« (Röm 13,11–14).

Welch ein dringliches Apostelwort für seine und für unsereZeit! Denn es ist dieselbe Zeit, nämlich die Zeit dieses Zeitalters,die der Apostel Nacht nennt, die vorgerückt ist und die heutenoch weiter vorgerückt ist; denn auch uns ist unser Heil, das derwiederkommende Herr bringt, näher, als da wir gläubig wurden.War schon damals das Aufstehen nötig, wie viel mehr jetzt! DieNacht ist noch viel weiter vorgerückt; wir merken es. Nie ist dieNacht dunkler als vor Tagesanbruch. Nie ist die Nacht kälter alsvor Sonnenaufgang. So ist es jetzt. Die verblendeten Söhne desUngehorsams (2Kor 4,4; Eph 2,2; 2Thess 2,11–12) rühmen diefortschreitende Aufklärung, aber wir wissen: nur die Nacht istvorgerückt.

Aber auch die längste Nacht muss dem Tag weichen, derbereits nahe herbeigekommen ist. Der Herr kommt. Nicht umMitternacht bricht er ein, da erscholl nur der Weckruf zum Auf-stehen, dass man bereit sei, ihm entgegen zu gehen. Er selbstkommt zur Zeit der vierten Nachtwache, wie damals, als er denSeinen, wandelnd auf dem Meere, zu Hilfe kam (Mt 14,22–33).

Als der »Morgenstern« will er aufgehen in unseren Herzen

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Die Hoffnung des Evangeliums

(2Petr 1,19). Zu ihm, dem »glänzenden Morgenstern« sprechender Geist und die Braut: Komm! (Offb 22,16–17). Und als »Mor-genstern« will er sich dem geben, der überwindend seine Werkebewahrt bis ans Ende (Offb 2,28); denn nur die Wachgeworde-nen und Aufgestandenen können den Morgenstern schauen undsein Leuchten empfangen! Wie ein Nachtkleid haben sie beimAufstehen die Werke der Finsternis abgelegt, und zu angelegtenWaffen, mit denen sie das Dunkel strafen, ist ihnen das Lichtdes Morgensterns geworden in ihren Herzen. Die »Lampe ihresLeibes«, das allein auf den kommenden Herrn gerichtete Einfalts-auge, widerspiegelt fröhlich des Morgensternes Glänzen, und ihrganzer Leib, gefüllt mit Öl des Heiligen Geistes, ist licht (Mt 6,22;25,4). Als lichtgerüstete Streiter, die ihres Königs Kleid tragen,erwarten sie ihren Herrn und seinen Tag.

Welche sind es also, die die Kennzeichen der Klugheit undBereitschaft für die Erwartung ihres Herrn tragen? Es sind die,die sich nicht von sich selbst und Menschen verführen lassen,sondern aus dem ganzen Gottesworte durch den Heiligen GeistLampe und Gefäß, das ist Auge und Leib, rechtzeitig und hinrei-chend mit Öl, das ist Geist, füllen lassen. Darin besteht ihre ganzeKlugheit. Und sie sind es, die aufgewacht und aufgestanden, mitLicht geschmückt und mit Licht gerüstet, ohne Bestürzung undVerzögerung ihrem Herrn entgegengehen können, Arbeitstag umArbeitstag. Das ist ihre ganze Bereitschaft. Im Glauben fest und inder Hoffnung des Evangeliums unbeweglich geworden, dünkensie sich nicht bereits die Geringsten unter den Sündern und dieVornehmsten unter den Heiligen (1Tim 1,15; Eph 3,8) gewordenzu sein, wie heute viele tun, sondern schaffen täglich ihr See-lenheil in Furcht und Zittern, in unausgesetzter Glaubens- undHoffnungsbetätigung als stete Ichverneinung und Jesusbejahung.Nie werden sie wagen, sich selber das Reifezeugnis zu schreiben,als ob sie bereits für das Kommen des Herrn fertig wären, wiejene tat, die mir schrieb: »Ich bin nun fertig. Meinetwegen kannder Herr jeden Augenblick kommen!« und der ich zurückschrieb:»Bitte, senden Sie mir Ihre Fotografie; ich möchte einmal eine›Fertige‹ sehen!« Sie hat mir aber nie ihr Bild geschickt.

Und ebenso wenig werden die wirklich Klugen und Bereitenbeten wie jener Bruder betete, der nach einer Andacht über dieAnkunft Christi flehte: »Lieber Herr, komme jetzt noch nicht;denn siehe, ich bin noch nicht fertig!« Sondern in der Gnade ste-

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Was wird uns nun das Kommen des Herrn bringen?

hend und gehend, setzen sie ihre Hoffnung völlig auf die Gnade,die ihnen dargereicht werden wird, eben bei der Offenbarungihres Herrn. Es wird Vollendungsgnade sein. Denn er selbst, derGott des Friedens und aller Gnade, wird sie heiligen und bewah-ren, vollbereiten, stärken, kräftigen, gründen, damit sie der Herrheilig und unsträflich und ohne Tadel vor sich hinstellen kann(1Thess 5,23; 1Petr 5,10; Kol 1,22).

So wird sie der Tag des Herrn auch nicht wie ein Dieb ergreifen,obgleich er wie ein Dieb kommen wird (1Thess 5,2–9; 2Petr 3,10);sondern sie werden sogar das Kommen dieses Tages beschleu-nigen (2Petr 3,12); denn um ihretwillen werden die Tage bis zurAnkunft und Erscheinung Christi verkürzt werden (Mt 24,22).Deshalb kann aber auch das Kommen des Herrn durch die Un-klugen und Nichtbereiten nicht verzögert werden, wie manchemeinen; denn der Aufgang der Sonne richtet sich nicht danach,ob du wach geworden und vom Bett aufgestanden bist! Dennochbleibt des Herrn Langmut unsere Errettung (2Petr 3,9 und 15).

Was wird uns nun das Kommen des Herrnbringen?

Wer vom Kommen des Herrn hört, der spreche: »Komm!« (vgl.mit Offb 22,1), denn die Wiederkunft Christi kommt der ganzenSchöpfung zugute. Leugnet aber gar jemand, der sich gläubignennt, das zweite Kommen des Herrn, dessen Viertels- oderHalbglaube ist kopf- und ziellos.

Die Wiederkunft Christi wird zuerst um der Seinen willen gesche-hen. Sie wird uns die Entrückung von der Erde hinweg zu ihm,unserem Haupte hin, und damit die Erlösung unseres Leibesbringen. Das wird die erste Verwirklichung unserer Hoffnungdurch den kommenden Herrn sein. Wir sind Fremdlinge aufdieser Erde, die glaubend und hoffend das suchen, was drobenist, wo Christus, ihr erhöhtes Haupt, ist (1Petr 2,11; Kol 3,1–4).Wohl wissen wir, dass wir schon nach Ablegung unserer irdi-schen Leibeshütte bei dem Herrn sein werden, ehe er wieder zurErde kommt (Phil 1,23), aber die eigentliche Verwirklichung derHoffnung des Evangeliums bringt unser persönliches Sterbenund Heimgehen noch nicht. Es gibt auch drüben ein noch aufGlauben angewiesenes Warten auf die Verwirklichung dieser

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Die Hoffnung des Evangeliums

Hoffnung; denn die Hoffnung des Evangeliums enthält ja vielmehr als das oft so selbstsüchtige Hoffen auf das so genannte»selige Ende« und das »Plätzlein im Himmel« für die einzelneSeele.

Nein, die Hoffnung des Evangeliums verwirklicht sich nur alsGesamthoffnung der gläubigen Gemeinde. Nicht, dass wir beiunserem Heimgang als Einzelne zu ihm kommen, erfüllt dieseHoffnung (1Thess 4,15; Hebr 11,39–40), sondern dass er, der Eine,als unser gemeinsames Haupt zu uns allen, den Vielen, kommt,wird uns das volle Heil bringen. So wie wir alle mit Ihm gekreu-zigt, getötet, begraben und auferweckt worden sind, so sollenwir alle auch mit ihm geoffenbart werden, wenn er, unser Leben,geoffenbart wird (Kol 3,4). Es handelt sich bei der Entrückungum die Offenbarwerdung und Vollendung des ganzen LeibesChristi in der dargestellten Vereinigung mit Christus, seinemHaupt.

Innerlich bereits von der Erdenwelt gelöst und geschieden,sollen wir auch äußerlich über sie erhöht und zu unserem Herrnempor gerückt werden, wenn er kommen wird in den Wolken(Mt 24,29–31). Und eben dabei wird unser irdischer Leib, wennwir noch in ihm wallen, im Nu in einen himmlischen Leib um-gewandelt werden, oder, wenn er bereits ins Grab gesunken ist,neuschöpferisch auferweckt werden in Herrlichkeit (1Kor 15;Phil 3,21; 1Thess 4,13–18). Das wird die erste Erfüllung der Hoff-nung sein, in der wir errettet worden sind; denn erst mit der Er-lösung unseres Leibes werden wir die eigentlich volle Sohnschaftempfangen. Vorher haben wir nur einen »Geist der Sohnschaft«,dann aber gewissermaßen auch das Kleid der Sohnschaft mitdem Sohneserbe (Röm 8,23). Für alle bereits im Herrn Entschla-fenen wird die Erfüllung dieser Hoffnung gleichbedeutend seinmit der ersten Auferstehung (Offb 20,5–6). Glückselig und heilig,wer teil hat an der ersten Auferstehung!

Wer aber wird an der Entrückung und erstenAuferstehung teilhaben?

Der Apostel schreibt: »wir alle.« Wen meint er aber damit? Erkann nur die meinen, die den »Geist der Sohnschaft« als inne-res Zeugnis des Geistes, dass sie Gottes Kinder sind, haben, die

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Wer wird an Entrückung und erster Auferstehung teilhaben?

nicht mehr fleischlich, sondern geistlich gesinnt sind, nämlichChristi Geist und Gesinnung in sich tragen (Röm 8,14–16). WerChristi Geist nicht hat, der ist nicht sein, kann also bei der An-kunft Christi auch nicht dem Leibe nach mit verwandelt oderauferweckt und mit entrückt werden. Da wird es nicht genügen,Glied einer äußeren Kirche, Gemeinde oder Gemeinschaft zusein, sondern Glied am Leibe Christi muss man geworden sein,das wird man aber nur durch den innewohnenden Geist Christi(Joh 3,3–6; 14,23; 1Kor 12,13; 1Joh 3,24; 2Kor 13,5) und bleibt esnur in steter glaubenstätiger Ichverneinung und Jesusbejahung.Wie viele, die in ihrem eigenen Geist so klug über Entrückung,erste Auferstehung und die anderen so genannten »letzten Din-ge« zu grübeln, zu schreiben und zu reden verstehen, werden ander Verwirklichung der Hoffnung des Evangeliums selber keinenAnteil haben. Es wird sich da erfüllen, was ich einst als irdischesGleichnis erlebte:

Bruder G. war lebendiger Christ und Dorfschuster. Einst sahich diesem schuhflickenden Geistes-, Lichts- und Tagessohn zu,wie er am Samstagabend seine Wochenarbeit vollendete. Hoff-nungsfroh plauderten wir dabei von der Verherrlichung undVollendung der Gläubigen bei ihrer Entrückung zum Herrn.Wohlgemut begann der Bruder schließlich seinen Schuster-Werk-tisch aufzuräumen, indem er alles Werkzeug entfernte, so dass dazuletzt nur noch Holz- und Eisennägel lagen. Nun wird er nochseine liebe Mühe haben, die Holz- und Eisennägel voneinanderzu sondern, dachte ich. Aber da nahm er ganz beiläufig einen Ma-gneten, der unbemerkt beiseite gehangen hatte, fuhr damit überden Werktisch hin und her, und – hast du nicht gesehen? – baldhingen alle Eisennägel an dem Magneten. »Wilhelm!« musste ichrufen, »was machst du da? Das Eisen fliegt ans Eisen, das Holzbleibt beim Holz liegen! Das ist ja genau wie bei der Entrückung:Was vom Geist und Wesen Christi ist, wird angezogen und vonihm hinweg genommen, und was Fleisch vom Fleische ist bleibtbeim Fleische liegen!«

So wird es sein. Die als die »Erstlinge des Geistes« (Röm 8,23),nachdem sie geglaubt haben, mit dem Heiligen Geist der Verhei-ßung, welcher das Unterpfand ihres Erbes ist, versiegelt wordensind, die werden zum Preise der Herrlichkeit ihres Herrn andem Tage der Erlösung zu ihm empor gerückt werden (Eph 1,13;2Kor 1,22; Eph 4,30). Es werden die sein, die fest im Glauben und

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Die Hoffnung des Evangeliums

unbeweglich in der Hoffnung des Evangeliums geblieben sind.Sie haben die Salbung von dem Heiligen empfangen, die in ihnengeblieben ist und durch die sie Freimütigkeit haben, vor ihremHerrn zu erscheinen, wenn er geoffenbart wird; sie werden nichtvon ihm hinweg beschämt werden bei seiner Ankunft (1Joh 2,20

und 27–28).Nun werden sie mit ihm geoffenbart in Herrlichkeit; denn nun wird

erscheinen, was sie als Kinder Gottes wirklich sind. Bisher warihr eigentliches Leben mit Christus verborgen in Gott (Kol 3,3;1Joh 3,2), jetzt aber wird es enthüllt. Die Hoffnung der zukünf-tigen Herrlichkeit, deren sie sich rühmten (Röm 5,2), tritt inErfüllung. Die Leiden der Jetztzeit, die nicht wert waren, mit derzukünftigen Herrlichkeit verglichen zu werden (Röm 8,18), liegennun auf ewig hinter und unter ihnen. Jetzt zeigt es sich, welchein über die Maßen überschwängliches, ewiges Gewicht vonHerrlichkeit diese nun vorübergegangenen irdischen Drangsals-leiden bewirkt haben (2Kor 4,17–18). Die Freiheit der Herrlichkeitder Kinder Gottes ist hereingebrochen (Röm 8,21). Berufen zurHerrlichkeit, erleben sie nun die Erfüllung der Hoffnung ihrerBerufung; denn nun sehen sie sich wirklich herrlich gemacht(Röm 8,30; 1Thess 2,12). Ohne Flecken oder Runzel oder etwasdergleichen stellt sie Christus sich selber herrlich dar (Eph 5,27),verherrlicht in seinen Heiligen und bewundert in allen denen,die geglaubt haben (2Thess 1,10). Ja, jede Hoffnung, die Gott aufihre Berufung gesetzt, ist nun verwirklicht; denn der Reichtumder Herrlichkeit seines Erbes in den Heiligen (Eph 1,18) wirdjetzt geoffenbart.

Lasst uns diesen Reichtum der Herrlichkeit anbetend in un-ser noch irdisches Auge fassen! Es sind da drei Hoffnungs- undHerrlichkeitsblicke, die wir tun dürfen.

Erstens, wir werden den Sohn Gottes sehen, wie er ist (1Joh 3,2).Seine Jünger sahen schon auf Erden seine Herrlichkeit, eine Herr-lichkeit als eines Eingeborenen vom Vater, voller Gnade undWahrheit (Joh 1,14), aber seine eigentliche himmlische Herrlich-keit, wie sie ihm der Vater gegeben hat, sollten sie erst schauen,wenn sie mit ihm beim Vater sein werden (Joh 17,24). Auch wirhaben im Anschauen seiner Herrlichkeit, wie sie uns die Schriftoffenbart, schon viel seiner Herrlichkeit mit aufgedecktem An-gesichte geschaut (2Kor 3,18), aber noch hat ihn keiner gesehen,wie er ist. Wie lieben wir ihn schon, obgleich wir ihn noch nicht

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gesehen; denn wir dürfen in seiner Liebe bleiben (1Petr 1,7–9;Joh 15,9), aber wie brennt uns das Herz, einst in jener unaus-sprechlichen und verherrlichten Freude zu frohlocken, die unshinnehmen wird, wenn wir ihn sehen werden, wie er ist!

Was sind alle die armseligen Menschenbilder, die man vonihm macht, wo man ihn entweder als den Schönsten unterden Menschenkindern (Ps 45,2) oder als den Allergemartertsten(Jes 53,2–6) zu zeigen sucht? Wir mögen je länger desto wenigerbei ihnen verharren, nein, wir brennen danach, ihn selbst zusehen, wie er ist. Und dieses brünstige Verlangen im Geist wirdam Tage der Offenbarung seiner Herrlichkeit gestillt werden. Ja,das wird Herrlichkeit sein!

Versuche ich das Gewicht dieser Herrlichkeit auch nur einiger-maßen auf der Waage meiner geistlichen Erkenntnis abzuwägen,so versagen alle Maße und Gewichte. Die Schwere meines Er-denleides fliegt in die Höhe wie Spreu im Winde. Auch allesinnfälligen Vergleiche fehlen. Die goldenen Pflastersteine derStraßen im Neuen Jerusalem kann ich mir noch sehr wohl den-ken, ebenso die Mauern aus Edelsteinquadern und die Tore ausPerlen; ach, das alles ist noch so leicht zu fassen! Aber ihn zusehen, wie er ist: das ist das Unfassbare! Denn er ist der Herr derHerrlichkeit (1Kor 2,8; Jak 2,1). Wahrlich, alle die Schönheit Him-mels und der Erden ist gefasst in ihm allein! Oh wie wird unsereSeele vom letzten Nebelhauch des Erdenlebens genesen, wennunsere Himmelsaugen so ihren Heiland schauen! Wenn du undich und wir alle, die wir seufzend gingen im Geist, ihn an jenemTage sehen werden, wie er ist! Er, unsere alleinige Hoffnung, istdann auch unsere alleinige Sättigung mit Herrlichkeit.

Denn zweitens werden wir dann sehen, dass wir ihm gleichgewordensind. Trägt dieser zweite Hoffnungs- und Herrlichkeitsblick nichtnoch höher? Zeigt er uns nicht ein noch größeres Wunder als dererste? Wahrlich, unfassbar ist es, sich den Sohn Gottes zu denken,wie er ist, aber noch unfassbarer scheint es mir, mich zu denken,dass ich ihm gleich sein werde! Gibt es einen größeren Gegensatzals den zwischen ihm und mir? Habe ich nicht täglich in seinerNachfolge erkennen müssen, welch ein unzulänglicher Menschich in mir selber bin? Und nun soll dieser klaffende Gegensatzaufgehoben und der so bittere Mangel so überschwänglich gestilltwerden? Wahrlich, das ist des Glaubens, der nicht zweifelt andem, was er nicht sieht, höchste Höhe!

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Dass der himmlische Christus in einzigartiger Herrlichkeit er-scheinen werde, das ist meinem Glauben selbstverständlich, aberdass ich Christus am Tage seiner Offenbarung gleich sein werde,das scheint selbst meinem willigsten Glauben unglaublich. Unddoch schreibt der Apostel hier gar nicht »wir glauben«, sondernwie immer, wenn des Glaubens höchster Inhalt ausgedrückt wer-den soll, heißt es hier: »wir wissen aber, dass wir ihm gleich seinwerden« (1Joh 3,2).

Ja, wir wissen es durch den Geist auf Grund des Wortes Gottes.Die Herrlichkeit, die Gott seinem Sohne gegeben, die hat derSohn uns gegeben (Joh 17,22); denn Gott hat uns zuvor bestimmt,dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu sein (Röm 8,29). Wirsind berufen zur Erlangung der Herrlichkeit unseres Herrn JesusChristus (2Thess 2,13.14). Darum werden wir jetzt schon von Tagzu Tag am inneren Menschen erneuert (2Kor 4,16) und werdenverwandelt1 von Herrlichkeit zu Herrlichkeit in Christi Bild durchden Herrn, den Geist (2Kor 3,18). Denn Christus in uns, das istja die Hoffnung der Herrlichkeit (Kol 1,27), die überschwänglichsich erfüllt haben wird, wenn wir sehen werden, dass wir ihmgleichgeworden sind.

Vielleicht wird es so sein: Wenn unsere neuen Augen wie ge-blendet von der Herrlichkeitsfülle seiner Gottesschöne zu unsselbst zurückkehren, werden wir unsere Ebenbildlichkeit gewahrwerden. Wir werden uns dem Wesen nach in der gleichen Herr-lichkeit erkennen dürfen, wie er sie trägt. Aber doch wird seineHerrlichkeit in unausdenkbar mannigfaltiger Abstufung in unszur Darstellung gelangen. Denn sie wird zugleich der Lohn sein,der den Werken entsprechen wird, die die Gnade während unse-res Erdendaseins in uns hat wirken können (Offb 22,12).

So wird unser Offenbarwerden mit ihm in Herrlichkeit zu-gleich auch ein Offenbarwerden vor ihm, unserem Richter, sein(2Kor 5,10). Da wird jedes von uns in dem Licht offenbar werden,in dem es hier unten im Leibesleben gewandelt und gehandelthat (1Kor 3,12–15). Dementsprechend wird der Grad unsererpersönlichen Herrlichkeit (1Kor 15,41–42) und unseres neuenhimmlischen Dienstes sein (Mt 24,42–51; 25,19–30; Offb 22,3).Überaus herrlich wird sich des Herrn Wort aus dem Gleichnisvon den Talenten erfüllen: »Jedem, der hat, wird gegeben wer-

1 Kapitel 6: »Unsere Umwandlung in das Bild Christi«.

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den, und er wird die Fülle haben . . . « Der aber auf Erden faulgewesene Knecht, der weder Glauben noch Hoffnung bewahrteund am Ende weder Geist noch Werk hat, wird weder an derersten Auferstehung oder Entrückung noch an der Belohnungmit Herrlichkeit teilhaben.

Die aber, fest im Glauben und unbeweglich in der Hoffnungdes Evangeliums allem Verderben entflohen, nun würdig gewor-den sind, in unausdenkbar reicher Herrlichkeit vor ihrem Herrnzu stehen (Lk 21,36), die werden den wunderbar aufgebautenLeib Christi darstellen in seiner Vollendung. Mögen sie als ein-zelne Glieder an diesem Leibe einen reichlichen oder kärglichenEingang in das ewige Reich ihres Herrn dargereicht bekommenhaben (2Petr 1,11), so haben sie doch nun alle das Ende ihresGlaubens davongetragen, nämlich die Errettung ihrer Seele (1Pe-tr 1,9). Der in ihnen ein gutes Werk angefangen hatte, hat es nunvollführt auf seinen Tag hin (Phil 1,6). Sie alle sind hingelangt zuder Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes,zu dem erwachsenen Manne, zu dem Maße des vollen Wuchsesder Fülle des Christus (Eph 4,13; 1Kor 12,12) nach der von Gottbestimmten Größe (Kol 2,19).

Nun sehen sie sonnenklar, dass die Gewähr für ihre Einzel-und Gesamtvollendung allein in ihrem gemeinsamen Hauptlag, zu dessen Herrlichkeit sie jetzt für ewig erhoben wordensind (Röm 8,17). Sie konnten zu ihrer Vollendung nichts anderesbeitragen, als fest im Glauben gegründet bleiben und sich nichtwegbewegen lassen von der Hoffnung des Evangeliums und derHoffnung der Herrlichkeit: Christus in ihnen!

Das gewährt uns den höchsten Glaubens- und Herrlichkeits-blick, nämlich, wir werden drittens sehen, dass das Lamm alleinwürdig ist.

Denn trotz unserer Christus-Ebenbildlichkeit, in der unsereGott-Ebenbildlichkeit überschwänglich wieder kund gewordensein wird, wird doch niemand selbstherrlich zu sagen wagen:Ich bin würdig! Sondern wie jene Ältesten werden wir alle alleinvom Sohne Gottes rühmen müssen: Du bist würdig! (Offb 4,11).Niemand wird sich selbstgefällig in der erlangten Herrlichkeitbewundern wollen. Denn was wir geworden sein werden, wer-den wir nicht geworden sein zum Preise unserer Herrlichkeit,sondern zum Preise Seiner Herrlichkeit (Eph 1,14). Ihm gleichgeworden zu sein und doch uns niederzuwerfen vor seinem

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Throne mitsamt jeder empfangenen Krone, das wird der höchsteTriumph der Ichverneinung und Jesusbejahung sein. Welch einealle Vorstellungen überbietende Verherrlichung der überschwäng-lichen Gnade Gottes in Christus Jesus, unserem Herrn, wird dassein!

Mit dieser Verherrlichung Christi in den Seinen und durch dieSeinen ist die Hoffnung des Evangeliums, soweit sie die »Erstlin-ge des Geistes« betrifft, erfüllt. Es lässt sich aber denken, welcheine Wirkung die Entrückung der gläubigen Gemeinde zu ihremHaupt und Herrn in den Himmel auf das weitere Weltgeschehenhaben muss. Denn der weitere Sinn unseres Versammeltwerdenszu unserem Haupt hin ist ein sehr streitbarer, er bezweckt die Auf-richtung des Königreiches Jesu Christi als Reich Gottes und Reichder Himmel wider alle Weltreiche. Um des Kommens seinesReiches willen kam Christus auf die Erde. Die Hoffnung desEvangeliums liegt im Evangelium vom kommenden Gottesreich(Mt 4,23; 6,10.33; 13,19; 24,14; Mk 1,15; Lk 4,43; 9,2.60; 16,16;Joh 3,3). Es wurde immer gepredigt als ein in Hoffnung zu er-wartendes, zukünftiges Reich, das nun in Christus, dem Trägerdieses Reiches, mitten unter den Menschen erschienen, also naheherbeigekommen war (Lk 17,21; 19,9.11; Mk 15,43). Christus unddie Apostel verkündigten dieses Reich und warben für diesesReich. Aber die eigentliche Aufrichtung dieses Reiches blieb andie Wiederkunft Christi geknüpft, das wusste sogar der Schächeram Kreuz (Lk 23,42; Mk 11,10; Lk 21,31; 22,16.29.30). Erst mussteein »guter Same« für dieses Reich als die »Söhne des Reiches« dasein (Mt 13,38). Es sind die aus Gott geborenen Söhne des Geistes,die das Reich bereits sehen (Lk 9,55; Joh 3,3) und als Erben desReiches und Mitgenossen am Reich (Jak 2,5; Offb 1,9) in diesReich kommen werden (Joh 3,5), ja bereits in das himmlischeWesen dieses Reiches Christi versetzt sind (Kol 1,13; Phil 3,3.20).Als berufen zu seinem Reiche (1Thess 2,12) erscheinen sie bei derAnkunft Christi als würdig geachtete Erben des Reiches Gottes(2Thess 1,5) und empfangen nun den Eingang in sein ewigesReich (2Petr 1,11). Und sie sind jetzt, als die zu ihrem Haupt ver-sammelten Glieder am Leib Christi, zugleich die guten »StreiterChristi« (2Tim 2,3) bei der Aufrichtung seines Reiches.

Denn der Leib Christi wird auferbaut in Liebe (Eph 4,16) wäh-rend dieses ganzen Zeitalters vom Tage der Pfingsten bis zumTage der Wiederkunft Christi. Das Reich Christi aber wird aufge-

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richtet durch Gericht in kurzen, furchtbaren Gerichtstagen amEnde dieses Zeitalters. Zur Auferbauung seines Leibes durchden Heiligen Geist erschien Christi der Welt als Retter, zur Auf-richtung seines Reiches wird er der Welt erscheinen als Richter(Mt 12,20; Joh 5,22.27; 9,39; 1Joh 4,17; Jud 15). So kann die Aufrich-tung des Reiches Christi nur geschehen durch die Vernichtung desAntichrists und seiner Anbeter und durch den Sturz aller Weltreiche.

Ja, auch die Ausführung dieser blutigen Gerichte gehört mitzur Hoffnung des Evangeliums! Denn durch Blut wurden dieWeltreiche gegründet und befestigt, und durch Blut, das im stell-vertretenden Opfer des Lammes Gottes auf Golgatha floss, wurdeauch das Reich Gottes begründet (Joh 1,29; 11,51–52), und nurin blutiger Niederwerfung seiner Feinde wird das Reich Christiaufgerichtet werden. So gewiss im gegenwärtigen Zeitalter unsGottes Gnade angeboten wird, so gewiss wird das Ende diesesZeitalters Gottes Gerichte allen denen bringen, die die Gnadeabgelehnt haben. Denn das Ende und die Vollendung diesesZeitalters wird Erntezeit sein. »Der Acker ist die Welt. Der guteSame sind die Söhne des Reiches. Das Unkraut sind die Söhneder Bosheit. Der Feind, der sie sät, ist der Teufel. Die Ernte ist dasEnde des Zeitalters. Die Schnitter sind Engel. Gleichwie man nundas Unkraut ausjätet und mit Feuer verbrennt, so wird es aucham Ende dieses Zeitalters gehen . . . « (Mt 13,38–43). Noch lässtGott beides miteinander wachsen (Vers 30), aber die Ausreifegeschieht entweder zur Sammlung in die himmlischen Scheunenbei der Entrückung oder zur Erwartung des Gerichtes auf Erden.

Und so herrlich die Ausreife der Söhne des Reiches zur Ent-rückung sein wird, wie wir eben gesehen haben, so gräulichwird die Ausreife der Söhne der Bosheit zum Gericht werden.Wird schon das ganze gegenwärtige Zeitalter »Nacht« genannt(Röm 13,12), eine Nacht, in der die wahren Nachfolger Christidas einzige »Licht der Welt« sind, so wird die vorgerückte Nachtimmer mächtiger werden, bis sie zur Nacht des Unglaubens undUngehorsams wird, in der kein Sohn des Lichtes und Tages mehrwirken kann (Joh 9,4).

Wir sollen wissen, »dass in den letzten Tagen schwere Zeitenda sein werden; denn die Menschen werden selbstsüchtig sein,geldliebend, prahlerisch, hochmütig, Lästerer, den Eltern unge-horsam, undankbar, heillos, ohne natürliche Liebe, unversöhnlich,Verleumder, unenthaltsam, grausam, das Gute nicht liebend, Ver-

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räter, verwegen, aufgeblasen, mehr das Vergnügen liebend alsGott, die eine Form der Gottseligkeit haben, ihre Kraft aber ver-leugnen . . . « (2Tim 3,1–5). »Es wird eine Zeit sein, in der sie diegesunde Lehre nicht mehr ertragen, sondern nach ihren eigenenLüsten sich selber Lehrer aufhäufen werden, indem es ihnen inden Ohren kitzelt; und sie werden die Ohren von der Wahrheitabkehren und zu den Fabeln sich hinwenden . . . « (2Tim 4,3–4).Vom Glauben abgefallen, werden sie dann achten auf betrügeri-sche Geister und Lehrer der Dämonen, die in Heuchelei Lügenreden . . . « (1Tim 4,1–2). Es werden die sein, »die verloren gehen,darum dass sie die Liebe zur Wahrheit nicht annahmen, damitsie errettet würden. Und deshalb sendet ihnen Gott kräftigenIrrtum, dass sie der Lüge glauben, auf dass alle gerichtet werden,die der Wahrheit nicht geglaubt, sondern Wohlgefallen gefundenhatten an der Ungerechtigkeit« (2Thess 2,10–12).

Was diese gräuliche Ausreife der Söhne der Bosheit zum Ge-richt am unheimlichsten macht, ist, dass sie sich unter einergewissen »Form der Gottseligkeit« vollziehen wird. Bei aller teuf-lischen Steigerung der Eigenliebe wird man sich und andereberauschen mit dem Kulturideal der sozialen Gerechtigkeit als»Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit«. Bei aller teuflischenAblehnung des Wortes Gottes wird man es missbrauchen zurAufstellung von allerlei betrügerischen, religiösen Lehren, wiesie der Vernunft und dem Zeitgeist entsprechen. Bei aller sa-tanisch gehässigen Zunahme der Feindschaft gegen das KreuzChristi und unserer Erlösung durch sein Blut wird man im un-heilvollen Wahne der Selbsterlösung von dem Gott und Christusin der eigenen Brust reden und immer ruhmrediger in blinderIchvergötterung an die eigene Gottgleichheit glauben.

Bei aller immer satanisch entschiedeneren Ablehnung desFriedens, den Gott durch das Blut seines Kreuzes gemacht hat(Kol 1,20), wird man ethisch und religiös immer lebhafter vomAufhören der Kriege und vom kommenden Weltfrieden als Kul-turergebnis träumen. Und eben diesen unheimlichen Wider-spruch erkennen wir als das »Geheimnis der Bosheit oder Ge-setzlosigkeit« (2Thess 2,7), unter welchem die antichristliche Weltheran- und ausreifen wird. Es wird alles aussehen wie lauterEdelmut und Wesensgüte des Menschen und wird doch eitelHass und Feindschaft der von Satan verblendeten Menschheit(2Kor 4,4) gegen das biblische Evangelium vom Reich Christi sein.

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Dementsprechend wird diesem, trotz aller glänzenden Kulturleis-tungen immer mehr in Selbstsucht versinkenden Geschlecht auchtatsächlich nichts anderes gelingen als ein immer gewalttätigerwerdender Krieg aller gegen alle Familienglieder, Volksglieder,Menschheitsglieder werden widereinander aufstehen und sichübereinander zu erheben suchen, Volkskriege und Völkerkriegewerden immer blutiger wüten, Teuerung, Hunger und Seuchenwerden folgen. Aber immer ruhmrediger wird man von der eige-nen Macht und Größe reden, bis die Verirrung und Verwirrungauf allen Lebensgebieten grenzenlos geworden sein wird.

Dann wird einer erscheinen, eine Art religiöser Napoleon, »derMensch der Sünde, der Sohn des Verderbens, welcher widerstehtund sich selbst erhöht über alles, was Gott heißt, und ein Gegen-stand der Verehrung ist, so dass er sich in den Tempel Gottessetzt und sich selbst darstellt, dass er Gott sei« (2Thess 2,3–4).Das wird der Antichrist sein, dem sich alles beugen wird, wasnicht Christus gehört. Er wird als »der Gesetzlose« offenbartwerden, sobald der Abfall von Gott in der eben geschildertenWeise ausgereift sein wird (Vers 3 und 8). Es wird nach der Ent-rückung der Gläubigen sein. Denn ehe der Gesetzlose geoffenbartwerden kann, muss das hinweg getan werden, was sein Erschei-nen zurückhält (Vers 6), und das kann nichts anderes sein als diegläubige Gemeinde, die ja das Licht der Welt und das Salz derErde genannt wird. Sobald die Gemeinde entrückt ist, wird dieWelt in Finsternis und Fäulnis versinken und damit reif für dieHerrschaft des Antichristen werden. Und es entspricht durchausder Hoffnung des Evangeliums, dass die Söhne des Geistes, desLichtes und des Tages nicht unter die Herrschaft des Menschender Sünde, nämlich unter die Finsternisherrschaft des Antichris-ten kommen, sondern eben vorher ins Reich des Lichtes entrücktwerden; wohl aber werden sie die schwere Zeit des Abfalls mit allihrer gräulichen Verirrung und Verwirrung und vielerlei Trübsalmit erleben müssen, um durch Leiden vollendet zu werden.

Wer der Antichrist sein und woher er kommen wird, wird sichzeigen, wenn er »geoffenbart« wird. Er wird wahrscheinlich ausdem Reich kommen, dessen König verschieden von seinen Vor-gängern sein und drei von den zehn Königreichen, die aus demvierten der vom Propheten Daniel geschauten Weltreiche hervor-gegangen sind, erniedrigen wird (Dan 7,24.25), um die Führungder zehn Staaten an sich zu reißen. In Gemeinschaft mit diesem

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führenden Staat, dem »Tier« und dem »falschen Propheten« derOffenbarung Johannes, wird der Antichrist seine lästernde undverführende, teuflische Herrschaft auf Erden nach der Wirkungdes Satans unter Entfaltung aller betrügerischen Kräfte, Zeichenund Wunder und aller ungerechten Verführung unter denen, dieverloren gehen, ausüben, bis die furchtbaren Gerichte Gottes,wie sie die Offenbarung Johannes von Kapitel 6 – 19 beschreibt,an dem gottfeindlichen Geschlecht vollendet sind und der HerrJesus den Antichristen aufreiben wird durch den Geist seinesMundes und ihn vernichten wird durch die Erscheinung seinerAnkunft (2Thess 2,8–10; Offb 19,11–21).

Aber ehe der Herr zur Vollendung dieses Gerichtssieges aufErden sich anschickt, hat er mit den Seinen die Hochzeit desLammes im Himmel gefeiert, deren einleitender Festgesang dievier »Halleluja!« (die einzigen im Neuen Testament genannten)sein werden, durch welche die Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeitder Gerichte Gottes in Christus gepriesen und der Beginn seinerKönigsherrschaft verkündigt wird (Offb 19,1–9). Oh wie erlabtsich die Hoffnung des Evangeliums an dieser sicher kommendenHerrschaft unseres Herrn! Sie ist ja der »Ruhm der Hoffnung«,den wir durch alle Drangsalszeiten hindurch standhaft festhaltenwollen bis ans Ende (Hebr 3,6; 6,11).

Nun kann das Königreich Jesu Christi auf die Erde kommenund alle Weltreiche, die allesamt den gewalttätigen Tiercharaktertrugen, als Reich des Friedens ablösen. Denn nun kann ergriffenwerden der Drache, die alte Schlange, welche der Teufel undSatan ist, er wird gebunden auf tausend Jahre und verschlossenund versiegelt in den Abgrund, auf dass er nicht mehr die Völkerverführe, bis die tausend Jahre vollendet sind (Offb 20,1–3).

Ein tausendjähriges Friedensreich ist also nächst dem Kommendes Herrn zur Entrückung der Seinen und zum Gericht über sei-ne Feinde der Inhalt und Ruhm der Hoffnung des Evangeliums.Denn eine Friedenshoffnung ist die Hoffnung des Evangeliums,und zwar die einzige, die sich erfüllen wird. Christus, der gottge-sandte »Friedefürst« (Jes 9,5), der durch das Blut seines Kreuzesden einzelnen Herzen und Häusern Frieden brachte, wird imnächsten Zeitalter, wenn er durch Gericht sein Reich aufgerichtethaben wird, Frieden den Völkern bringen. Vom Himmel her wirder bei seinem Erscheinen die Zügel der Weltregierung in seineHand nehmen.

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Und die Seinen, die mit ihm sitzen auf Thronen und mit ihmdie antichristliche Welt gerichtet haben, und die Überwinder,die das »Tier« nicht angebetet und sein Bild und Malzeichennicht angenommen haben, werden mit ihm leben und regierentausend Jahre (Offb 20,4). Und da wird sich endlich auch dieHoffnung Israels erfüllen; denn auch die Hoffnung Israels ist jaeine Friedenshoffnung (Jer 17,13; Apg 28,20).

Es ist bezeichnend, dass beinahe alles, was wir über die Frie-densherrschaft Christi im tausendjährigen Reich wissen, schonim Alten Testament geoffenbart worden ist (Ps 22,29; Ps 45,7;Jes 2,2–4; 65,19–24; Ps 85,9–14; Jer 29,11; Sach 9,9–10). Soll dochim verheißenen messianischen Friedensreiche das jüdische Volkin sein Land zurückgekehrt und die zerfallene Hütte Davids wie-der aufgerichtet sein, damit die Juden das irdische Herrschervolkin Christi Reich werden (Mt 8,12; 21,43; Röm 11,25–27; Jer 29,14;33,6–25; Hes 37,1–14; Amos 9,11–15; Apg 15,16–17; Joel 3,1–5;Sach 12,10; Mt 24,22).

Aber nicht nur die Hoffnung des alttestamentlichen Bundes-volkes soll unter der tausendjährigen Königsherrschaft Christierfüllt werden, sondern sogar die Hoffnung der Kreatur sollsich dann verwirklichen. Denn auch die Hoffnung der Kreaturist Friedenshoffnung. Wider ihren Willen ist die Schöpfung derKnechtschaft des Verderbens unterworfen »auf Hoffnung« undseufzt, in Geburtswehen liegend, bis jetzt nach der Freiheit derHerrlichkeit der Kinder Gottes (Röm 8,19–22). Wunderbar wirdsich auch diese Hoffnung für die Schöpfung erfüllen. Die Er-de wird wieder in den paradiesischen Zustand erhoben, demMenschen seine normale Lebensdauer, den Tieren ihre friedli-che Natur wiedergegeben werden (Jes 30,26; 11,5–9; 65,19–25;Ps 96 – 98). Was sind alle menschlichen Kulturideale mit ihrertrügerischen Hoffnung gegenüber der unüberbietbaren Friedens-hoffnung des Evangeliums, wie sie mitsamt der Hoffnung Israels,ja mitsamt der Hoffnung der ganzen Schöpfung unter der kom-menden Königsherrschaft Christi auf Erden verwirklicht werdenwird!

Aber trotz der unvergleichlichen Segnungen dieser Christus-herrschaft werden sich die Menschen, unter der Anleitung deswieder losgelassenen Satans am Ende des tausendjährigen Frie-densreiches, noch einmal gegen Gott und seinen Gesalbten aufleh-nen (Offb 20,7–10). Dieser letzte und äußerste Streit gegen Chris-

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tus und seine Heiligen wird jedoch zum endgültigen Sturz Satansführen und der Menschheit bringen das Endgericht (Offb 20,11–15).

Erde und Himmel werden entfliehen vor dem Angesicht des-sen, der dann auf dem großen weißen Throne erscheinen wird,um die Lebendigen und die Toten zu richten, die vor ihm stehenmüssen, heraufgeholt aus Grab und Meer, um gerichtet zu wer-den vor Gottes aufgetanen Büchern, jeder nach seinen Werken.Dann wird die Hoffnung der Gerechtigkeit, die wir durch denGeist aus Glauben erwarteten (Gal 5,5), ihre höchste Erfüllungfinden. Jegliches Böse in der Welt wird sein endgültiges Gerichtempfangen. Da werden doch alle Knie der Himmlischen, Irdi-schen und Unterirdischen sich beugen und alle Zungen bekennenmüssen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Verherrlichung Got-tes des Vaters (Phil 2,10–11). Und wenn jemand nicht geschriebengefunden wird in dem Buch des Lebens, so wird er mitsamt demTode, dem letzten Feind, der dann abgetan wird (1Kor 15,26),und dem Totenreiche in den »Feuersee« geworfen werden. Diesist der zweite Tod.

Wessen Name aber noch gefunden wird im Buche des Lebens,sei es, dass er zu jenen gehört, die Christus in den Seinen gedient(Mt 25,31–46), oder sei es, dass er der Gerichtszeit am Ende desvergangenen Zeitalters durch Buße und Bekehrung entrann undnun nach den tausend Jahren zur zweiten Auferstehung gerufenwird, oder sei es, dass er während der tausend Jahre auf der SeiteChristi verblieb, der wird noch mit Christus Leben und Lohngemäß seinen Werken empfangen. Mehr sagt die Schrift über dieErrettung der Menschen nicht.

Mögen andere es wagen, um ihrer Lieblingswünsche willen mitSchriftworten wie mit Börsenwerten zu spekulieren, mögen siedabei die in den »Feuersee« Geworfenen ewig vernichtet werdenoder zur Wiederherstellung aller Dinge aus dem Feuersee wiederherauskommen lassen: Ich will auch in der Weise unbeweglich inder Hoffnung des Evangeliums bleiben, dass ich diese Hoffnungweder über das Schriftwort hinaus verringere noch erweitere.Gottes Güte aber währet ewiglich.

Nun trägt uns die Hoffnung des Evangeliums zum Fernstenund Höchsten empor. Alles Gottwidrige in der Welt hat seinGericht empfangen und ist an seinen Ort gekommen, nun sollenauch Himmel und Erde, als Schauplätze des sündigen Gesche-hens im Gericht, geläutert und erneuert werden am »Tage Gottes«

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Wer wird an Entrückung und erster Auferstehung teilhaben?

(2Petr 3,10–13). In der Hoffnung des Evangeliums erwarten wirnach seiner Verheißung neue Himmel und eine neue Erde, in wel-chen Gerechtigkeit wohnt (Offb 21,1). Das Erste, die in Sündeund unter Fluch gekommene Welt, wird dann vergangen sein(Vers 4). Aber wunderbar! Diese erste Welt nahm ihren Anfangmit der Erschaffung des Himmels und der Erde und erreich-te ihren Gipfelpunkt in der Erschaffung des ersten Adam, dersie in Sünde brachte, die durch alle Adamiten hindurch drang(Röm 5,12) und der Schöpfung Tod, Gericht und endlich völligeAuflösung brachte. Die zweite Welt aber nahm gerade umgekehrtihren Anfang mit dem letzten, dem zweiten Adam, der als derrettende Lebensbringer von oben her erschien, dass er die Sündeder Welt wegnehme und sein Geist lebenserneuernd in den Sei-nen wohne und wirke, um die Herrschaft Satans auf Erden zustürzen und endlich sogar die Erneuerung der Himmel und derErde zu bewirken.

So wird Christus, auf dem Throne seiner Herrschaft sitzend,einst sprechen: »Siehe, ich mache alles neu!« (Offb 21,5). Die Hoff-nung des Evangeliums auf Erlösung der Welt von jeder Träne,von Tod, Trauer, Geschrei und Schmerz (Vers 4) wird dann über-schwänglich erfüllt sein. Alle gottfeindliche Herrschaft, Gewaltund Macht wird hinweg getan und alle Feinde werden ihm zuFüßen gelegt sein. Wenn ihm aber alles unterworfen sein wird,dann wird auch der Sohn selbst dem unterworfen sein, der ihmalles unterworfen hat, auf dass Gott alles in allem sei (1Kor 15,24–28). Dann wird Christus sein Reich dem Vater übergeben, undeine laute Stimme aus dem Himmel wird sagen: »Siehe, die HütteGottes bei den Menschen!« Die heilige Stadt, das neue Jerusalem(Offb 21), wird aus dem Himmel herniederkommen auf die neueErde, wie eine für ihren Mann geschmückte Braut. In dieser »Hüt-te Gottes« wird Gott »bei den Menschen wohnen, und sie werdensein Volk sein, und Gott selbst wird bei ihnen sein, ihr Gott«.Auf diese Wiedervereinigung Gottes mit den erlösten Menschenweisen alle Verheißungen der Heiligen Schrift hin. Auf dieseGottesstadt auf der neuen Erde richten sich alle Hoffnungsblickeder Erlösten. Denn unsere ewige Zukunft wird nicht im Himmel,sondern auf der neuen Erde im neuen Jerusalem sein, das dieHerrlichkeit aus dem Himmel haben wird.

Diese Herrlichkeit Gottes wird die goldene Stadt erleuchten,und ihre Leuchte wird das Lamm sein. In ihrem Licht werden

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Die Hoffnung des Evangeliums

die Völker wandeln, und die Könige der Erde werden ihre Herr-lichkeit zu ihr bringen. Welch ein Gottesleben auf der neuenErde wird das sein! Der »Strom des Lebens« wird die ewig neueGottesstadt durchfließen und der »Baum des Lebens« wird un-aufhörlich Frucht bringen, und die Blätter des Baumes dienen zurHeilung der Völker. Kein Verbanntes wird mehr sein; »und derThron Gottes und des Lammes wird in ihr sein; und seine Knech-te werden ihm dienen; und sie werden sein Angesicht sehen, undsein Name wird auf ihren Stirnen sein. Und es wird keine Nachtmehr sein und kein Bedürfnis einer Lampe und des Lichtes derSonne; denn der Herr, Gott, wird über ihnen leuchten, und siewerden herrschen in die Zeitalter der Zeitalter (Offb 22,1–7).

Oh selige Erfüllung der unvergleichlichen Hoffnung des Evan-geliums!

Ich bin zufrieden,dass ich die Stadt gesehn,und ohn Ermüden will ich ihr näher gehen.Und ihre hellen, goldnen Gassen,lebenslang nicht aus den Augen lassen!

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Die glückselige Bettelarmut im Geist

Glückselig die Bettelarmen im Geist, denn ihrer ist das Himmelreich!Glückselig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden!

Glückselig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land ererben!Glückselig die Hungernden und Dürstenden nach der Gerechtigkeit;

denn sie werden gesättigt werden!Glückselig die Barmherzigen, denn sie werden

Barmherzigkeit erlangen!Glückselig die Reinen im Herzen, denn sie werden Gott schauen!

Glückselig die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes heißen!Glückselig die Verfolgten wegen Gerechtigkeit, denn

ihrer ist das Himmelreich!Matthäus 5,3–10

Bleibendes Glück unserer Seele als himmlische Gottseligkeit istder Sinn des Himmelreichs und der Zweck aller irdischen Got-tesarbeit an uns. Was hindert uns, diese bleibende Glückseligkeitzu empfangen? Nichts als unser irrseliges Verbleiben im selbst-herrlichen Reich unseres Eigenwillens. Dem sicheren Glück derGottseligkeit steht hindernd gegenüber das zweifelhafte Glückder Ichseligkeit. Darum können nur die den Glücksreichtum der Gott-seligkeit gewinnen, die den Scheinreichtum der Ichseligkeit preisgeben.Die Reichen im eigenen Geist müssen zu Bettlern im Geist Got-tes werden. Anstelle der selbstgefälligen Ichbejahung muss dieGott wohlgefällige Jesusbejahung treten. Aus Geistreichen in sichselbst will der Heilige Geist Bettelarme im Geist Gottes machen.Ihrer ist das Himmelreich.

Wer sind diese Glückseligen?

Es sind die Schwachen in sich selbst, die unaufhörlich Kraftaus der Höhe erflehen müssen. Es sind die Unmündigen in sichselbst, die als ewig Unselbständige unbedingt der himmlischenWeisheit bedürfen. Es sind die Einfältigen in sich selbst, dieunbegrenzt Gott in Christus glauben und vertrauen. Zu Söhnen

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Die glückselige Bettelarmut im Geist

Gottes geworden, werden sie aufs Neue wie die Kinder, dieallezeit nach ihres Vaters Angesicht schauen müssen.

Nichts ist dem Menschen fremder als dies. SelbständigkeitGott gegenüber ist das Wesen seines Abfalls von Gott. Starkseinin sich selbst scheint ihm der einzige Sinn seiner Gottebenbild-lichkeit. Mündig in sich selbst zu werden und auf die eigeneWeisheit zu bauen, gilt ihm als Ziel aller Aufklärung. Der Einfaltdes gläubigen Vertrauens recht vielfältige Zweifel im Verstan-de entgegenzusetzen, dünkt ihm Ausdruck seiner Kultur- undIchreife. Wahrlich, der erste Satz einer Glückseligpreisung desMenschen nach Menschenweisheit würde lauten: Glückselig dieReichen im Geist; denn ihrer ist die ganze Welt!

Nichts ist dem Menschen grausiger als jene Blöße und Leere,die die Bettelarmut im Geist bezeichnet. Dieses Grauen hat derMensch adamitisch ererbt. Es entspricht der tatsächlichen fürch-terlichen Verarmung unseres Geschlechtes seit seiner Loslösungvon Gott. Solange es der Mensch wagt, seine eigene Größe nebender Größe Gottes aufzurichten, will sein ichstolzes Streben dieentstandene Blöße zudecken und die qualvolle Leere zu füllensuchen. Nur nicht vor sich selbst und vor Gott und Menschenzum Bettler werden! Das ist der allgemeinste Grundsatz allesmenschlichen Betragens. Es gibt keine schnellere Tat des Men-schen als die, seinen Eigenwert zu retten. Viel weniger schnellsucht er Leben und Eigentum zu retten.

Die ichverliebte Ichgröße will nimmermehr sich selbst preis-geben. Die menschliche Moral nennt das »Selbstachtung«; es istaber nur die geläufige Verachtung der alleinigen Größe Gottes.Der Standesdünkel reckt sich, der Gelehrtendünkel bläht sich,der Gelddünkel überhebt sich, der Tugenddünkel spreizt sich,der Demutsdünkel spiegelt sich. So sind sie alle viel zu groß undzu breit, zu reich und zu stolz im eigenen Geist, als dass sie inWahrheit Bettler im Geist werden und ein anderes Himmelreichbegehren könnten als das ihres selbstherrlichen Eigenwillens.Und so bleiben sie um ihres vermeintlichen Geistesreichtumsund Ichglücks willen im Banne ihrer inneren Unglückseligkeit;denn nie wird ihrer das Himmelreich. Eingeschlossen in ihreIchseligkeit, haben sie sich selbst ausgeschlossen von der Gott-seligkeit. Darum aber gilt ihnen: Unglückselig die Reichen imIchgeiste; denn ihrer ist die Qual auf Erden!

Aber selbst im Kinde Gottes bleibt noch ein Grauen vor den

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Wer sind diese Glückseligen?

Untiefen der Bettelarmut im Geist. Nur wenige wollen wirklichin Einfalt Schwache und Törichte Gottes werden. Wohl nennenwir uns gerne schwach, wenn es sich darum handelt, den WillenGottes zu tun, aber wie geradezu unbändig stark können wirim Trotz des Eigenwillens sein! Wohl haben wir uns mit unsererBekehrung eine gewisse Entmündigung durch Gott unseren Vaterund Jesus unseren Herrn gefallen lassen, aber versuchen wir nichttausendfach ein gewisses Reich der ichherrlichen Selbständigkeitgegenüber der Herrschaft des Reiches Gottes zu behaupten undzu retten?

Wohl preisen wir auch unsere Einfalt in Christus (2Kor 11,3),aber wie oft wird unser gläubiges Vertrauen noch verdorbendurch die Einmischung unserer zweifelnden Vernunftschlüsse?Ganz schrecklich ist unser angeborenes Widerstreben, will unsder Heilige Geist tiefer und völliger von uns selbst entleeren.Ganz unheimlich wird uns vor solch drohender Verarmung. Wieviel Schätze glaubt man da noch gegen Gottes Eingriff vertei-digen zu müssen. Ganz bettelarme Abhängigkeit von unseremVater im Himmel erfüllt uns bezeichnenderweise mit Bangig-keit, ja mit Entsetzen. Völlige Gottesherrschaft in unserem Lebenscheint uns unerträglich. Unsere restlose Entleerung von jederSelbstherrlichkeit kommt uns vor wie der beklagenswerteste Ver-lust und wie schauerliche Verödung. Es schwindelt uns vor derAusrottung jeder Ichseligkeit. So tief wirkt der Abfall von Gottin uns nach. So hoch haben wir unsere eigene Größe neben derGröße Gottes aufgerichtet. So voll sind wir noch der Lust an unsselbst im vermeintlichen Reichtum des eigenen Geistes.

Wir geben zu, arm und hilfsbedürftig geworden zu sein, aberals buchstäbliche Nichtskönner und Habenichtse wollen wir unsdoch noch nicht einschätzen. Wohl betteln wir notgedrungenbei Gott für unsere Bedürfnisse, aber als dauernd Bettelarme imGeist und im Fleische möchten wir doch nicht gelten; vielmehrsuchen wir, beladen mit Gottes Gaben, als Reiche in uns, vor unsund vor den Menschen zu erscheinen. Oh welch ein verteufelthoffärtiges Geschlecht sind wir doch!

Und eben dieses Laster der Ichseligkeit verlängert unsere Un-seligkeit. Nur weil wir noch immer den Kopf so hoch tragen unddie Schultern so stolz wiegen, scheint uns noch so oft ChristiJoch so rau und Christi Last so zentnerschwer. Nur weil wir nochso irrselig tief im scheinbaren Himmelreich unseres Eigenwillens

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Die glückselige Bettelarmut im Geist

drinsitzen, ist noch so wenig Glückseligkeit des HimmelreichsChristi in Erfüllung des Willens Gottes unser Teil geworden.

Keiner lebte bettelärmer als Jesus, der Sohn Gottes. Keinerging abhängiger von unserem Vater im Himmel über diese Erdeals er, der Erstgeborene unter vielen Brüdern. Keiner handelteunselbständiger als er. Wer vermag seine Bettelarmut im Geistauszudenken, wenn er vor Menschen bekennt: »Ich kann nichtsaus mir selber tun.« Nur was er bittend vom Vater als Redeempfing, sagte er, und nur, was er den Vater tun sah, tat er(Joh 8,28–29). Er hatte weder eigene Worte noch eigene Werke.Deshalb suchte er auch keine eigene Ehre.

In seinem ganzen Leben ist nichts Eitles zu finden, weil erweder Eigenes besitzen noch geben wollte. So unsagbar armkonnte er nur gehen, weil er so unsagbar genug an seinem Vaterhatte. Der Wille und das Reich des Vaters waren ihm die ein-zige Wirklichkeit, in der er lebte. So war er nicht von der Weltund konnte darum in der Welt als ärmster Fremdling wandeln.In dieser Niedrigkeit seiner Bettelarmut im Geist besaß er dashöchste Einssein mit dem Vater. Aber nie war dieses Einssein mitdem Vater eine billige Selbstverständlichkeit, sondern es bliebErgebnis seiner Selbstentleerung. Denn sehr wohl hätte er auchWorte aus sich selber reden sowie Taten aus sich selber tun undseine Ehre suchen können.

Dass er dies nie tat, lässt die Tiefe seiner Bettelarmut im Geistahnen, in der er lehrte und wirkte. Und nur so gefiel es derganzen Fülle der Gottheit, in ihm zu wohnen. Und hätte er insolch gottgewollter Selbstentleerung nicht Gefallen an sich selberhaben dürfen? Aber er gefiel sich nicht (Röm 15,3). Kein Hinter-grund zur geheimen Selbstbespiegelung war vorhanden. Welcheine tatsächlich bodenlose Selbstentleerung! In Gethsemane wur-de diese Bettelarmut im Geist unter Blutschweiß erneuert. AufGabbatha wurde ihre Ohnmacht mit Dornen gekrönt und mitSpeichelwürfen und Schlägen verhöhnt. Auf Golgatha ward siedurch die Schmach eines Verbrechertodes besiegelt. Bettelärmerist nie einer gestorben.

So gelang die Vollbringung des Gotteswerkes der Menschheitserlö-sung nur durch des Gotteslammes unvergleichliche Bettelarmut imGeist.

Seitdem haben die Menschen Gelegenheit, vor seinem Bildeund in seinem Geist zu Bettlern im Geist zu werden, um durch

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Worin besteht ihre Glückseligkeit?

ihn das Himmelreich zu empfangen. Glückselig die Erkennendenund Empfangenden! Ihnen ist der Odem der Selbstgefälligkeit vorseiner bettelarmen Niedrigkeit ausgegangen. Sie sind unter seinerAnführung aus der so trügerisch reich ausgestatteten Hölle ihrerSelbstherrlichkeit ausgegangen, um fortan außerhalb des Lagersder menschlichen Eitelkeit seine Schmach zu teilen. Verarmt insich selbst, sind die durch ihn und mit ihm reich geworden inseinem Geist und in der Herrlichkeit seines Reichs, das nicht vondieser Welt ist. Entleert in sich selbst, haben sie durch und mitihm die Fülle der Gottheit, die in ihm wohnt, als unerschöpflichreiches Gnadengut empfangen. Ihrer ist das Himmelreich.

Worin besteht ihre Glückseligkeit?

Sie sind glückselig, weil sie nicht mehr auf sich selbst angewiesensind. Sie haben sich durch Jesus an Gott verloren. Sie brauchennicht mehr durch und für ihr armseliges Ich zu leben. Sie habenihre fluchbeladene Selbständigkeit aufgegeben. Sie sind in diegesegnete Abhängigkeit von Christus getreten. Sie sind nichtmehr allein in der Welt. Ihre Gemeinschaft ist mit Gott dem Vaterund dem Sohn im Heiligen Geist. Sie wissen sich in Christuserwählt, errettet und ewig gesegnet und geborgen. Der Inhaltihres neuen Lebens heißt Christus. Er ist das ewige Glück ihrerSeele geworden.

Sie sind glückselig, weil sie nicht mehr von sich selber enttäuschtwerden können; denn sie haben den Glauben an ihr eigenes Kön-nen und Vermögen aufgegeben. Sie suchen keine Kraft mehrbei sich selbst. Als die Schwachen leben sie Augenblick um Au-genblick von der Kraft aus der Höhe. Im Besitz des bitterenaber heilsamen Wissens, dass in ihnen, das ist in ihrem Flei-sche, nichts Gutes wohnt, haben sie alle Selbstverbesserungs-und Selbstveredelungsversuche drangegeben. Vom Geist Gottesüberführt, überwunden und entwaffnet, sind sie, kampfunfähigin sich selbst, Gefangene Christi geworden. Nun hat er sie inseinen Dienst genommen und speist sie mit seiner Kraft. Starkzu werden in ihm und für ihn in der Macht seiner Stärke, das istdas Glück ihrer Seele, in dem sie alles vermögen durch den, dersie kräftigt zu jedem gottgewollten Wandel und Werk (Phil 2,13;4,13).

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Die glückselige Bettelarmut im Geist

Sie sind glückselig, weil sie sich nicht mehr selber zu führen brauchen.Sie suchen keine Weisheit mehr bei sich selbst. Als die Törich-ten gehen sie unmündig an der Hand ihres himmlischen Vaters,hören sie willig auf die Stimme des guten Hirten, lassen sie sichleiten vom Heiligen Geist. So sind sie der Angst und der Lust derWelt entnommen, dem Betrug und Verderben der Sünde entflo-hen und dem Fluche des peinigenden und tötenden Gesetzes unddem Zorne künftiger Gottesgerichte entronnen. Immer geringerzu werden in ihren Augen, um sich immer sicherer und herrli-cher, bedingungsloser und abhängiger der himmlischen Führungzu überlassen, damit der Wille Gottes durch sie geschehe, das istdas große Glück ihrer Seele.

Sie sind glückselig, weil sie alles, was ihnen widerfährt, kindlich undeinfältig aus ihres Vaters Hand nehmen und in dieselbe treue Handzurücklegen können. Sie brauchen sich nicht mehr in der Mengevieler Wege und vielfältiger unseliger Zweifel zu zerarbeiten. Siehaben solch selige Erfahrungen von der Güte ihres Gottes undder Treue ihres Heilandes gemacht, dass sie alle unkindlichenSorgen und Bedenken fahren lassen mussten. So wurde ihreLebensführung wunderbar vereinfacht und entlastet. Sie wissen,was sie wissen sollen, und haben, was sie brauchen müssen. IhrDenken und Handeln ist göttlich gradlinig und durchsichtiggeworden. In der zunehmenden Einfalt gegen Christus lerntensie alles immer klarer schauen und leichter tun. Sie haben dasEitle und Vergängliche preisgegeben und das Himmlische undEwige gewonnen. Dass sie ihrem Gott und Herrn aufs Wort hinunbegrenzt zu glauben und zu vertrauen vermögen, das ist dieGenesung und das bleibende Glück ihrer Seele.

Aber diese Glückseligkeit bleibt nur, solange man ein Bettlerim Geist bleibt. Wenige sind in einer gründlichen Bekehrung undbiblischen Buße bettelarm geworden, noch viel Wenigere sindes nachher geblieben. Nur auf der wachsamen Hut gegen jedeSpur von Ichseligkeit bleibt uns die Gottseligkeit. Nur solangewir nichts von uns, aber alles von Jesus erwarten, bleiben wirglückselig Besitzende. Sobald wir irgendwie wieder sicher undreich in uns zu werden beginnen, verfliegt die himmlische Glück-seligkeit und setzt die irdische Unseligkeit bald danach wiederein. Im Augenblick, wo wir im Einspruch gegen uns selbst er-matten, Christus praktisch aus- und uns selber einschalten, dasSeine lassen und das Unsere suchen, rufen wir die Qual unserer

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Worin besteht ihre Glückseligkeit?

Seele von neuem herbei. Jeder erneute Versuch, die alte Selbstän-digkeit wieder zu gewinnen, bringt das alte Elend wieder. Jedereigenwillige Schritt führt ins Unheil zurück. Nur das unaufhör-liche bettelarme Danken, Seufzen, Flehen, ja Schreien im Geistin Schwachheit, Unmündigkeit und Einfalt hält uns stark, weiseund froh. Nur auf der Bettlerstufe schmeckt uns das Gnadenbrotsüß. Nur auf dieser Stufe verlieren wir mit dem Rest von Stolzauch den Rest von Furcht vor einem solchen Leben in steterselbsterniedrigender Abhängigkeit.

Da allein lernen wir verstehen, dass die Schwachheit einesBettelarmen im Geist nicht Unbrauchbarkeit, sondern Vorausset-zung für jede Tauglichkeit für Gott ist. Hier nur erfahren wir,wie die Unmündigkeit der Bettelarmen im Geist nicht kindischeDummheit, sondern Grundbedingung für den Empfang undBesitz göttlicher Weisheit ist und bleibt. Und allein da begrei-fen wir, dass die Einfalt der Bettelarmen im Geist nicht plumpeBeschränktheit ist, sondern reifste Beschränkung auf das eineNotwendige hin, mit dem uns alles gegeben ist, was den Geistwirklich erleuchtet und die Seele ewig stillt. Dann weiß manauch, dass das Bettlertum im Geist kein eigenwilliges Kunststückund Versuchsspiel ist, sondern nur als bleibende Wende unseresLebens zur Erlösung gerät. Und so sieht man auch ein, dass dieBettelarmut im Geist allen nottut, den Hohen und Niedrigen,den Gebildeten und Ungebildeten; denn der Ichdünkel des Pro-fessors und der der Kuhmagd sind vor Gott wesensgleich undein unterschiedsloses Hindernis für den Empfang des Himmel-reiches, das in Christus Jesus allen nahe gekommen ist, damitjede Menschenseele bleibend glückselig werde.

Dem entspricht die nächste Seligpreisung: Glückselig die Trau-ernden; denn sie werden getröstet werden!

Die Glückseligkeit der Inhaber des Himmelreichs ist kein über-mütiges Jauchzen, sondern sie ist so ernst wie ihre Bettelarmut,die sie nur in Leiden und Schmerzen erleben konnten. Ihre Glück-seligkeit wurde aus der göttlichen Traurigkeit geboren, nämlichaus der schamvollen Betrübnis über die lachende Selbstherrlich-keit, in der man einstmals zu leben wagte und die nun in immerbußbereite Selbstverwerfung verwandelt worden ist. Ja, die steteTraurigkeit der Kinder Gottes über ihr angeborenes gottfeindli-ches Wesen, das immer wieder als selbstsüchtige Lust herrschendwerden möchte, ist und bleibt die Voraussetzung für ihre bleiben-

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Die glückselige Bettelarmut im Geist

de Glückseligkeit. Denn nur solange sie traurig über sich selberbleiben, bleiben sie fröhlich im Herrn. Nur in der strengen Zuchtgeistlicher Betrübnis über das eigene Wesen vermögen sie ihrSelbst zu verneinen und jedem Zierrat der Selbstgefälligkeit inGedanken, Wort und Tat zu entsagen. Nur die Trauer über ihrFleisch erhält ihnen den Trost des Geistes, um dessentwillen sieglückselig gepriesen werden.

Dieser stete Gegensatz ist bleibendes göttliches Reichsgesetz,solange ein Kind Gottes inmitten des irdischen Verderbens atmet.Denn obwohl Christi Reichsordnung, der Frohbotschaft entspre-chend, in Gestalt einer Seligpreisung gegeben wurde, so hates doch nie eine Bußpredigt mit gellenderem innerem Weherufgegeben als eben die so genannte Bergpredigt, die mit den Selig-preisungen beginnt und mit dem Wort vom »großen Fall« endet.Kein Wunder, dass das Volk damals am Schluss dieser Predigtsich über Jesu Lehre »entsetzte« (Mt 7,28). Es bewies damit mehrVerständnis für diese ichstürzende Gottesrede als unsere heuti-gen Pharisäer und Schriftgelehrten, die die Bergpredigt zu einergefälligen Moralpredigt für ichverliebte fromme Selbstentfaltungerniedrigt haben.

Ja, wehe dem Menschen, der angesichts dieser Seligpreisunges wagt, wieder an sich selber froh zu werden! Ja, wehe demirrseligen Lachen der in sich selbst Reichen; denn es wird inewige Trostlosigkeit verwandelt werden! Aber glückselig dieTrauernden über sich selbst, die im Gericht über ihre Selbstherr-lichkeit den Willen Gottes über sich erleiden; denn sie werdenüberschwänglichen Trost durch Christus haben! (2Kor 1,5).

Ihnen gehört auch die folgende Seligpreisung: Glückselig dieSanftmütigen; denn sie werden das Land ererben!

Nur die Bettelarmen im Geist, die in steter, schamvoller Trau-er über sich selber einhergehen, vermögen auch die wahrhaftSanftmütigen zu sein. Warum ist denn der Mensch grobmütig,anstatt sanftmütig zu sein? Weil sich jeder groß und reich in sichselber dünkt und in ichverliebter Freude etwas zu wissen und zukönnen glaubt. Nun will er sich auch anderen gegenüber so gel-tend machen. Darum muss er in selbstbewusstem Auftreten seineMitmenschen anfahren. Oder er muss in grober Gegenrede zubeweisen suchen, dass er auch noch da und nicht im Geringstengewillt ist, sich etwas gefallen zu lassen.

Grobmut ist und bleibt das plumpe Rüstzeug der menschli-

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Worin besteht ihre Glückseligkeit?

chen Selbstherrlichkeit. Solange der Mensch für sich selber sucht,muss er auch für sich selber herrschsüchtig, aufgeregt, gereiztund beleidigt streiten. Erst wenn er vor dem Bilde Jesu durchden Geist Christi zur Selbsterkenntnis, Selbstbeschämung undSelbstverwerfung gekommen ist, sich aufgegeben und Christusangenommen hat, vermag er sanftmütig zu werden. Bettelarm insich und tieftraurig über sich, ist er ein wahrhaft »Entrüsteter«geworden, der keine Schutz- und Trutz-Waffen für sein Ich mehrbraucht.

Er kann und will nichts mehr im Selbstvertrauen machen. Erhat sich und alle seine Angelegenheiten Jesus übergeben. Nunkann er zurücktreten, abtreten, hinter Jesus verschwinden, ihmtatsächlich in allen Dingen den Vorrang lassen und sprechen:Herr, mach du es! Du hast Weisheit! Du hast Kraft! Gib mirbeides! Lass mich nur in dir erscheinen! In dir geborgen! In dirverborgen! Eingehüllt in die göttliche Vollmacht deiner Sanft-und Demut! Lass mich so durch dich wirken, wie du durchden Vater wirktest! Und sollte ich gegen irgendwen zwei Strickezusammenflechten müssen, so lass es in heiliger Gottergebenheitund nimmermehr in Selbstherrlichkeit geschehen! Und habeDank, dass dir immer und überall der Sieg gehört!

Wer so durch Jesus mit den Menschen verkehren lernt, wirdsanftmütig. Und wie ist doch diese Sanftmut unvergleichlichanders geartet, als jene ichkluge, äußerliche Selbstbeherrschungdes auch in seinen Tugenden noch selbstherrlichen, ungläubigenKulturmenschen! Und nur diese bettelarme Sanftmut ist es, dieJesus glückselig preist; denn sie wird das Land ererben. Welcheine Torheit scheint dies der Weltweisheit, die da lebt und lehrt:Stemme dich! Recke dich! Gebrauche deine Ellenbogen! Zeige,wer du bist! Setze dich durch! Greif zu! Hau zu! Tritt zu! Dennnur so kannst du zu Besitz und Macht gelangen!

Aber die Grobmütigen und Gewalttätigen haben keine Zukunft.Nie wird Gewalt ihres Besitzes sicher. Stets muss sich Selbstsuchtgegen Selbstsucht wappnen. So im Leben der Völker wie imLeben der Familien und Einzelnen. Unglückselig die in GrobmutHerrschenden; denn sie werden alles verlieren! Wenn die Grobensich heiser geschrien haben, die Jähzornigen erschöpft sind, dieGewalttätigen leer ausgehen, werden die Sanftmütigen glückseli-ge Erben sein. Ihrer Bettelarmut wird alle Tage ein unentreißbarerBesitz verbleiben. Und ihnen, den Zurücktretenden, wird einmal

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Die glückselige Bettelarmut im Geist

die Herrschaft in Christi Friedensreich und danach die ewigeGottesstadt auf der Neuen Erde gehören.

Ihnen gilt auch die nächste Seligpreisung: Glückselig die Hun-gernden und Dürstenden nach der Gerechtigkeit; denn sie werdengesättigt werden!

Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit ist eine besondereForm der Bettelarmut im Geist. Zur Bettelarmut gehört der bittereMangel an eigener Gerechtigkeit, die vor Gott gelten könnte. Diestrotzende Fülle von Selbstgerechtigkeit, in der man früher lebte,ist vor dem einen Gerechten am Kreuz jäh oder allmählich innichts zusammengesunken. An ihre Stelle ist eine schmerzlicheLeere getreten, die eine Art geistliches Hunger- und Durstgefühlerzeugt hat. Es ist das Hungern und Dürsten der Bettler im Geist.Früher waren sie satt in sich selbst, jetzt quält sie die Leere in sichselbst. Sie bereitet ihnen mehr Pein, als jemals leibliches Hunger-und Durstgefühl bereiten können.

Sie darben im Lande der Menschen nach wirklich sättigenderGerechtigkeit, aber niemand gibt sie ihnen; denn niemand besitztsie. Sie haben sich an diesen und jenen Bürger des Landes, andiese und jene Parteirichtung und Weltanschauung gehängt, aberam Ende gingen sie immer leer aus. Nicht in sich noch umsich irgendwelche vor Gott zulängliche Gerechtigkeit! WelchVerhungern und Verschmachten in dürrer Wüste!

Nun soll die Pein ihres Hungerns und Dürstens nach derGerechtigkeit in Glückseligkeit verwandelt werden; denn siesollen satt werden! Die Qual ihrer Leere trieb sie endlich undendgültig zu dem hin, der ihnen zugerufen hat: »Ich bin das Brotdes Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; undwer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten« (Joh 6,35).Nun sehen sie den himmlischen Speisemeister recht, von demPaulus, der ehemalige Pharisäer, schreiben musste: »Den, derSünde nicht kannte, hat Gott für uns zur Sünde gemacht, aufdass wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm« (2Kor 5,21).

Das also ist ihre glückseligmachende Sättigung: Gott schenkteihnen, den Bettelarmen an Gerechtigkeit, seine eigene Gerech-tigkeit in dem einzig Gerechten, der für die Ungerechten starb.Nichts, nichts konnte ihren Hunger und Durst nach Gerechtigkeitstillen, als die Liebeshand Gottes, die des eigenen Sohnes nichtgeschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben hat, damit uns

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Worin besteht ihre Glückseligkeit?

durch ihn jeder Hunger und Durst des Geistes nach der göttlichzureichenden Gerechtigkeit gestillt werde.

Oh wie glückselig macht diese Sättigung mit Gerechtigkeitvom Himmel her! Aus der Gnadenfülle der Gottheit in JesusChristus leben! Sich nur noch vom allgenügsamen Wesen desGesalbten Gottes nähren!

Wer Dich hat,ist still und satt.

Entwöhnt den irrseligen Bestrebungen des Geistes und der Seele,nur noch ein Begehren pflegen: Jesus!

Was ich mehrals Dich begehr,kann mein Seligsein nur hindernund den Frieden mindern.

Das ist die tiefste Stillung unserer Seele: Ihre glückseligmachendeSättigung mit dem Fleisch und Blut des Gotteslammes, mit demGeist und Leben des Lebensfürsten.

Aber wunderbar! Diese glückseligmachende Sättigung bleibtnur, solange das bettelarme Hungern und Dürsten nach ihmbleibt. Nur solange ich leer an eigener Gerechtigkeit die Qual desHungerns und Dürstens nach seiner Gerechtigkeit wie ein stetesLeibgrimmen in mir trage, füllt die glückselige Sättigung mit ihmmeine Seele aus. Sobald das schmerzliche Hungern und Dürstenaufhört, hört die glückselige Sättigung auf. Nur im Begehrennach ihm liegt die Sättigung durch ihn.

Wehe mir, wenn ich wie ein Pharisäer je wiederum satt würdean meinem eigenen Bilde! Wehe mir, wenn ich wie ein Laodizäersatt würde der Sättigung durch die Gnade! Wehe mir, wenn ichals ein irgendwie Übersättigter die hungernde und dürstendeBettelarmut verlöre! Wehe jeder satten Selbstgenüge! Wehe jedemichtrunkenen Berauschtsein! Wehe jeder scheinbaren Nüchtern-heit, die nichts bedarf als sich selbst! Wehe den Lauen, in derenEingeweiden kein Hungern und Dürsten mehr brennt! Unglück-selig alles satte Behagen; denn es wird in feurige Pein verwandeltwerden, und keine nasse Fingerspitze wird die Qual mindern!Unglückselig alle, die da einen Vorrat zu haben glauben auf vieleJahre; denn in dieser Nacht wird ihre Seele von ihnen gefordertwerden, und was wird es sein, das sie erarbeitet haben? Ja, un-glückselig jede ichkluge Vorsicht, die vom Schatz des eigenen

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Die glückselige Bettelarmut im Geist

Wesens zu leben trachtet, anstatt vom Blutopfer der Liebe Gottesauf Golgatha!

Hören wollen wir die harte Rede des scharfen Gegensatzes mitbebendem Herzen:

Nur in der ewigen Ungenüge an uns haben wir dievolle Genüge in Ihm.

Nur zerfallen mit uns, werden wir auferbaut in Ihm.Nur getrennt von uns, bleiben wir vereint mit Ihm.Nur im bettelarmen, zehrenden Darben auf dem

Trümmerhaufen des Reiches unserer eigenenpharisäischen Gerechtigkeit empfangen wir dieglückselige Sättigung mit der Gerechtigkeit desReiches Gottes.

Dieser unerbittlichen Gottesordnung entspricht die folgende Se-ligpreisung: Glückselig die Barmherzigen; denn sie werden Barmher-zigkeit erlangen!

Die von sich selber voll sind, sind auch voll Unbarmherzigkeit.Wären der Priester und der Levit Bettler im Geist gewesen, sowären sie nimmermehr an dem unter die Mörder Gefallenenvorübergegangen. Aber so wussten sie gar nicht, was Barmher-zigkeit ist; denn sie selber hatten nie welche nötig gehabt. Nurdie Bettelarmen im Geist, als die Traurigen über sich selbst undSanftmütigen gegenüber den Menschen und allezeit Hungern-den und Dürstenden nach der Gerechtigkeit, können auch diewirklich Barmherzigen sein. Nur sie wissen, was Barmherzig-keit ist; denn sie leben ja Augenblick um Augenblick aus demewigen Erbarmen Gottes, das alles Denken übersteigt, aber ihrganzes Herz erfüllt. Nur wer bettelarm in sich selbst zum KreuzeChristi gekommen ist, wo sich das ewige Erbarmen Gottes zuverlorenen Sündern neigt, kennt das Wesen der Barmherzigkeit,um es wieder- und weitergeben zu können. Nur die betrübt undgedemütigt hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, könnenauch anderen die Gerechtigkeit Gottes als tätige Barmherzigkeitnahebringen. Sie allein verstehen, wie denen zumute ist, die derBarmherzigkeit bedürfen.

Da ist kein vornehmes Herablassen mehr, das durch häufigesGutestun den Eigenwert steigern und die Selbstherrlichkeit er-höhen möchte. Von solcher pharisäischen Barmherzigkeit ist ja

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Worin besteht ihre Glückseligkeit?

die Welt voll, und wie liegt diese heuchlerische Welt dabei imArgen! Jene Pharisäer ließen vor sich her posaunen, wenn sieAlmosen gaben, die heutigen Pharisäer lassen meist hinter sichher posaunen, wenn sie ihre Gabe in irgendeinen Gotteskastenhaben fallen lassen. Und die geriebenste Art dieser pharisäischenBarmherzigkeitsübung ist die, stillschweigend das Gute, wie mansagt, um des Guten willen oder gar um Gottes willen zu tun, sichaber dabei durch die geheime Erhöhung des Selbstbewusstseinsmit innerlichem Ruhm vor sich selbst zu belohnen.

Die aber wahrhaft Bettelarme im Geist sind, meinen, wenn sieBarmherzigkeit üben, nur den Ruhm der Barmherzigkeit Gottes.Denn obgleich sie vor Gott nur im irdischen Bettlergewande zuerscheinen wagen, so sollen sie vor Menschen doch im Himmels-kleide göttlicher Erbarmung einhergehen, wie Paulus schreibt:»Zieht nun an, als die Auserwählten Gottes, Heiligen und Gelieb-ten, herzliches Erbarmen . . . « (Kol 3,12). Gleichwie auch ihresMeisters irdisches Bettlergewand sich ins reiche Himmelskleidgöttlicher Erbarmungen verwandelte, wenn er in Niedrigkeit um-herzog und doch allenthalben so überreich wohl tat (Apg 10,38),damit sie glauben sollten, dass der Vater ihn gesandt habe, sopreist das vom Himmel gekommene Erbarmen die bettelarmenBarmherzigen glückselig; denn sie werden Barmherzigkeit erlan-gen.

Es gibt viele »Gläubige«, denen Glückseligkeit mangelt. Siesind noch zu reich und zu groß in sich selbst. Vor allen Dingenfehlt ihrem Glaubensleben der göttliche Ausweis tätiger Barmher-zigkeit. Ihr ganzes Wesen ist frömmelnde Selbstsucht. Kein Wun-der, dass sie über mangelnde Glückseligkeit jammern müssen.Bis über die Ohren stecken sie im ichverengten, anspruchsvollenEhrgeiz oder im erbarmungslosen kalten Geldgeiz. Wie einenRaub möchten sie auch das göttliche Erbarmen an sich reißen,um darin glückselig zu sein, ohne selbst barmherzig zu sein. Gottsei Dank, dass es ihnen nie gelingen kann! Unglückselig, dieharten und verschlossenen Herzens sind; denn kein ErbarmenGottes geht in sie hinein! Nichts Bedauerlicheres als solche hart-herzigen, selbstsüchtigen »Frommen«! Ich habe es wiederholterlebt, dass solche aus Krankheit und Schwermut herauskamenund ihre Angehörigen sich bekehrten, sobald sie zu Bettelarmenim Geist und damit zu Barmherzigen geworden waren, die nunBarmherzigkeit empfangen konnten. Gilt es dir, du unglückse-

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Die glückselige Bettelarmut im Geist

liges Gotteskind, so gehe hin und tue desgleichen! Im rechtenKommen zu Jesus hast du dann Barmherzigkeit empfangen, inder rechten Nachfolge Jesu gibst du die empfangene Barmherzig-keit wieder und weiter, und neue Barmherzigkeit wird dir, demGlückseligen, folgen dein Leben lang.

Das führt zur nächsten, reichsten Seligpreisung: Glückselig dieReinen im Herzen; denn sie werden Gott schauen!

Denn mit dieser Seligpreisung erhebt sich die Rede Jesu zuihrer höchsten Höhe. Des Herrn Aussprüche folgen ja nicht zu-sammenhanglos aufeinander, sondern ergeben sich folgerichtigauseinander. So wie nur der Bettelarmut im Geist die rechte Trau-er über uns selbst entquillt, so fließt aus dieser steten göttlichenBetrübnis die rechte Sanftmut den Menschen gegenüber. Solcheleidende, duldende Sanftmut aber gebiert ein brennendes Hun-gern und Dürsten nach der Gerechtigkeit, das sich auswirkenmuss in tätiger Barmherzigkeit. Und solche Barmherzigkeit, dieBarmherzigkeit empfängt, dient der Läuterung unseres Wesensund Reinigung unseres Herzens bis zur Klarheit der Gottesschau.

Es gibt eine Reinigung unseres Herzens schon durch das wil-lige Hören der Worte Jesu. Sie bewirken eine Klärung unsererGedankenwelt und Läuterung unserer Gefühlswelt. »Ihr seidschon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe«(Joh 15,3; Eph 5,26). Eine gründlichere Reinigung unseres Her-zens ist die Reinigung durch das Blut Jesu. Es brachte uns dieVergebung unserer Sünden durch Gott (Mt 26,28; 2Kor 5,19–21)als Reinigung unseres Gewissens von den toten Werken (He-br 9,14).

Der bußfertigen Annahme dieser Reinigung durch das BlutChristi entspricht die Reinigung unseres Herzens durch denGlauben (Apg 15,9). Die Heilige Schrift redet aber auch noch voneiner dritten Art von Reinigung, die wir, nachdem wir gläubiggeworden sind, selbst zu besorgen haben. Es ist die fortlaufendeReinigung von jeder Befleckung des Fleisches und des Geistes zurVollendung unseres Geheiligtseins in der Furcht Gottes (2Kor 7,1)und zur Verwirklichung der Hoffnung auf unsere Gleichgestal-tung mit Christus (1Joh 3,3)2. Das ist die Reinigung, derer wirbedürfen, um als Reine im Herzen in Glückseligkeit Gott schauenzu können.

2 Siehe Kapitel 6: »Unsere Umwandlung in das Bild Christi«

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Worin besteht ihre Glückseligkeit?

Es ist diese Reinigung gleichbedeutend mit dem Wandel imLichte und im Geist, wovon der Herr und die Apostel so dringlichreden (Joh 8,12; 11,9–10; 12,35–36; Gal 5,16 und 25; Eph 5,8–14;1Joh 1,7). Und sie besteht darin, jeden Gedanken, jedes Wort,jede Tat, die nicht mit dem Geist und der Gesinnung Christiübereinstimmen, im Licht des Wortes und Angesichtes Christi alsBefleckung belichten und richten zu lassen, um im Blute ChristiReinigung zu empfangen.

Eben dazu gehört der bleibende Wandel im Licht; denn inder Finsternis sieht man keine Flecken. Wer das Licht scheutund diese fortlaufende Reinigung von jeder geschehenen Befle-ckung versäumt, betrübt den Heiligen Geist, der uns stets vorjeder Befleckung zu warnen und nach geschehener Befleckungzu überführen sucht (Eph 4,30). Wer dies tut, bekommt aberauch trübe Augen des Herzens (Eph 1,18), durch die kein Lichtmehr eindringen kann. Denn die sich anhäufenden Befleckun-gen bedecken und verdüstern unsere Herzensaugen, wie Staubund Schmutz Fensterscheiben bedecken und blind machen. KeinLicht vermag sie mehr voll zu durchdringen, sondern offenbartnur ihren hindernden Schmutz. So sind die ungereinigten Her-zensaugen; wie soll man durch sie Gott schauen können?

Also ist es nötig, Augenblick um Augenblick in wachsamerGlaubensbetätigung die Herzensaugen sauber zu halten, damitder Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im An-gesichte Christi (2Kor 4,6) in unsere Herzen hinein- und auchwieder heraus zu leuchten vermag. Und je mehr wir so, im Lichtevorwärtsschreitend, diese fortlaufende Selbstreinigung unseresHerzens treulich besorgen, desto mehr werden wir bei zunehmen-der Lichtshelle befähigt werden, immer mehr auch die kleinstenund noch kleineren Befleckungen wahrzunehmen, um uns auchvon ihnen zu reinigen. Und genau in dem Maße, wie dies ge-schieht, werden wir immer klarer, immer glückseliger Gott zuschauen und seine Lichtträger in dieser argen Welt zu sein ver-mögen. Denn nicht nur werden wir uns in solchem Lichtswandelvon jeder Befleckung reinigen lernen, sondern wir werden beiimmer reichlicherer Lichtshelle auch immer besser Befleckungenvermeiden lernen. Alles aber, was im Licht offenbar wird, wirdin Licht verwandelt (Eph 5,13). So werden wir im Licht selbst zuLicht.

Der Zusammenhang zwischen der Bettelarmut im Geist und

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Die glückselige Bettelarmut im Geist

der fortschreitenden Reinigung unseres Herzens im Licht isteinleuchtend. Der willige Wandel im Licht macht uns in unsselbst immer ärmer. Immer mehr erkennen wir da unsere ange-borene finstere Natur und ihre grenzenlos zahlreichen unreinenÄußerungen. So werden wir in unseren eigenen Augen immerunreiner in uns selbst und folglich immer bettelärmer. Das ver-mehrt aber unsere Traurigkeit über uns selbst; diese aber bändigtuns zur Sanftmut. In dieser aber steigert sich unser Hungernund Dürsten nach der Gerechtigkeit. Das aber leitet uns hin zumDienste der Barmherzigkeit. Und gerade in diesem Dienste wirdunser Herz von den Schandflecken der Selbstsucht und dem gan-zen beschmutzenden Laster der Ichseligkeit gereinigt. So alleinlernen wir Gott schauen. Nur die Bettler im Geist wohnen vorseinem Angesicht. Nur sie sind es, die nicht ruhen, bis sie reich,froh, sanft, satt, gerecht, barmherzig und rein geworden sind vorseinem Throne und nach seinem Bild in Christus Jesus.

Wehe aber den Reichen in sich selbst; denn sie bleiben die Unreinenin sich selbst! Unglückselig, die mit beflecktem, hoffärtigem HerzenGott gleich werden wollen; denn nie wird ihr Fuß ein Perlentor derGottesstadt berühren! Gott teilt seinen Stuhl und seine Herrlichkeit nurmit den Bettlern!

Und seht nur, was er ihnen alle Tage schon gibt! Als Bettelarmeim Geist empfangen sie rundweg das Himmelreich. Es ist dasReich der Gottesherrschaft als Bereich der Gemeinschaft mit Gottdurch Jesus Christus im Heiligen Geist. Als Trauernde empfangensie die Tröstungen dieses Reiches. Als Sanftmütige werden siedas Erdreich besitzen; also haben sie schon Himmel und Erdezugeteilt bekommen. Als Hungernde und Dürstende werden sieGottes eigene Gerechtigkeit zu ihrer Sättigung bekommen. AlsBarmherzige werden sie die Fülle der göttlichen Barmherzigkeiterlangen. Und als die Reinen im Herzen wird ihr leuchtendesHerzensauge Ihn selbst, Gott, schauen. Wahrlich, um solchenGnadengutes einer bleibenden Glückseligkeit willen können sieals »Entwöhnte« an Jesu Brust (Ps 131) auf jedes »Obst der Seele«(Offb 18,14) verzichten, das in den fluchbeladenen Lustgärtendieser Welt gewachsen ist! Und wie es reich beschenkten Bettlerngeziemt, kommen sie aus dem Danken gar nicht mehr heraus.

Die folgende Seligpreisung drückt das Ergebnis dieses Reich-seins in Gott aus: Glückselig die Friedensstifter; denn sie werdenSöhne Gottes heißen!

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Worin besteht ihre Glückseligkeit?

Der Gott, den das erleuchtete Bettlerauge der Reinen im Her-zen schaut, ist der Gott des Friedens (1Thess 5,23; Hebr 13,20).Er ist in Christus ihr Vater. Aus ihm haben sie Leben und We-sen. So sind sie als Söhne seines Lichtes und Geistes Söhne desFriedens geworden. An dieser Eigenschaft erkennt man ihre Ab-stammung. Um ihrer Friedfertigkeit willen werden sie SöhneGottes genannt werden. Diese Ernennung birgt für sie eine neueGlückseligkeit. Sie dürfen das innerste Wesen ihres Vaters aufErden offenbar machen: Sie dürfen als Söhne Gottes und seinesReiches Friedensstifter auf dieser friedlosen Erde sein. Geradedarin erweisen sie sich als Inhaber des Himmelreichs und Trägerseiner Glückseligkeit.

Was ist denn die Ursache alles Streitens und Kriegens auf Erden?Nichts als der Mensch in der Ichgröße seiner Selbstherrlichkeit.Solange jeder eigenwillig sich selber lebt, solange muss auchjeder gegen Gott und Menschen streiten und kriegen. Solangeeiner seine Größe neben der Größe Gottes aufzurichten undgegen Gott und Menschen zu behaupten sucht, solange muss erauch ein friedloser Kämpfer für eigene Ehre, eigenes Ansehenund eigenen Ruhm sein. Solange du das Deine suchst, musst duauch das Deine verteidigen, und solange quält dich der Unfriededes Suchens und Fürchtens für dich. Und solange bleibst du einFriedensstörer auf Erden, von dem es heißen muss: Unglückseligdie Friedensstörer; denn sie werden als Söhne dieser Welt erkanntwerden!

Ihr Herz ist voll Dünkel, Ehrsucht, Habsucht, Neid, Hass, Ra-che, Unruhe, Sorge, Qual und Pein. Wo sie gehen und stehen,schäumen sie den Unfrieden ihres Herzens aus. Überall wollensie ichtrotzig ihrem Dünkel und ihrer Gier Thron und Land er-obern. Ihr anmaßendes und begehrliches Ich zur Geltung undzum Ausleben zu bringen, ist der einzige Trieb und das armse-lige Glück ihres Daseins. So ist die Erde voll des Streitens undKriegens, voll der Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit, voll desBlutvergießens; denn jeder nur vom Weibe Geborene trägt feinoder grob diese fluchvolle adamitische Kriegsart in und an sich.

Da sollen die Söhne Gottes, die vor dem Kreuze Christi in Buße,Bekehrung und Neugeburt den Sturz ihrer Ichgröße erlebt haben,ein »Same des Friedens« (Sach 8,12) auf dieser Erde sein. IhrFriede, den sie als göttliches Gnadengut in Bettlerherzen tragen,soll auf jedes Haus kommen, in dem sie wohnen oder in das sie

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Die glückselige Bettelarmut im Geist

eintreten (Mt 10,13). Als »Boten des Friedens« (Jes 52,7) sollensie die Friedenskunde von Jesus, dem Friedensfürsten, durchjede Stunde ihres Lebens tragen, damit die, die den »Weg desFriedens« (Lk 1,79; Röm 3,17) nicht kennen, ihn finden durchsie. Soviel an ihnen ist, leben sie mit allen Menschen in Frieden(Röm 12,18); denn sie suchen nicht das Ihre, sondern das, wasJesu Christi ist (Phil 2,21); denn sie lieben ihre Feinde, sie segnen,die ihnen fluchen, tun wohl denen, die sie hassen, beten für die,die sie beleidigen und verfolgen (Mt 5,44–45), und um dieserFriedfertigkeit willen werden sie Söhne ihres Vaters heißen; darinbesteht ihre Glückseligkeit.

Aber was ist denn das Geheimnis ihres Friedens?Es ist ihr bettelarmes Ruhen in der Gnade Gottes in Christus

Jesus. Es ist ihr glückseliges Ausruhen von sich selber, von je-dem eigenwilligen Denken und Wirken. Es ist ihre bettelarmeAbhängigkeit von Christus, ihrem Herrn und Haupte. Der FriedeGottes, als Wesen ihres Vaters, bewahrt ihr Herz und ihren Sinn(Phil 4,7), und der Friede Christi, als Wesen ihres Herrn, regiertin ihrem Herzen (Kol 3,15). Aber sie behalten diesen Friedennur, solange sie in wachsamer Glaubensbetätigung sich selbstverneinen und Jesus bejahen. Das bedeutet den steten Einspruchgegen jede Selbstgefälligkeit, die stete Preisgabe jeder Selbst-herrlichkeit, die stete Abweisung jeder lüsternen, selbstischenBegier. Mit einem Wort: So bettelarm im Geist sie wandeln, soreich leben sie im Frieden. Vielmals bei Tag und Nacht jubeln sie:»Mir ist Erbarmung widerfahren«, seufzen sie: »Ach, mein HerrJesu, wenn ich dich nicht hätte«, bekennen sie: »Ich kann alleinnicht gehen, nicht einen Schritt.« Aber all dies Jubeln, Seufzen,Bekennen ist wie hehres Säuseln des Geistes durch den stillenPalmenhain ihres Friedens.

So kommen wir zur letzten Seligpreisung: Glückselig die Ver-folgten wegen Gerechtigkeit; denn ihrer ist das Himmelreich!

Am Ende werden die Verfolgten wegen Gerechtigkeit glück-selig gepriesen. Und so gehört es sich. Denn Verfolgung ist dieletzte, eine große Antwort der in sich selbst reichen, kriegsstar-ken Weltkinder auf die Bettelarmut im Geist der friedfertigenGotteskinder. Warum denn? Nun, weil ihnen auf die Dauer dieBettelarmen im Geist als unerträgliche Fremdlinge erscheinenmüssen. Und das ist kein Wunder. Wer unter den Geistreichendie Bettelarmut im Geist begehrt, wer unter den Ichverliebten

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Worin besteht ihre Glückseligkeit?

in Trauer über sich selber geht, wer unter den Grobmütigen alsSanftmütiger dasteht, wer unter den Selbstgerechten nach GottesGerechtigkeit hungert und dürstet, wer unter den Unbarmher-zigen Christi Barmherzigkeit übt, wer unter den Unreinen imHerzen in Herzensreinheit Gott schaut, wer unter den Friedestö-rern als Friedensstifter und Kind Gottes erscheint, der hat keinBürgerrecht und findet keinen Platz mehr in dieser Welt. Ihmgilt: Hinweg mit diesem! wie es dem Meister galt!

Denn des Gotteskindes Bettelarmut im Geist straft der Welt-kinder Geistreichsein, seine Trauer über sich selbst beleidigtihre Ichverliebtheit, seine Sanftmut schlägt ihren Grobmut, sei-ne Gerechtigkeit aus Gott empört ihre Selbstgerechtigkeit, seinewahrhaft geistliche Barmherzigkeit ihre pharisäische Unbarm-herzigkeit, seine gottschauende Herzensreinheit ihre gottferneHerzensunreinheit, sein Gottesfriede ihren Unfrieden. Das setztZwietracht und schließlich Verfolgung. Zunächst im Familienle-ben, endlich im ganzen Kulturleben. Je mehr die SeligpreisungenJesu zur Geltung gelangen, desto mehr wird auch die Verfolgungder in Jesus Glückseligen Tatsache werden.

Beides wird gegen das Ende dieses Zeitalters hin schnell her-anreifen. Die Scheidung vollzieht sich bereits vor unseren Augen.Hier Menschengeist, hier Gottesgeist. Hier geistreicher Ichdünkel,hier Bettelarmut im Geist. Hier ich- und kulturseliger Welttaumel,hier gottgemäße Betrübnis zur Buße. Hier stolzer Kraftrausch,hier selbstverneinende Sanftmut. Hier ruhmredige Selbstgerech-tigkeit der Einzelnen, der Parteien und der Völker, hier GottesGerechtigkeit bei den Hungernden und Dürstenden nach Gott.Hier zunehmende, selbstsüchtige Herzensverhärtung trotz zu-nehmender »Liebes-« und »Sozialarbeit«, hier stille, wirklicheBarmherzigkeit. Hier Herzensverrohung, hier Herzensreinigung.Hier Selbstverblendung, hier Gottesschau. Hier Krieg, hier Frie-den.

Immer mehr wird man Jesu Seligpreisung der Bettelarmut imGeist als ein Verbrechen gegen die Kultur empfinden. Immermehr wird man die Träger dieser Bettelarmut als Kulturfeindebezeichnen. Völker, die jetzt widereinander im Kriege liegen,werden sich bald wieder miteinander vertragen. Ihre so genann-ten gemeinsamen Kulturinteressen werden sie wieder vereinen.Aber ein Volk wird man je länger desto mehr als den eigentlichengemeinsamen Feind herausfühlen; es wird das Volk Gottes sein.

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Die glückselige Bettelarmut im Geist

Wie gegen eine erlittene Beschimpfung wird man sich gegen ihreRede vom »Armen Sündertum« auflehnen. Wie eine hochmütigeVerachtung des hohen Menschengeistes und seiner großartigenKulturleistungen wird man die Ablehnung der menschlichenSelbsterlösung durch Kulturentfaltung und die Leugnung eineskommenden Reiches menschlicher Gerechtigkeit auffassen. Wieein Mann wird man sich zuletzt gegen das Wort vom Kreuz,gegen das für unsere Sünden vergossene Blut des Gotteslammesempören und den Sohn Gottes mit Füßen treten. Dann wirdGottes Wort vollends zerfetzt und Gottes Volk der Verfolgungpreisgegeben werden.

Aber dann wird für die Bettelarmen im Geist eine Glückse-ligpreisung anheben, die der ihres Herrn gleichen mag, als eram Kreuze seinen Geist in seines Vaters Hände befahl, und diediejenige des Stephanus sein wird, als er den Herrn im Himmelschauend ausrief: »Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!« Denndie Verfolgung am Ende dieses Zeitalters wird der am Anfangdieses Zeitalters gleichen. Und wie damals werden die Bettelar-men im Geist, die nur stark sind, wenn sie schwach sind, in ihrerallergrößten Armut und Schwäche auch wieder das allergrößteWohlgefallen haben an Schwachheiten, an Schmähungen, an Nö-ten, an Verfolgungen, an Ängsten, ja Todesängsten für Christus(2Kor 12,10).

Denn wie damals werden auch dann wieder die Bettelarmenim Geist glückselig sein und bleiben, weil weder Verfolgungs-noch Todesnot ihnen das Eine zu entreißen vermag, das sie zuerstund zuletzt glückselig macht, nämlich das ihnen durch Jesu Toderworbene Himmelreich.

Tief bedeutungsvoll ist es, dass unser Herr die Bettelarmen imGeist und die wegen Gerechtigkeit Verfolgten in gleicher Weiseum des Himmelreichs willen glückselig preist. Das will sagen:Die Bettler im Geist behalten am Ende, als wegen GerechtigkeitVerfolgte, soviel als sie schon am Anfang hatten; denn ihre Bet-telarmut ist nimmermehr arm zu machen: Ihrer ist und ihnenbleibt das Himmelreich.

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