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Page 1: Vorlesung Entwicklungspsychologie I Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie J. Gowert Masche 26.04.2006

Vorlesung Entwicklungspsychologie I

Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie

J. Gowert Masche26.04.2006

Page 2: Vorlesung Entwicklungspsychologie I Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie J. Gowert Masche 26.04.2006

Semesterüberblick26.04.: Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie10.05.: Vorgeburtliche Entwicklung, Entwicklung von

Wahrnehmung und Psychomotorik17.05.: Frühe Eltern-Kind-Interaktion, Bindungstheorie24.05.: Soziale Kognition31.05.: Kognitive Entwicklung nach Jean Piaget07.06.: Begriffliches Wissen, Problemlösen14.06.: Lerntheorien21.06.: Motivation, Emotion, Handlungsregulation05.07.: Entwicklung unter ökologischer Perspektive12.07.: Familienentwicklung19.07.: „Zurück zur Natur“: Biologische

Entwicklungsgrundlagen

Page 3: Vorlesung Entwicklungspsychologie I Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie J. Gowert Masche 26.04.2006

26.04.: Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie

• Gegenstand und Geschichte der Entwicklungspsychologie

• Beschreibende Entwicklungsbegriffe• Entwicklungspsychologie der

Lebensspanne• Arten von Entwicklungstheorien• Erklärende Entwicklungsbegriffe

Page 4: Vorlesung Entwicklungspsychologie I Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie J. Gowert Masche 26.04.2006

Gegenstand und Geschichte der Entwicklungspsychologie

Page 5: Vorlesung Entwicklungspsychologie I Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie J. Gowert Masche 26.04.2006

Gegenstand: Entwicklungsbegriffe• Traditioneller Entwicklungsbegriff:

– Veränderungsreihe mit mehreren Schritten– qualitativ, strukturell statt quantitativ– Richtung auf höherwertigen Endzustand– Veränderungen aufeinander aufbauend– alterskorreliert– unumkehrbar (irreversibel)– universell, nicht kulturgebunden

• Kritik: zu viele wesentlichen Themen ausgeschlossen• Moderner Entwicklungsbegriff (Hans Thomae, 1959):

– Reihe von Veränderungen– miteinander zusammenhängend– „bestimmten Orten des zeitlichen Kontinuums eines individuellen

Lebenslaufes zuzuordnen“• Traditioneller Begriff erlaubt allgemeine Beschreibung; moderner

Begriff Erklärung von Entwicklungsunterschieden und der Wechselwirkung zwischen Person und Umwelt

Page 6: Vorlesung Entwicklungspsychologie I Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie J. Gowert Masche 26.04.2006

Beispiele von Fragestellungen• Normatives Wissen: Welche Fertigkeiten,

Entwicklungsprozesse, Krisen usw. sind in welchem Alter zu erwarten?

• Interindividuelle Unterschiede: Geschlecht? Kultur? Bedingungen für Unterschiede? Prävention?

• Erstellen von Entwicklungsprognosen• Auswirkungen von Entwicklungsbedingungen (z. B.

Scheidung), kurz- und langfristig, Timing von Bedingungen (z. B. Menarche)

• Planung und Evaluation (Bewertung) von Entwicklungsinterventionen

Page 7: Vorlesung Entwicklungspsychologie I Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie J. Gowert Masche 26.04.2006

Geschichte der Entwicklungspsychologie

• Erst im 17. Jhdt. Kindheit als psychologisch eigenständige Phase erkannt (Comenius, Locke)

• 18. Jhdt. „negative Pädagogik“ (Rousseau): Kinder nicht in Entwicklung stören

• Ab 18. und vor allem Ende 19. Jhdt. zunehmend Beobachtungsstudien (Tagebücher: Preyer, Scupin, Stern)

• vergleichende Kinderpsychologie: Entwicklung = Entwicklung der Art (Haeckel, 1886) oder Kultur (Hall, 1904)

• Erste Hälfte 20. Jahrhundert: normative Entwicklungsbeschreibungen, oft als Stufenmodelle

• Später Aufschwung der Erziehungs- und Sozialisationsforschung• heute: Modethemen Lebensspannenperspektive, neurologische

Entwicklungspsychologie

Page 8: Vorlesung Entwicklungspsychologie I Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie J. Gowert Masche 26.04.2006

Beschreibende Entwicklungsbegriffe

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Wachstum

• Quantitativer Begriff: Zunahme/Abnahme– mengenmäßige Zunahme, oder (weiter gefasst): zähl-

oder messbare Veränderungen– eindimensional

Page 10: Vorlesung Entwicklungspsychologie I Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie J. Gowert Masche 26.04.2006

Wachstum (2)• Problem: Quantifizierung setzt Identität der gemessenen

Variablen voraus ― die ist fraglich.– Beispiel: Intelligenzwachstum von 0;1-21 (Bayley, 1955):

• bis 1;3: Tests sensorisch-motorischer Entwicklung• 1-5: California Preschool Tests• 6-12, 14, 17: Stanford-Binet Test• 13, 15: Terman-McNemar-Gruppentest• 16, 18, 21: Wechsler-Bellevue-Test für Erwachsene (Vorläufer des

HAWIE): sprachliche, mathematische und räumliche Denkaufgaben– Macht es Sinn, Veränderungen von Sensorik und Motorik bis zu

logischem Denken auf einer Dimension darzustellen?

Page 11: Vorlesung Entwicklungspsychologie I Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie J. Gowert Masche 26.04.2006

Differenzierung• Biologische Definition: fortschreitende Ausgliederung

unähnlicher Teilgebilde aus anfänglich ungegliedertem Ganzen.

• Psychologische Definition: fortschreitende Verfeinerung, Erweiterung, Strukturierung psychischer Funktionen und Verhaltensweisen.

• In jedem Fall qualitative Veränderung• Beispiele:

– motorische Entwicklung: cephalocaudal, proximodistal– Bedingungen und Ausdruck von Gefühlen in den ersten zwei

Lebensjahren– Differenzierungshypothese der Intelligenz (ungesichert)– Wahrnehmung von sich und Umwelt, Zeitperspektive (sog.

Lebensraum in psychischer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; Kurt Lewin)

Page 12: Vorlesung Entwicklungspsychologie I Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie J. Gowert Masche 26.04.2006

Kontinuität• Bedeutungen von „Kontinuität“:

– sequenzieller Aufbau aufeinander folgender Schritte– Stabilität:

• absolute Stabilität: keine Veränderung• normative Stabilität, Positionsstabilität: Rangreihen bleiben ungefähr

gleich (wichtigste Form der Stabilität)• Achtung: entscheidend ist latente Eigenschaft (der „Grund“), nicht

das jeweils manifeste Verhalten altersgemäße Messmethoden– Erklärung interindividueller Unterschiede aus früheren

Unterschieden anderer Art• Einige Ursachen von Kontinuität:

– gleichbleibende Umwelten– Person als Stimulus für Umwelt– frühere Entwicklungsergebnisse bedingen Wirkung späterer

Einflussfaktoren– Selbstgestaltung von Entwicklung

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Entwicklungspsychologie der Lebensspanne

Page 14: Vorlesung Entwicklungspsychologie I Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie J. Gowert Masche 26.04.2006

Lebensspannenperspektive• lebenslange Entwicklung

– in allen Altersstufen Gewinne und Verluste– auch im Alter z. B. große Unterschiede in Intelligenzveränderung

• fluide Intelligenz nimmt meist ab, kristallisierte Intelligenz kann selbst im hohen Alter noch zunehmen

• Weisheit wächst in Auseinandersetzung mit Lebensproblemen– Bedeutung der frühen Kindheit?

• eher dort, wo biologische/neurologische Merkmale wichtig: Temperament, Intelligenz

• viele Merkmale stabiler ab Jugendalter• Spielräume/Grenzen von Entwicklungsförderung

– Training fluider Intelligenz oder Gedächtnis gelingt, aber junge Menschen haben mehr Zuwächse als alte

– Selektive Optimierung und Kompensation

• Historischer Wandel und ontogenetische Entwicklung– In Querschnittstudien gefundener „Intelligenzabfall“ tatsächlich

geringere Bildung der älteren (und damit früher Geborenen)

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Arten von Entwicklungstheorien

Page 16: Vorlesung Entwicklungspsychologie I Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie J. Gowert Masche 26.04.2006

Aufgaben und Bewertung von Theorien• Aufgaben:

– Systematisierung: Ordnung der Daten in logisch widerspruchsfreie, möglichst einfache (sparsame) Zusammenhänge (Gesetze: Wenn-Dann-Regeln)

– Leitung weiterer Untersuchungen zur weiteren Überprüfung hypothetico-deduktive Methode– Erklärung von Entwicklungsprozessen und –ergebnissen

(Zuständen)• Bewertung:

– Erklärungswert: Angabe von Bedingungen von Entwicklung, Vorhersage von Entwicklung

– Falsifizierbarkeit, Nachprüfbarkeit (durch andere)– Angabe des Geltungsbereichs hinsichtlich Bedingungen und

erklärter Entwicklungsphänomene (Bandbreite)– empirische vs. hypothetische Gesetze:

• empirisch = zwischen gemessenen Variablen• hypothetisch = zwischen gedachten, sog. hypothetischen

Konstrukten• Hypothetische Gesetze meist interessanter.

Page 17: Vorlesung Entwicklungspsychologie I Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie J. Gowert Masche 26.04.2006

Anthropologische Grundannahmen• Menschenbild:

– mechanistisch: Verhalten hängt ab von Person (z. B. Anlagen) und/oder Umwelt (z. B. Lerngeschichte)

– organismisch: Person und Umwelt wirken wechselseitig aufeinander ein (evtl. nur „im Geiste“: Umwelt als kognitive Konstruktion des Individuums)

– Variante: dialektisches Modell: sich verändernder Organismus in sich verändernder Welt

• 2x2-Schema von Theorien:Subjekt Umwelt

aktiv passivaktiv interaktionistische Selbstgestaltungs-

Theorien theorienpassiv exogenistische endogenistische

Theorien TheorienMenschenbild beeinflusst Forschungsfragen, Wahl von Beschreibungs-/Erklärungsmodellen, Datenerhebung/-auswertung, Interpretation: Was wird wie beschrieben und wodurch erklärt?

Page 18: Vorlesung Entwicklungspsychologie I Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie J. Gowert Masche 26.04.2006

Einteilung von Theorien• Arten von Theorien (Trautner, 1991):

– Biogenetische Entwicklungstheorien: biologisch programmierte Entfaltung– Psychoanalytische Entwicklungstheorien: Zusammenwirken (nennt sich

auch Interaktion) von Triebgrundlagen und Sozialisationserfahrungen– Lerntheorien der Entwicklung: exogene Einflüsse auf Verhalten– Kognitive Entwicklungstheorien: reifende Person und Umwelterfahrung

wirken aufeinander ein• Ergänzung (Montada, 2002):

– systemische Ansätze: Betrachtung des insgesamt einer Dyade oder Gruppe. Hierbei ist jedes Individuum handelndes Subjekt und zugleich Stimulus für die anderen.

• Beispiele: – feindselige Mütter / aggressive Kinder– Selektion von Kontexten / Sozialisationseinflüsse von Kontexten– symbolischer Interaktionismus (Mead): Selbstbild, Fremdbild,

Rollen in Interaktion gestaltet– Passung (Brandtstädter) zwischen Entwicklungszielen, -

potentialen, -anforderungen, -angeboten, z. B. Kindesmisshandlung

Page 19: Vorlesung Entwicklungspsychologie I Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie J. Gowert Masche 26.04.2006

Erklärende Entwicklungsbegriffe

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Biologische Begriffe• Reifung: gengesteuerte, kaum beeinflussbare

Entwicklung• Reifestand: Entwicklungsstand, der benötigt wird, um

bestimmte Erfahrungen nutzen zu können• sensible Perioden (auch „Phasen“):

Entwicklungsabschnitte, in denen bestimmte Einflüsse sich maximal und nachhaltig auswirken– Extremfall: Prägung: „Lernen“ ohne Belohnung,

irreversibel

Page 21: Vorlesung Entwicklungspsychologie I Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie J. Gowert Masche 26.04.2006

Entwicklung als sukzessive Konstruktion

• Stadienabfolgen nicht unbedingt reifungsbedingt,• sondern können auch „sachlogisch“ sein, sog.

epigenetische Abfolge– Beispiel: Erwerbsreihenfolge der Begriffe geben,

nehmen, zahlen, kaufen, verkaufen– Beispiel: Piagets Theorie kognitiver Entwicklung von

einfachen zu komplexen Strukturen• Selbstkonstruktion: ohne didaktische Anleitung, intrinsisch

motiviert (Beispiel: Piaget)

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Erziehung und Sozialisation• Sozialisation: Vermittlung von Werten, Normen,

Symbolen, Kultur usw. usw. einer Gesellschaft– durch Anleitung, Anforderung, Information,

Beobachtung/Nachahmung, Strafen/Belohnung usw.– lebenslanges Lernen aufgrund ständigen Wandels der

Gesellschaft

• Sozialisation nicht nur Einpassung, sondern auch emanzipatorische Sozialisationsziele: Kritikfähigkeit, persönliche Identität (eigene Ziele und Werte)

• Entwicklungspsychologische Sozialisationsforschung– Differentielle Entwicklungen– langfristige Effekte von Sozialisationseinflüssen

• Retroaktive Sozialisation: Kinder erziehen ihre Eltern– Child-Effect-Forschung– Vermitteln von Wissen und Einstellungen

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Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse

• Entwicklungsaufgaben (Havighurst, 1948): vom Individuum angestrebte Entwicklungsziele, normativ in jeweiliger Gesellschaft– Quellen: biologische Veränderung, gesellschaftliche

Anforderungen, Werte und Ziele des Individuums

• altersnormierte Krisen, z. B. Eriksons (1963) epigenetisches Modell: 8 Lebensphasen, jede durch eine besondere Krise geprägt, z. B. Identität versus Rollendiffusion in Jugend

• kritische Lebensereignisse: normative oder nicht-normative Ereignisse, die bewältigt werden müssen: Verlust von Angehörigen, Elternschaft, Berentung, Unfälle usw.– Entscheidend ist nicht so sehr Ereignis selbst, als Bewertung:

Lösung des Problems, Umstellung von Zielen, Suche nach Verantwortung und Sinn...