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Wege z
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Kultur
Verlag Traugott Bautz
Hamid Reza Yousefi/ Klaus Fischer/ Regine Kather/ Peter Gerdsen (Hrsg.)
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Gemeinsamkeiten — Differenzen Interdisziplinäre Dimensionen
ISBN 978-3-88309-436-6Verlag Traugott Bautz
Was heißt Kultur und wem gehört sie? Darüber besteht im Kon-text der Geschichte und Gegenwart alles andere als Einigkeit. Dervorliegende Band dokumentiert nicht nur die Pluralität des Phä-nomen- und Themenbereichs des Kulturbegriffs, sondern auchdie Pluralität möglicher analytischer und hermeneutischer sowienormativer Zugangsweisen zu diesem Bereich. In diesem Rahmengeht es um eine kritische Auseinandersetzung mit unterschied-lichen Dimensionen dieses Begriffs. Jede dieser Zugangsweisenhat Vor- und Nachteile, manche erscheinen besser begründet alsandere, aber keine von ihnen kann als Königsweg gelten. DieseVielfalt ist nicht nur unter dem Blickwinkel zu begrüßen, daß siedie Zahl der verfügbaren Optionen vergrößert, sie hat auch einewichtige heuristische Funktion. Auf der Ebene des Gegenstands-bereichs führt sie zu einer Erleichterung des kulturellen Aus-tauschs und der Diffusion kultureller Praktiken und Deutungenüber Grenzen hinweg. Auf der Ebene des analytisch-hermeneuti-schen Zugangs öffnet sie den Blick für alternative Interpretationenund wirkt somit theoretisch befruchtend. In evolutionärer Sichtsorgt sie für eine Erweiterung des kognitiven ›Genpools‹, der fürkreative Neukombinationen zur Verfügung steht. Die Offenheit füralternative Deutungen bildet die Grundlage sowohl von Kultur alsPraxis als auch von Kulturanalyse als Theorie dieser Praxis.
Hamid Reza Yousefi/Klaus Fischer/Regine Kather/Peter Gerdsen (Hrsg.)
— Wege zur Kultur
Wege zur Kultur
Gemeinsamkeiten – Differenzen – Interdisziplinäre Dimensionen
herausgegeben und eingeleitet von
Hamid Reza Yousefi, Klaus Fischer, Regine Kather und Peter Gerdsen
unter Mitwirkung von Anne Marie Plaisant, René Jaquett, Aisha Eickelbeck
Josiane Römer und André Biermann
Traugott Bautz Nordhausen 2008
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in Der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Umschlagsentwurf von Birgit Hill Verlag Traugott Bautz GmbH
99734 Nordhausen 2008 Alle Rechte vorbehalten
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere
für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Printed in Germany ISBN 978-388-309-436-6
www.bautz.de
Inhaltsübersicht
Einleitung der Herausgeber .................................................................................9
Hamid Reza Yousefi Phänomenologie des Eigenen und des Fremden ............................................25
Klaus Fischer Interpretative Offenheit als Grundlage des Kulturbegriffs ...........................53
Raúl Fornet-Betancourt Die Debatte um den Kulturbegriff ....................................................................67
Hans Waldenfels Kultur als Grundbegriff ......................................................................................77
Joachim Renn Performative Kultur. ...........................................................................................97
Michael Klemm Medienkulturen .................................................................................................127
Alexander Thomas Wege zur Kultur aus Sicht der Psychologie...................................................151
Georg Auernheimer Kommt die Interkulturelle Pädagogik ohne den Kulturbegriff aus? .........171
Peter Gerdsen Dimensionen der kulturellen Struktur ...........................................................195
Heinz Kimmerle Appiahs Weg zum Kosmopolitismus und die ›neue Internationale‹ der Kosmopoliten ..........................................213
Inhaltsübersicht 6
Franz Gmainer-Pranzl ›Rationale Kulturreform‹ ..................................................................................233
Hubert Knoblauch Kommunikationskultur, Kulturalismus und die Diskursivierung der Kultur ...............................................................261
Regine Kather Der Mensch – ein ›animal symbolicum‹ .........................................................285
Klaus Wiegerling Widerständigkeit und Fremdheit ....................................................................303
Norbert Meuter Ist Kultur mehr als Kartoffelwaschen und Nüsseknacken?.........................325
Elmar Holenstein Zur Relativität des sprachlichen Relativismus ..............................................343
Herausgeber, Autorinnen und Autoren .........................................................361
Eine skeptisch verstandene Kulturphilosophie zeichnet sich unter anderem auch durch Offenheit für interkulturelle Fragestellungen aus. Sie nimmt fremde Erfahrungswelten ernst und setzt sich für eine pluralistische Auf‐fassung von Philosophie ein. Unser Freund und Kollege Rudolf Lüthe, der im Mai 2008 seinen 60. Geburtstag feiern wird, arbeitet in diesem Geiste. Ihm ist dieses Buch in Verbundenheit gewidmet.
Einleitung der Herausgeber ›Wege zur Kultur‹ ist neben den bereits erschienenen Bänden ›Wege zur Philosophie‹, ›Wege zur Wissenschaft‹, ›Wege zur Religionswissenschaft‹, ›Wege zur Kommunikation‹ und ›Wege zu Menschenrechten‹ der sechste Band der Veröffentlichungsserie ›Wege zu ...‹. Wie dies bisher der Fall war, soll der vorliegende Band nicht nur die Pluralität eines Phänomen‐ und Themenbereichs, sondern auch die Pluralität möglicher analytischer Zu‐gangsweisen zu diesem Bereich dokumentieren. Jede dieser Zugangswei‐sen hat Vor‐ und Nachteile, manche erscheinen besser begründet als ande‐re, aber keine von ihnen kann als Königsweg gelten. Diese Vielfalt ist nicht nur unter dem Blickwinkel zu begrüßen, daß sie
die Zahl der verfügbaren Optionen vergrößert, sie hat auch eine wichtige heuristische Funktion. Auf der Ebene des Gegenstandsbereichs führt sie zu einer Erleichterung des kulturellen Austauschs und einer Diffusion kultu‐reller Praktiken und Deutungen über Grenzen hinweg. Auf der Ebene des analytischen Zugangs öffnet sie den Blick für alternative Interpretationen und wirkt somit theoretisch befruchtend. In evolutionärer Sicht sorgt sie für eine Erweiterung des kognitiven ›Genpools‹, der für kreative Neukom‐binationen zur Verfügung steht. Die Offenheit für alternative Deutungen bildet die Grundlage sowohl von Kultur als Praxis als auch von Kulturana‐lyse als Theorie dieser Praxis. Etymologisch wird Kultur in unterschiedlichen Kulturgebieten als
bebauen, bewohnen, pflegen, ehren, Ausbildung, huldigende Verehrung sowie geistige Pflege verstanden. Die ›moderne‹ Verwendung des Kultur‐begriffs stimmt im wesentlichen damit überein, aber es gibt Nuancierungen und Schwergewichtsverlagerungen. Eine neuere, von Wilfried von Bredow gegebene Definition versucht bspw. alle wesentlichen Dimensionen des Kulturbegriffs folgendermaßen zusammenzufassen: »Eine Kultur besteht aus einem Ensemble von besonders unterschiedenen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Zügen einer sozialen Gruppe oder Gesell‐schaft. Sie umfaßt Kunst und Literatur, Lebensstile und gemeinschaftliche Lebenspraktiken, Werte, Überlieferungen, gemeinsame Wahrnehmungs‐
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muster und Glaubenssätze. Ohne solch gemeinsame Kultur läßt sich keine einigermaßen stabile kollektive Identität denken.«1 Neben diesem umfassenden läßt sich ein engerer Kulturbegriff unter‐
scheiden, der auf die innere Semantik der spezifischen Kulturen zielt. Hiernach besteht der Kern von Kultur in der (kanonischen) Sinngebung der natürlichen und geschaffenen Welt. Sie wird geleistet durch perspekti‐vische, aktuell als relevant erachtete Deutung (Interpretation2) von Überlie‐fertem, Tradiertem und aus anderen Kulturen Diffundiertem.3 Viele Explikationen oder Definitionen von Kultur betonen die Einheit der
Kultur und ihre Funktion für die Bildung der Identität von Gruppen, Ethnien und Nationen.4 Diese Vorstellung von der Einheit der Kulturen, von einem klar definierten Kanon von Normen, der die Individuen zu ei‐ner Einheit (Nation) zusammenschweißt, indem er den Kernbereich ihrer Identität konstituiert, ist – wie der Soziologe René König bereits 1972 deut‐lich gemacht hat – empirisch unangemessen.5 Die Vorstellung von der ›Einheit der Kulturen‹ trifft am ehesten auf rela‐
tiv kleine, undifferenzierte und unter prekären Bedingungen lebende ›pri‐mitive‹ Gesellschaften zu. Je differenzierter eine Gesellschaft wird, je besser sie in ihrer Umwelt zurechtkommt, je größer ihre Innovationsfähigkeit und ihre innere Dynamik ist, umso schneller zerfällt die Einheit von Anschau‐ung, Weltbild, normativem System und Verhalten. Projiziert man An‐schauungen, Weltbilder, normative Systeme und Verhalten der Gesell‐schaftsmitglieder aufeinander, dann kann man feststellen, daß die Kontu‐ren der Resultate immer unschärfer und verwaschener werden. In komple‐xen differenzierten Gesellschaften kann man allenfalls noch von ›Ballun‐gen‹ sprechen. Es gibt Gruppen von Menschen mit ähnlichen Einstellungen 1 Bredow, Wilfried von: Mehrwertigkeiten, in: FAZ, 6.5.2006, Nr. 105 S. 9. 2 Nicht von ungefähr trägt der am 19.6.2006 publizierte ›Streikaufruf an alle Gei‐
steswissenschaftler‹ von Mirjam Schaub den Titel ›Stoppt die Interpretation!‹. 3 Siehe z.B. Günther Dux: ›Historisch‐genetische Theorie der Kultur‹, Weilerswist
2000 S. 74. 4 So z.B. Ronald Inglehart: Kultureller Umbruch. Wertwandel in der westlichen
Welt, Frankfurt/Main 1989 S. 29. 5 Vgl. König, René: Einleitung: Über einige Fragen der empirischen Kulturanthropolo‐gie, in: Kulturanthropologie, hrsg. v. René König und Axel Schmalfuß, Düssel‐dorf 1972 S. 35.
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und Lebensstilen, die nur noch entfernte Abbilder einer primitiven Urhor‐de sind. In den ›Milieus‹ moderner Gesellschaften ist der Lebensstil nicht mehr in gleichem Ausmaß wie in traditionellen Gesellschaften von den äußeren Bedingungen oder vom Gruppendruck der anderen aufgezwun‐gen.6 Er ist ein Mittel zur Selbstfindung und Selbststilisierung geworden. Kulturelle Identität wird unter solchen Umständen nicht mehr als Schick‐sal, sondern als Möglichkeit empfunden. Kultur ist ein »verhandelbares Diskursfeld« geworden.7 Diese Pluralität der Deutungen betrifft auch die sogenannte Hochkultur.
Obwohl man auch in diesem Bereich temporär bevorzugte Interpretationen beobachten kann, gibt es keine stabile kanonische Interpretation von ›Kul‐turgütern‹ mehr. Eher ist von einem offenen Raum der Möglichkeiten zu sprechen, der ständige Veränderungen möglich und notwendig macht. Damit dieses Potential zur wechselseitigen Anregung und Befruchtung führen kann, bedarf es allerdings des Respekts und der Toleranz zwischen verschiedenen Kulturen. Beides ist (neben einem hinreichenden Wissen über die eigene und die fremde Kultur) die Grundlage einer nichtantagoni‐stischen interkulturellen (und intrakulturellen) Kommunikation und die Voraussetzung für die Ausbildung reziproker Wahrnehmungen und Ver‐haltensinterpretationen. Nur durch die Verstetigung eines zivilisierten interkulturellen Dialogs können die integrativen Tendenzen innerhalb eines differenzierten und heterogenen Gemeinwesens gestärkt und die stets vorhandenen antagonistischen Kräfte kontrolliert werden. Auch die‐sem Ziel sollen die in diesem Band versammelten Beiträge dienen. Weniger durch theoretische Reflexionen, als unter dem Druck der Um‐
stände tritt eine weitere, die Vielfalt der Kulturen übergreifende Dimension des menschlichen Lebens in den Blick. Die ökologische Krise erinnert dar‐an, daß die Menschen nicht nur durch Vernunft und kulturschöpferische Aktivitäten, sondern auch durch ihre leibliche Konstitution bestimmt sind. Sie sind ein Glied im Netz des Lebens auf diesem Planeten. Sieht man im Überleben nicht nur des Einzelnen, sondern der Menschheit einen ethi‐
6 Vgl. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart,
Frankfurt/Main 1992 S. 262. 7 Vgl. Schiffauer, Werner: Verhandelbare Diskursfelder, in: Frankfurter Rundschau
vom 27.04.1999, Nr. 97 S. 18.
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schen Wert, dann entspringt daraus die Verpflichtung, die Bedingungen zu erhalten, die auch noch künftigen Generationen das Überleben ebenso wie ein menschenwürdiges Leben gestatten. Zu diesen Bedingungen gehören nicht nur eine soziale Ordnung, welche die Würde der Menschen schützt und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser Einsicht bahnt sich ein Paradigmenwechsel im Verhältnis von Natur und Kultur an: Diese stehen einander nicht wie zwei getrennte Sphären gegenüber, die man unabhän‐gig voneinander in ihrer Gesetzmäßigkeit analysieren kann. Um die Mög‐lichkeiten und Grenzen der kulturschöpferischen Aktivitäten zu verstehen, muss man auch die vielfältigen Verflechtungen der Menschen mit der Na‐tur berücksichtigen. Das Einbeziehen der Ordnung der Natur in die Ziel‐setzungen der Kulturen ist eine Aufgabe für die Zukunft, die bislang ohne philosophisch‐ethisches und politisches Vorbild ist und die auch in diesem Band nur angedacht werden kann.9 Die Analyse des Eigenen und des Fremden auf der Grundlage einer dia‐
logischen Theorie der Interkulturalität bildet das zentrale Anliegen des Beitrags von Hamid Reza Yousefi. Der Verfasser thematisiert neben den Rahmenbedingungen der Interkulturalität auch die Bedeutung eines offe‐nen Kulturbegriffs. Die Problematik des Eigenen und des Fremden wird anhand der Modelle von Karl Jaspers, Edmund Husserl, Max Scheler und Munasu L. J. Duala‐M’bedy erläutert. Während Husserls Idee der ›Heim‐welt‹ und ›Fremdwelt‹ solipsitische Tendenzen aufweiset, kann für Scheler und Jaspers die Fremdwahrnehmung unter keinen Umständen als Analo‐gieschluß vom eigenen ›Ich‐Erlebnis‹ auf ein ›Fremd‐Ich‹ ausgelegt sein. Duala‐M’bedy geht von Xenologie als eine ›Wissenschaft des Fremden‹ aus und weist jeder Form von Hypostasierung des Fremden zurück. Yousefi zufolge bilden das Prinzip der Unverfügbarkeit des Individuums und die Unantastbarkeit seiner Würde die tragenden Säulen einer solchen Theorie. Diesem Prinzip nach ist die Interkulturalität für Yousefi einer Kommunika‐
8 Vgl. Diamond, Jared M.: Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder unterge‐
hen, Frankfurt/Main 32005. 9 Vgl. Nash, Roderick Frazier: The Rights of nature. A History of Environmental
Ethics, London 1989, 5‐7. und Diefenbacher, Hans: Gerechtigkeit und Nachhaltig‐keit. Zum Verhältnis von Ethik und Ökonomie, Darmstadt 2001.
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tion verpflichtet, welche geschichtliche und gegenwärtige Dimensionen gleichermaßen berücksichtigt. Dabei bedingen sich Verstehen‐Wollen und Verstanden‐Werden‐Wollen zwischen und innerhalb des Eigenen und des Fremden gegenseitig. Jede Reglementierung des Menschen durch eine Dominanz der Macht läuft dem Prinzip der Interkulturalität zuwider. Im Rahmen einer interkulturellen Kommunikation spielen für den Verfasser interkulturelle Kompetenz, interkulturelle Semantik, interkultureller Hu‐manismus, interkulturelle Hermeneutik, interkulturelle Toleranz und in‐terkulturelle Kommunikation eine bestimmende Rolle. Seiner Ansicht nach, wird die Debatte um die Interkulturalität oft auf der Grundlage von emotionaler, moralisierender und nützlichkeitsorientierter Argumentati‐onsweise geführt. Eine offene Theorie der Interkulturalität vermeidet sol‐che Tendenzen und weist jeden geschlossenen Kulturbegriff zurück. Klaus Fischer vertritt in seinem Beitrag einen Kulturbegriff, der auf der
perspektivischen Deutung von Überlieferung, Artefakten und Wissen be‐ruht, ganz gleich, wo diese entstanden sind oder auf wen sie zurückgehen. Dieser Kulturbegriff ist insofern funktional zu verstehen, als er Kultur als Teilsystem der Gesellschaft begreift, das sich durch spezifische Ziele und Codes von den anderen Teilsystemen abhebt. Da sich die funktionale Be‐stimmung nicht auf konkrete Inhalte und Interpretationen erstreckt, ist dieser Kulturbegriff insofern offen, als er kein Artefakt und keine Deu‐tungsvariante prinzipiell ausschließt. Dies impliziert, daß es keine kanoni‐sche Interpretationen, sondern nur einen offenen Möglichkeitsraum geben kann, der von unvorhersehbaren realgeschichtlichen Entwicklungen, der Kreativität der Kulturschaffenden, ihrer Fähigkeit zur Konstruktion neuer Gedankenwelten, die das Potential zur Knüpfung neuer begrifflicher Netze und zur Neuausrichtung der Wahrnehmung haben, ständig in Bewegung gehalten wird. Kultur braucht dieses chaotische, unvorhersehbare Moment, um kreativ zu bleiben. Monokulturen, aber auch Paradigmen, die andere dominieren und verdrängen wollen, trocknen das kreative Potential von Kulturen aus. Um sich nicht in postmoderner Beliebigkeit zu verlieren, die die Gefahr des Auflebens atavistischer Kulte und Glaubensformen in sich birgt, brauchen offene Gesellschaften jedoch positive Werte, die offensiv verteidigt werden müssen: die Werte der Freiheit, der Toleranz und des Pluralismus und ihre jeweiligen Rechtsformen.
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Raúl Fornet‐Betancourt thematisiert den Kulturbegriff im Kontext inter‐kultureller Philosophie. Vertreter des transkulturellen Ansatzes werfen nach dem Verfasser der interkulturellen Philosophie vor, daß sie mit einem Kulturbegriff arbeitet, der Kulturtraditionen statisch betrachtet und so zu einer essentialistischen Auffassung von Kultur führt, die zudem nicht frei von Dogmatismus und Fundamentalismus ist. Der vorliegende Beitrag geht von diesem Vorwurf aus und versucht, die Position der Interkulturali‐tät gegenüber den in diesem Vorwurf implizierten Mißverständnissen zu verdeutlichen. Es handelt sich daher weniger um eine Debatte mit der Transkulturalität als vielmehr um eine »Klarstellung« des Umgangs der Interkulturalität mit dem Phänomen »Kultur«. Hierzu gehört zunächst die Betonung der These, daß Interkulturalität von einer geschichtlichen Auf‐fassung von Kultur ausgeht, die diese weder auf Tradition festlegt noch auf eine abstrakte, stabile Wertsphäre reduziert. Von daher wird weiter präzi‐siert, daß Kulturen immer im Zusammenhang mit kontextuellen und situa‐tiven Lebensverhältnissen interpretiert werden müssen und zwar so, daß ihre Entwicklung am Leitfaden der inneren Dialektik von Traditionsbil‐dung und Innovation in realen Lebenswelten zu lesen ist. Daraus folgt für die hier versuchte Klarstellung die Unterstreichung einer Dimension der Politik in kulturkonstituierenden Prozessen. Die historische Dialektik von arm und reich, von Unterdrückung und Befreiung gehört so auch (als Mo‐ment der ›Entkulturalisierung‹ der Genese einer Kultur) zum historischen Verständnis der Kultur aus der Sicht der Interkulturalität, wie hier zuletzt gezeigt wird. Im Beitrag von Hans Waldenfels geht es um die Frage, ob das im inter‐
kulturellen Diskurs benutzte Kulturverständnis überall ein und dasselbe ist. Schon ein kurzer Blick in die unterschiedliche Begriffsgeschichte mahnt zu erhöhter Aufmerksamkeit. Der in den Sprachen der westlichen Welt verbreitete Kulturbegriff rührt sprachgeschichtlich vom lateinischen colere her, das auf den pfleglichen Umgang mit der Erde in der Landwirtschaft verweist. Demgegenüber erinnert der sino‐japanische Kulturbegriff an den Ursprung von Schrift und Sprache, damit an intellektuelles Schaffen. Die chinesische ›Kulturevolution‹ beweist ihrerseits, daß sich die unterschiedli‐chen Verständnisse von Kultur spätestens seit dem 18./19. Jh. auf vielfältige Weise begegnet sind, dabei aber das westliche Denken eine gewissen Herr‐schaftsposition eingenommen hat.
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Kultur verweist stets auf den Menschen als Akteur. Wieweit er dabei sich selbst und der Welt ein Maßstab ist, ist vor allem im Verhältnis von Religi‐on und Kultur, Gottesglaube und atheistisch‐säkularisierter Welt zu prü‐fen. Die Vertreibung der Religion aus dem öffentlichen Leben führt aber dann zur Frage nach der Stellung des Menschen in der Natur und seinem Umgang mit deren Ressourcen, nach dem Verhältnis von Natur und Kul‐tur. Hinsichtlich des Menschen selbst ist die Diskussion um die Würde des Einzelnen (Individualität) und seine Verpflichtung in seiner Beziehung zu anderen Menschen (Relationalität) und damit ein ganzheitliches Verständ‐nis der menschlichen Person zu vertiefen. Ob es moralische Verantwortung ohne Beziehung zu Gott gibt, ist eine offene Frage, die sich letztlich mit dem Interesse am Anfang der Menschheit und des Menschen und dem Ende der Welt, der Menschheit und des Menschen (Tod und Untergang) verbindet. Nicht zu übersehen ist nach wie vor das Ringen um den Vor‐rang von Geist und Materie im Prozeß der Evolution. Beispiel für ein Den‐ken auf der Grundlage moderner wissenschaftlicher Forschung und inne‐rer Glaubensüberzeugung sind für unsere Tage nach wie vor Leben und Werk P. Teilhard de Chardins. Joachim Renn zieht aus den bekannten Schwierigkeiten, vermeintlich ab‐
geschlossene Kulturen abzugrenzen und zu bestimmen, die Konsequenz, explizite Kulturen (begriffliche Artikulationen) von performativen Formen der praktischen Vollzugs kultureller Orientierungen strikt zu unterschei‐den. Im Zentrum der Überlegungen stehen deshalb die Bestimmung des Begriffs einer performativen Kultur und die Analyse der tendenziellen Unzugänglichkeit des performativ eingesetzten impliziten Wissens, das für eine kulturelle Lebensform notwendigerweise in einer nicht explizierbaren Form konstitutiv sein muß. Kulturelles Wissen stellt für das alltägliche (und das rituell hervorgehobene) Handeln eine notwendige Ressource dar; es erfüllt seine ›Funktion‹ allerdings primär als Hintergrund habituell ver‐fügbaren impliziten Wissens. Der wissenschaftliche Kulturvergleich muß aufgrund der spezifischen Form dieses Wissens an einem praktischen Zu‐gangs zu einer ›anderen‹ Kultur ansetzen. Weil es bei einer mimetischen Anverwandlung an eine ›nichtidentische‹ Kultur allerdings nicht bleiben kann, muß der Übergang von der performativen Ebene z.B. der teilneh‐menden Beobachtung zur Ebene expliziter Beschreibungen und Vergleiche eigens rekonstruiert werden. Dieser Übergang erscheint zunächst unmög‐
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lich, wenn die Explikation performativer Kultur diese prinzipiell ›verfehlt‹. Sofern, daß wir wissen können, daß das explizite Wissen eine ›performati‐ve Kultur‹ nicht adäquat repräsentieren kann, folgt zwingend, daß die Dia‐gnose einer radikalen Unzugänglichkeit nicht das letzte Wort sein kann. Denn zweifellos ist es möglich, die Differenz zwischen explizitem Kultur‐wissen und performativer Ebene zu beschreiben. Und daraus folgt die Möglichkeit, Übergänge zwischen performativer und begrifflich‐theoreti‐scher Ebene (hin und zurück) als Übersetzungen zu begreifen (und eben auch performativ zu ›behandeln‹). Ziel des Beitrags von Michael Klemm ist es, über eine nähere Bestim‐
mung der beiden recht undifferenziert und geradezu inflationär verwende‐ten Schlüsselbegriffe ›Medien‹ und ›Kultur‹ besser zu erfassen, was mit dem Schlagwort Medienkultur im Rahmen der Kulturwissenschaft gemeint sein und erforscht werden könnte. Dabei kann es nicht darum gehen, diese Begriffe definitorisch zu fixieren, aber sie zumindest einzugrenzen und damit operationalisierbarer zu machen. So unbestreitbar das enge Wech‐selverhältnis von (Massen‐)Medien und Kultur in der modernen Gesell‐schaft ist, umso wichtiger erscheint es, Medienkultur nicht zum beliebten und beliebigen Modewort degenerieren zu lassen. Je mehr ›Medienkultur‹ auf der Grundlage eines handlungstheoretisch fundierten Medien‐ und Kulturkonzepts, wie es etwa von den British Cultural Studies oder einer pragmatisch orientierten Medienlinguistik vertreten wird, an empirischen Daten festgemacht werden kann, umso eher werden spekulative Pauschali‐sierungen vermieden. Einige Ansatzpunkte für die empirische Erforschung von Medienkulturen werden im Beitrag genannt: die vergleichende Analy‐se historischer Textkorpora und Textsorten; die ethnografische Erforschung unseres alltäglichen und beruflichen Umgangs mit einzelnen Medien; die kommunikative Aneignung von Medieninhalten, die private Mediennut‐zung und gesellschaftliche Diskurse miteinander verbindet; und die Unter‐suchung globalisierter Medienformate im Hinblick auf deren kulturspezifi‐sche Adaption. Schon vor über hundert Jahren hat die moderne Psychologie Wege zur
Kultur entwickelt. Einer dieser Wege firmierte in der deutschen Psycholo‐gie unter dem Begriff ›Völkerpsychologie‹, dem zu Beginn des vorherigen Jahrhunderts eine gewisse Bedeutung zukam. Unter dem Begriff ›Kultur‐psychologie‹ formierte sich wiederum in Deutschland ein weiterer Weg der
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Psychologie in die Kultur. Zu diesem Zeitpunkt war in den USA bereits der Begriff ›cross – cultural psychology‹ entstanden und als ›Kulturverglei‐chende Psychologie‹ in Deutschland eingeführt worden. Mit zunehmender Internationalisierung und Globalisierung weiter Bereiche unserer Gesell‐schaft und den sich daraus ergebenden Anforderungen, entwickelte sich in Deutschland eine ›Interkulturelle Psychologie‹ oder spezifischer mit ›Inter‐kulturelle Handlungspsychologie‹ bezeichnet. Deren primäres Ziel darin besteht nicht wie die kulturvergleichende Psychologie psychologische Ge‐setzmäßigkeiten auf ihre universelle Gültigkeit hin zu überprüfen, sondern die in der Begegnung von Menschen aus unterschiedlichen Kulten zu er‐fassenden psychologisch relevanten Prozessabläufe zu analysieren und durch geeignete Ausbildungs‐ und Trainingsmaßnahmen so zu qualifizie‐ren, daß eine optimale Zielerreichung unter für alle Beteiligten zufrieden‐stellenden Bedingungen möglich wird. Diese verschiedenen Wege der Psychologie zur Kultur sind nicht nur un‐
ter historisch‐ und gesellschaftspolitischen unterschiedlichen Bedingungen entstanden, sondern haben auch jeweils eigene Ziele mit dazu speziell entwickelten Methoden verfolgt. Zudem hat die mehr geisteswissenschaft‐lich‐ hermeneutisch orientierte Psychologie ebenso wie die experimentelle Psychologie sowohl im nationalen wie im internationalen Rahmen mit ihren Theorie‐ und Methodenentwicklungen ebenso wie mit ihren wissen‐schaftlich fundierten Forschungsergebnissen erheblich dazu beigetragen diese vier Wege der Psychologie zur Kultur zu bereichern. Bedeutung ge‐winnt in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, daß die moderne Psy‐chologie schon seit Beginn ihrer Entstehung neben der allgemeinpsycholo‐gisch orientierten Grundlagenforschung gleichberechtigt eine angewandte psychologische Forschungstradition entwickelt hat. Dies ermöglichte es z.B. der Interkulturellen Psychologie nicht nur Begegnungs‐ und Koopera‐tionsprozesse zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturen zu analy‐sieren, sondern auch auf wissenschaftlicher Basis Mittel und Wege zu ent‐wickeln, durch geeignete interkulturelle Ausbildungs‐ und Trainingspro‐gramme, durch Counseling‐ und Coaching‐Konzepte Erleichterungen und Verbesserungen in der interkulturellen Kommunikation und Kooperation für die beteiligten Personen zu erreichen. Georg Auernheimer will die in der Pädagogik, und nicht nur dort, um‐
strittene Verwendung des Kulturbegriffs rechtfertigen und begründen.
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Ausgehend von fragwürdigen Kulturvorstellungen rekurriert er auf ein alternatives Kulturkonzept, das im neomarxistischen Diskurs entwickelt wurde, um der Subjekthaftigkeit der Akteure gegenüber dem orthodoxen Determinismus Geltung zu verschaffen. Kultur als eine Seite gesellschaftli‐cher Praxis, so die Sichtweise der britischen Cultural Studies, hat verschie‐dene Funktionen, unter anderem eine Orientierungsfunktion, die die Dy‐namik kultureller Transformationen zu erklären vermag, allerdings nicht verstanden als ein quasi naturhafter kultureller ›Wandel‹, sondern als ein stets umstrittener, diskursiver Umarbeitungsprozeß, in dem gesellschaftli‐che Gruppen um »kulturelle Hegemonie« (Antonio Gramsci) ringen. Machtverhältnisse einer bestimmten Art sind nach Ansicht Auernheimers – er verweist auch auf Pierre Bourdieu – ohne den Kulturbegriff nicht zu fassen. Als weiteres Argument für dieses Konstrukt führt er ins Feld, daß die Identitätsarbeit und besonders die Identitätsdarstellung der einzelnen kultureller Ressourcen bedarf, wodurch das Postulat der Anerkennung erst begründbar wird. Im letzten Abschnitt erörtert der Verfasser die Möglich‐keit des Dialogs über strittige normative Geltungsansprüche ungeachtet kultureller Differenzen. Hier werden vier Möglichkeitsbedingungen ange‐führt: die pragmatischen Universalien nach Habermas, inhaltliche Univer‐salien, speziell transkulturelle menschenrechtliche Standards, die Relativie‐rung des westlichen Vernunftbegriffs und die Entwicklung zur Weltgesell‐schaft mit dem Zwang zur Verständigung. Peter Gerdsen wirft einen Blick auf Strukturmerkmale, die allen Kulturen
der Welt gemeinsam sind, indem er ihre Innenperspektive ausleuchtet. Beispielhaft wird an Hand der europäischen Kultur verdeutlicht, wie sie im historischen Werdeprozeß zu dem geworden ist, wie sie gegenwärtig in Erscheinung tritt. In diesem Prozeß haben sich einzelne Schichten überein‐andergelegt, so daß sich eine hierarchische Schichtenstruktur ergibt. Für die europäische Kultur wird in dem Beitrag ein Sieben‐Schichten‐Strukturmodell angegeben, das für andere Kulturen zu modifizieren wäre. Von besonderer Bedeutung ist dabei der Aufbaucharakter des Modells, das auf die Verletzlichkeit von Kulturen hinweist; denn Zerstörungen in einer unteren Schicht können in darüberliegenden Schichten zu überraschenden Verwerfungen führen. Dieses Phänomen wird an Hand der europäischen Kultur herausgearbeitet, eine Anwendbarkeit auf andere Kulturen ist hier ebenfalls gegeben.
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Heinz Kimmerle thematisiert Kwame Anrthony Appiah, einen afrikani‐schen Philosophen, der wesentliche Beiträge zu der Frage leistet, wie von philosophischer Seite aus kritisch und konstruktiv zum Prozeß der Globali‐sierung Stellung genommen werden kann. Von seinem Buch über Fragen der afrikanischen und afrikanisch‐amerikanischen Philosophie aus über die Studien zur Ethik der Identität, in denen persönliche Identität und kultu‐relle Zugehörigkeiten miteinander verbunden werden, gelangt der Verfas‐ser zu einer Präzisierung seiner Position des Kosmopolitismus. Die ver‐schiedenen Kulturen der Welt werden in einer selbstverständlichen Weise als gleichwertig behandelt und die Probleme zwischen ihnen in klarer ra‐tionaler Argumentation erörtert. Entscheidend für eine angemessene Form der Globalisierung ist die Praxis offener und kritischer Gespräche zwischen den Vertretern der verschiedenen Kulturen (cross‐cultural conversations). Mit dieser Position qualifiziert sich Appiah als ein Mitstreiter in der von Jacques Derrida konzipierten neuen Internationale der Kosmopoliten, die eine Gegeninstanz zur primär wirtschaftlich vorangetriebenen Globalisie‐rung bilden soll. In dieselbe Richtung denken Amartya Sen und Martha C. Nussbaum. Für ihren Kosmopolitismus ist der Ansatz wichtig, daß nicht nur die vertraglich zu sichernden Rechte der Menschen zu berücksichtigen sind, sondern auch ihre Fähigkeiten (capability approach). Es gilt nach Sen, die vielfältige Identität der Menschen ins Spiel zu bringen und sie nicht auf einen Aspekt festzulegen, wie etwa Moslem oder alteingesessener Bürger eines westlichen Staates zu sein, damit Anlässe zur Gewalt vermindert werden. Nußbaum legt den Nachdruck neben den Fähigkeiten auch auf Behinderungen (disabilities) von Menschen, die in ihrer besonderen Rolle in Gesellschaft und Staat ernstgenommen werden müssen. Ausgehend von der spannungsreichen Beziehung zwischen kulturellem
Selbstverständnis (›Sinn‹ und ›Identität‹) und der Herausforderung durch ›fremde‹ kulturelle Ansprüche (›Pluralität‹ und ›Alterität‹), von der her sich ein unterschiedliches Verständnis der ›Kontextualität‹ sowie ›Univer‐salität‹ von Kultur(en) ergibt, wirft der Beitrag von Franz Gmainer‐Pranzl einen Blick auf Husserls ›Fünf Aufsätze über Erneuerung‹ (die so genann‐ten Kaizo‐Artikel von 1923/24), die – im Kontext einer Theorie von Philo‐sophie, Kultur und Ethik – einen originellen Ansatz ›kultureller Erneue‐rung‹ bieten. Dabei wird (1) die Denkform der (transzendentalen) Phäno‐menologie Husserls rekapituliert, um von daher (2) die ›Idee echter Huma‐
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nität‹ als Lebensform zu explizieren. Weiters wird (3) ›Kultur‹ als Projekt rationalen und ethischen Handelns vorgestellt und auf diesem Hinter‐grund (4) die Husserlsche Sicht der abendländischen Tradition als ›Kultur aus autonomer Vernunft‹ (so die vieldiskutierte ›Europäisierungsthese‹) nachgezeichnet. Auch wenn diese Denklinie nicht wirklich zu einem An‐satz interkulturellen Philosophierens führt, kommt in ihr eine ›Utopie‹ kul‐tureller Erneuerung zur Geltung, deren Potential an Humanität und Ver‐nunft nicht aufgegeben werden sollte. ›Kultur‹ gewinnt eine immer größere Bedeutung nicht nur in den Wis‐
senschaften, sondern auch in der Gesellschaft. Der Beitrag von Hubert Knoblauch skizziert zunächst den Begriff der Kultur aus der Perspektive der Soziologie und Sozialwissenschaften. In der gegenwärtigen Diskussion läßt sich hier eine Verallgemeinerung des Kulturbegriffes, der unter dem Begriff des Kulturalismus gefaßt und vom ›Soziologismus‹ unterscheiden werden kann. Dabei sollte genauer zwischen einem subjektivistischen und einem kollektivistischen Kulturalismus unterschieden werden. Um die damit verbundenen Probleme zu überwinden, entwickelt der Beitrag eine Theorie der Kultur, die sowohl das Soziale wie das Kulturelle und das Kol‐lektive wie das Subjektive miteinander verbindet. Als Bindeglied dient dabei die Kommunikation, die als Grundlage der Kultur dient. In einem weiteren Abschnitt werden dann die grundlegenden Aspekte der Kommu‐nikation – Zeichenhaftigkeit, Sozialität und Performanz – als Dimensionen der Kultur entwickelt. Abschließend wird dann die These der Diskursivie‐rung der Kultur vorgestellt: Die Kultur verflüssigt sich zur Kommunikati‐on, und zugleich wird sie selbst zu einem Inhalt der Kommunikation der Akteure. Die Bestimmung des Menschen als ›animal symbolicum‹ beinhaltet nach
Regine Kather zwei zusammen gehörende Seiten der menschlichen Exi‐stenz: die Zugehörigkeit zur Natur und zur Kultur. Menschen sind Lebe‐wesen und daher wie diese vermittels ihres Leibes ein Teil der Geschichte und der Ordnung der Natur. Die Biosphäre ist jedoch kein gleich bleiben‐des Gegenüber des Erkennens und Handelns, sondern räumlich und zeit‐lich durch die Interaktionen einer Vielfalt von Arten und anorganischer Prozesse strukturiert. Auch Menschen können nicht aus der Biosphäre heraustreten, sondern sind in sie eingebettet. Doch durch die besondere Form ihrer Intelligenz erzeugen sie durch symbolische Akte eine eigene
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Lebenssphäre: die Kultur. Entgegen weit verbreiteter Ansichten ist die Natur jedoch weder ein kulturelles Konstrukt, noch lassen sich Natur und Kultur als Sphären behandeln, die sich in ihrer Dynamik nicht beeinflus‐sen. Ziele und Werte modifizieren die Dynamik der Biosphäre, die ihrer‐seits bestimmte Anforderungen an menschliches Handeln stellt. Um die Möglichkeiten und Grenzen der kulturschöpferischen Aktivitäten zu ver‐stehen, muß man daher die vielfältigen Verflechtungen der Menschen mit der Natur berücksichtigen, die sich exemplarisch schon in der Entwicklung symbolischer Fähigkeiten zeigen. Jede Kultur besteht dabei aus verschie‐denen symbolischen Formen, die in unterschiedlichen Kulturen in je ande‐rer Gewichtung vorkommen. Doch trotz der Ungleichzeitigkeit verschie‐dener Kulturen müssen heute zumindest einige Werte formuliert werden, die universale Geltung haben und das Überleben und ein menschenwürdi‐ges Leben ermöglichen. Das Einbeziehen der Ordnung der Natur in die Zielsetzungen der Kulturen bleibt dabei eine Aufgabe, die bislang ohne philosophisch‐ethisches und politisches Vorbild ist. Klaus Wiegerling versucht zu klären, welche Rolle Widerständigkeit und
Fremdheit für die Ausbildung und Stabilität einer Kultur spielen. Insbe‐sondere sollen die logischen Beziehungen zwischen Fremdheit, Widerstän‐digkeit und Kultur herausgearbeitet werden. Kultur zeichnet sich durch drei wesentliche Charakteristika aus: sie ist widerstandsfähig, sie ist inte‐grationsfähig und sie vermag Sphären zu bestimmen, die öffentlichen oder heterogenen Zugriffen verschlossen bleiben. Kultur hat eine Entlastungs‐ und Orientierungsfunktion. In komplexen Kulturen spielen nicht zuletzt Medien, insbesondere auch apparative Medien, bei der Erfüllung dieser Funktionen eine zentrale Rolle. Es wird gezeigt, daß die Erfahrung von Widerständigkeit und Fremdheit eine konstitutive Rolle für die Ausbil‐dung und Stabilität einer Kultur sowie das kulturelle Selbstverständnis einnimmt. Für die Ausdifferenzierung der Kultur sind die reflexive Aus‐einandersetzung mit dem Fremden und die Erfahrung der Begrenztheit der kulturellen Orientierungsfähigkeit von größter Bedeutung. Fremdheit und Widerständigkeit stehen in einem bedingenden Verhältnis zu elementaren Leistungen der Kultur. Zuletzt wird die Frage diskutiert, welche Auswir‐kungen eine durch moderne Informationstechnologien disponierte globali‐sierende Ökonomie auf die Erfahrung von Widerständigkeit und Fremd‐heit und damit für die Kultur und für das kulturelle Selbstverständnis hat.
Einleitung der Herausgeber 22
Dabei wird gezeigt, daß Fremdheit und Widerständigkeit entweder als zu eliminierende Größen gefaßt oder zu strategischen Größen transformiert werden, um Markthandlungen zu inspirieren. Der Beitrag Norbert Meuters geht von einem naturalistisch‐genetischen
Kulturbegriff aus. Was immer man auch unter Kultur genauer versteht, sie muß sich im Evolutionsprozeß der Hominiden entwickelt haben. Eine der Implikationen eines solchen Kulturbegriffs besteht in der Frage danach, ob und inwieweit man bei rezenten Tierprimaten von kulturellen Verhaltens‐weisen sprechen kann. Anhand von zwei in der Primatologie gut unter‐suchten Beispielen – das Kartoffelwaschen japanischer Makaken und das Nüsseknacken ostafrikanischer Schimpansen – geht der Beitrag dieser Fra‐ge nach. Er kommt dabei zu folgendem Ergebnis: wir haben es in Bezug auf die Beispiele zwar mit der nicht‐genetischen Weitergabe von Verhal‐tensweisen durch Lernen zu tun, aber es handelt sich nur um Emulations‐ und nicht um Imitationslernen. Letzteres aber stellt die eigentliche Voraus‐setzung für die Ausbildung von kulturellen Leistungen in einem substanti‐ellen Sinne dar. Bei den Tierprimaten bleibt die Kultur nur ›episodisch‹. Darüber hinaus wird die These vertreten, daß die Genese von Kultur pri‐mär nicht in funktionalen Verhaltensweisen wie z.B. Werkzeuggebrauch, sondern in ›mimetischen Spielen‹ zu suchen ist. Wer sich für Kulturvergleich interessiert, ist Elmar Holenstein zufolge
gut damit beraten, bei den Sprachwissenschaftlern in die Schule zu gehen. Kein kultureller Bereich ist so modellhaft erforscht worden wie die Ver‐schiedenheit der Sprachen, die Art ihres Zusammenhangs und ihres Ver‐hältnisses zum Wahrnehmen und Denken. »Gemäßigte Relativisten« ver‐treten die Meinung, daß eine Sprache eine gewisse Weltansicht nahelege. Heute ist es möglich, solche vagen und pauschalen Urteile zu differenzie‐ren. Es ist möglich, die Phänomenbereiche anzugeben, in denen sich ein Einfluß der Sprache bemerkbar machen kann, und die Phänomenbereiche, in denen die Sprache wirkungslos bleibt. Das Fehlen gewisser Wörter in einer Sprache verhindert nicht philosophische Einsichten, die mit ihnen in andern Sprachen eng verknüpft sind. Die menschliche Fähigkeit, alles auch anders sagen zu können, hebt den vermeintlichen Nachteil auf. Einzelne Philosophen glauben, Erkenntnisse, die sie mit Eigenheiten ihrer Sprachen illustrieren, auch diesen zu verdanken. Die Wahrscheinlichkeit ist groß,
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daß ihre Erkenntnisse wirkungsmächtigeren außersprachlichen Erfahrun‐gen zuzuschreiben sind.
Redaktionelle Anmerkung Auf Einheitlichkeit beim Zitieren, bei Literaturangaben und in Einzelfragen der Textgestaltung wurde bewußt zugunsten der jeweiligen individuellen Präferenzen unserer Autoren und Autorinnen verzichtet. Auf vielfältige Weise zeigen die verschiedenen Beiträge, die natürlich nicht immer mit der Meinung der Herausgeber übereinstimmen müssen, wie facettenreich We‐ge zur Kultur sind.
Die Herausgeber
Phänomenologie des Eigenen und des Fremden
Eine interkulturelle Perspektive
von Hamid Reza Yousefi
Der vorliegende Beitrag thematisiert die Kategorie des ›Eigenen‹ und des ›Fremden‹. Neben den Rahmenbedingungen der Interkulturalität kommt auch die Bedeutung eines offenen, dynamisch‐veränderbaren Kulturbe‐griffs zur Darstellung. Diskutiert wird im Zusammenhang mit dem Eige‐nen und dem Fremden auch die Frage nach der Problematik der Kompara‐tistik. Abschließend wird die Hermeneutik des Eigenen und des Fremden im Denken von Karl Jaspers, Edmund Husserl, Max Scheler und Munasu L. J. Duala‐M’bedy kritisch analysiert. Ziel ist es, herauszuarbeiten, ob und inwieweit unterschiedliche Betrachtungsformen des Eigenen und des Fremden Auswirkungen auf den Umgang zwischen und innerhalb dieser Kategorien haben.
1. Theoretische Basis der Interkulturalität Die Bezeichnung ›Interkulturalität‹ wird in vielen Diskursen verwendet und als ein neues Paradigma eingeführt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß viele, die diesen Begriff gebrauchen, häufig kaum mehr als eine vage Vorstellung dessen haben, was mit Interkulturalität zu verbinden ist. Hinter diesem Begriff verbirgt sich ein Konglomerat von Ideen und Aus‐einandersetzungen, die sich häufig widersprechen. Bislang fehlt eine fun‐dierte Theorie der Praxis, eine Praxis der Theorie1 und eine methodische
1 Die kontroverse Debatte um die Interkulturalität verweist auf unterschiedliche
Probleme: zum einen stellt sich die Frage, inwiefern eine Umsetzung eines sol‐chen gesellschaftspolitisch relevanten Themas politisch erwünscht ist, zum ande‐ren zeigt dieses nicht unumstrittene Thema in besonderer Weise auf, daß häufig auf Kosten einer problem‐ und sachorientierten Diskussion akademische Spitz‐findigkeiten in den Vordergrund gerückt werden. In diesem Fall werden Auffas‐
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Basis, welche das Wechselverhältnis dieser Theorien verdeutlichen könnte. Eine genuine Thematik der Interkulturalität ist die Suche nach einer me‐thodischen Antwort auf die Frage, wie der lernende Umgang mit dem An‐ders‐ oder Fremdkulturellen innerhalb sowie zwischen dem Eigenen und dem Fremden gestaltet und entfaltet werden kann. Interkulturalität ist ein Jahrtausende altes Phänomen. Sie ist weder ein
europäisches noch ein außereuropäisches Projekt, sondern ein weltumfas‐sendes. Sie ist mit keinem Namen, keiner Epoche und keiner bestimmten Philosophie oder Tradition verbunden. Sie spricht unterschiedliche Spra‐chen und läßt sich unterschiedlich begründen.2 Der persische Philosoph Abu Hamed Mohammad ibn Mohammad Gha‐
zali (1058‐1111) thematisiert im Rahmen seines Werkes ›Das Elixier der Glückseligkeit‹ die anthropologische Grundlage der Menschenrechte und die des Humanismus: »Der Mensch ist nicht zum Scherz und für nichts erschaffen, sondern hoch ist sein Wert und groß seine Würde.«3 Das Prin‐zip der Unverfügbarkeit des Individuums und die Unantastbarkeit seiner Würde bilden gemäß dieser Forderung Ghazalis die tragenden Säulen ei‐ner reflektierten Theorie der Interkulturalität. Ihr Konzept fußt auf einem schnell erklärten Gerechtigkeits‐ und Gleichheitsbegriff. Aufgrund der Tatsache, daß alle Menschen an Wert gleich sind, weil sie Menschen sind, haben alle das gleiche Selbstbestimmungsrecht. Niemand darf sich auf Kosten eines oder einer Anderen bereichern, sei es materiell oder immate‐riell. Jede Reglementierung des Menschen durch eine Dominanz der Macht läuft dem Prinzip der Interkulturalität zuwider. Damit wird die politische Forderung und mithin ein zentrales Hindernis der Interkulturalität deut‐lich. Meine wissenschaftliche Aufgabe ist eine faktenorientierte Analyse,
sungen nicht mehr um der Sache willen vertreten, es spricht die Autorität, die keine weiteren als die eigenen Satrapen akzeptiert.
2 Die Präsenz von Interkulturalität kann unter verschiedenen Aspekten wie histo‐rischen, pädagogischen, kulturellen, religiösen, ethnologischen, soziologischen, linguistischen, politischen, wirtschaftlichen sowie philosophischen Gesichts‐punkten analysiert werden.
3 Ghazali, Abu Hamed Mohammad ibn Mohammad: Das Elixier der Glückseligkeit, Köln 1979 S. 26. Auch Jan Amos Comenius (1592‐1670) hält alle Menschen jen‐seits ihrer Kulturzugehörigkeit als gleichwertig. Vgl. Comenius, Jan Amos: Große Didaktik, hrsg. v. Hans Ahrbeck, Berlin 1957 S. 146.
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ob, wo und warum Theorie und Wirklichkeit auseinanderklaffen und wel‐che Alternativen es zur Wiederherstellung des Gleichgewichtes gibt.4 Die Idee der Interkulturalität als eine Denknotwendigkeit entwickelte
sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts mit der de facto‐Beendigung der Koloni‐alzeit.5 Das Adjektiv ›interkulturell‹ beschreibt also das Zusammenkom‐men von Völkern unterschiedlicher Kulturregionen und das Eintreten in einen Dialog auf gleicher Augenhöhe.6 Ob wir uns in einer solchen herme‐neutischen Situation befinden, ist nicht leicht zu beantworten, aber wir sind innerhalb dieses Prozesses auf dem Weg dorthin. Eine offene Theorie der Interkulturalität vermeidet jede Form von emo‐
tionaler, moralisierender und nützlichkeitsorientierter Argumentations‐weise. Das Prinzip der Unparteilichkeit ist hier konstitutiv. Diesem Prinzip nach ist die Interkulturalität einer Kommunikation verpflichtet, welche geschichtliche und gegenwärtige Dimensionen gleichermaßen berücksich‐tigt. Sie will bestehende Diskurse aus ihrer Monokausalität befreien. Dabei bedingen sich Verstehen‐Wollen und Verstanden‐Werden‐Wollen zwi‐schen und innerhalb des Eigenen und des Fremden gegenseitig. Wer ver‐standen werden will, muß bereit sein zu verstehen. Dies ist ein zentrales Problem der interkulturellen Praxis. Interkulturalität hat also mit Begegnung bzw. Begegnungen zu tun, die
auf Reziprozität hin angelegt sind. Das Eigene in Form von ›Wir‹ und das Fremde in Form von ›Anderen‹ sind dementsprechend in ihrer Subjektivi‐
4 Vgl. Yousefi, Hamid Reza: Theorie und Praxis der Menschenrechte. Historische
Hintergründe und aktuelle Aporien, in: Wege zu Menschenrechten. Geschichten und Gehalte eines umstrittenen Begriffs, hrsg. v. Hamid Reza Yousefi u.a., Nordhausen 2008 (23‐52).
5 Vgl. hierzu meine Ausführungen in: Braun, Ina und Hermann‐Josef Scheidgen: Interkulturalität Wozu? Hamid Reza Yousefi und Peter Gerdsen im Gespräch, Nordhausen 2008. Der Begriff der ›Interkulturalität‹ läßt sich in ein ›vor‐koloniales‹, ein ›koloniales‹ und ein ›post‐koloniales Weltalter‹ unterteilen. Diese Problematik wird im Rahmen eines anderen Projekts behandelt.
6 Der Begriff der ›Interkulturalität‹ setzt sich von ›Transkulturalität‹ und ›Multi‐kulturalität‹ ab. Während erstere von einer radikalen Hybridität der Kulturen ausgeht, intendieren letztere eine kulturelle Homogenisierung. Vgl. Yousefi, Hamid Reza und Ina Braun: Interkulturelles Denken oder Achse des Bösen. Das Is‐lambild im christlichen Abendland, Nordhausen 2005 S. 224 ff.
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tät an die gleichen Bedingungen der Leiblichkeit gebunden und sind keine geschlossenen Monaden. Interkulturalität kennt unterschiedliche Dimen‐sionen und vollzieht sich im Rahmen dieser Begegnungen durch eine Viel‐zahl von Dialogen7:
1. einem kulturellen, der keine Tradition bevorzugt, aber eine wechselseitige Berei-cherung durch Kommunikation und Interaktion intendiert,
2. einem philosophischen, der die Einsicht kultiviert, daß das Wahre von allen ge-sucht wird, aber niemandes Besitz allein ist,
3. einem philosophiegeschichtlichen, der von einer Pluralität von Geschichten und einer Pluralität von philosophischen Denkwegen ausgeht und jede Privilegierung oder Verabsolutierung zurückweist,
4. einem religiösen, der aufzeigt, daß Religion in unterschiedlichen Erscheinungs-formen auftritt und daß Erlösung auch ohne Gott möglich ist,
5. einem religionswissenschaftlichen, der beinhaltet, wie Religionen und Kulturen in einer gemeinsamen ›Lebenswelt‹ verwurzelt sind, die sie miteinander verbindet,
6. einem historischen, der sich mit den kolonialgeschichtlichen Folgen beschäftigt und darauf ausgerichtet ist, Überlappungen und Differenzen in Geschichte und Gegenwart der Kulturen herauszuarbeiten,
7. einem wirtschaftlichen, mit dem Ziel, Grundprobleme der Globalisierung und Wirtschaftsethik wie Verteilungskonflikte im Kontext der Weltwirtschaft heraus-zuarbeiten,
8. einem pädagogischen, mit dem Ziel, vom Kindergarten bis zur Erwachsenenbil-dung eine Einstellung wechselseitiger Toleranz zu fördern,
9. einem psychologischen, der die Grundzüge des seelischen Verhaltens der Men-schen auf der Ebene der Einstellung analysieren will,
10. einem soziologischen, der die Soziologie der Kulturen und die Auswirkungen in-tra- und interkulturellen Verhaltens auf gesellschaftliche Strukturen hin unter-sucht.
1. 1. Die Bedeutung des Kulturbegriffs Traditionelle Kulturtheorien haben oft die Homogenität von ›Kultur‹ bzw. ›Kulturen‹ zu sehr betont und durch grobe Verallgemeinerungen unverän‐derliche Verhaltensweisen, Wertvorstellungen, symbolische Ordnungen oder Glaubenssysteme identifiziert. Kulturelle Unterschiede können an solchen Merkmalen nicht ausschließlich verankert werden. Intrakulturelle
7 In einem interkulturellen Kontext der Kommunikation müssen die Teilnehmer
sich darüber im Klaren sein, wer sie sind. Hierbei ist die interkulturelle Kompe‐tenz von Bedeutung, die mit interkultureller Semantik, interkultureller Toleranz und interkulturellem Humanismus einhergeht. Alle diese Komponenten setzen eine interkulturelle Hermeneutik voraus, die analogischen Charakter besitzt.
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›Unterschiede‹ zwischen Menschen innerhalb der eigenen ›Kultur‹ sind manchmal viel größer als zwischen Menschen, die aus unterschiedlichen Kulturregionen zusammenkommen.8 Dies hängt unter anderem damit zusammen, daß Menschen innerhalb eines Kulturgebiets aufgrund ver‐schiedener sozialer Kriterien unterschiedliche Sozialisationsformen erfah‐ren. Intra‐ und Interkulturalität bedingen sich gegenseitig. Im Zentrum der Debatte um die Interkulturalität und ihre Themenfelder
steht der Begriff der Kultur, der, ausgehend von unterschiedlichen Voraus‐setzungen, erläutert wird.9 Kultur wird gebildet durch eine Reihe von Pro‐zessen, die kognitiver, normativer, emotionaler und religiöser Natur sind und die im Vergleich und Verständnis der Kulturen viele Ähnlichkeiten und Differenzen aufweisen. Kultur ist somit ein offenes Netzwerk von Perspektiven und dynamischen Prozessen; ein offenes Sinn‐ und Orientie‐rungssystem; ein anthropologischer Ausdruck der Lebensweise der Völker, der durch Kommunikationsprozesse hervorgebracht und reproduziert wird. Kulturen sind keine apriorischen Größen, sondern sie werden als menschliche Produkte hervorgebracht, die sich gegenseitig beeinflussen und verändern. Kulturen sind vorläufige und bewegliche Diskursfelder mit offenen
Grenzen, die sich in Kommunikation miteinander entwickeln und verän‐dern. Es gibt »keine absolute Kulturbestimmung, sondern nur plurale Formen des kulturellen Menschseins.«10 Folglich ist der Mensch ein kultur‐geformtes Wesen, das sich in seinem historischen Lebensprozeß stets zwi‐schen unterschiedlichen Kontexten bewegt. Kulturen besitzen als hetero‐gene Netzwerke integrativen Charakter mit offenen subkulturellen Le‐benswelten. Sie entstehen unter bestimmten kontextuellen Bedingungen 8 Als Beispiel kann Mahatma Gandhi genannt werden, der als Hindu von einem
Hindu ermordet wurde. Hier zeigt sich, daß intrakulturelle Differenzen so ge‐wichtig sein können, daß sie Menschen zum Morden bringen.
9 Andreas Reckwitz unterscheidet vier unterschiedliche Kulturkonzepte, ein nor‐matives, ein totalitätsorientiertes, ein differenzierungstheoretisches sowie ein bedeutungs‐ und wissensorientiertes Kulturkonzept. Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Göttingen 2006 S. 64‐90.
10 Krumpel, Heinz: Philosophie in Lateinamerika. Grundzüge ihrer Entwicklung, Berlin 1992 S. 12.