wild derrida tierphilosophie 2014-libre
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Markus Wild (Universität Basel) Februar 2014
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Das Tier als ein Anderer? Zu Jacques Derridas Tierphilosophie
In Das Tier, das ich also bin variiert Jacques Derrida wiederholt die Worte „Un
animal me regarde“. Dieses Motiv entsteht aus einem Erlebnis Derridas mit einer
Katze. Sie schaut ihn im Bad an; er ist nackt. Es handelt sich, wie Derrida betont,
nicht um eine Katze als solche, nicht um die Katze als Motiv, nicht um eine
Stellvertreterin ihrer Art, sondern um eine reale Katze, die ihm morgens ins Bad folgt
– „wahrhaftig, glauben Sie mir, eine kleine Katze.“1 „Ein Tier schaut mich an.“ So
kann man „Un animal me regarde“ übersetzen. Doch es bedeutet auch: „Ein Tier geht
mich etwas an.“ Was bedeutet soll diese Doppelbedeutung? Warum spricht Derrida
von einer kleinen Katze? Dazu auch noch von einer Katze, die ihn morgens nackt im
Badezimmer betrachtet, vor der er sich schämt, weil er nackt ist? Was sollen wir mit
diesen Intimitäten?
Nicht wenigen, insbesondere Philosophinnen und Philosophen, die sich in der
analytischen Tradition verorten, zu denen auch ich mich zähle, ist ein solcher Text
unangenehm, er geniert sie, er regt sie auf. Eine Kollegin meinte mir gegenüber einst
sinngemäß: „Dieser Text sei irgendwie, ich weiß nicht, also ...“ und hier stieß sie
einen lächelnden Seufzer aus. Das erinnerte mich an eine andere Szene, eine
literarische. In J.M. Coetzees Roman „Das Leben der Tiere“ besucht die
Schriftstellerin Elisabeth Costello ein amerikanisches College, an dem ihr Sohn
Physik lehrt. Sie und ihre Schwiegertochter Norma, eine Philosophin mit dem
Spezialgebiet Philosophie des Geistes, haben ein schlechtes Verhältnis. Costello wird
an dem College einen Vortrag „Die Philosophen und die Tiere“ halten. Sie ist erfüllt
vom Leid der Tiere und daher Vegetarierin geworden.2 Eigentlich spricht sie über
Franz Kafkas Erzählung „Bericht an die Akademie“ bzw. über den Verfasser dieses
Berichts, den Affen Rotpeter, doch sie schweift ab, nimmt Umwege, macht Sprünge,
hüpft von einem zum anderen, fliegt weg, taucht ab, galoppiert davon.
1 J. Derrida, Das Tier, das ich also bin, Wien 2010, S. 23. 2 Sie scheut sich nicht vor dem Vergleich zwischen dem Leid in den Schlachthöfen mit Treblinka, der aus Isaac B. Singers erzählerischem Werk stammt: „In relation to them, all people are Nazis; for the animals it is an eternal Treblinka“. Nach dem Vortrag bleibt ein Mitglied des Colleges, der Dichter Abraham Stern, dem Dinner aus Protest fern. Der Vergleich beleidige das Gedächtnis der Toten. Vgl. zu Derridas Gebrauch des Ausdrucks „Genozid“
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An einer Stelle nimmt Elisabeth Costello auf den Aufsatz „Wie ist es eine Fledermaus
zu sein?“ des amerikanischen Philosophen Thomas Nagel Bezug. Nagel argumentiert,
dass wir nicht wissen können, wie es sich anfühlt eine Fledermaus zu sein, denn dazu
müsste man die subjektive Perspektive einer Fledermaus haben, was für uns
unmöglich ist. Diese Überlegung ist für Nagel nur ein Anlass um zu zeigen, dass das
Bewusstsein an eine subjektive Perspektive gebunden ist und folglich nicht auf
objektive neurologische Prozesse reduziert werden könne. Das weiß Costello, doch es
interessiert sie nicht:
„When Kafka writes about an ape, I take him to be talking in the first place about an
ape; when Nagel writes about a bat, I take him to be writing, in the first place, about a
bat.“3
Norma, die Philosophin, reagiert umgehend und „gives a sigh of exasperation“ (ibid.)
Costello hält Nagel vor, dass er den falschen Weg gehe. Nagel argumentiert, dass man
ja zunächst die Sinnesorgane einer Fledermaus haben müsste, um zu wissen, wie es
ist, ein solches Wesen zu sein. Sie widerspricht ihm indem sie sagt:
„To be a living bat is to be full of being; being fully a bat is like being fully human,
which is to be full of being. [...] To be full of being is to live as a body-soul. One
name for the experience of full being is joy.“ (ibid., 78)
Später wird Norma Elisabeths Vortrag als Ausdruck von „French irrationalism“
bezeichnen (93). Die Quelle von Costellos Gedanke hat sie sicher richtig erkannt. Der
Verweis auf die Freude (joy) als der Erfahrung des vollen Daseins (experience of full
being), das Menschen und andere Tiere teilen könnten, dürfte eine Anspielung auf
Henri Bergson sein. Für Bergson manifestiert sich die intuitive Erfahrung der Dauer
nämlich in einer besonderen Art von Freude. Da die Dauer das Wesen aller
Lebewesen ist, könnte man hier mit einigem Recht von Lebens- oder Existenzfreude
sprechen. Was dabei übrigens auch zum Ausdruck kommt, ist der Umstand, dass
Costello gerne eine andere Empfindung in den Vordergrund rücken würde, wenn es
3 J.M. Coetzee, Elisabeth Costello, London: Vintage 1999, 76.
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um die Vergleichbarkeit von Empfindungen bei Mensch und Tier geht.
Normalerweise ist dies nämlich der Schmerz, nicht die Freude. Die Gründe für den
Vorrang des Schmerzes auf diesem Gebiet sind aber m.E. einfach offensichtlich:
Erstens hat der Schmerz ein viel deutlicheres Verhaltensprofil als die Freude und
zweitens erscheint der Schmerz ethisch direkt relevant.
War Bergson in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für analytisch gesinnte
Philosophen der Inbegriff von „French irrationalism“, so hat in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts Derrida dessen Platz eingenommen. Derrida galt und gilt in der
angloamerikanischen und deutschen Philosophie für lange Zeit als Inbegriff des
französischen Irrationalismus.
Derrida wurde häufig ausserhalb der Philosophie als sehr viel einflussreicher als
innerhalb der Philosophie angesehen. Ein wichtiger Einflussbereich sind die
sogenannten Human Animal Studies, die sich in angloamerikanischen Ländern schon
längst etabliert haben, im deutschsprachigen Gebiet aber gerade erst vor ihrem
Anfang stehen (von Frankreich etwa wollen wir diesbezüglich lieber schweigen). Hier
gilt Derrida zu Recht als wichtiger Stichwortgeber. Das lesenswerte Buch mit dem
zweideutigen Titel Thinking Animals. Why Animal Studies Now? von Kari Weil
beginnt mit den folgenden Worten:
„‚Ein Tier blickt uns an und wir sind nackt vor ihm. Vielleicht beginnt das Denken
dort.’ Diese beiden Zeilen aus Jacque Derridas Das Tier, das ich also bin sind oft
zitiert worden, obwohl sie unbestimmt (elusive) und verführerisch (haunting) sind.
Was hat es zu bedeuten, dass das Denken in der Konfrontation zwischen dem
menschlichen und dem nichtmenschlichen Tier beginnt? Worin besteht dieses
Denken, das zuvor nicht gedacht worden ist, oder das zuvor nicht vom Philosophen
gedacht worden ist? Und worin besteht diese Nacktheit auf die uns die Begegnung mit
einem Tier (mit einem individuellen Tier, nicht mit ‚dem Tier’ oder dem Begriff der
Tierheit) zurückführt?“4
4 Kari Weil, Thinking Animals. Why Animal Studies Now?, New York: Columbia University Press 2012, S. xv.
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Die Human-Animal-Studies befassen sich mithilfe der Werkzeuge der Geschichts-
und Kulturwissenschaften mit der Beziehung zwischen Mensch und Tier. Im
Vordergrund stehen dabei Fragen der Abgrenzung, des Einschlusses, des
Ausschlusses, der Vereinnahmung von Tieren in Kunst, Literatur, Gesellschaft,
Wissenschaft, Politik und Philosophie. Derrida ist eine der theoretischen Prägefiguren
der Human-Animal-Studies. In Derridas umfangreichem und vielgestaltigem Werk
finden sich von Anfang an Spuren von Tieren.5 Diese Spuren sind immer häufiger
und dichter geworden. Sie haben sich schließlich in dem Vortrag L’animal que donc
je suis (Das Tier, dass ich also bin / dem ich also folge) aus dem Jahr 1997 verdichtet.
Dieser Vortrag bildet das erste Kapitel des letzten von Derrida selbst zur
Veröffentlichung gebrachten Buches L’animal que donc je suis (2006). Aus diesem
Grund beginnt Weils Buch mit einem Verweis auf Derrida.
Ich möchte Derridas Auffassung vom Tier nun aber aus einer mehr philosophischen
Perspektive untersuchen. In seinem Buch fordert er eine „Tierphilosophie“. Diese
muss man aber nicht erst fordern, denn sie existiert schon und es gibt reichlich
Literatur zur Tierphilosophie, sowohl aus dem Bereich der kontinentalen als auch aus
dem Bereich der analytischen Philosophie.
An dieser Stelle müssen wir freilich Obacht geben, weil sich zu dieser Unterteilung in
analytische und kontinentale Philosophie bisweilen eine unglückliche und falsche
Unterteilung hinsichtlich der philosophischen Fragen an das Tier hinzu gesellt. Ich
möchte das Gemeinte an einem Beispiel verdeutlichen. Am Ende Ihres Buches
Nietzsches Philosophie des Tiers (2009/2012) schreibt die Philosophin Vanessa
Lemm Folgendes:
„In der gegenwärtigen Debatte zum Problem des Tiers kann man zwischen zwei
verschiedenen Verständnissen dessen unterscheiden, was dieses Problem beinhaltet.
In der anglo-amerikanischen Tradition kreist das Problem des Tiers in erster Linie um
5 In Derridas erstem großen Werk, De la Grammatologie (1967), heißt es: „Der Mensch kann sich Mensch nur nennen, indem er Grenzen zieht, die sein Anderes: die Reinheit der Natur, der Animalität, der Ursprünglichkeit, der Kindheit, des Wahnsinns, der Göttlichkeit aus dem Spiel der Supplementarität ausschließen. Die Annäherung an diese Grenzen wird als einen tödliche Bedrohung gefürchtet und zugleich als Zugang zum Leben ohne Aufschub begehrt. Die Geschichte des sich Mensch nennenden Menschen ist die Verknüpfung aller dieser Grenzen untereinander.“ (Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt/M. 1974, S. 420)
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den ethischen Status nichtmenschlicher Tiere, um die Frage, ob die Interessen von
Tieren die gleiche Berücksichtigung verdienen wie diejenigen von Menschen und ob
Tiere daher über Rechte verfügen... Im Gegensatz hierzu betrifft in er europäischen
kontinentalen Philosophie das Problem des Tieres, des Status der Animalität des
Menschen, die Frage, ob Kontinuität zwischen menschlichen und tierischem Leben
nach einer Neubetrachtung unseres ‚humanistischen’ Verständnisses des Lebens, der
Kultur und der Politik verlangt. Meine Annäherung an das Problem des Tieres gehört
der zweiten Tradition an.“ (Lemm 2012, 235)
Hier werden nicht nur Gründe durch Traditionen ersetzt, sondern es werden auch
Unterscheidungen vorgenommen, die so nicht zutreffen. Denn erstens finden sich
ethische Fragen zum Tier auch in der ’kontinentalen’ Tradition, wie etwa Arbeiten
von Elisabeth de Fontenay und Florence Burgat zeigen. Zweitens finden sich auch in
der ’analytischen’ Tradition zahlreiche Arbeiten zur Frage nach dem evolutionären,
ontologischen, historischen, politischen Verhältnis des Menschen zu seiner Animalität
(dazu etwa: Kim Sterelny, Eric Olson, Richard Sorabji, Alasdair McIntyre oder Will
Kymlicka). Drittens erschöpft sich die Philosophie des Tiers natürlich nicht in der
Frage unserer politischen oder ethischen Beziehung zum Tier. Das wäre eine gar
anthropozentrische Auffassung. Uns interessiert ja auch das Tier selbst, nicht nur
unsere Beziehung zu ihm.
In der Tierphilosophie (die Derrida, wie wir gesehen haben, fordert und die bereits
seit einiger Zeit existiert) lassen sich drei Themen unterscheiden:
(1) Anthropologische Differenz: Gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen
Mensch und Tier?
(2) Geist der Tiere: Kann man Tieren zu Recht geistige Fähigkeiten wie
Bewusstsein, Absicht und Denken zuschreiben?
(3) Tierethik: Hat der Mensch Tieren gegenüber direkte moralische Pflichten?6
Für den Geist der Tiere interessiert sich Derrida nicht, weil ihn die entsprechende
empirische Forschung nur am Rande berührt. Doch seine Tierphilosophie handelt
6 Vgl. M. Wild, Tierphilosophie, Hamburg 2008.
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sowohl vom Unterschied zwischen Mensch und Tier als auch von ethischen
Beziehungen zu Tieren. Der Satz „Ein Tier schaut mich an“ verweist auf die
anthropologische Differenz, der Satz „Ein Tier geht mich an“ hingegen auf die
Tierethik. Das ist der Sinn der Doppelbedeutung. Im Folgenden wende ich mich
Derridas Behandlung der anthropologischen Differenz und anschließend der Tierethik
zu. Die beiden Stränge, die Vanessa Lemm so grosszügig unterscheidet, gehören also
zusammen: Man sollte weder Derridas Tierphilosophie noch die Tierphilosophie
überhaupt auf die von Lemm und Anderen vorgeschlagene Weise trennen. Im
Folgenden geht es mir also darum zu zeigen, inwiefern beide Stränge bei Derrida ein
Rolle spielen.
1. Die Dekonstruktion der anthropologischen Differenz
Derrida ist der Philosoph der Dekonstruktion. Für ihn ist Philosophie kritische Arbeit
an der metaphysischen Überlieferung. Diese Arbeit besteht in intensiven Lektüren
philosophischer Texte, wobei in solchen Lektüren gerade das scheinbar Marginale im
Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Philosophischen Texten haften Momente der
Unentscheidbarkeit an, sie enthalten Viel- und Undeutlichkeiten, Lücken und
Sprünge, Bilder und Metaphern. Diese vermeintliche Schwäche macht die
Dekonstruktion stark und destruiert so die philosophische Überlieferung. Doch was
dabei zum Vorschein kommt, ist nicht etwas Ursprüngliches, das durch diese
Überlieferung verdeckt worden wäre, sondern vielmehr kommen Konstruktionen zum
Vorschein. In Derridas Augen versucht die Metaphysik auf einen Ursprung, etwas
Erstes zu stoßen, das einfach, ganz, rein, selbst-identisch, selbst-genügsam,
übersinnlich, wahr, gut usw. wäre. Das klassische Beispiel ist Gott. Anderes existiert
als Abhängiges, als Abfall, Zufall, Unfall. So ist Gott ursprünglicher als die
Schöpfung, das Gute substantiell, das Böse ein Mangel, das Reine höher als das
Unreine, das Einfache fundamentaler als das Zusammengesetzte, das Notwendige
wichtiger als das Zufällige usw. Die Metaphysik konstruiert Unterscheidungen,
vergisst aber diese Konstruktion und nimmt sie als naturgegeben an. Die Metaphysik,
so Derrida, privilegiert stets ein Element einer solchen Opposition. Sie ist dadurch mit
einem Anspruch auf Vorrang und Herrschaft verbunden. Hierarchische
Gegensatzpaare beherrschen laut Derrida die gesamte Metaphysik. Als Folge davon
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beherrschen sie auch unser ethisches, wissenschaftliches, politisches und alltägliches
Denken.
Zu solchen Konstruktionen gehört auch das Gegensatzpaar Mensch und Tier. In der
anthropologischen Differenz finden wir eine Opposition, die binär (Mensch versus
Tier) und hierarchisch (Mensch über Tier) ist. Für Derrida ist diese Differenz der
Inbegriff aller binären, hierarchischen Oppositionen. Denn wer nach der
anthropologischen Differenz fragt, der fragt nach dem einen Unterschied zwischen
Menschen und Tier, der alle anderen Unterschiede erklärt. Der Mensch wird geradezu
definiert durch das, was ihn vom Tier unterscheidet. Das Ausfüllen der Formel „Der
Mensch ist ein Tier plus X“ ist deshalb seit dem Beginn der Philosophie ihr
anthropologisches Hauptgeschäft. Das Tier hingegen wird verstanden als etwas, dem
dieses X fehlt. So ist der Mensch das vernünftige, sprechende, moralische, bewusste
Tier, das Tier hingegen das Unvernünftige, Sprachlose, Unmoralische, Unbewusste.
In diesen Bestimmungen bleibt der Mensch jedoch stets auf das Tier verwiesen. Das
Tier hilft, den Menschen zu dem zu machen, wofür er sich nimmt.
Darum schreibt Derrida: „Das Tier schaut/geht uns an, und wir stehen nackt vor ihm.
Denken beginnt vielleicht da.“7 Das bedeutet nicht, dass der Mensch zuvor nicht
denkt, sondern dass er sich selbst im Gegensatz zum Tier als Denker versteht. Er
nimmt sein Denken als den wesentlichen Unterschied zum Tier. Die Metaphysik
zeichnet sich nun dadurch aus, dass sie den Logos (Denken, Sprache) privilegiert.
Diese Privilegierung nennt Derrida „Logozentrismus“. Sie hat darüber hinaus den
Mann vor der Frau privilegiert. Diese Privilegierung nennt Derrida
„Phallogozentrismus“. Das Tier schließlich ist dasjenige, welches sich der Mann
unterwirft (Natur, Frau), was er opfert (Frau, Tier) und was er sich einverleibt (Tier).
Dies nennt Derrida „Karnophallogozentrismus“. So wird die anthropologische
Differenz zum Inbegriff aller Oppositionen und Konstruktionen der Metaphysik.
Das Argument, welches Derrida gegen die anthropologische Differenz anführt, lautet,
dass keines der Merkmale, das den Menschen im Unterschied zum Tier auszeichnen
soll, einer Prüfung standhält und nur dem Menschen zukommt: Entweder verfügen
7 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 54.
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auch nichtmenschliche Tiere über dieses Merkmal oder es verfügen nicht alle
Menschen darüber bzw. nicht mit der Deutlichkeit, die man sich wünschen würde. In
einem 2001/2002 gehaltenen Seminar führt Derrida dieses Argument exemplarisch in
der Analyse der Hobbes’schen These vor, dass Tiere nicht vertragsfähig seien, weil
sie nicht sprechen.8 Dagegen führt Derrida an, dass Tiere sehr wohl über Formen der
Kommunikation verfügen, die Überschneidungen mit der Sprache zulassen, dass es
zwischen Menschen und Tiere durch Erfahrung, Abrichtung, Haus- und
Interessegemeinschaft eine Reihe von konventionellen oder faktischen Formen der
Übereinkunft gibt. Das Kriterium der Differenz findet sich also auch bei Tieren.
Andererseits kann niemand behaupten, dass alle menschlichen Formen von
verbindlichen Übereinkünften ausdrücklich, diskursiv oder schriftlich und im
gegenseitigen Einvernehmen erfolgen würden. Das Kriterium der Differenz findet
sich also beim Menschen nicht immer oder nicht in reiner Form.
Allerdings, und das ist von Bedeutung, leugnet Derrida nicht die Unterschiede. Er
weist die Ansicht zurück, dass zwischen Mensch und Tier eine Kontinuität oder
Homogenität bestehe. Er insistiert vielmehr auf den Unterschieden und
Ungleichheiten zwischen allen Lebewesen. Er hält sogar an einer radikalen
Diskontinuität zwischen Menschen und Menschenaffen fest. Allerdings handelt es
sich um eine Diskontinuität, die auch zwischen anderen Lebewesen existiert. Was
Derrida zurückweist, ist die Idee eines Unterschieds, der den Menschen essentiell
vom Tier trennt. In minutiösen Analysen zeigt Derrida, dass nicht nur klassische
Denker wie Descartes, Hobbes, Rousseau oder Kant von der anthropologischen
Differenz zehren, sondern dass sich auch das Denken von Heidegger, Lacan oder
Lévinas vom Gegensatz zwischen Mensch und Tier nährt. Ihr Denken ist
logozentrisch und karnivor, keine Gegenbewegung zur metaphysischen Tradition,
sondern deren Fortsetzung.
2. Tierethik zwischen Similarität und Alterität
Wie wir gesehen haben, ist Derrida ein scharfer Kritiker der Metaphysik. Er behauptet
aber, dass es zwischen Menschen und Tieren einen Bruch gebe und dass er nicht an
8 J. Derrida, La bête et le souverain, vol 1, Paris 2008, S. 90f.
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eine Kontinuität zwischen ihnen glaube.9 Weiter hat Derrida mehrfach betont, dass es
ein Widerspruch sei, Tieren Rechte zuzuschreiben, um sie vor dem
„Karnophallogozentrismus“ zu schützen. Drittens vertritt er die Ansicht, dass der
Vegetarismus unmöglich sei. Diese drei Thesen haben Freunde und Gegner Derridas
irritiert.10 Um zu verstehen, was Derrida meint, können wir uns wieder den Katzen
zuwenden.
Wie viele Namen haben Katzen? Es sind drei, wie T.S. Eliot in „The Naming of Cats“
(1939) erklärt. Als erstes ganz gewöhnliche Namen, die wir ihnen geben, Susi oder
Moritz. Doch Katzen haben einen zweiten Namen, der zu ihrem individuellen
Charakter passt:
„Zu solchen Namen zählt beispielsweise
Schnurroaster, Tatzitus, Katzastrophal,
Kralline, Nick Kater und Kratzeleise
Und jeden der Namen gibt’s nur einmal.“11
Endlich der dritte Name, den man weder erraten noch erforschen kann. Nur die Katze
kennt ihn und gibt ihn niemals Preis. Wann immer man eine Katze in tiefer
Meditation antrifft, so Eliot, widmet sich ihr Geist der Betrachtung des Gedankens an
ihren Namen. Was könnte dieser dritte Name sein? Offenbar möchte Eliot betonen,
dass die Katze über etwas ihr Eigenes verfügt, über eine subjektive Perspektive, ein
Bewusstsein. Es mag überraschen, dass dies ein dritter Personenname sein soll. Nun,
Namen geben wir in der Regel Wesen, die Personen sind oder, in einem weiteren
Sinne, Wesen, die eine eigene Perspektive haben. Eliot betont, dass die Katze gerade
dann, wenn sie scheinbar nichts tut, sondern nur da ist, in tiefer Meditation einen
inneren Zustand aufweist, zu dem wir keinen Zugang haben und den die Katze uns
nicht mitteilen kann.
9 Derrida, L’animal que donc je suis, S. 52. 10 Sowohl David Wood, ein Kenner und Anhänger der Dekonstruktion, als auch Gary Steiner, ein Gegner Derridas, betrachten Derridas drei Thesen und seine ambivalente Haltung der Tierethik gegenüber entweder als inkonsequent bzw. als Ausdruck für ein normatives Defizit der Dekonstruktion, vgl. David Wood, „Thinking with Cats“, in: Animal Philosophy: Ethics and Identity, hrsg. von P. Atterton und M. Calarco, London 2004; G. Steiner, „Tierrechte und die Grenzen des Postmodernismus. Der Fall Derrida“, ALTEXethik 27 (2010). 11 T.S. Eliot, Gesammelte Gedicht, Frankfurt/M. 1988, S. 345.
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Die folgende Tabelle veranschaulicht die Funktion der drei Katzennamen bei T.S.
Eliot:
the sensible everyday
name
Peter, James, Victor,
Demeter etc.
Namen, die wir Katzen gemeinhin geben
Artverhalten
particular, perculiar
name
Munkstrap, Quaxo,
Jellylorum etc.
Namen, die der Individualität einer Katze
entsprechen Individualverhalten
The deep, ineffable,
inscrutable, singular
name
??? Never guess, never discover, never confess, except
in meditation, contemplation
Subjektives Erleben
In einem berühmten Artikel hat sich der Philosoph Thomas Nagel die Frage gestellt,
ob wir wissen können, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, ob wir die subjektive
Perspektive, das bewusste Erleben einer Fledermaus nacherleben können.12 Er hat
diese Frage verneint. Sein Argument ist einfach: Wenn ich kein fledermausartiges
Wesen bin, dann verfüge ich auch nicht über die subjektive Perspektive einer
Fledermaus. Also kann ich nicht wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Selbst
Batman oder Dracula erleben das Fledermaussein nicht als Fledermäuse. Nagel hat
das Beispiel der Fledermaus gewählt, weil ihr Wahrnehmungsapparat und ihre
Lebensweise uns sehr fremd sind. Er hätte natürlich auch eine Katze nehmen können.
Interessant an diesem Argument ist Folgendes: Nagel bezweifelt nicht, dass
Fledermäuse oder Katzen Bewusstsein haben, sein Argument setzt ja voraus, dass es
so etwas gibt, das “wie-es-sich-anfühlt-eine –Katze-zu-sein“. Er bezweifelt aber, dass
wir wissen können, wie es sich anfühlt, als Fledermaus im Dunkeln zu jagen oder als
Katze neben einem Laptop zu schnurren. Wir müssen hier zwei Fragen unterscheiden:
(1) Verteilungsfrage: Können wir wissen, ob ein Tier bestimmte bewusste
Erfahrungen hat, z.B. Schmerz? Diese Frage zielt auf die Verbreitung von
Schmerz im Tierreich. Finden wir ihn bei Fledermäusen oder Forellen?
12 Th. Nagel, „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?”, Analytische Philosophie des Geistes, hrsg. von P. Bieri, Weinheim 1993, S. 261-275.
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(2) Anfühlfrage: Können wir wissen, wie es sich für ein Tier anfühlt, bestimmte
bewusste Erfahrungen zu haben, z.B. Schmerzen? Diese Frage zielt auf die
private Qualität bewusster Erlebnisse.
Nagels Argument wendet sich gegen eine positive Antwort auf die Anfühlfrage, setzt
aber eine positive Antwort auf die Verteilungsfrage voraus. Nagel hat darin sicher
nicht Unrecht. Auf etwas Ähnliches weist Eliot mit dem geheimen Namen der Katze
hin. Wir können eine Katze beobachten, ihr Verhalten beschreiben, auf sie reagieren,
erleben, wie sie auf uns reagiert usw. und auf dieser Grundlage kommen wir zu der
Ansicht, dass sie ein Wesen mit einem subjektiven Erleben ist. Dies entspricht dem
zweiten Namen der Katze. Doch wie können wir wissen, dass sie Schmerz oder
Vergnügen empfindet? Durch Analogieüberlegungen. In unseren Fall empfinden wir
Schmerz oder Vergnügen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind; und wenn diese
auch bei der Katze vorliegen, dürfen wir schließen, dass auch sie Schmerz oder
Vergnügen empfindet. Die Antwort auf die Verteilungsfrage geben wir also durch die
Ähnlichkeit zu uns, aufgrund der Similarität der Katze. Wenn wir zur Anfühlfrage
übergehen und fragen, wie es sich anfühlt, diese Katze zu sein, müssen wir
zugestehen, dass wir es nicht wissen. Die Katze kann es uns nicht mitteilen, denn alle
Mittel der Mitteilung haben wir beim zweiten Namen, bei der Beantwortung der
Verteilungsfrage, ausgeschöpft. Der Grund dafür, dass wir keine Antwort auf die
Anfühlfrage geben können, liegt an der Verschiedenheit der Katze von uns, an ihrer
Alterität.
3. Derrida als Kritiker und Verfechter von Tierrechten
In der Tierethik dient die Similarität häufig als Grundlage für Argumente, Tiere
moralisch um ihrer selbst Willen zu berücksichtigen oder ihnen Rechte zuzugestehen.
Tiere sind wie wir empfindungsfähig oder intelligent oder sozial; wir berücksichtigen
andere Menschen moralisch um ihrer selbst Willen oder gestehen ihnen Rechte zu,
weil sie empfindungsfähig, intelligent, sozial sind; also sollten wir dies auch bei
Tieren tun. Nun lautet Derridas Frage, ob nicht auch die Alterität Grundlage der Ethik
sein kann. Derrida ist nicht nur der Ansicht, dass Alterität eine solche Grundlage sein
kann, sondern sein muss. Er ist zweitens der Ansicht, dass die Similarität die Gewalt
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gegen Tiere fortschreibt, dass wir aber in der gegenwärtigen historischen Situation
nichts Besseres als Similarität haben.
Derrida hat Argumente dafür, dass die Similarität eine problematische Grundlage für
ethische Beziehungen ist. Ein Argument besagt, dass man auf der Grundlage der
Similarität nur Verpflichtungen gegenüber Gleichen habe.13 Dies führe zu einer
Abstufung der Verpflichtungen: Wir haben stärkere Verpflichtungen gegenüber der
Familie als gegenüber der Nation, mehr gegenüber der Nation als der Rasse, der
Rasse als der Kultur, der Kultur als der Religion gegenüber usw. Im Konfliktfall
würden diejenigen Relationen obsiegen, welche wir mir Nahestehenden und Gleichen
unterhalten. Es handelt sich um eine Grundlegung ethischer Beziehungen im
Egoismus oder Ethnozentrismus. Gegen den Einwand, dass es sich bei diesen
Similaritäten und den mit ihnen korrespondierenden Loyalitäten doch einfach um eine
Tatsache handle, wendet Derrida ein, dass Fakten keine Normen begründen. In der
analytischen Philosophie ist dies als „naturalistischer Fehlschluss“ bekannt. Nun
könnte man entgegnen, dass ein abstraktes Prinzip der Similarität oder der
Gerechtigkeit, das Gruppenegoismen meidet, diesem Einwand entgeht. Versteht man
Gerechtigkeit als erweiterte Loyalität, bleibt der Einwand bestehen. Versucht man
hingegen Gerechtigkeit abstrakt zu begründen, so ergibt sich ein Problem, dass
Derrida in Gesetzeskraft 14 herausgearbeitet hat: Zwischen der Gerechtigkeit als
abstraktes Prinzip der Gleichheit aller und Gerechtigkeit als Angemessenheit für den
Einzelfall besteht eine grundlegende Spannung.
Ein weiteres Argument Derridas gegen die Auffassung, dass wir Tieren aufgrund
ihrer Similarität mit uns auch Rechte zugestehen sollten, lautet wie folgt: Das
abstrakte Prinzip der Gerechtigkeit und unser Rechtsbegriff beruhen auf einer
bestimmten Auffassung von Subjektivität, Autonomie, Rationalität und Freiheit.
Diese Auffassung wiederum beruht auf der anthropologischen Differenz. Wenn dies
zutrifft, dann beruhen unsere abstrakten Prinzipien von Recht und Gerechtigkeit auf
der für unsere Tradition grundlegenden Abgrenzung des Menschen vom Tier. Die
Ausdehnung solcher abstrakten Prinzipien auf Tiere kann deshalb nicht konsequent
sein, unterminiert sie doch ihre eigene Grundlage. Mehr noch, die Grundlage für die
13 Vgl. Derrida, La bête et le souverain, S. 155f. 14 Vgl. J. Derrida, Gesetzeskraft. Der mystische Grund der Autorität, Frankfurt/M. 1991.
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13
Zuschreibung von Rechten gegenüber Tieren ist in Derridas Augen derselbe Grund,
der die Gewalt gegenüber Tieren bislang stillschweigend oder ausdrücklich legitimiert
hat.15 Zur Stützung dieser Argumentation verweist Derrida auf die Tatsache, dass die
bereits existierenden Gesetze zum Schutz von Tieren weder Schlachtungen und
Keulungen noch den technisch-wissenschaftlich Irrsinn des Marktes und der
Massenhaltung verhindern.
Ich hoffe, es wird deutlich, warum Derrida einer Tierethik, die auf Similarität beruht
und Rechte einfordert, mit Skepsis begegnet. Mir geht es hier nicht um die Prüfung
oder Verteidigung der Argumente von Derrida, sondern darum, sie zu verdeutlichen.
In diesem Sinne fahre ich mit meiner Rekonstruktion von Derridas Tierphilosophie
fort.
Seine Vorbehalte gegenüber der Möglichkeit eines reinen Vegetarismus beruhen auf
derselben Skepsis. Die ethische Vegetarierin, welche die Haltung und Tötung von
Tieren für den Fleischverzehr ablehnt, wird tierische Produkte (z.B. Milchprodukte)
konsumieren, die unweigerlich mit der Tötung von Tieren verbunden sind. Sie kann
ihre ethische Haltung also nicht konsequent halten. Dagegen könnte man einwenden,
dass der Veganismus – der ethisch motivierte vollständige Verzicht auf die Nutzung
tierischer Produkte – dieser Inkonsequenz entgeht. Allerdings fordern einige
Verfechterinnen und Verfechter dieser Position, dass wir unsere Beziehungen
insbesondere zu domestizierten Tieren ganz abbrechen sollten, weil sie unweigerlich
ausbeuterisch sind. Die bloße Existenz domestizierter Tiere – man denke an
Milchkühe, Englische Bulldoggen, Masthühner oder putzige Kaninchen – ist das
Ergebnis massiver Züchtung und gewaltsamer Eingriffe. Diese Position führt zur
Forderung, dass wir die Reproduktion domestizierter Tiere unterbinden und diese
Rassen aussterben lassen sollten.16 Dies bedeutet natürlich einen Eingriff in die
Rechte dieser Tiere. Es ist ihnen gegenüber unangemessen, erscheint aber vor dem
Hintergrund des abstrakten Prinzips der Gerechtigkeit gerechtfertigt. Wir haben es
hier mit einem Beispiel des Konflikts zwischen der Gerechtigkeit als abstraktem
Prinzip und Gerechtigkeit als Angemessenheit für den Einzelfall zu tun. Auch hier
15 J. Derrida, E. Roudinesco, De quoi … Dialogue, Paris, 2001, Kap. 9; Derrida, La bête et le souverain, S. 158. 16 Diese Position im Spektrum der Tierrechte nennt sich Abolitionismus, vgl. G.L. Francione, The Animal Rights Debate: Abolition or Regulation?, New York 2010.
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scheint Derrida Recht zu haben, dass der reine Veganismus nicht zu haben ist.
Schließlich argumentiert Derrida, dass unsere Kultur auch auf symbolische Tieropfer
zurückgreift, besonders in religiösen Kontexten. Selbst wenn wir die physische
Gewalt gegen nichtmenschliche Tiere verhindern könnten, bliebe immer noch die
konstitutive symbolische Gewalt.17
Ich hoffe, dass damit Derridas Thesen der Inkonsequenz von Tierrechten und der
Unmöglichkeit des reinen Vegetarismus bzw. Veganismus verständlich geworden
sind. Es geht mir nicht darum, Derridas Argumente zu prüfen, zu kritisieren oder zu
verteidigen, sondern in erster Linie will ich darlegen, dass sich bei Derrida – entgegen
einem verbreiteten Vorurteil sowohl seiner Freunde als auch seiner Feinde – (diese)
Argumente finden!
Wie steht es nun mit der ersten These, der Kluft zwischen Menschen und Tieren? Mit
dieser These möchte Derrida die Alterität des Tiers hervorheben. Seine Kritik der
Similarität als Grundlage ethischer Relationen führt ihn zu einer Ethik der Alterität:
„Ein Prinzip der Ethik oder radikaler noch der Gerechtigkeit [...] ist vielleicht die
Verpflichtung die meine Verantwortlichkeit für das ganz Unähnliche fordert, das ganz
Andere, genauer das monströs Andere, das Unkenntliche.“18 Eine Ethik der Alterität
beruht darauf, dass wir einen Anderen als Anderen wahrnehmen. Im Fall der Tiere, so
könnte man Derrida hier verstehen, beruht sie auf der Unbeantwortbarkeit der
Anfühlfrage.
Derrida schließt an Emmanuel Lévinas an. Vereinfacht gesagt, ist für Lévinas der
uneinholbare Andere Grundlage der Ethik und die ethische Beziehung ist die
fundamentale Beziehung schlechthin. Sie kann nicht aus Eigenschaften des Anderen
abgeleitet werden, sondern beruht in der Andersheit des Anderen. Wenn ich
beispielsweise am Anderen Eigenschaften wahrnehme und daraus Merkmale ableiten
möchte, die ihn zu einem Objekt meiner ethischen Sorge machen, habe ich den
Anderen bereits verdinglicht und assimiliert. Der entscheidende Punkt besteht darin,
17 Vgl. Derridas Gespräch mit J. L. Nancy, „„Man muss wohl essen“ oder die Berechnung des Subjekts“, in: J. Derrida, Auslassungspunkte. Gespräche, Wien 1998, S. 290-294. 18 Derrida, La bête et le souverain, S. 155.
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dass der Andere nicht ein Objekt oder ein Gleicher ist, sondern etwas, das mir
ausgeliefert ist, sich mir aber als Anderer zugleich entzieht. Lévinas illustriert diesen
Bezug durch das Bild des Gesichts des Anderen. In einem Interview formuliert er den
Punkt, um den es mir geht, mit den folgenden Worten:
„Ich denke, dass der Zugang zum Gesicht von Anfang an ein ethischer ist. Wenn Sie
Nase, Augen, Stirn, Kinn sehen und diese beschreiben können, dann wenden Sie sich
dem Anderen als einem Objekt zu. Die beste Weise dem Anderen zu begegnen würde
darin bestehen, nicht einmal seine Augenfarbe zu bemerken! Achtet man auf die
Augenfarbe, geht man mit dem Anderen keine soziale Beziehung ein.“19
Die Augenfarbe ist eine Eigenschaft. Nehme ich die Augenfarbe des Anderen wahr,
fasse ich ihn bereits als etwas mit Eigenschaften auf, die für mich erkennbar sind.
Damit verdingliche ich den Anderen und assimiliere ihn.
Derrida hält Lévinas vor, dass er die ethische Beziehung auf das menschliche Antlitz
beschränke, und so die anthropologische Differenz wiederkehre. Warum sollte nicht
auch das Tier ein Antlitz haben, dass einen ethischen Anspruch an uns erhebt? Ich
meine, dass solche Fragen vom entscheidenden Punkt wegführen. Das Problem sehen
viele nämlich darin, dass Derridas Alteritätsansatz vage und folgenlos bleibt. Was
würde es konkret bedeuten, dem Tier als Alterität zu begegnen? Wenn Derrida von
der Gewalt gegen Tiere spricht, was folgt daraus?
Ich bin jedoch nicht der Ansicht, dass wir Derridas Alteritätsansatz verwerfen sollten,
weil er normativ unverbindlich bleibt. Die Ethik der Alterität ist etwas, das Derrida
vorausdenkt. Er ist nicht der Meinung, dass diese Möglichkeit bereits klar erfasst und
umrissen ist. Deshalb muss der Ansatz noch vage und folgenlos bleiben. Doch wo es
einen Möglichkeitssinn gibt, muss es auch einen Wirklichkeitssinn geben. Und
Derridas Wirklichkeitssinn besagt: Solange wir das Denken der Alterität noch nicht
fassen können, müssen wir das Zweitbeste tun, nämlich uns vom Denken der
Similarität leiten lassen und die Gewalt gegen Tiere mindern, wo immer es geht.
Derrida ist darin unmissverständlich:
19 E. Lévinas, Éthique et infini, Paris 1982, S. 79f. (Übersetzung M.W.).
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„Die Beziehungen zwischen Menschen und Tieren müssen sich ändern. Sie müssen es
im doppelten Sinne dieses Wortes, nämlich im Sinn einer ontologischen
Notwendigkeit und einer ethischen Pflicht. [...] Auch wenn mir ihre Argumentation
oft fehlgeleitet oder philosophisch nicht schlüssig erscheint, hege ich doch eine
grundsätzliche Sympathie für jene, die sich meiner Meinung nach mit Recht und mit
guten Gründen über die Behandlung der Tiere empören, die diese in der
Massentierhaltung, in den Schlachthöfen, im Konsum und in der Forschung erfahren.
[...] Im Moment müssen wir uns damit zufrieden geben, die bestehenden rechtlichen
Regelungen zu verbessern.“20
Derrida plädiert für eine Verbesserung der Bedingungen, unter denen Tiere leben im
real existierenden rechtlichen Rahmen. Aber das ist sozusagen nur eine
Notmaßnahme. Seine Kritik des rechtlichen Rahmens, die wir oben kennen gelernt
haben, besagt, dass wir den Rahmen selbst ändern müssen. Damit befindet sich
Derrida auf einer Linie mit Verfechterinnen und Verfechtern der Tierrechte, die das
Problem darin sehen, dass Tiere unser Eigentum sein können. Eigentum kann man
(beinahe) beliebig für seine Zwecke nutzen. Solange der rechtliche Rahmen zulässt,
dass Lebewesen das Eigentum von Rechtsubjekten sein können, wird die Gewalt
gegen Tiere nicht aufhören. Also muss man den rechtlichen Rahmen ändern. Wie
Derrida betont: „Die Beziehungen zwischen Menschen und Tieren müssen sich
ändern.“ Derrida ist also sehr radikal, sein Denken verläuft parallel zum äußeren
linken Flügel des Tierrechtsdenkens.21
Ich habe Derridas Position zur Tierethik in den von ihm selbst aufgespannten
Gegensatz zwischen Alterität und Similarität gestellt. Aber ist dieser Gegensatz
wirklich so groß wie Derrida glauben machen möchte? Denken wir an Nagels
Fledermaus zurück. Ich habe zwischen der Anfühlfrage und der Verteilungsfrage
unterschieden. Die zweite Frage beantworten wir mithilfe von Ähnlichkeiten zu uns
(Similarität), die erste hingegen können wir nicht beantworten (Alterität). Es ist aber
offensichtlich, dass wir die Fledermaus deshalb als Form der Alterität wahrnehmen,
weil wir davon ausgehen, dass sie ein subjektives Erleben hat. Würden wir die
20 Derrida, Roudinesco, De quoi … Dialogue, S. 108f.; 123 (Übersetzung M.W.). 21 Vgl. G.L. Francione, Animals, property, and the law, Philadephia 1995; S. Donaldson, W. Kymlicka, Zoopolis. Eine poliitische Theorie der Tierrechte, Berlin 2013.
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Verteilungsfrage nicht positiv beantworten, hätten wir keine Alterität. Die Frage, wie
es sich anfühlt, ein Ziegelstein zu sein, ergibt keinen Sinn, weil wir nicht den
geringsten Anlass haben, die Verteilungsfrage im Fall des Ziegelsteins zu stellen
geschweige denn positiv zu beantworten. So gesehen ist Similarität für Alterität
unverzichtbar. Wir können einem Anderen nur als Anderem begegnen, wenn wir ihn
als etwas auffassen können, dem wir begegnen können und der uns begegnen kann.
Derrida begegnet morgens im Bad der kleinen Katze, doch er begegnet nicht den
Ziegelsteinen, aus denen die Wände bestehen. Es ist, meine ich, ein Fehler, Similarität
und Alterität einander gegenüber zu stellen, ein Hang-over des alten metaphysischen
Denkens in binären Gegensatzpaaren. Wenn wir auf diesen Gegensatz verzichten,
wird Derridas tierphilosophische Position kohärenter. Wir beginnen mit dem
Einbezug des Tiers in den Kreis derjenigen, die wir in einem starken Sinne moralisch
zu berücksichtigen haben, und zwar innerhalb des rechtlichen Rahmens, den wir nun
einmal haben. Das basiert auf dem Denken der Similarität. Wenn wir Tiere auf diese
Weise in den „Kreis der Sympathie“ (Ian McEwan) einlassen, verändert sich der
rechtliche Rahmen selbst und es entsteht Raum für die Alterität des Tiers. Das wäre
der Beginn des Denkens der Alterität.
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ANHANG T.S. Eliot (1939), The Naming of Cats The Naming of Cats is a difficult matter, It isn’t just one of your holiday games; You may think at first I’m as mad as a hatter When I tell you, a cat must have THREE DIFFERENT NAMES. First of all, there’s the name that the family use daily, Such as Peter, Augustus, Alonzo, or James, Such as Victor or Jonathan, George or Bill Bailey — All of them sensible everyday names. There are fancier names if you think they sound sweeter, Some for the gentlemen, some for the dames: Such as Plato, Admetus, Electra, Demeter — But all of them sensible everyday names. But I tell you, a cat needs a name that’s particular, A name that’s peculiar, and more dignified, Else how can he keep up his tail perpendicular, Or spread out his whiskers, or cherish his pride? Of names of this kind, I can give you a quorum, Such as Munkstrap, Quaxo, or Coricopat, Such as Bombalurina, or else Jellylorum — Names that never belong to more than one cat. But above and beyond there’s still one name left over, And that is the name that you never will guess; The name that no human research can discover — But THE CAT HIMSELF KNOWS, and will never confess. When you notice a cat in profound meditation, The reason, I tell you, is always the same: His mind is engaged in a rapt contemplation Of the thought, of the thought, of the thought of his name: His ineffable effable Effanineffable Deep and inscrutable singular Name. Wie heissen die Katzen? (Übersetzung von Erich Kästner) Wie heißen die Katzen? gehört zu den kniffligsten Fragen Und nicht in die Rätselecke für jumperstrickende Damen. Ich darf Ihnen, ganz im Vertrauen, sagen: Eine jede Katze hat drei verschiedene Namen. Zunächst den Namen für Hausgebrauch und Familie, Wie Paul oder Moritz (in ungefähr diesem Rahmen), Oder Max oder Peter oder auch Petersilie - Kurz, lauter vernünft‘ge, alltägliche Namen. Oder, hübscher noch, Murr oder Fangemaus Oder auch, nach den Mustern aus klassischen Dramen: Iphigenie, Orest oder Menelaus - Also immer noch ziemlich vernünft‘ge, alltägliche Namen.
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Doch nun zu dem nächsten Namen, dem zweiten: Den muß man besonders und anders entwickeln. Sonst könnten die Katzen nicht königlich schreiten, Noch gar mit erhobenem Schwanz perpendikeln. Zu solchen Namen zählt beispielsweise Schnurroaster, Tatzitus, Katzastrophal, Kralline, Nick Kater und Kratzeleise - Und jeden der Namen gibt‘s nur einmal. Doch schließlich hat jede noch einen dritten! Ihn kennt nur die Katze und gibt ihn nicht preis. Da nützt kein Scharfsinn, da hilft kein Bitten. Sie bleibt die einzige, die ihn weiß. Sooft sie versunken, versonnen und Verträumt vor sich hin starrt, ihr Herren und Damen, Hat‘s immer und immer den gleichen Grund: Dann denkt sie und denkt sie an diesen Namen - Den unaussprechlichen, unausgesprochenen, Den ausgesprochenen unaussprechlichen, Geheimnisvoll dritten Namen.