wir brauchen einen neuen geist in den vereinten nationen · 2017. 2. 20. · wir brauchen einen...

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Wir brauchen einen neuen Geist in den Vereinten Nationen Rede des Bundesaußenministers vor der 40. UN-Generalversammlung (26. September 1985) Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich beglückwünsche Sie, Herr Präsident, zu der Wahl in das hohe Amt des Präsidenten der 40. Generalversammlung der Vereinten Nationen. In diesem Jubi- läumsjahr wird uns Ihre langjährige diplomatische Erfahrung im Umgang mit den Vereinten Nationen von unschätzbarer Hilfe sein. Ich danke dem Präsidenten der 39. Generalversammlung, Botschaf- ter Paul Lusaka, für sein erfolgreiches Wirken. Es ist mit sein Ver- dienst, daß die großen Probleme Afrikas in der vergangenen Gene- ralversammlung mit wirklicher Verständnisbereitschaft, mit Prag- matismus und Realismus behandelt wurden. Herr Präsident, vor vierzig Jahren haben die Völker mit der Grün- dung der Vereinten Nationen die Lehren aus dem Zweiten Welt- krieg gezogen. Die Bundesrepublik Deutschland, die an der Grün- dung der UNO nicht beteiligt war, arbeitet seit ihrem Bestehen für die Erfüllung des Weltfriedensauftrages der Vereinten Nationen. Wir tun dies durch unsere europäische und durch unsere weltweite Friedenspolitik. Europa lebt seit vierzig Jahren ohne Krieg. Im Nordatlantischen Bündnis, mit dem die Bundesrepublik Deutschland als freiheitliche Demokratie ihr Schicksal fest verknüpft hat, ist eine Staatenge- meinschaft entstanden, die im Innern ein Beispiel gleichberechtig- ter, friedlicher Zusammenarbeit gibt, und die nach außen zu Frie- den und Stabilität beiträgt. In der Europäischen Gemeinschaft sind an die Stelle jahrhunderte- alter Rivalität und Konfrontation Freundschaft und Zusammenar- beit getreten. Aus den ursprünglich sechs Staaten sind inzwischen zehn Mitgliedstaaten geworden, und bald werden es zwölf sein. Der bevorstehende Beitritt Spaniens und Portugals zur Europäischen Gemeinschaft bedeutet eine große Bereicherung und Stärkung der freiheitlich und demokratisch verfaßten Staaten Europas. Wir wollen unsere gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik auf eine vertragliche Grundlage stellen. Der Weg zur Europäischen Union ist vorgezeichnet. Wir sehen aktive Friedenspolitik als histo- rische Aufgabe für den eigenen Kontinent und für die Welt. Herr Präsident, Europa ist mehr als die Staaten der Europäischen Gemeinschaft. Wenn wir von Europa sprechen, dann meinen wir das ganze Europa. Der Frieden in der Welt hängt im besonderen Maße von den Beziehungen zwischen West und Ost in Europa ab. Das deutsche Volk ist durch die Spaltung Europas auseinanderge- rissen. Spannungen zwischen West und Ost betreffen uns am stärk- sten. Deutschlandpolitik ist deshalb für uns europäische Friedens- politik und Politik im Geiste der Vereinten Nationen. Friedenssicherung in Europa ist ohne einen Beitrag beider deut- scher Staaten nicht möglich. Von deutschem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen. Gemeinsame Bemühungen u m den Frieden sind geboten. Das ist der Sinn der Verantwortungsgemeinschaft, in der beide deutsche Staaten ihren besonderen Friedensauftrag ihre Friedenspflicht — erfüllen. Unsere Zusammenarbeit verdient die Unterstützung aller Staaten, die an Stabilität und echter Entspannung im Herzen Europas auf- richtig interessiert sind. Es ist ermutigend, daß Bundeskanzler Helmut Kohl und der Staats- ratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, am 12. März 1985 ge- meinsam die Möglichkeit für eine neue Phase in den West-Ost- Beziehungen feststellen konnten, eine Möglichkeit, die sich aus der Wiederaufnahme des Rüstungskontrolldialogs zwischen den USA und der UdSSR ergibt. Die Bundesrepublik Deutschland wird alles tun, um zur Verbesse- rung des West-Ost-Verhältnisses beizutragen. Eine solide Grund- lage dafür bleiben die Verträge, die die Bundesrepublik Deutsch- land in den siebziger Jahren mit ihren Nachbarn geschlossen hat. Der Ausgangspunkt war der Moskauer Vertrag von 1970, der die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion auf eine neue Grundlage stellte. Mit dem Moskauer Vertrag und mit den Verträgen mit der Volksre- publik Polen und der CSSR und mit dem Grundlagenvertrag mit der DDR haben wir aus unserer nationalen und historischen Verant- wortung für den Frieden neue und langfristige Perspektiven für das West-Ost-Verhältnis eröffnet. Wir stehen zu diesen Verträgen. Unsere Vertragspolitik steht nicht in Widerspruch zu dem politi- schen Ziel der Bundesrepublik Deutschland, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. So steht es i m >Brief zur Deutschen Einheit<, den die Bundesregierung anläßlich der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages der sowjetischen Seite übergab. Mit den Verträgen und mit dem Viermächte-Abkommen über Berlin wurde der Weg zur KSZE, der Konferenz über Sicherheit und Zu- sammenarbeit in Europa, freigemacht. HANS-DIETRICH GENSCHER Am 1. August 1985 beim 10. Jahrestag der Unterzeichnung der Schlußakte von Helsinki haben alle Teilnehmerstaaten ihren Willen bekundet, den KSZE-Prozeß fortzusetzen und die Schlußakte von Helsinki in allen Teilen zu verwirklichen. Diese Schlußakte ist ein realistisches und ausgewogenes Dokument. Sie ist kein Friedens- vertrag, aber sie ist eine zukunftsweisende Kursbestimmung für eine Europäische Friedensordnung. Der KSZE-Prozeß soll die Gebote friedlichen Zusammenlebens und das Angebot zu breiter Kooperation mit der Achtung der Grund- rechte und Interessen der Menschen an Austausch und Information verbinden. Die Staaten werden ermutigt, ihre Ressourcen und krea- tiven Kräfte zu verbinden. Zusammenarbeit soll das Konfliktpoten- tial eindämmen und abbauen, das in den fortbestehenden Interes- sengegensätzen und unterschiedlichen Wertordnungen liegt. Die in der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit liegenden Möglich- keiten werden im Zuge der vor uns liegenden technologischen Revo- lution noch an Bedeutung zunehmen. In einer tragfähigen, dauer- haften Friedensordnung, die die legitimen Interessen aller Beteilig- ten berücksichtigt, müssen Bemühungen u m Vertrauensbildung und kooperative Sicherheit mit der Teilnahme aller am wirtschaftli- chen, wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt zusam- menfließen. Eine besonders wichtige Rolle spielt dabei die kulturelle Zusam- menarbeit. Der freie schöpferische Kontakt und Austausch zwi- schen allen Völkern, die gegenseitige Darstellung der kulturellen Leistungen vermitteln Kenntnis und Verständnis untereinander. In Europa ist das gemeinsame kulturelle Erbe über schreckliche Kriege und auch über ideologische Grenzen hinweg immer ein eini- gendes Band geblieben. Das Bewußtsein der kulturellen Identität Europas wächst, so wie die Erkenntnis überall wächst, daß Europa auch in Zukunft ein gemeinsames Schicksal haben wird. Das Kulturforum, das in Kürze im Rahmen des KSZE-Prozesses in Budapest stattfindet, gibt allen Teilnehmerstaaten Gelegenheit, ihren Willen zu kultureller Zusam- menarbeit und Austausch unter Beweis zu stellen. Das Netzwerk der in Europa zwischen West und Ost entstandenen vielfältigen Beziehungen hat in den vergangenen Jahren schweren Belastungen standgehalten. Jetzt müssen wir zu tiefergehenden und breiter angelegten Ergebnissen kommen als in den siebziger Jahren. Die damals gefundenen tragfähigen Ansätze müssen ge- nutzt werden. Wir begrüßen das bevorstehende Gipfeltreffen zwischen dem ameri- kanischen Präsidenten und dem Generalsekretär der KPdSU. Bun- deskanzler Helmut Kohl hat sich immer wieder für ein solches Gip- feltreffen ausgesprochen. Die Begegnung in Genf soll der Neube- ginn eines Dialogs auf höchster Ebene werden. Wir hoffen vor allem auf wichtige Impulse für die Verhandlungen in Genf. Herr Präsident, am 8. Januar 1985 haben die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion die Aufnahme von Verhandlungen vereinbart. Diese haben am 12. März begonnen. Das Dokument vom 8. Januar ist ein Dokument von großer politischer Bedeutung. Es schafft neue Chancen für die Rüstungskontrolle, für den Dialog und die Zusam- menarbeit i m West-Ost-Verhältnis. In diesem Dokument sind weitreichende Verhandlungsziele veran- kert worden: — Es geht darum, ein Wettrüsten im Weltraum zu verhindern und es auf der Erde zu beenden, — es geht um wirksame Übereinkünfte, die Nuklearwaffen stra- tegischer und mittlerer Reichweite zu begrenzen und zu ver- ringern, — es geht um die Festigung der strategischen Stabilität. Die Bundesregierung unterstutzt diese Verhandlungsziele uneinge- schränkt. Sie liegen im Interesse aller Völker. Wir sind uns darüber im klaren, daß Ergebnisse Zeit brauchen. Die Verhandlungsmaterie ist vielschichtig und kompliziert. Jeder muß die Sicherheitsinteres- sen des anderen berücksichtigen. Spannungen und Mißtrauen müssen abgebaut werden. Der Erfolg hängt davon ab, daß sich die Verhandlungsparteien ernsthaft und flexibel um kooperative Lösungen bemühen. Sie müssen sich als Verantwortliche einer gemeinsamen Aufgabe verstehen. Im West- Ost-Verhältnis darf keine Seite einen Grad von Sicherheit anstre- ben, der für die andere Seite weniger Sicherheit bedeutet. Die Entwicklungen im militärischen Kräfteverhältnis zwischen West und Ost seit den siebziger Jahren zeigen das auf drastische Weise: Die massive Aufrüstung, durch die sich der Westen seit den Entspannungsbemühungen der siebziger Jahre zunehmend bedroht sieht, hat den Urhebern keinen durchgreifenden Vorteil gebracht. Im Gegenteil: Sie hat die Suche nach neuartigen, weltraumgestütz- ten Verteidigungsmöglichkeiten gefördert. Deshalb werden drastische, zuverlässig überprüfbare Reduzierun- Vereinte Nationen 5-6/85 191

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Wir brauchen einen neuen Geist in den Vereinten Nationen Rede des Bundesaußenministers vor der 40. UN-Generalversammlung (26. September 1985)

Her r Präsident, meine Damen u n d Herren ! I ch beglückwünsche Sie, H e r r Präsident, zu der Wah l i n das hohe A m t des Präsidenten der 40. Genera lversammlung der Vere inten Nat ionen. I n diesem Jub i ­läumsjahr w i r d uns Ih r e langjährige diplomatische Er fahrung i m Umgang m i t den Vere in ten Nat ionen von unschätzbarer Hi l fe sein. Ich danke dem Präsidenten der 39. Generalversammlung, Botschaf­ter Paul Lusaka, für sein erfolgreiches W i rken . Es ist m i t sein Ver­dienst, daß die großen Probleme A f r ikas i n der vergangenen Gene­ra lversammlung m i t w i r k l i c h e r Verständnisbereitschaft, m i t Prag­mat ismus u n d Real ismus behandelt wurden . He r r Präsident, vor v ierz ig Jahren haben die Völker m i t der Grün­dung der Vere in ten Nat ionen die Lehren aus dem Zwei ten Welt­kr i eg gezogen. Die Bundesrepubl ik Deutschland, die an der Grün­dung der UNO n i ch t bete i l ig t war, arbeitet seit i h r e m Bestehen für die Erfüllung des Welt fr iedensauftrages der Vere inten Nationen. W i r t u n dies durch unsere europäische und durch unsere wel twei te Fr iedenspol i t ik . Europa lebt seit v ierz ig Jahren ohne Kr ieg . I m Nordat lant ischen Bündnis, m i t dem die Bundesrepubl ik Deutschland als fre ihei t l iche Demokrat i e i h r Schicksal fest verknüpft hat, ist eine Staatenge­meinschaft entstanden, die i m I n n e r n e in Beispiel gleichberechtig­ter, f r ied l icher Zusammenarbe i t gibt, und die nach außen zu Frie­den und Stabilität beiträgt. I n der Europäischen Gemeinschaft s ind an die Stelle j ahrhunder te ­alter Rivalität u n d Kon f ron ta t i on Freundschaft und Zusammenar­be i t getreten. Aus den ursprünglich sechs Staaten sind inzwischen zehn Mi tg l i edstaaten geworden, und bald werden es zwölf sein. Der bevorstehende B e i t r i t t Spaniens und Portugals zur Europäischen Gemeinschaft bedeutet eine große Bere icherung u n d Stärkung der f re ihe i t l i ch u n d demokrat isch verfaßten Staaten Europas. Wi r wo l l en unsere gemeinsame Außen- und Sicherhei tspol i t ik auf eine ver trag l iche Grundlage stellen. Der Weg zur Europäischen Un ion ist vorgezeichnet. W i r sehen akt ive Fr iedenspol i t ik als histo­rische Aufgabe für den eigenen Kon t inen t u n d für die Welt. He r r Präsident, Europa ist mehr als die Staaten der Europäischen Gemeinschaft. Wenn w i r von Europa sprechen, dann meinen w i r das ganze Europa. Der Fr ieden i n der Welt hängt i m besonderen Maße von den Beziehungen zwischen West u n d Ost i n Europa ab. Das deutsche Vo lk ist durch die Spaltung Europas auseinanderge­rissen. Spannungen zwischen West und Ost betref fen uns a m stärk­sten. Deutschlandpol i t ik ist deshalb für uns europäische Friedens­po l i t i k u n d Po l i t i k i m Geiste der Vere inten Nat ionen. Fr iedenssicherung i n Europa is t ohne e inen Be i t rag beider deut­scher Staaten n i ch t möglich. Von deutschem Boden soll nie wieder K r i e g ausgehen. Gemeinsame Bemühungen u m den Frieden sind geboten. Das is t der S inn der Verantwortungsgemeinschaft , i n der beide deutsche Staaten ih r en besonderen Fr iedensauftrag — ihre Fr iedenspf l icht — erfüllen.

Unsere Zusammenarbe i t verd ient die Unterstützung aller Staaten, die an Stabilität u n d echter Entspannung i m Herzen Europas auf­r i ch t i g interessiert s ind. Es ist e rmut igend, daß Bundeskanzler H e l m u t K o h l und der Staats­ratsvorsitzende der DDR, Er i ch Honecker, am 12. März 1985 ge­meinsam die Möglichkeit für eine neue Phase i n den West-Ost-Beziehungen feststel len konnten, eine Möglichkeit, die sich aus der Wiederaufnahme des Rüstungskontrolldialogs zwischen den USA und der UdSSR ergibt. Die Bundesrepubl ik Deutschland w i r d alles tun , u m zur Verbesse­rung des West-Ost-Verhältnisses beizutragen. Eine solide Grund­lage dafür b le iben die Verträge, die die Bundesrepubl ik Deutsch­land i n den siebziger Jahren m i t i h r en Nachbarn geschlossen hat. Der Ausgangspunkt w a r der Moskauer Ver t rag von 1970, der die Beziehungen zwischen der Bundesrepubl ik Deutschland und der Sowjetunion auf eine neue Grundlage stellte. M i t dem Moskauer Ver t rag u n d m i t den Verträgen m i t der Volksre­pub l ik Polen und der CSSR und m i t dem Grundlagenver t rag m i t der D D R haben w i r aus unserer nat ionalen u n d histor ischen Verant­wor tung für den Fr ieden neue und langfr ist ige Perspektiven für das West-Ost-Verhältnis eröffnet. W i r stehen zu diesen Verträgen. Unsere Ver t ragspo l i t ik steht n icht i n Widerspruch zu dem pol i t i ­schen Ziel der Bundesrepubl ik Deutschland, auf e inen Zustand des Friedens i n Europa h inzuw i rken , i n dem das deutsche Vo lk i n freier Selbstbest immung seine E inhe i t wiederer langt . So steht es i m >Brief zur Deutschen Einheit<, den die Bundesreg ierung anläßlich der Unterze ichnung des Moskauer Vertrages der sowjetischen Seite übergab. M i t den Verträgen und m i t dem Viermächte-Abkommen über Be r l in wurde der Weg zur KSZE, der Konferenz über Sicherhei t und Zu­sammenarbei t i n Europa, freigemacht.

HANS-DIETRICH GENSCHER

A m 1. August 1985 be im 10. Jahrestag der Unterze ichnung der Schlußakte von He l s ink i haben alle Te i lnehmerstaaten ih r en Wi l l en bekundet, den KSZE-Prozeß fortzusetzen und die Schlußakte von He l s ink i i n al len Tei len zu ve rw i rk l i chen . Diese Schlußakte ist e in realistisches und ausgewogenes Dokument . Sie is t ke in Friedens­vertrag, aber sie ist eine zukunftsweisende Kursbes t immung für eine Europäische Friedensordnung. Der KSZE-Prozeß soll die Gebote f r ied l ichen Zusammenlebens u n d das Angebot zu bre i ter Kooperat ion m i t der Ach tung der Grund­rechte und Interessen der Menschen an Austausch und In f o rmat i on verbinden. Die Staaten werden ermut ig t , ihre Ressourcen u n d krea­t i v en Kräfte zu verbinden. Zusammenarbe i t soll das Konf l ik tpo ten­t i a l eindämmen u n d abbauen, das i n den fortbestehenden Interes­sengegensätzen und unterschiedl ichen Wer tordnungen liegt. Die i n der zwischenstaatl ichen Zusammenarbe i t l iegenden Möglich­ke i ten werden i m Zuge der vor uns l iegenden technologischen Revo­lu t i on noch an Bedeutung zunehmen. I n einer tragfähigen, dauer­haf ten Friedensordnung, die die leg i t imen Interessen aller Betei l ig­ten berücksichtigt, müssen Bemühungen u m Ver t rauensb i ldung und kooperative Sicherheit m i t der Te i lnahme al ler am wi r t scha f t l i ­chen, wissenschaft l ichen und technologischen For tschr i t t zusam­menfließen. Eine besonders wicht ige Rolle spielt dabei die ku l ture l l e Zusam­menarbeit . Der freie schöpferische K o n t a k t u n d Austausch zwi­schen al len Völkern, die gegenseitige Darste l lung der ku l tu re l l en Le istungen v e rm i t t e l n Kenntn i s und Verständnis untere inander . I n Europa is t das gemeinsame ku l ture l l e Erbe über schreckliche Kriege u n d auch über ideologische Grenzen h inweg immer e in e in i ­gendes Band geblieben. Das Bewußtsein der ku l tu re l l en Identität Europas wächst, so wie die Erkenntn i s überall wächst, daß Europa auch i n Z u k u n f t e in gemeinsames Schicksal haben w i r d . Das K u l t u r f o r u m , das i n Kürze i m Rahmen des KSZE-Prozesses i n Budapest statt f indet, g ibt a l len Te i lnehmerstaaten Gelegenheit, ih ren Wi l l en zu ku l ture l l e r Zusam­menarbe i t und Austausch unter Beweis zu stellen. Das Netzwerk der i n Europa zwischen West und Ost entstandenen vielfältigen Beziehungen hat i n den vergangenen Jahren schweren Belastungen standgehalten. Jetzt müssen w i r zu t iefergehenden und bre i ter angelegten Ergebnissen k o m m e n als i n den siebziger Jahren. Die damals gefundenen tragfähigen Ansätze müssen ge­nutz t werden. W i r begrüßen das bevorstehende Gipfe l tref fen zwischen dem amer i ­kanischen Präsidenten und dem Generalsekretär der KPdSU. Bun­deskanzler H e l m u t K o h l ha t sich immer wieder für e in solches Gip­feltref fen ausgesprochen. Die Begegnung i n Genf soll der Neube­g inn eines Dialogs auf höchster Ebene werden. W i r hoffen vor a l lem auf wicht ige Impulse für die Verhandlungen i n Genf. He r r Präsident, am 8. Januar 1985 haben die Vere in ig ten Staaten und die Sowjetunion die Au fnahme von Verhand lungen vere inbart . Diese haben a m 12. März begonnen. Das Dokument v om 8. Januar ist e in Dokument von großer pol it ischer Bedeutung. Es schafft neue Chancen für die Rüstungskontrolle, für den Dialog und die Zusam­menarbe i t i m West-Ost-Verhältnis. I n diesem Dokument s ind weitre ichende Verhandlungszie le veran­ke r t worden: — Es geht darum, e in Wettrüsten i m We l t raum zu ve rh inde rn u n d

es auf der Erde zu beenden, — es geht u m w i rksame Übereinkünfte, die Nuklearwaf fen stra­

tegischer u n d mi t t l e re r Reichweite zu begrenzen u n d zu ver­r ingern ,

— es geht u m die Fest igung der strategischen Stabilität. Die Bundesregierung unters tutz t diese Verhandlungszie le uneinge­schränkt. Sie l iegen i m Interesse aller Völker. W i r s ind uns darüber i m k laren, daß Ergebnisse Zei t brauchen. Die Verhandlungsmater ie ist v ie lschicht ig und kompl iz ier t . Jeder muß die Sicherheitsinteres­sen des anderen berücksichtigen. Spannungen u n d Mißtrauen müssen abgebaut werden. Der Er fo lg hängt davon ab, daß sich die Verhandlungsparte ien ernsthaf t und f lexibel u m kooperative Lösungen bemühen. Sie müssen sich als Verantwort l i che einer gemeinsamen Aufgabe verstehen. I m West-Ost-Verhältnis dar f keine Seite einen Grad von Sicherhei t anstre­ben, der für die andere Seite weniger Sicherheit bedeutet. Die Entw ick lungen i m militärischen Kräfteverhältnis zwischen West und Ost seit den siebziger Jahren zeigen das auf drastische Weise: Die massive Aufrüstung, durch die sich der Westen seit den Entspannungsbemühungen der siebziger Jahre zunehmend bedroht sieht, hat den Urhebern ke inen durchgrei fenden Vor te i l gebracht. I m Gegenteil: Sie ha t die Suche nach neuart igen, weltraumgestütz­ten Verteidigungsmöglichkeiten gefördert. Deshalb werden drastische, zuverlässig überprüfbare Reduzierun-

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gen der nuk learen Offensivpotentiale zwangsläufig Notwendigke i t und Umfang neuartiger, bisher n i ch t exist ierender Defensivwaffen beeinflussen. Beide Fragen müssen i n i h r e m natürlichen und pol i t ischen Zusam­menhang gesehen u n d gelöst werden, wie das am 8. Januar 1985 ver­e inbar t wurde. Das Bemühen u m kooperative Sicherheit ist e in Schlüssel für die En tw i ck lung eines stabi len West-Ost-Verhältnis­ses, von dem der Welt fr ieden i n erhebl ichem Maße abhängt. Erfolge i n den laufenden Verhand lungen setzen voraus, daß beste­hende Rüstungskontrollabsprachen eingehalten werden. Die Bun­desrepubl ik Deutschland begrüßt die Entscheidung Präsident Reagans über die weitere Beachtung der SALT-Begrenzungen. Kooperat ive Lösungen i n den zentra len Sicherheitsfragen setzen e in polit isches Umfe ld voraus, das durch e in Mindestmaß gegensei­t igen Vertrauens bes t immt ist. Wesentl ich dafür ist insbesondere die Berechenbarkei t der langfr is t igen Abs ichten der anderen Seite. Deshalb ist e in tragfähiges konstrukt ives Verhältnis der Groß­mächte unverz ichtbar. Aber Ver t rauensbi ldung u n d Rüstungskontrolle s ind n i ch t nur Sache der Großmächte. A u c h die m i t t l e r en und k le ineren Staaten müssen sich u m eine langfr ist ige stabile Grundlage für das West-Ost-Verhältnis bemühen. Mißtrauen muß überall, wo es besteht, abgebaut werden. N i ch t nur die Nuklearwaf fen, auch die anderen Potentiale müssen reduziert werden. Daher ble iben für uns die mul t i l a t e ra l en Ver­handlungsforen e in unverz ichtbarer Te i l des Rüstungskontrollpro­zesses. Es ist e in ermutigendes Zeichen, daß die Dr i t t e Überprüfungskonfe­renz zum Ver t rag über die N ichtverbre i tung von Kernwaf f en m i t e inem posit iven Ergebnis abgeschlossen hat. Der Nichtverbre i ­tungsvertrag hat sich als wichtiges Element der in ternat iona len Rüstungskontrolle und der f r ied l ichen Nutzung der Kernenerg ie bewährt. Er hat gezeigt, daß mul t i la tera le Rüstungskontrolle mög­l i ch ist. Die MBFR-Verhand lungen i n Wien u n d die K V A E i n Stockholm konzentr ieren sich auf die konvent ionel len Streitkräfte, sie s ind eine notwendige Ergänzung zu den Genfer Nuklear-Verhandlungen. A u c h bei diesen Verhand lungen wo l l en w i r Stabilität auf n iedr igem Niveau der Streitkräfte, Offenheit, Transparenz, Berechenbarkei t u n d Gewaltverz icht durch konkre te Vertrauensbi ldende Maßnah­men. H ie r i n New York haben w i r die In i t i a t i ve für die Erarbe i tung von Le i t l i n i en für Vertrauensbi ldende Maßnahmen ergri f fen, die welt­we i t angewandt werden können. Ohne verläßliche Ve r i f i ka t i on wä­ren Rüstungskontrollvereinbarungen auf uns icherem G r u n d ge­baut. E i n weltweites Verbot chemischer Waffen scheitert noch immer an den noch offenen Ver i f ikat ionsfragen, die j e t z t m i t Nachdruck ange­packt werden müssen. Es ist hohe Zeit, die ganze Menschhei t von der Geißel der schon seit Jahrzehnten geächteten chemischen Mas­senvernichtungswaf fen zu befreien. Regionale Teillösungen werden dem n ich t gerecht, sie würden auch die Ver i f ikat ionsfrage noch schwieriger machen. W i r begrüßen je­des Bemühen anderer Staaten u m zuverlässige Überprüfbarkeit. I n diesem Sinne untersuchen w i r die uns von der D D R und der CSSR gegebenen Anregungen. Die Staaten i m Herzen Europas haben al len Grund , e inen Be i t rag zur Lösung der Ver i f ikat ionsfrage zu leisten, die e in weltweites Ver­bot der chemischen Waffen ermöglicht. He r r Präsident, w i r wissen, der N i ch tk r i e g durch nukleare Ab­schreckung k a n n n icht das letzte Wor t der Fr iedenssicherung sein. Wenn die Abschreckung vom Angr i f f , die Abschreckung von Kr i e g — also die Kr iegsverhinderungsstrateg ie — je versagen sollte, wä­ren die Folgen unvorste l lbar. Der 40. Jahrestag von H i rosh ima hat dies erneut ins Bewußtsein gerückt. I m Atomzei ta l ter k a n n Sicherheit n i ch t mehr a l le in auf autonomen Sicherheitsanstrengungen beruhen. Dauerhafte Fr iedenssicherung er fordert kooperative Lösungen, deshalb s ind Abrüstung und Rü­stungskontrol le integrale Bestandtei le unserer Sicherhei tspol i t ik . Wi r wo l l en K r i e g i n jeder F o r m verh indern , auch den K r i e g ohne Atomwaf fen. Auch den konvent ionel len Ersteinsatz dar f sich n i emand vorbehal­ten. E i n konvent ionel ler K r i e g wäre bei dem heut igen Stand der Technik tausendmal furchtbarer als der Zweite Wel tkr ieg . Auch e in konvent ionel ler K r i e g i m hochgerüsteten Europa wäre eine Kata­strophe. Unser Bündnis hat erklärt: Es w i r d seine Waffen niemals als erster einsetzen. W i r streben n icht nach Überlegenheit. W i r wol len nie­manden besiegen oder beherrschen, w i r wol len auch n iemanden zu Tode rüsten. H e r r Präsident, die v ie len Kr isenherde i n der Welt, die regionalen Konf l ik te , dürfen n icht n u r aus europäischen Augen betrachtet wer­den. Und sie dürfen vor al lem n ich t i n den Raster der West-Ost-Auseinandersetzung eingezwängt werden. Deshalb ist für uns w i rk l i che Blockfre ihe i t der Staaten der Dr i t t en Welt e in eminent wicht iger Be i t rag für den Welt f r ieden u n d zur Ver­w i r k l i c h u n g der Ziele der Vere inten Nat ionen.

Die große Idee der Gle ichberecht igung u n d Selbstbest immung der Völker darf ke ine leere Forme l bleiben. A r t i k e l 1 der Charta der Vere inten Nat ionen macht deut l ich, daß alle Nat ionen das gleiche Recht besitzen, i h r staatliches Leben und ihre Pol i t ik , auch ihre Fr iedenspol i t ik , selbst zu gestalten. Dieses Recht forder t Ach tung vor den besonderen Lebensbedürfnis­sen der Völker i n ih r en jewei l igen Regionen. K e i n Staat und ke in Machtblock ha t das Recht, ke iner dar f sich das Recht anmaßen, die Lebensfragen anderer Nat ionen entscheiden zu wol len. Deshalb fordern w i r m i t der überwältigenden Mehrhe i t i n den Ver­e inten Nat ionen den Rückzug der sowjetischen Truppen aus Afgha­nistan. Das Streben nach ideologischer Vorherrschaf t bedeutet eine Verne inung w i r k l i c h e r Blockfre ihei t . Das ist auf den Gipfe lkonferenzen der Blockfre ien i n Havanna u n d New Delh i , zuletzt auch auf der Außenministerkonferenz i n Luanda, m i t al ler Deut l i chke i t e rkann t worden. Wi rk l i che Lösungen für die Probleme der D r i t t e n Welt müssen aus den Regionen selbst kom­men. Die Europäische Gemeinschaft is t auch der Versuch, regionale Pro­bleme durch immer enger werdenden Zusammenschluß europäi­scher Demokra t i en zu lösen. Zusammen m i t unseren europäischen Par tnern unterstützen w i r regionale Zusammenarbe i t und Zusam­menschlüsse auch i n al len anderen Te i len der Welt. W i r setzen uns e in für fr iedl iche Konfliktlösungen i m nachbarschaft l ichen Raum. Das h i l f t , den Ost-West-Gegensatz aus der D r i t t e n Welt herauszu­halten. A u f der Grundlage dieses Konzepts der regionalen Zusammenar­beit unterstützen w i r i n Zent ra lamer ika den aus der Region selbst kommenden Contadora-Prozeß. Er ist der einzige realistische Weg, Zent ra lamer ika zur Lösung seiner Probleme zu führen. A m 11. u n d 12. November f indet i n Luxemburg eine wei tere Konferenz der Au ­ßenminister der Europäischen Gemeinschaft, Spaniens u n d Portu­gals u n d der Staaten Zentra lamer ikas u n d der Contadora-Gruppe statt. Wi r wo l l en den Dialog zwischen den Regionen Zent ra lamer ika und Europa fortsetzen, w i r wo l l en enge Kooperat ion zwischen beiden Regionen. Eine s t ruk tur i e r t e , w ir tschaf t l i che und pol it ische Zusam­menarbe i t suchen w i r auch zwischen der Europäischen Gemein­schaft und dem Golfkooperationsrat. I m Nahen Osten unterstützen w i r die regionalen Bemühungen, den Friedens- u n d Verhandlungswi l l en aller Kon f l i k tpar t e i en zu stär­ken. W i r e rkennen die posit iven Elemente des Fes-Plans an. W i r begrüßen die In i t i a t i ve König Husseins; w i r hoffen, daß durch sie der Weg zum Verhandlungst isch geebnet w i r d . Nur durch Verhand­lungen u n d Gewaltverz icht kann e in Ausgle ich zwischen dem Recht Israels auf Existenz i n sicheren u n d anerkannten Grenzen u n d dem Selbstbest immungsrecht des palästinensischen Volkes gefunden werden. W i r unterstützen die regionalen Friedensbemühungen der ASEAN-Länder. Die Europäische Gemeinschaft ha t die wir tschaf t l i che und polit ische Zusammenarbe i t der ASEAN-Staaten von Anfang an als eine beispielhafte, zukunftsweisende regionale Kooperat ion ver­standen. Die Kamputschea- In i t ia t ive der ASEAN-Länder i n den Vere inten Nat ionen k a n n auf unsere S t imme zählen. W i r f reuen uns, daß die Gespräche zwischen den beiden Te i len Koreas wieder aufgenom­men worden sind. W i r unterstützen alle Bemühungen zur Bei legung der Spannungen auf der koreanischen Halb inse l . Das sollte auch den Weg i n die Vere inten Nat ionen öffnen. H e r r Präsident, für den Fr ieden i n der Welt zu arbei ten heißt auch: Zusammenarbei t , u m gemeinsam die w i r tscha f t l i chen und sozialen Herausforderungen zu bestehen, vor denen die Menschhei t steht. Nord und Süd müssen zusammenarbei ten für eine erfolgreiche Ent­w i ck lung i n der Dr i t t en Welt. Nord und Süd müssen auch zusam­menarbeiten, u m den we l twe i t en S t ruk tu rwande l zu bewältigen, den die dr i t t e industr ie l le Revolut ion u n d der Übergang i n das Zeit­alter der In format ions- u n d Kommunikat ionsgese l lschaf t auslösen. Dieses neue Zeital ter bietet der Menschhei t große Chancen: Es läßt die Welt noch mehr zusammenwachsen u n d erwe i ter t Möglichkei­ten und Notwendigke i ten der Kooperat ion zwischen den Nat ionen. Es öffnet neue Chancen zur E igenverantwor tung u n d Persönlich­ke i tsent fa l tung für jeden einzelnen. Die eine Welt, i n der w i r heute leben, könnte n icht eine dauerhaft fr iedl iche Wel t sein, wenn sie gespalten bliebe i n reiche und arme Nationen, i n technisch fortgeschrittene und technisch zurückgeblie­bene Nat ionen. Au fbau einer w i r k l i c h f r ied l ichen Welt heißt Über­w i n d u n g von Hunger und A r m u t i n al len Regionen der Welt. He r r Präsident, unser Rückblick auf 40 Jahre Vere inte Nat ionen ist e in Rückblick auch auf 40 Jahre Entwick lungszusammenarbe i t . Trotz aller noch unbewältigter Probleme waren diese 40 Jahre, auch und gerade auch für die Dr i t t e Welt, eine Periode wi r tscha f t l i chen Wachstums. Das Soz ia lprodukt i n Asien, A f r i k a und La te inamer ika is t i n den 30 Jahren von 1950 bis 1980 u m jährlich 5,6 Prozent gewachsen u n d das heißt: es hat sich verfünffacht. Die Lebenserwartung der Menschen erhöhte sich zwischen 1960 u n d 1982 von durchschn i t t l i ch 42 Jahren auf 49 Jahre; die K inders te rb l i chke i t g ing u m die Hälfte zurück; wo

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1960 erst 50 Prozent der K inde r i n die Grundschule gingen, gehen heute 94 Prozent. I m M i t t e l p u n k t unserer Genera lversammlung stehen zwei Themen: die Verschuldungskr ise und die Lage i n A f r i ka . I n der Überwindung der Verschuldungskr ise haben w i r seit 1982 Fortschr i t te gemacht. Aber sie ist n i ch t überwunden. Sie t i ck t wei ter als Zeitbombe i n der Weltwir tschaf t , sie gefährdet Wachstum und soziale Stabilität der Entwicklungsländer ebenso wie die Gesundheit des Bankensystems der Industrieländer. Was ist zu tun? E r s t e n s : Wi r müssen gemeinsam Wege f inden, wie die Finanzie­rungsströme wieder norma l i s i e r t werden können und den Entwick­lungsländern wieder adäquate M i t t e l von außen zufließen können Diese Aufgabe k a n n al lerdings schon vom Vo lumen her n icht allein, j a n icht e inma l überwiegend von den internat iona len F inanz inst i tu­t ionen gelöst werden. Die zentrale Rolle müssen we i t e rh in die p r i ­vaten Banken und Investoren spielen. I ch appell iere an die Ge­schäftsbanken, sich dieser Aufgabe n icht zu entziehen. Die Schuldnerländer ihrerse i ts müssen auch i n den kommenden Jahren alle nur möglichen Anst rengungen unternehmen, ihre i n ­nere Wir tscha f tspo l i t ik zu re formieren und die In f l a t i on zu bekämp­fen. Nur so können sie ihre internat iona le Kreditwürdigkeit stär­ken, e in gutes K l i m a für Invest i t ionen herstel len und die Kap i ta l ­f lucht beenden. W i r müssen aber auch sehen: Die Verschuldung ist n icht nur eine wir tschaf t l ich- f inanzie l le Frage. Sie ist auch eine polit ische Frage. Es geht u m den sozialen Fr ieden und die innere Stabilität der Schuldnerländer. Sie dürfen n i ch t überfordert werden. Die Auslandsschulden dürfen n i ch t m i t Rezession, Arbei ts los igkei t u n d Hunger der Dr i t t en Welt bezahlt werden: sie dürfen n icht m i t der Bedrohung von Freiheit , Demokrat ie und Unabhängigkeit be­zahlt werden. Z w e i t e n s : Die Lösung der Schuldenkrise ver langt weitere Zinssen­kungen. Die Industrieländer müssen durch ihre Wirtschafts- und F inanzpo l i t ik e inen we i te ren Rückgang der Zinsen möglich ma­chen. Sie müssen ihre Budgetdef iz ite reduzieren. D r i t t e n s : Die Märkte der Industrieländer müssen für die Entwick­lungsländer offenbleiben und sich wei ter öffnen. Protekt ionismus ist n i ch t n u r eine Gefahr für das wir tschaf t l i che Wachstum i n den Industrieländern, Protekt ion ismus ist eine tödliche Gefahr für die Entwicklungsländer. Der freie Wel thandel hat für die Entwick lungs­länder existentie l le Bedeutung. Nur wenn die Industrieländer den Fert igwaren- und Halbfert igwa­ren der Entwicklungsländer ihre Märkte öffnen, können diese stär­ker i n die We l tw i r tscha f t in tegr i e r t werden. Wer der Dr i t t en Welt seine Märkte verweigert , der verweigert i h r die Entw ick lung ! Die Bundesrepubl ik Deutschland steht für offene Märkte gerade auch gegenüber der Dr i t t en Welt. Die hohen Handelsbilanzüber­schüsse, insbesondere der Länder A f r ikas und Late inamer ikas, auf unserem M a r k t legen davon Zeugnis ab. U m den fre ien Welthandel

zu s ichern und zu verstärken, t re ten w i r für e inen baldigen Beg inn der neuen GATT-Verhandlungsrunde ein. Die akute Gefährdung des fre ien Welthandels geht vor a l l em von den großen Handelsbi lanzungle ichgewichten i n der Welt aus. Diese jedoch durch Handelsbeschränkungen überwinden zu wol len, wäre e in verhängisvoller Fehler. Es hieße die Ursachen verkennen. Eine interdependente Wel twir tschaf t er laubt keine iso l ierten Wir t ­schaftspol i t iken ohne Bl ick auf die Ausw i rkungen auf andere Län­der. Je stärker die Wir tschaf t eines Landes ist, u m so größer is t seine Verantwor tung . Die Auf forderung zur Marktöffnung für die Dr i t t e Wel t r i chte t sich auch an die sozialistischen Industrieländer. Sie nehmen immer noch weniger als 5 Prozent der Fert igwarenexporte der Dr i t t en Welt ab. Das entspr icht i n ke iner Weise ih re r Ste l lung i n der We l tw i r t ­schaft und der Verantwor tung , die auch sie tragen. H e r r Präsident, die zweite große Aufgabe, die uns i n dieser General­versammlung vor Augen steht, ist die Hi l fe für A f r i ka ! Die interna­t ionale Gemeinschaft hat nach der letzten Genera lversammlung Hi l fe gegen die drohende Hungerkatastrophe organisiert . Die Bundesregierung hat m i t Nahrung , Transpor t und Med ikamen­ten geholfen. Ungezählte Bürger meines Landes haben großzügig gespendet. Die Hi l fe für A f r i k a muß weitergehen, j a gesteigert wer­den. Geber und Empfänger s ind sich dabei einig, daß äußere Hi l fe a l le in die Wende n icht br ingen kann . A f r i k a weiß, daß es Wir tschaf tsre formen braucht und die Landwi r t ­schaft zum K e r n seiner Entwick lungsanstrengungen machen muß. Es ist notwendig, durch lohnende Erzeugerpreise den Bauern An ­reize zu geben, mehr zu produzieren. Aber die Reformen i n A f r i k a lassen sich nur durchführen, wenn sie durch ausreichende Hi l fe von außen unterstützt werden. I m Au f t r ag des Bonner Weltwirtschaftsgipfels haben die sieben Industr iestaa­ten Vorschläge zur Bekämpfung des Hungers i n A f r i k a ausgearbei­tet, die gestern hier i n New York von den sieben Außenministern gebi l l igt worden sind. He r r Präsident, für die Bundesrepubl ik Deutschland ist Entwick­lungspol i t ik Te i l ihrer Fr iedenspol i t ik . Wi r wol len, daß die Entwick­lungsländer w i r tscha f t l i ch selbständiger und unabhängiger werden. W i r wol len die wi r tschaf t l i chen Grundlagen echter Blockfre ihe i t stärken. Die Bundesrepubl ik Deutschland hat ihre Hi l f e n icht auf wenige ausgewählte Länder beschränkt. W i r haben v ie lmehr überall dort geholfen, wo die Not am größten war. Den ärmsten Ländern der Welt haben w i r die Schulden erlassen — i n e inem Ausmaß, wie dies ke in anderes Industr i e land getan hat. Die Bundesregierung hält Bevölkerungspolitik für e inen notwendi­gen Bestandtei l einer erfolgreichen Entwicklungsstrateg ie . W i r un­terstützen deshalb auch den Bevölkerungsfonds der Vere inten Na­t ionen. Er hat wertvol le A rbe i t geleistet und wesent l ich mitgehol fen, das Bevölkerungswachstum zu verlangsamen. Weitere Erfolge s ind nötig.

Traditionsgemäß am d r i t t en Dienstag i m September wurde die Jahrestagung der UN-Ge­nera l v e r sammlung eröffnet: am 17.September 1985. M i t dem Präsidentenamt w a r die­ses M a l die Gruppe der w e s t ­europäischen u n d anderen Staaten< an der Reihe; gewählt wurde Don Ja ime de Pinies (Spanien). M i t den Vere in ten Nat ionen ist er seit langem verbunden: 28mal ha t er se in Land i n der Genera lversamm­lung ver t re ten. Ja ime de Pinies wurde a m 18. November 1917 i n M a d r i d geboren; das S t u d i u m der Rechtswissenschaften schloß er 1941 an der Univers i ­tät der spanischen Haupts tad t ab. I n den Auswärtigen Dienst seines Landes t r a t er 1944 ein. Ste l lvertreter des Ständigen Vertre ters Spaniens bei der Wel torganisat ion war er 1960-1968, Ständiger Ver t re te r 1968-1972 u n d wieder ab 1973. I m J u n i dieses Jahres t r a t er i n den Ruhestand, wurde dann aber Ende August durch Kö­nigl iches Dekre t als Sonder­botschafter nach New York entsandt. — I m B i l d v.l.n.r.: Ge­neralsekretär Javier Perez de Cuellar, Präsident Ja ime de Pi­nies und Untergeneralsekretär W i l l i am B. Buf fum.

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Weltweite Interdependeriz w i r d besonders deut l i ch be im Umwel t ­schutz. H i e r is t internat ionale Po l i t ik auf dem Wege, Wel t innenpol i ­t i k zu werden. H ie r entscheidet die Menschhei t i n gemeinsamer Ve ran twor tung über die eigene Zukunf t . Unsere Wälder s ind i n Gefahr, unser Acker land erodiert, Wüsten und Steppen dehnen sich aus, Meere, Seen u n d Flüsse verschmut­zen mehr und mehr, Tier- und Pf lanzenarten sterben aus. Es gi lt , auf dem k l e in gewordenen Raumschi f f Erde die natürlichen Le­bensgrundlagen zu erhalten, von denen w i r alle zusammen abhän­gen. I n der Nord-Süd-Zusammenarbeit g i l t es, rechtzei t ig auch die Fra­gen einzubeziehen, die die neuen Technologien, M ik roe l ek t r on ik und Biotechnik aufwerfen. Diese Technologien br ingen große Chan­cen gerade auch für die Entwicklungsländer. Die Gentechnologie bietet neue Möglichkeiten für eine Lösung der Welternährungs­probleme. Die neuen Fernmelde- und Rundfunksate l l i t en bieten die Chance, ganze Regionen der D r i t t e n Welt schnell und re la t iv b i l l i g m i t einer Kommun ika t i ons - In f r a s t ruk tu r zu versorgen. Doch neben den Chancen stehen auch Ris iken. So tre iben die neuen In format ions­technologien i n den Industrieländern die Automat i s i e rung voran. Für die Entwicklungsländer b r ing t dies die Gefahr, daß sich i h r Vor­te i l der n iedr igen Arbe i tskosten entwertet . Nord und Süd müssen zusammenarbeiten, u m die Chancen der neuen Technologien für die Dr i t t e Welt zu nutzen und den Ris iken vorzubeugen. Die größte Chance scheint m i r dabei, daß die neue technologische Revolut ion es v ie len Entwicklungsländern, jeden­falls i n Tei lbereichen, ermöglicht, prakt i sch gleichzeit ig m i t den Industrieländern i n das neue Informat ionsze i ta l ter e inzutreten. H e r r Präsident, die Vere inten Nat ionen haben die Würde des Men­schen als den obersten Maßstab anerkannt . Das haben alle Staaten nach innen u n d nach außen zu beachten. Die Vere inten Nat ionen haben e in umfassendes System we l twe i t verb indl icher No rmen zum Schutze der Menschenrechte geschaf­fen. Das Übereinkommen gegen die Folter von 1984 ist e in Doku­ment gegen Ern iedr igung, Unmenschl ichke i t u n d Grausamkei t . I ch hoffe, daß die nächste Vere inbarung auf diesem Gebiet e in weiteres Faku l ta t i vpro toko l l zum Internat iona len Pakt über bürgerliche und pol it ische Rechte zur Abschaf fung der Todesstrafe sein w i r d . Vor uns l iegt die Aufgabe, die Menschenrechte n i ch t n u r zu fo rmu­l ieren, sondern sie durchzusetzen. Dazu brauchen w i r internat io­nale Ins t i tu t ionen , die den Schutz der Menschenrechte stärken. W i r fordern die Einsetzung eines Hochkommissars für Menschenrechte, und w i r fo rdern e inen Internat iona len Menschenrechtsgerichtshof bei den Vere in ten Nat ionen. Noch immer werden i n v ie len Tei len der Welt die Menschenrechte mißachtet. E i n uns alle bedrückendes Menschenrechtsproblem be­sonderer A r t is t die Apar the id i n Südafrika. W i r wol len die f r i ed l i ­che Überwindung der Apar the id i n der Republ ik Südafrika. Das ent­spr icht den ethischen Grundlagen unserer Verfassung, das ent­spr icht den Forderungen der chr is t l ichen K i r c h e n und der t ie fen Überzeugung der Bürger i n me inem Land.

Es geht u m gleiche Rechte für alle Südafrikaner ohne Ansehen ihrer Haut farbe. Die Welt schaut m i t Entsetzen und Empörung auf die Eskalat ion b lut iger Auseinandersetzungen i n Südafrika. Wi r appel l ieren an die Verantwor t l i chen i n Südafrika, alle po l i t i ­schen Gefangenen freizulassen, die Zwangsumsiedlung zu beenden, den willkürlichen Verha f tungen ohne r i chter l i chen Beschluß e in Ende zu setzen u n d den Ausnahmezustand aufzuheben. Nur i n Verhand lungen m i t den authent ischen Führern aller Bevöl­kerungsgruppen k a n n eine dauerhafte Lösung gefunden werden. Wie diese Lösung aussieht, müssen die Menschen i n Südafrika selbst entscheiden können, n iemand außerhalb Südafrikas hat das Recht, ihnen dafür Vorschr i f t en zu machen. Die südafrikanische Regierung ha t i n jüngster Zei t einige konkre te Hinweise auf Reformen gegeben. Sie müssen n u n schnel l v e rw i rk ­l i cht werden. Weitere t iefer greifende Reformen bleiben erforder­l ich, bis die Apar the id vo l l kommen überwunden ist. W i r hoffen, daß die Verantwor t l i chen n i ch t die letzte Chance versäumen, die ihnen die Geschichte gibt. He r r Präsident, das Recht der Völker auf Se lbstbest immung muß die Grundlage sein für die Lösung der Namibia-Frage. Die Resolu­t i on 435 des Sicherheitsrats b le ibt für uns die unverz ichtbare Grundlage jeder Namibia-Lösung. Wir appel l ieren an die Regierung Südafrikas, endl ich den Weg f re i ­zumachen für die in te rnat iona l anerkannte Unabhängigkeit Nami ­bias. F r e i e Wahlen müssen best immen, welche Regierung die Mehr­hei t des Volkes haben w i l l .

Her r Präsident, die Vere inten Nat ionen s ind v ierz ig Jahre alt. W i r werden uns i n diesem Jahr fe ier l ich neu auf die Grundsätze der Charta der Vere inten Nat ionen verpf l ichten. Generalsekretär Perez de Cuellar hat uns zu e inem neuen koopera­t i ven Internat iona l i smus aufgefordert. W i r unterstützen seine prak­tischen Vorschläge. Wi r brauchen keine neue Charta. Aber w i r brau­chen einen neuen Geist i n den Vere inten Nat ionen. Die Friedenssi­cherung muß hier, i n diesem Gebäude, beginnen. Die Vere inten Nat ionen sind geschaffen worden für den Ausgle ich unterschiedl icher Interessen. Sie dürfen n i ch t mißbraucht werden für Propaganda u n d für kurz fr is t ige , v ie l le icht innenpol i t i sch ver­wertbare Abst immungserfo lge. Gewiß, die U N s ind eine pol it ische Organisat ion. U n d Po l i t ik bedeutet R ingen u m Macht, Einfluß, Wer­te, Programme, Personen. Darüber dürfen w i r n i ch t vergessen, daß w i r hier i n den Vere inten Nat ionen m i t e inem kostbaren In s t rumen t umgehen. Unsere vom Kr i e g geschlagenen Väter haben es geschaffen. W i r müssen noch lernen, das Ins t rument , das die Vere in ten Nat ionen uns für die Sicherung des Friedens bieten, meisterhaf t zu beherrschen. Die Geschichte w i r d uns n icht messen an k le inen takt ischen Erfo l ­gen hier und dort, sie w i r d uns a l le in daran messen, ob es uns gelun­gen ist, die Weltkatastrophe zu vermeiden u n d das Leben für alle menschenwürdiger zu gestalten. Die Würde des Menschen, seine unveräußerlichen und e lementaren Rechte müssen der Maßstab ble iben für alles, was w i r t u n .

Seit 1974 hat Bundesaußenmi­nister Hans-D ie t r i ch Genscher jedes Jahr (außer 1982) i m Rahmen der Generaldebatte der Genera l ve rsammlung der Vere in ten Nat ionen den Stand­p u n k t der Bundesreg ierung zu in te rna t i ona l en Fragen darge­legt. Vor dem We l t f o rum der 40. Genera l ve rsammlung hat er am 26. September 1985 ge­sprochen; diese Jahrestagung steht we i tgehend i m Zeichen des Jubiläums. Berei ts zum 26. J u n i , dem 40. Jahrestag der Unterze ichnung der Charta , hat te der Bundesaußenmini­ster darauf au fmerksam ge­macht, daß sich die Vere in ten Nat ionen »als unersetz l icher Faktor der Staatengemein­schaft erwiesen« haben. Die of tmals beklagte Schwäche der Vere in ten Nat ionen sei vor al­lem eine Schwäche des po l i t i ­schen Wi l lens der Staaten, ent­sprechend den Zie len und Grundsätzen der Organisat ion zu handeln.

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