woz: wo bitte geht´s hier zum altar?
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Article on a lecture by Jochen Becker in Zuerich.TRANSCRIPT
Kultur / Wissen 23WOZ Nr. 12 22. März 2012
«Der Implex»
Ohne Lenin scheint es nicht zu gehenDietmar Dath und Barbara Kirchner legen eine glühende Verteidigungsschrift des Kommunismus vor. An den zeitgenössischen Debatten beteiligen sie sich nicht. Lesenswert ist das Buch trotzdem.
VOn RauL ZeLiK
Vor vier Wochen erst ist Barbara Kirchners und Dietmar Daths «Roman in Begriffen», immerhin 880 Seiten dick, erschienen, und schon haben ein Dutzend deutschsprachiger Feuilletons das Buch vorgestellt. Das ist umso überraschender, als es sich hierbei um eine glühende Verteidigungsschrift des Kommunismus, genau er: der Traditionslinie MarxEngelsLenin handelt. Das Interesse hat nicht nur mit der Krise, sondern auch mit den AutorInnen zu tun: Kirchner, Professorin für theoretische Chemie, schreibt ScienceFictionRomane; Dath war Wissenschaftsredaktor der FAZ, leitete das Musikmagazin «Spex» und gilt als einer der originellsten deutschsprachigen Schriftsteller. Wenn diese beiden sich zum Ziel setzen, den – in den Verhältnissen implizierten (daher «Implex») – Möglichkeiten der Veränderung nachzuspüren, kann man Vielschichtiges erwarten.
Schiefes und Lesenswertes
Die Fähigkeit, in nichtzwingenden Verknüpfungen zu denken, ist auch die grosse Stärke des Buchs. Für Kirchner und Dath, die mit Verachtung für den «Poststrukturalismus» nicht geizen, muss ein derartiges Lob irritieren, deswegen sei es ihnen an dieser Stelle nicht erspart: In seiner assoziativen Methode, zwischen den Feldern zu springen und sich auf den jeweiligen Ebenen wuchernd auszudehnen,
erinnert «Der Implex» an «Tausend Plateaus» von Gilles Deleuze und Felix Guattari. Bei diesen kam meist Blödsinn heraus, wenn sie Naturwissenschaftliches einbauten; bei Dath und Kirchner wird es am schiefsten, wenn sie im
engeren Sinn politisch argumentieren.
Das ist problematisch, weil «Der Implex» das emanzipatorische Projekt der Aufklärung rehabilitieren und Marxismus als dessen Verlängerung sichtbar machen will. Auf dieser Linie entwickeln die AutorInnen viel Lesenswertes: Kirchners «Feminima Moralia» etwa, wo es um Geschlechterdifferenz und Feminismus geht, oder das Kapitel «Oh, l’amour», in dem
Liebe als empirischer Beweis für freiere soziale Beziehungen reflektiert wird. Doch an entscheidenden Stellen schlägt «Der Implex» in schlimmsten tra di tions mar xis ti schen Wahrheitssprech um: Kritisches Denken, das ohne Lenin auskommt, wird lässig heruntergeputzt, teleologische Begriffe werden begeistert aus der Klamottenkiste der Zweiten Internationale gekramt, und als Beispiel politischer Praxis wird auf die stalinistische KP Griechenlands verwiesen. Hallo?, möchte man fragen, auf welchem Planeten habt ihr die letzten dreissig Jahre gelebt?
So belesen die AutorInnen sein mögen: In politischer Hinsicht wirkt «Der Implex» erstaunlich schlecht informiert, oder richtiger: kontextlos. Dath und Kirchner ziehen gegen
die Technikfeindlichkeit der neuen Linken ab 1970 zu Feld. Dass «zurück aufs Land» keine gesellschaftliche Strategie sein kann – geschenkt. Doch wie verhält es sich mit klügeren Einwänden der Fortschrittskritik? Wenn Technik nicht neutral ist, da sich Herrschaftsverhältnisse in sie einschreiben, wie kann sie emanzipatorisch angeeignet werden? Dass sich der Staatssozialismus für die fordistische Fabrik begeisterte, war ja mehr als eine Fussnote dieses gescheiterten Projekts. Analog hierzu wäre auch zu erklären, wie man den «Fortschritt» rehabilitieren will, ohne die Kritik zu übergehen, die Entwicklung als (post)koloniales Herrschaftsparadigma entziffert hat.
Wie ein autistischer Monolog
Oft hat man den Eindruck, dass sich «Der Implex» systematisch gegenüber Irritationen abzuschirmen versucht. Im «Staatskapitel» ziehen Dath und Kirchner über die Anarchisten her und kehren nach kurzer Schlacht zu Lenin zurück: Die Eroberung der Staatsmacht ist unumgänglich. Der Erkenntnisgewinn tendiert gegen null, denn die Frage stellt sich längst weit komplexer: Welches Verhältnis müsste eine Emanzipationsbewegung zum Staat entfalten, wenn klar ist, dass der Staat Gegenbewegungen bis zur Unkenntlichkeit assimiliert, dass mikropolitische Praxen keinen Systembruch nach sich ziehen und neuere Entwicklungen (vor allem in Lateinamerika) zeigen, dass Regierungspraxis zwar durchaus das Potenzial zur Aneignung von unten besitzt, aber diese nur selten wirklich fördert?
Dath und Kirchner bekennen sich zum Marxismus, doch an zeitgenössischen an Marx anlehnenden Debatten beteiligen sie sich nicht. Genau das aber würde man gern lesen: Wie lassen sich David Harveys Thesen zum organisierten antikapitalistischen Übergang weitertreiben, oder warum sind sie vielleicht falsch? Was ist brauchbar an der von Slavoj Zizek, Judith Butler und andern geführten Debatte darüber, wie sich in fragmentierten Gesellschaften gegenhegemoniale Bewegungen konstituieren können? Und, ja, sicher: Rosa Luxemburgs Texte zu Reform und Revolution oder zur Landnahme sind aktuell. Aber wo und wie beschreiben sie unsere Realität konkret?
Gerade für jemanden, der ihr Anliegen teilt, liest sich «Der Implex» zuweilen wie ein autistischer Monolog. Sprachlich indes spriesst hier so viel und in so viele Richtungen, dass der Wahrheitsverkündung ästhetisch ein Riegel vorgeschoben wird. Insofern geht «Der Implex» als Prosa weit über die auf Handhabbarmachung bedachte Tradition der Zweiten Internationale hinaus. Ein gutes Beispiel dafür, dass die Form den Inhalt produktiv unterlaufen kann. Der richtige Roman also, nur mit der falschen Geschichte?
Monoblockstühle bis zum Horizont: Im Prayers Camp in Lagos feiern 750 000 Gläubige. Foto: B itter / WeBer
Hallo?, möchte man fragen, auf welchem Planeten habt ihr die letzten dreissig Jahre gelebt?
Der Brief von «Safranblau» war an neoliberalem Kauderwelsch kaum zu überbieten: «Hallo, Kaspar», begann er ganz spontan. Mit einem «attraktiven Portfolio für junge, kreative und offene Menschen von heute ist Safranblau die Nummer Eins im Bereich zielgruppenorientierter Kirche.» Zwar vermute man, dass ich einen ziemlich vollen Terminkalender hätte, aber vielleicht interessierte ich mich gerade deswegen für die WorkLifeBalance und ein Mentaltraining. Falls ich eher die klassische Spiritualität vermissen würde, biete man auch ein Stadtgebet an: «Es ist schlicht, klar und ganz einfach state of the art!»
Vom sündigen zum gottgefälligen Ort
Halleluja, dachte ich und beschloss erst recht, am Freitag, 16. März, nach ZürichAltstetten zu fahren. Im Autonomen Beauty Salon, einem besetzten Gewerbeareal, war ein Vortrag zum Thema «Beten und wirtschaften in der neoliberalen Welt» angekündigt. Dämmerung über den Gleisen, die Hohlstrasse staubig wie immer, vor dem Schönheitssalon wurde Holz gehackt. Drinnen hing eine Fahne, auf der sich ein Hochhaus verbeugte, ein Slogan forderte: «Geld oder Leben!» Rund fünfzig Leute sassen dicht nebeneinander. Die VeranstalterInnen vom Stadtforschungsnetzwerk Inura und dem Verein Güterbahnhof überraschte das Interesse.
«Offenbar wird zum ersten Mal über die Verbindung von neuen religiösen Bewegungen und Stadtplanung gesprochen», meinte Richard Wolff von Inura.
Als Referent geladen war der Berliner Stadtforscher Jochen Becker. Mit KollegInnen hat er die Ausstellung «Global Prayers» erarbeitet, die noch bis Ende März in Graz zu sehen ist. «Die Religionsindustrie ist ein weltweites Phänomen», begann Becker: von den Evangelikalen in Rio de Janeiro, die Drogenabhängige in den Favelas bekehren, über die schiitische Hisbollah, die in Beirut als Bauunternehmen günstigen Wohnraum schafft, bis zu den nationalistischen Hindus der Shiv Sena in Bombay, die unterklassige Händler unterstützen. «Die Bewegungen bieten ein Dreieck von Leistungen an: soziale Dienste, wenn die Staaten ausfallen, wirtschaftliche Investitionen als Firmen sowie spirituelle Praxis», sagte Becker.
Dabei handle es sich nicht nur um ein globales, sondern um ein in sich globalisiertes Phänomen: Die Kirchen folgen den Migrationsrouten und funktionieren über ein Filialsystem. Becker zeigte ein Foto eines ehemaligen Kinos in London, das den Evangelikalen aus Rio als Filiale dient: «Vergnügungspaläste sind beliebt für neue Kirchenräume. Zum einen bedienen sich die Gläubigen an Formen der Popkultur. Gleichzeitig können sündige Örtlichkeiten durch gottgefällige verdrängt werden.»
Der Urbanist betonte, er wolle eine Entwicklung beobachten und verstehen und sie nicht von vornherein qualifizieren. «Auf jeden Fall ist festzuhalten, dass derzeit neue religiöse Bewegungen die Stadt mitgestalten.»
Ausführlich ging Becker auf das Beispiel der Redeemed Christian Church of God (RCCG) in Nigeria ein, gegründet in den fünfziger Jahren. Eine halbe Autostunde von der Metropole Lagos entfernt betreibt sie eine eigentliche Stadt: mit eigener Stromversorgung, Universität und Bank. Und vor allem mit einer Megakirche für 750 000 Gläubige. Im Dezember wird während sechs Tagen der «Holy Ghost Congress» mit Ansprachen und Gesängen gefeiert. Die Gläubigen kommen jeweils über Nacht, den Altar sehen sie nur auf Bildschirmen.
Die ICF baut aus
«Das Areal der RCCG erscheint als Idealstadt, nicht nur moralisch, sondern auch funktional», so Becker. In der Megakirche strahlt die ganze Nacht Flutlicht. Es vermittle in doppelter Hinsicht «Power», meinte Becker: Weil in Nigeria Stromausfälle an der Tagesordnung sind, symbolisiere das Licht neben der religiösen Erleuchtung die wirtschaftliche Potenz der RCCG. Als Gegenmacht zum Staat ist die Kirche allerdings nicht zu verstehen, vielmehr reproduziert sie dessen Machtstrukturen: Christliche
Präsidentschaftsanwärter holen sich am Heiliggeistkongress den Segen.
In der Diskussion wurde versucht, das Phänomen in der Stadt Zürich festzumachen. Ausgangspunkt war die Abstimmung um den Güterbahnhof. Die Forderung nach günstigem Wohn und Gewerberaum scheiterte, auf dem Areal soll ein Justiz und Polizeigebäude entstehen. Dies ist frühestens Ende 2012 der Fall, bis dahin nutzt die Firma Rufener Events einzelne Hallen als Kongresszentrum: «Hauptkundin von Rufener ist die International Christian Fellowship ICF, die sich die Miete von 30 000 Franken pro Abend leisten kann», berichtete Vesna Tomse vom Verein Güterbahnhof.
Die Meinungen gingen auseinander, ob die Popkirche die Stadtentwicklung mitgestaltet. Vielleicht rücke die ICF nur in den Fokus, weil sie vom MaagAreal in den Güterbahnhof umgezogen sei und man den selbst gern hätte, meinte ein Zuhörer: «Ob die CS oder die ICF die Hallen mietet, ist doch egal. Wichtig ist, wer sie vermietet.» Tomse entgegnete, vermutlich habe sich die ICF am Umbau zum Kongresszentrum beteiligt. Tatsächlich vermeldet die Kirche auf ihrer Website, der Umbau sei nur dank des Einsatzes von Fachleuten und unzähligen «Volunteers» möglich gewesen. Und dank Gottes Hilfe.
Eine Reportage zur ICF ist in WOZ 44/10 erschienen. Mehr Infos zur Ausstellung: www.globalprayers.info.
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Wo bitte gehts hier zum altar?Vom «Holy Ghost Congress» in Lagos zur Popkirche ICF: Der Urbanist Jochen Becker sprach in Zürich zur Frage, wie neue religiöse Bewegungen auf die Stadtplanung Einfluss nehmen.
VOn KaspaR suRbeR
Dietmar Dath, Barbara Kirchner: «Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee». Suhrkamp Verlag. Berlin 2012. 880 Seiten. Fr. 40.50.