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Travelling Yoga 22 VIVEKA 52 Mehr Gelassenheit wünschen sich die meisten von uns. Aber von was lassen? Die gängigen Übersetzungen des Yoga Sûtra vermitteln den Eindruck: Von allem! Es scheint dort so, als ginge es im Yoga wesentlich um Eines: Sich endgültig zu lösen von dem, was mich als Mensch zu berühren vermag. Etwa Gefühle, Zuwendung, Wünsche, Hoffnungen oder Interessen. Ist es so gemeint? Ist eine weniger »strenge« Lesart des Yoga Sûtra nur noch eine verwässerte und für westliche Gemüter geschmeidig gemachte Version, ein »Yoga light«? Diese Fragen stehen im folgenden Artikel am Anfang einer Diskussion über jene Sûtren, in denen Patañjali über die Wichtigkeit des Lassen-Könnens auf dem Yogaweg spricht. Travelling Yoga Eine Idee verlässt die Umgebung, in der sie geboren wurde, geht auf Reisen und wird dabei im- mer wieder neu gelesen und zwangsläufig verändert – es ist wohl der einzige Weg, lebendig zu bleiben. Gespräche über das Yoga Sûtra heute: Vairâgya

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Page 1: Yoga - Viveka- · PDF fileTravelling Yoga 24 VIVEKA 52 Umgang mit vairâgyasprechen doch die klaren Worte des 15. und 16. Sûtras im 1. Kapitel. Demnach geht es bei vairâgya um ein

Travelling Yoga

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Mehr Gelassenheit wünschen sich die meisten vonuns. Aber von was lassen?Die gängigen Übersetzungen des Yoga Sûtra vermitteln den Eindruck: Von allem!Es scheint dort so, als ginge es im Yoga wesentlichum Eines: Sich endgültig zu lösen von dem, wasmich als Mensch zu berühren vermag. Etwa Gefühle, Zuwendung, Wünsche, Hoffnungen oder Interessen.Ist es so gemeint? Ist eine weniger »strenge« Lesart des Yoga Sûtra nur noch eine ver wässerteund für westliche Gemüter geschmeidig gemachteVersion, ein »Yoga light«? Diese Fragen stehen imfolgenden Artikel am Anfang einer Diskussion überjene Sûtren, in denen Patañjali über die Wichtigkeitdes Lassen-Könnens auf dem Yogaweg spricht.

TravellingYoga

Eine Idee verlässt die Umgebung,in der sie geboren wurde, geht

auf Reisen und wird dabei im-mer wieder neu gelesen und

zwangsläufig verändert – esist wohl der einzige Weg,

lebendig zu bleiben.

Gespräche über dasYoga Sûtra heute:

Vairâgya☆♤♧

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Vairâgya

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wünschte Veränderung dieses Geistesmöglich werden kann, eben das Sûtra12: durch »abhyâsa und vairâgya«,»Üben und Loslassen«.

Wenig Schwierigkeiten bereitet dasVerständnis von abhyâsa, das in denzwei folgenden Sûtren konkretisiertwird. Dort wird es beschrieben als eine»Anstrengung«, die Yoga-Qualität un-seres Geistes (cittav®ttinirodhaª) zu»stabilisieren«, zu pflegen (Kapitel 1,Sûtra 13).1

Und weiter heißt es, dass Üben seinFundament darin hat, dass es über eine»lange Zeit«, »regelmäßig« und »mitHingabe« (und »sorgfältig, achtsam«,wie in Krishnamacharyas Yoga Sûtra-Fassung hinzufügt wurde) praktiziertwird (Kapitel 1, Sûtra 14). Kurz gesagt:Abhyâsa verlangt Energie, Durchhalte-vermögen und Achtsamkeit. Solche At-tribute verbinden wahrscheinlich die

meisten Menschen mit Yogapraxis – jedenfalls dann, wenn sie damit ein we-nig Erfahrung gemacht haben.Sehr viel weniger erschließt sich auf An-hieb, was eigentlich mit vairâgya ge-meint sein kann: Seinlassen – was?Nicht anhaften – woran? Loslösen – wo-von?

♤:ICH SEHE DA gar keine Schwierigkeit.Das Yoga Sûtra gibt doch eine sehr ein-deutige Antwort: Vairâgya heißt, sichauf überhaupt gar nichts mehr einlas-sen. Also anders als es zum Beispiel imHeft 7 von Viveka in einem Artikel überabhyâsa und vairâgya dargestelltwurde.2

Was mir dort immer gefehlt hat, istgenau diese Eindeutigkeit des Yoga Sû-tra im Verständnis von vairâgya. Stattdessen geht es in dem Artikel um so et-

1.12abhyâsavairâgyâbhyâμ tannirodhaª

Die Veränderung des Geistes in Richtung Yogawird erreicht durch beides: Übungspraxis undSich-Lösen (von dabei Hinderlichem).

Wörtlicher: (Erreicht wird) dessen (des Geistes) nirodha (ausschließliche Ausrichtung, Verweilen in einer engen Verbindung) durch beides: Übungspraxis und Loslassen.

Wörtlich: Dessen (tat = tan) nirodha durch beide (bhyâμ): abhyâsa und vairâgya

1 Krishnamacharya und Desikachar haben darauf hingewiesen, dass eine solche Rede offen-sichtlich davon ausgeht, dass die oder der so Angesprochene mit der Erfahrung von »Im-Yoga-Sein« schon wohl vertraut ist. Anderes gilt für die zweite programmatische Beschreibung desYogaweges, wie sie uns in der Einleitung zum zweiten Kapitel des Yoga Sûtra begegnet (Sutra1, Kapitel 2: tapaªsvâdhyâyeÍvarapra~idhânâni kriyâyogaª). Zwar geht es auch dort darum,was in den Yogaweg zu investieren ist, welches Tun (kriyâ) verlangt wird. Aber es wird nichtsvorausgesetzt, das Sûtra spricht jeden an: AnfängerIn wie ErfahreneN. Wir werden auf diesesSûtra in einer späteren Diskussion zurückkommen.

2 Nagelbrett und Erdbereis, Über Üben und Seinlassen, Viveka Nr.7, S.4 ff

♧:IM UNSEREM LETZTEN Gespräch über»Travelling Yoga« ging es um die Defini-tion von Yoga und damit darum, wohindieser Erkenntnisweg eigentlich führensoll. Heute folgen wir dem Yoga Sûtraauf seinem nächsten Schritt: Was ist zutun, um auf diesem Weg voranzukom-men, und schließlich im »Yoga zusein«? Patañjali beantwortet diese Frageerst einmal grundsätzlich: Der Yogawegbraucht »abhyâsa und vairâgya« (Kapitel1, Sûtra 12). Vielleicht übersetzen wirdas vorläufig einmal mit »Üben und Los-lassen«.

Bis zu dieser Feststellung hin hat dasYoga Sûtra schon einige andere ganzgrundsätzliche Ideen entwickelt. Als Zielvon Yoga gilt ihm das Erreichen einerbestimmten inneren Befindlichkeit – cittav®ttinirodhaª; also das Herstellen ei-nes bestimmten mentalen Modus, wennwir es in heutigen Worten ausdrückenwollen. Was damit genau gemeint ist,hat uns das letzte Mal beschäftigt. Uns erschien es am schlüssigsten, cittav®ttinirodhaª als eine Situation zuverstehen, in der wir uns auf etwas aus-richten, dabei bleiben, in einer engenVerbindung damit verweilen und uns sowirklich darauf einlassen können. Alsonicht als einen Zustand, in dem unserGeist zum völligen Stillstand kommt, wieman manchmal liest. Aber ganz unab-hängig von den offensichtlich sehrunterschiedlichen Lesarten des Begriffscittav®ttinirodhaª lässt das Yoga Sûtrakeinen Zweifel daran zu, dass dieser be-sondere Zustand sich schließlich in einerganz bestimmten Fähigkeit ausdrückt -der Fähigkeit, sich der Wirklichkeit sosehr anzunähern, wie dies einem Men-schen eben möglich ist. Es ist eines dergroßen Themen des Yoga Sûtra: Immerwieder geht es dort um Verständnis –vor allem der eigenen Person in allen ih-ren Aspekten, aber auch der Welt, inder sie lebt. Und es geht um die Verrin-gerung von quälendem Leid.Mit »Yoga« beschreibt Patañjali also ei-nen geistigen Modus, der es erlaubt, dieWelt um uns herum auf eine besondereArt und Weise wahrzunehmen. UnserGeist, der dieses Wirklichkeitserlebenvermittelt, gilt im Yoga Sûtra folgerich-tig als das wesentliche Arbeitsfeld desYoga. Entsprechend wird er nun in sei-nen Möglichkeiten, Funktionen und Ein-schränkungen genauer beschrieben (Ka-pitel 1, Sûtra 5 bis 11). Erst dann folgtals Antwort auf die Frage, wie die ge-

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Umgang mit vairâgya sprechen doch dieklaren Worte des 15. und 16. Sûtras im1. Kapitel. Demnach geht es bei vairâgya um ein vollständiges Ablegenjeglichen Verlangens. Wörtlich heißt es»völlige Durstlosigkeit«, also: keinDurst, kein Verlangen mehr nach garnichts. Nach nichts, »was ich selbst ge-sehen habe«, nach nichts, »wovon ichgehört habe« (Kapitel 1, Sûtra 15). Ja,schließlich völlig losgelöst vom Wandel,der mir, meinem Geist, meinem Körperund dieser Welt zu eigen ist (Kapitel 1,Sûtra 16). Die Welt da draußen interes-siert mich nicht mehr, sie lockt michnicht mehr, sie berührt mich nicht mehr- ein »vollkommenes Ledigsein«, wie esin einer recht aktuellen Übersetzungheißt.3 Oder wie ich gerade in einemYoga-Ratgeber im Bezug auf vairâgyagelesen habe: Im Yoga Sûtra geht esum eine innere Haltung des Losgelöst-seins, »die am Ende so weit geht, dasssie unser Vorstellungsvermögensprengt«.4Also: Wir können uns das eben nichtvorstellen, aber es gibt so etwas tat-sächlich, oder gab es zumindest. Wahr-scheinlich haben wir das nur noch nichterfahren, weil wir noch nicht so weitsind; das ist alles.

☆:DA SPRICHST DU genau mein Problemmit dem Yoga Sûtra an. Manchmal wer-den dort Vorstellungen vertreten, dieich einfach nicht akzeptieren kann. Washeißt denn »vollkommenes Ledigsein«?Deine Überlegung, wir könnten uns dasnicht vorstellen, kommt mir vor wie einbequemer Trick, sich über den Inhaltdes Yoga Sûtra keine Gedanken ma-chen zu müssen.

Natürlich kann man sich unter einer»inneren Haltung völligen Losgelöst-seins« etwas vorstellen: Die Freund-schaft zu einem bestimmten Menschenzum Beispiel hätte keine Bedeutung

eher lassen? Warum muss ich mich da-für auf etwas Positives ausrichten? Washindert mich zum Beispiel daran, auf dieYogamatte zu gehen, obwohl es mir da-nach immer besser geht als zuvor?«

Gegen eine solche Leichtigkeit im

was wie ein ordentlich »verdünntes« vairâgya-light« bezogen auf Fragestel-lungen unseres Alltags: »Was tut mirgut, was tut mir weniger gut? Von wel-cher schlechten Gewohnheit, welchemStress, welcher Ablenkung sollte ich

1.13tatra sthitau yatno ´bhyâsaª

Üben meint die Anstrengung, in diesem Zustand Stabilität zu erreichen.

Wörtlich: abhyâsa: Die Anstrengung (yatna) darin (tatra) bleiben (sthitau)

1.14sa tu dîrghakâla nairantarya satkâra1 âdara2 asevitod®∂habhûmiª

Die Übungspraxis erhält aber nur festen Grunddurch gewissenhaftes Üben über einen langen Zeitraum, kontinuierlich, hingebungsvoll und sorgfältig.

Wörtlich: Dies (sa = abhyâsa) aber (tu): fester(d®∂ha) Grund (bhûmi) durch gewissenhaftes Üben(âsevita) über einen langen (dîrgha) Zeitraum (kâla),keine Unterbrechung (nairantarya), hingebungsvoll/achtsam (satkâra), sorgfältig/respektvoll (âdara).

1 In der ersten und einzigen kritischen Edition des ersten Kapitels des YogaSûtra von Philipp André Maas wird im Gegensatz zu allen bisherigen Ausgaben des Yoga Sûtra statt satkâra entsprechend der zuverlässigsten al-ten Handschriften saμskâra gelesen. Das macht viel Sinn: Auch im drittenKapitel des Yoga Sûtra heißt es: Nirodha-pari~âma wird durch saμskâra erreicht. Samskâra meint ein »Muster«, hier ein positives mentales Muster.Die Übungspraxis soll zu einer positiven »Gewohnheit« werden, die dortgemachte Erfahrung sich als festes, leicht aktivierbares Muster in uns etablieren. Wir folgen heute noch einmal der üblichen Lesart satkâra.Philipp André Maas, Das erste Kapitel des PâtañjalayogaÍâstra zum erstenMal kritisch ediert, in: Geisteskultur Indiens, Texte und Studien, Band 9,Shaker 2006

2 Der Begriff âdara findet sich nur in der Textfassung vonT. Krishnamacharya.

3 Reinhard Palm: Der Yogaleitfaden des Patañjali, Reclam 2010. Diese Übertragungdes Yoga Sûtra ist ein Beispiel für jene vielenÜbersetzungen des Yoga Sûtra, die hinduisti-sches Weltbild, westlichen Gottesglaubenund Patañjalis Text unreflektiert vermengenund sich darüber hinaus wenig Gedankendarüber machen, ob das dabei präsentierteMenschen- und Weltbild mehr darstellt alswohlfeile Worthülsen und mit der Wirklich-keit des Lebens vereinbar ist.

4 Ursula Karvens: Loslassen. Yogaweisheitenfür dich und überall, Arkana 2013

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Vairâgya

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mehr für mich, wenn ich »völlig losge-löst« bin. Eine Ungerechtigkeit ganz inmeiner Nähe ließe mein Herz kein bis-schen schneller schlagen. Und auchnicht das Glück eines anderen. Ich wür-de nicht anders empfinden, wenn je-mand einen anderen quält oder sich je-mand um einen Menschen liebevollkümmert. Natürlich hätte ich auch keinInteresse mehr, kein Engagement würdesich in mir rühren.

»Dann werte ich nicht mehr« oder»beurteile nichts mehr« sind dann oftdie dazu passenden Standardsätze - ob-wohl ich die nun gerade nicht im YogaSûtra finde. Wenn ich »völlig losgelöst«bin, gibt es eben kein Richtig und keinFalsch mehr, alles ist gleich-wertig. Obich einen Menschen auffange, wenn erstolpert oder ihm ein Bein stelle hat kei-ne wirkliche Bedeutung mehr für mich.

Aber ich höre da schon den Ein-spruch: »Nein, so ist das nicht gemeint.Es geht ja nicht um völlige Gleichgültig-keit, nicht um Herzlosigkeit.« Da frageich doch zurück: »Wo genau hört denndann eine sinnvolle Gelassenheit aufund wo fängt Herzlosigkeit an?« Das istdoch die eigentlich spannende undwichtige Frage. Was soll ich denn davonhalten, wenn ich zum Beispiel lese: Vai-râgya bedeutet »...mentales Loslassenvon allem Weltlichen. Man kann weiterin dieser Welt leben und all seinenPflichten je nach Lebensstufe nachkom-men, doch innerlich dabei frei von allenBindungen sein. Man kann verheiratetsein, Kinder großziehen, und innerlichgleichzeitig vollkommen losgelöstsein.«5 Oder auf den Punkt gebracht:»Wirkliches Vairâgya bezieht sich auf ei-ne innere Geisteshaltung, weniger aufdie äußerliche Lebensführung.« Zum ei-nen ist unsere innere Geisteshaltungdoch aber gerade auch eine gefühlsmä-ßige. Allein die Vorstellung, unser Ver-halten - zum Beispiel Zugewandtheit -solle von einem Gefühl der Zuneigungoder Liebe abgekoppelt werden, istdoch absurd.

Zum anderen redet ein solches Ver-ständnis von vairâgya dem Leben einesZombie das Wort: Ohne wirklich von et-was berührt zu werden, ohne Gefühl al-so, handelt er nur so »als ob«: Es magalso zum Beispiel im Äußeren so erschei-nen, als würde die Wertschätzung, die

ihm seine Freundin entgegenbringt inihm ein gutes Gefühl auslösen, aber inseinem Inneren bleibt der Zombie ei-gentlich völlig unberührt davon. Dieperfekte Trennung von Handlung undGefühl!

Im Weltbild des Hinduismus wird ei-ne solche Haltung in der Tat immer wie-der als vorbildlich dargestellt: Die Bha-gavad Gîtâ etwa formuliert es so: DieLebensaufgabe ist es, dem dharma zufolgen, das heißt die Rolle, in die mangestellt wurde, pflichtbewusst zu erfül-len ohne sich innerlich zu engagieren.Dort wird Arjuna, ein junger Mann aus

der Kriegerkaste – und damit ist seindharma als das eines Kriegers festge-schrieben – vom Gott Krishna aufgefor-dert, in ein schreckliches Kriegsgemetzelzu ziehen – entgegen aller freundschaft-lichen Gefühle und moralischer Beden-ken, die er gegenüber seinen Gegnernhegt. Und er folgt diesem Ratschlagschließlich auch.

♧:ICH FINDE, WIR können diese Wider-sprüche nur klären, wenn wir in unsererAuseinandersetzung mit dem Yoga Sû-tra die Frage danach stellen, wo Gelas-

1.15d®‚†ânuÍravikavi‚ayavit®‚nasya vaÍîkârasaμjñâ vairâgyam

VaÍîkârasaμjñâ nennt sich jenes vairâgya, in demDurstlosigkeit herrscht gegenüber (allem?) Gehörtem und Gesehenem.

Wörtlich: Durstlosigkeit (vit®‚nasya) gegenüber gesehenem (d®‚†a) und gehörtem (anuÍravika) Ob-jekt (vi‚aya) wird mit dem Wort (saμjñâ) vaÍîkârabezeichnet1.1 VaÍîkârasaμjñâ (vaÍîkâra = Beherrschung) wird in der Regel als Terminus technicus verstanden, entsprechend auch die hier vorgeschlagene Übertragung.

Folgt man streng einer wörtlichen Übersetzung, dann muss sich die»Durstlosigkeit« nicht zwingend auf »alles« Gehörte und Gesehene beziehen, wie es üblicherweise übersetzt wird (das Sûtra müsstedafür um ein »sarvam« (alles) ergänzt werden. Für Interessierte: Vgldamit auch die Diskussion im Kommentar von Vyâsa zum 2. Sûtraim 1. Kapitel). Um welches »Gehörte und Gesehene« es nun geht,bleibt dann offen. Damit ergibt sich eine von den meisten Übertra-gungen deutlich abweichender Grundton des Sûtras. Eine Diskus-sion seiner Bedeutung muss sich dann genau jenen Fragen widmen,die in unserem Gespräch diskutiert werden: Von welchem Gehör-ten, von welchem Gesehenen macht es Sinn, ist es notwendig sichzu lösen?Dieses Sûtra ist ein Beispiel dafür, dass bisweilen gerade streng wörtliche Übersetzungen zu offeneren und auch sinnvolleren Interpretationen des Textes führen als dort, wo in den herkömm-lichen Übersetzungen einer traditionellen Lesart gefolgt wird. Einsolches Forschen nach angemessenen Wortbedeutungen war T.Krishnamacharya ein großes Anliegen und oft Teil seiner Argu men -tation, etwa bei der wortgetreuen Übersetzung von svâdhyâya als»sich selbst (sva) nahe kommen (adhyâya)«, also »Selbstreflexion«und nicht im üblichen orthodoxen Stil als »Studium der heiligenSchriften« im Sûtra über kriyâyoga, Kapitel 2, Sûtra 1.

5 Swami Sivananda, zitiert nach:The Divine Life Society. http://www.divya-jyo-ti.de/Yoga-Texte/Y-Texte/text_vairagya_sivan-anda.htm

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nem Menschen nützen kann, der heuteund hier sein Leben lebt und lebenmöchte. Die erste wichtige Frage, diesich in diesem Zusammenhang stellt, istdiese: Berichtet das Yoga Sûtra von er-lebten Erfahrungen oder sind es biswei-len oder sogar öfters bloße Gedanken-gebäude, auf Palmblattpapier niederge-legt oder dem Meditationskissen entwi-ckelt und immer weiter gewachsen oh-ne einen Bezug zur Wirklichkeit?

»Erfahrung« würde bedeuten: Je-mand erlebt sich »in vairâgya« und be-richtet davon, reflektiert vielleicht auchnoch darüber, was es heißt, so zu füh-len, so zu leben. Mit »bloßen Gedan-kengebäude« wären dagegen abstrakteDenkmodelle beschrieben. Modelle da-von, wie die Welt und der Mensch imganz Grundsätzlichen beschaffenseien – ohne dass sich ihr Gehalt anWirklichkeit prüfen ließe. In diesem Fallewürde jemand, der an dieses Modellglaubt, es unhinterfragt als ein Schemabenutzen, zum Beispiel für die Festle-gung mancher Ziele des Yogawegs oderzur Erklärung besonderer Fähigkeiten,die der Yogapraxis zugeschrieben wer-den. Also kurz gesagt: Wo handelt dasYoga Sûtra von Erfahrungen und damitverbundenen Konzepten und wo vonreinen Denkmodellen, die sich nichternsthaft um einen Bezug zur Wirklich-keit kümmern?

Dass das Yoga Sûtra wichtige Teileder Sâμkhya-Philosophie als ein Gedan-kenkonstrukt oder Denkmodell über-nommen hat, ist allgemeiner Konsens.6

Die Frage ist also, wann Patañjalivon tatsächlich erlebter und erlebbarer

haupt das Yoga Sûtra, wenn es so vieleUnklarheiten birgt?

Wir haben hierzulande viele bewähr-te und erprobte Konzepte und prakti-sche Vorschläge dazu, wie es sich bes-ser, verständiger, gelassener und glück-licher leben lässt.

♧:ICH DENKE, DAMIT sind jetzt tatsäch-lich einige grundsätzliche Fragen an dasYoga Sûtra auf dem Tisch. Vielleicht ver-suchen wir mal, sie zu vertiefen und unsdabei gleichzeitig den Sûtren über vai -râgya anzunähern.

Ganz richtig: Immer wieder geht esum das Thema, wovon im Yoga Sûtraüberhaupt die Rede ist und was es ei-

senheit als eine von uns positiv bewerte-te Lebenshaltung aufhört, und wo einevon uns als herzlos empfundene Teil-nahmslosigkeit beginnt. Es ist wiederdie wichtige Frage danach, was mit ei-ner Aussage in den Sûtren eigentlichgemeint sei. Und die Antwort darauf er-schließt sich nicht einfach dadurch, dassich verschiedene Übersetzungen neben-einander lege und nach einem gemein-samen Nenner suche. Oder an einer»traditionstreuen« Übersetzung unre-flektiert festhalte, deren Inhalt sich dannim Nebel des Unvorstellbaren auflöst.

☆:ICH MÖCHTE ES gerne mal etwas pro-vokant formulieren: Wozu denn über-

1.16tat paraμ puru‚akhyâter gu~ãvait®‚y~am

Vairâgya erreicht seinen Höhepunkt in der Loslösung von der Lebensdynamik durch die Realisierung von puru‚a.

Wörtlich: Dieses (tat, gemeint ist vairâgya) (wird)am höchsten (param), (wenn mit) der Realisierung(khyâti) von puru‚a (völlige) Durstlosigkeit(herrscht) gegenüber den gu~a.

Dieses Sûtra bezieht sich auf ein zentrales Konzept der Philosophiedes Sâµkhya: In einem strikten Dualismus setzt er alle Lebens -dynamik (beschrieben als die Dynamik der drei gu~a) einem statischen, von keinem Wandel veränderten Prinzip, puru‚a entgegen. Die menschliche Lebensdynamik und damit auch unserGeist und unsere Gefühle (all das gehört in das Reich der gu~a)stellte man sich dort als völlig getrennt vor von dem, was als puru‚ain uns wohnend gedacht wurde. Gelingt nun einem Menschen die radikale Trennung der Lebensdynamik (gu~a) von puru‚a, so dieTheorie, ruht er gleichsam bewegungslos in sich – frei von jeglichem Verlangen, von jedem Bedürfnis, ohne jedes Interesse –frei auch von jedem Leid.Desikachar löst in seiner Einführung in das Yoga Sûtra (Über Freiheit und Meditation, ViaNova 1997) die Problematik des wirklichkeitsfremden Gedankengebäudes in diesem Sûtra auf seinevon Krishnamacharya geprägte Weise: Die gu~a werden dort ihrerstrengen philosophischen Bedeutung im Sâµkhya entkleidet undals: »ablenkende Einflüsse« gelesen. Damit wird das Sûtra tatsächlich zurück in die Realität menschlicher Existenz geholt.Allerdings um den Preis einer Übertragung, die sich für mancheKritiker zu weit entfernt von seinem offensichtlichen Bezug auf dasTheoriegebäude des Sâµkhya.

6 Ohne ins Detail gehen zu wollen und dabeietwa Patañjalis Nähe zu bestimmten buddhis-tischen Konzepten zu diskutieren: Das philo-sophische Konzept des Sâμkhya zeigt sichfür Patañjalis Anliegen in vielerlei Hinsicht alssehr attraktiv. So stellt der Sâμkhya die Fragenach der Ursache von duªkha in den Mittel-punkt und keinen Glauben an Überirdisches,keine Transzendenz. Er geht davon aus, dassdie von uns erlebte Welt real ist und keine Illusion, kein maya, wie es der Vedânta sieht.Er postuliert, dass wir diese Welt ohne frem-de Hilfe erkennen können, ohne schließlichauf ein Alldurchdringendes oder Göttlichesals die letzte Wahrheit zu stoßen. Damit sindnur einige Vorstellungen des Sâμkhya ge-nannt, die sich in für Patañjali offensichtlichsehr wichtigen Argumentationen des YogaSûtra wiederfinden.

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Erfahrung aus dem Yoga spricht undwann Konsequenzen aus den abstraktenKonzepte des Gedankengebäudes Sâμ-khya referiert werden.

Nehmen wir zum Beispiel die Aussa-ge, dass Leid reduzieren kann, wer sichvon Hinderlichem löst. Sie handelt ohneFrage von einer erlebbaren Erfahrung.Nun lässt sich diese Erfahrung aber sehreinfach auf dem Hintergrund der Theo-rie des Menschenbildes des Sâμkyhaimmer weiter und schließlich »zu Ende«denken. Immer weiter und weiter, im-mer radikaler und radikaler spekulie-rend, mündet ein solcher Gedankenflugschließlich in einem in sich ganz stimmi-gen und wohl begründeten Ideal eines»befreiten« Menschen. In Wirklichkeitist dieses Ideal aber bar jeden Erfah-rungsgehalts und mit dem menschlichenLeben einfach nicht vereinbar. EinemIdeal, wie es der Sâμkhya eben konstru-iert hat: Der Mensch ist erst frei, wenner sich gelöst hat von jeglichem Engage-ment, jedem Wünschen und Wollen, al-len Gefühlen, natürlich auch von seinerKörperlichkeit, also von allem, was densteten Wandel des Lebendigen aus-macht. Und dies, so behauptet das Sûtra16 des ersten Kapitels, sei eben das»höchste« vairâgya.

♤:ABER ES GIBT doch genau solche Er-fahrungen, zum Beispiel in einer Medita-tion? Kann man sich da nicht ganz »be-freit« fühlen?

☆:JA, NATURLICH GIBT es Geisteszustän-de, in dem kein Wünschen und Wollen,ja sogar kein Körper mehr spürbar ist.Das lehrt uns schon die »Erfahrung« desTiefschlafs. Und aus der Meditation ken-nen wir viele Situationen und Phasen,die sich genau so beschreiben lassen.Aber solche Zustände bilden doch nureinen kleinen Ausschnitt davon ab, wasuns und unseren Geist insgesamt aus-macht. Sie dürfen deshalb nicht als die»eigentliche Natur des Menschen« oderähnliches umgedeutet werden. Das giltfür uns wie für den Asketen in der Hi-malaya-Höhle. Wir alle meditieren doch,um uns mit Hilfe solcher besonderen,anfangs sehr ungewöhnlichen Erfahrun-gen zu verändern, und nicht, um darinnun den ganzen Tag zu verbringen. Umetwas von der Ruhe in einer Meditationauch im Alltag leben zu können,braucht es eben viel mehr, als diese Er-

fahrung jeden Morgen auf dem Kissenzu wiederholen. Ich finde auch nicht,dass Meditationserfahrungen »wertvol-ler« und »wirklicher« sind als der Restunseres Lebens. Leben hat doch auchetwas mit Engagement, Entscheiden,Urteilen zu tun – und natürlich auch da-mit, sich in seinem Körper und mit sei-nen Bedürfnissen und Wünschen zuspüren.

♧:NOCH EINMAL ZURUCK zu Denkmo-dellen und Idealen wie zum Beispiel de-nen des Sâmkhya. Sie bedienen sicherdie Sehnsucht vieler Menschen, sichendlich völlig und für immer befreien zukönnen aus einem entsprechend erleb-ten Jammertal von Krankheit, Enttäu-schungen, Börsencrashs und unaussteh-lichen Chefs. Woran man allerdingsglauben muss, um ein solches Modellfür die Wirklichkeit zu halten: Dass unsauf dem vorgestellten Weg hin zu ei-nem »völligen Ledigsein« durch unseremenschliche Natur keine Grenzen ge-setzt sind.

☆:ABER GENAU DAS ist doch auch einesder immer wiederkehrenden Motive inder langen und so facettenreichen Tra-dition des Yoga, zum Beispiel im Ha†haYoga: Der Wunsch nach Überwindungund völliger Beherrschung der Natur!Wer an diese Möglichkeit glaubt, wirdAussagen des Yoga Sûtra genauso ver-stehen, wie Du es eben beschriebenhast. Deshalb finde ich: Es geht bei un-serer Diskussion entscheidend um dieFrage, mit welchem Menschenbild ichmich dem Yoga Sûtra nähere. Wenn wirdas Yoga Sûtra als etwas für unser Le-ben Relevantes nutzen wollen, muss esdoch immer mein eigenes, das heißthier vor allem ein abendländisch aufge-klärtes Menschenbild sein, von dem ausich mich auf den Weg mache; nicht einhinduistisches, welches das Primat desdharma vertritt und auch nicht das, wasdie Essenz des Sâmkhya-Denkens aus-macht. Ich verstehe mich als jemand aufdem Weg des Yoga und ich muss des-halb meine Fragen an das Yoga Sûtravon mir als lebendigem Menschen herstellen. Mit all dem Wissen und all derErfahrung, die mir heute zur Verfügungsteht und mich prägt. Deshalb ist meinAnliegen an das Yoga Sûtra, nebenbeigesagt, natürlich ein anderes als das von

Wissenschaftlern, die nach den histori-schen Quellen und Bezügen des Textesforschen.

♤:ICH BEZWEIFLE ABER, dass wir einesolche Trennung tatsächlich vornehmendürfen: Bloßes Gedankenkonstrukt hier,gelebte Erfahrung dort. Für das YogaSûtra würde das dann vielleicht heißen:Hier der Sâmkhya als ein Theoriegebäu-de, das der Yoga immer dann nutzt,wenn es etwas auf einem bestimmtenphilosophischen – man würde wohl sa-gen »ontologischen« – Niveau zu erklä-ren gibt; wo also das Spekulieren be-ginnt. Und dort die Erfahrungen in derYogapraxis, die konkrete Auseinander-setzung auf dem Yogaweg. Wenn wirso von »außen« auf das Yoga Sûtraschauen, verlieren wir denn damit nichtseine Essenz?

♧:ICH FINDE IM Gegenteil, dass wir unsihr damit nähern. Die Frage nach Erfah-rung und Theorie im Yoga Sûtra undnach deren Verbindung beschäftigt unsdoch so sehr, gerade weil wir uns mitder Tradition des Yoga nicht aus histori-schem oder wissenschaftlichem sondernaus sehr persönlichem Interesse herausverbunden fühlen. Wir suchen ja in denZeugnissen dieser Tradition vor allemnach einer Grundlage und Inspirationfür praktische Handlungsanweisungenund Erklärungen im Zusammenhang ei-gener Lebens- und Yogaerfahrung. Wirwollen zum Beispiel wissen, ob ein be-stimmtes Erleben in einer Praxis vonÂsanas oder Meditation uns weiterbringt und weiter gesucht werden soll-te. Oder sich als Hindernis erweisenwird und uns in eine Sackgasse führt.Oder wir wollen wissen, wie sich unsereAlltagserfahrungen mit Patañjalis Analy-se der Dynamik des menschlichen Geis-tes besser verstehen lassen.

Wenn also die Frage auftaucht, wiedas Yoga Sûtra dabei helfen kann, Yogaals Praxis und Lebenshaltung mit ande-ren zu teilen, werden wir auf der Suchenach Antworten in den gängigen Über-tragungen des Yoga Sûtra selten fün-dig. Dort ist von einer Auseinanderset-zung mit unseren Fragen nicht viel zusehen. Sie werfen eher Nebelkerzen, in-dem sie Begriffe benutzen wie dieses»vollkommene Ledigsein«. Und behaup-ten dabei ernsthaft, dass im Yoga das»Begehren nach Erfahrungen (!) und

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nicht möglich sind. Zum Beispiel die Fä-higkeit zu fliegen oder unsichtbar zuwerden.

♤:KONNEN WIR DA so sicher sein?

☆:SO SICHER, WIE wir sind, dass die Erdekeine Scheibe ist, oder Äpfel auf unsererWelt immer nach unten fallen. Auchhalten wir es zu Recht für menschenun-möglich, ewig zu leben. Das Argument,dass dies vielleicht vor 2000 Jahren an-ders war und irgendwann wieder ein-mal passieren könnte, kann in einemernsthaften Diskurs nicht gelten. Wirwürden damit jede Möglichkeit der Ver-ständigung verlieren. Jeder kann danneinfach alles behaupten, ohne sich da-rum scheren zu müssen, ob denn dafürauch gute Gründe sprechen. Sollen wiruns denn wirklich noch mit der Vorstel-lung herumschlagen müssen, im altenGriechenland etwa wäre Zeus nochwirklich durch kretischen Olivenhaineauf der Suche nach hübschen Bauern-mädchen geschlichen – einfach, weil esirgendwo so geschrieben steht? Oderweil jemand einfach behauptet, zu je-nen goldenen Zeiten hätten sich dieGötter noch unter die Menschen ge-mischt?

Ich frage mich: Was ist denn eigent-lich so furchterregend an der gut be-gründeten Einsicht, dass jeder Menschauf dieser Erde in die Schwerkraft ein-gebunden ist. Warum sollten wir daranzweifeln, dass wir Menschen wie jedesandere Lebewesen auch irgendwanneinmal sterben müssen – und dies allesvor ein paar tausend Jahren nicht an-ders war? Also: So wie es in Goethes»Faust« Hexen gibt, gibt es im Yoga Sû-tra Menschen, die fliegen können. Aberes gab und gibt sie eben nur dort undweder in Weimar noch am Ganges.

♤:ABER KÖNNTEN DIE in Frage kom-menden Sûtren im dritten Kapitel nichtnur symbolisch gemeint sein?

♧:DAGEGEN SPRICHT NUN aber wirklichalles, was wir über den Kontext desYoga Sûtra wissen. Es war damals ebeneine weithin akzeptierte Vorstellung,Menschen könnten tatsächlich solcheKräfte erlangen. Und Yogapraxis galtvielen als ein dafür probates Mittel.

☆:IN EINIGEN DER frühen Viveka-Artikelzum Yoga Sûtra wurde das ja auch sogemacht!

♧:DIESE ART DER Darstellung hat ja aucheinen Vorteil: Sie ist persönlicher, le-bensbezogener und spricht direkter undunmittelbarer an als die traditionellenÜbersetzungen. Viele LeserInnen hat siedazu gebracht, sich dem Yoga Sûtraüberhaupt erstmals intensiver zuzuwen-den und seine aktuelle Relevanz für denYoga zu entdecken. Aber bei der dama-ligen Nachlässigkeit gegenüber einerTransparenz in Bezug auf die gewählteLesart und Sichtweise kann es heute esnicht mehr bleiben. Es ist doch erfreu-lich, dass heute eine Diskussion desYoga Sûtra möglich geworden ist, auchwenn die Bereitschaft dazu keineswegsüberall zu finden ist. Vor allem dortnicht, wo noch immer der traditionelleUmgang mit alten Texten und Konzep-ten verteidigt wird, wo eine bestimmteLesart nicht ernsthaft in Frage gestelltwerden darf.Es ist dagegen inspirierend, wenn nunKrishnamacharyas und DesikacharsYoga Sûtra-Ansatz hinterfragt wird.Eben oft mit jenen Bedenken, die gera-de schon geäußert wurden: Ist die dortauf den konkreten Yoga-Alltag bezoge-ne Lesart von vairâgya nicht zu weitweg vom »wirklichen« Yoga Sûtra undhandelt eben nicht von vairâgya son-dern von vairâgya-light – »light« im Sin-ne von zu leicht, zu oberflächlich?

☆:GUT, SO ALSO geht es nicht. Aber wiekann denn dann ein heutiger Bezug aufdas Yoga Sûtra aussehen? Er müsstedoch zweierlei vermeiden: Einmal Belie-bigkeit im Umgang mit den Sûtren; alsovermeiden, dass sie nur zum Stichwort-geber werden für Vorstellungen unsererKultur und unserer Zeit, in der mal daseine ganz hype ist und ein paar Jahrespäter etwas ganz anderes.

Und zum anderen müsste er dasFesthalten an dort dargelegten Vorstel-lungen vermeiden, denen der Bezug zurWirklichkeit fehlt. Denn eines ist dochwohl unbestritten: Wir können nicht al-les für bare Münze nehmen, was imYoga Sûtra steht. Die eindrucksvollstenBeispiele dafür finden sich natürlich imdritten Kapitel. Dort werden MenschenFähigkeiten zugeschrieben, die schlicht

Worten aufhören (müsse)«7 – offen-sichtlich ohne sich zu fragen, ob die Re-de vom »Nichts mehr Erfahren« eigent-lich überhaupt irgend etwas meinenkann.

Auch indische Ashrams und ihredeutschen Ableger bedienen sich ganzeinfacher Lösungen. Ihre Antwortenorientieren sich in aller Regel ohne gro-ßen Aufhebens an gesellschaftlichenund religiösen Normen, die vom Hindu-ismus geprägt sind. Dazu gehört dannzum Beispiel die Vorstellung, dass sichGelassenheit am besten dadurch lernenlässt, dass ich dem für mich undurch-schaubaren und unberechenbaren Ver-halten meines Gurus bedingungslos fol-ge – und von meinem dabei entstehen-den Zweifel und Ärger – einfach lasse.8

Aber es gab in Indien auch Anderes.Yogalehrer wie T. Krishnamacharya ha-ben versucht, das Yoga Sûtra sehr kon-sequent als praktischen Leitfaden zu le-sen.9 Er hat dabei auf eine ganz beson-dere Weise die Suche nach einem zeit-gemäßen Umgang mit dem Yoga Sûtrazu einem seiner Lebensthemen ge-macht. Einerseits auf eine sehr indischeArt – der zu folgen uns heute auf demHintergrund kultureller Distanz schwer-fällt. Andererseits aber auch so, dass ei-ne von ihm mitgetragene Übertragungdes Yoga Sûtra durch TKV Desikachargerade solche Menschen unmittelbaranspricht, die sich in ihrer abendlän-disch aufgeklärten Kultur zu Hause undgut aufgehoben fühlen.

Dabei war es für viele verlockend,als Antwort auf die Frage, was Patañjalinun wirklich mit seinem Text gemeinthat, einfach zu antworten: »O.k., wennein so umfassend und eng mit den Tra-ditionen Indiens und dem Sanskrit Pa -tañjalis vertrauter Lehrer wie T. Krishna-macharya das Yoga Sûtra auf dieseWeise liest, dann steht es eben auch sodrin.«

7 P.Y. Deshpande (Patañjali, Die Wurzeln desYoga, Übers. v. Bettina Bäumer, Barth1982)in seinem Kommentar zu den hier diskutier-ten Sûtren.

8 Ein eindrückliches Beispiel solcher Guruhö-rigkeit findet sich in dem kürzlich erschienenBuch von Sukadev Bretz: Der Königsweg zurGelassenheit, Kailash 2013, S. 27 ff

9 Ein weiterer war Swami Kuvalayananda,dessen Bemühen sich in der Übertragung desYoga Sûtra von P.V. Karambelkar nieder-schlagt. Patañjala Yoga Sutras, Lonavla, o.J.

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Vairâgya

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☆:OK, ES GIBT also im Yoga Sûtra Be-hauptungen, denen wir heute nichtmehr folgen können. Aber wie dannüberhaupt mit dem Text umgehen? Wieentscheiden, an welchen Stellen er vontatsächlich möglichen Erfahrungen undFähigkeiten redet und wo nicht? Mir er-scheint das sehr schwierig.

Es wäre doch viel sinnvoller, uns zufragen, was z.B. Körperübungen, Atem-übungen und Meditation eben aus heu-tiger Sicht eigentlich bewirken können.Gerne auch zusammen mit einer Diskus-sion über Glück, Leid und Lebenssinnauf der Grundlage des heute verfügba-ren Wissens. Und dann steht es einemimmer noch frei, im Yoga Sûtra nachzu-schauen, ob sich davon das eine oderandere wiederfinden lässt.

♧:DAS SEHE ICH anders. Krishnamacha-rya und Desikachar inspirieren dazu,heute einen dritten Weg zu versuchen;ich würde ihn so beschreiben: Wir kön-nen das Yoga Sûtra als eine Schrift le-sen, die in manchen Bereichen Weltbil-dern verpflichtet ist, die heute keineGeltung mehr beanspruchen können.Gleichzeitig lässt es sich aber trotzdemernst nehmen als ein Text, der uns inwesentlichen Teilen Yoga-Erfahrung ver-ständlich und nachvollziehbar macht.Auf eine Weise und in einer Tiefe, dieauch heute noch berührt und von gro-ßem Wert ist.

Aber natürlich kann ein solches Vor-gehen hinterfragt werden. Manchen istKrishnamacharyas und Desikachars Prä-sentation zu wenig vermittelt über eineAuseinandersetzung mit anderen Über-tragungen des Yoga Sûtra. Sie sehen inderen Umgang mit den Sûtren einfachein unzulässiges Umdeuten der Sûtren,das sich weit von ihrer »echten« Versionentfernt.

♤:UND WIE SOLL ein solcher »dritterWeg« konkret aussehen?

♧:KRISHNAMACHARYA – UND Desika-char ist ihm darin gefolgt – bestand auffolgendem Herangehen an das Yoga Sû-tra: Jedes einzelne Sûtra muss immer imLicht jener zentralen Ziele des Yoga ge-lesen werden, die Patañjali formuliert.Und diese müssen menschenmöglich

sein – das Yoga Sûtra ist für Menschengeschrieben worden, nicht für Göttermit Flügeln.Diese Ziele ganz eng entlang dem YogaSûtra zu benennen, fällt nicht schwer:

Eines ist: Im Yoga Sûtra wird derYogaweg dargestellt als ein Weg, in er-lebbarer Zukunft persönliches Leid zureduzieren. Heyaμ duªkham anâgatam(»Zukünftiges Leid gilt es zu verhin-dern«, Kapitel 2, Sûtra 16) war fürKrishnamacharya in diesem Sinne ebenauch die passendste Überschrift für denganzen Text.

Ein anderes: Die entscheidende Vor-aussetzung dafür, dass dies gelingenkann, sieht das Yoga Sûtra in einem an-gemessenen Verständnis meiner Selbstund der Welt um mich herum. Im YogaSûtra wird der Überzeugung Ausdruckverliehen, dass die Verringerung vonLeid untrennbar mit einer Annäherungan die Wirklichkeit verbunden ist – wasgleichbedeutend damit ist, Täuschun-gen zu überwinden und Verständnis zuentwickeln. Der Mensch verfügt überdie Fähigkeit dazu.

Immer wieder fordert und versprichtPatañjalis Sûtra ein der Wirklichkeit an-gemessenes Erleben als jñânam, prajña,viveka (Wissen, Kenntnis, angemessenesVerständnis und die Fähigkeit, zu unter-scheiden).

Ein drittes Ziel: Was es dafür brauchtist vor allem die allerdings oft rechtmühsame Auseinandersetzung mit un-seren inneren drängenden Strukturen,den kleÍas im Wechselspiel mit der Ent-wicklung und Pflege von Konzentration,Ausrichtung und Sammlung. Diese Fä-higkeit unseres Geistes zur Konzentra-tion, Ausrichtung und Sammlung machtim Übrigen eine solche Annäherung andie Wirklichkeit überhaupt erst möglich.

In diesem Sinn kann der Text in wei-

ten Bereichen als ein Bericht und eineReflexion über Erfahrung gelesen wer-den. Und als eine sehr inspirierendeAnalyse der Dynamik unseres mensch-lichen Geistes, die erfreulicherweise invielem mit unserem heutigen Wissendazu korrespondiert.10

Die Konsequenz von Krishnamacha-ryas Herangehensweise zeigt sich inDesikachars Übertragung des Yoga Sû-tra, die den Text gleichsam vom Kopfauf die Füße stellt. Die erste Frage anein Sûtra ist hier nicht: Auf welchesphilosophische Konzept bezieht sich Pa-tañjali an dieser Stelle? Gefragt ist viel-mehr zuerst: Was kann das in einem Sû-tra Beschriebene für einen Menschentatsächlich meinen, wenn es ihm um ei-ne Auseinandersetzung mit Leid, Le-benssinn, Wirklichkeitsbezug und einemder Welt angemessenen Verhaltengeht? Der Anspruch ist klar: Es mussmöglich sein, anhand des Textes überunsere konkreten Erfahrungen im Yogadamals wie heute zu reflektieren.

☆:ABER DA KOMMEN uns dann dochimmer wieder Konzepte dazwischen,wie sie gerade von der Philosophieschu-le des Sâμkhya in großer Abstraktheitund einem unerbittlichen Dualismus ver-treten wurden?

♧:GENAU DESHALB DER Vorschlag, Theoriegebäude wie zum Beispiel dasdes Sâμkhya als das zu lesen, was sievor allem sind, nämlich bloße Gedan-kenkonstrukte. Die Rede von einer dau-erhaften »völligen Durstlosigkeit« ist ei-ne solche Konstruktion und eben keinBericht über eine wirklich »gelebte« Er-fahrung; allenfalls eine Momentaufnah-me eines kurzen und vorübergehenden

10 T. Krishnamacharya waren die Konzepte der westlichen Psychologie oder Philosophie in kei-ner Weise geläufig. Er blieb auch unberührt von den in Indien zu seiner Zeit populären Schulenwestlicher Esoterik, die zum Beispiel auf Swami Vivekanandas Yogaverständnis entscheidendenEinfluss ausübten. Vielmehr entwickelte er seine Lesart des Yoga Sûtra auf dem Hintergrund ei-nes umfangreichen Wissens über die Traditionen indischen Denkens und seiner fast legendärenSanskritgelehrtheit. Er tat das selbstbewusst entlang einer intensiven Auseinandersetzung mitdem Text und eigener Erfahrung. Seine doch sehr besonderen Schlussfolgerungen verstand eraber nicht als etwas Eigenständiges oder gar Unkonventionelles – auch wenn sie dies gegenü-ber vielen anderen Lesarten wahrscheinlich waren. Er hat immer behauptet, es waren seineLehrer, die das Yoga Sûtra so verstanden und ihm vermittelt hätten.

11 Man könnte diese Diskussion natürlich auch auf philosophischer und textkritischer Ebeneführen. Dann müsste man sich zum Beispiel damit auseinandersetzen, dass Krishnamacharyaähnlich wie einer der wichtigsten indischen Philosophen, Surendranath Dasgupta (1887-1952)in entscheidenden Punkten einen Unterschied zwischen der Theorie des Sâμkhya und demYoga Sûtra gesehen hat. Für Krishnamacharya war vor allem die Vorstellung eines völlig ab-sichtslosen puru‚a als Wesenskern des Menschen mit wesentlichen Grundgedanken des YogaSûtra nicht vereinbar.

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Travelling Yoga

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Richtung hin verändert hat; wie sichmein Verständnis, meine Einsicht ver-bessert hat; ob ich Täuschungen entde-cken und vermeiden konnte; wie glück-lich oder unglücklich ich bin. Erfolg –das behauptet das Sûtra 1.12 – ist ebennur mit beidem zusammen möglich: Ak-tivität im Bemühen und dem Vermeidenvon râga – also vai-râgya.

Wo aber wäre der Platz für abhyâsa,wenn vairâgya verstanden würde alsAusschluss jeden Bedürfnisses – alsoauch des Bedürfnisses nach Yogapraxisund der Erfahrung durch sie? (Ich erin-nere an die Rede von der »völligen Los-gelöstheit«.) Wo bliebe das für eine Pra-xis und Selbstreflexion nötige Engage-ment, das im Yoga Sûtra bis zumSchluss immer wieder eingefordert wird(etwa im Kapitel 4, Sûtra 27 und 28)?Mit der Deutung von vairâgya als einervollkommene Unberührtheit von jedemWunsch, jedem Interesse, wörtlich»Durstlosigkeit«, wie vairâgya tatsäch-lich übersetzt werden kann, würde sichdas Yoga Sûtra nicht nur selbst wider-sprechen, es würde sich seines eigenenMittels berauben: dem Üben mit Kör-per, Atem und Geist.

☆:ABER NUN SCHAUEN wir auf dasYoga Sûtra aus unserer heutigen Per-spektive, wo Bedürfnisse einfach zumMenschen gehören und sie zu befriedi-gen Teil seiner Menschenrechte, seinerWürde ist. Menschenwürde ist übrigensein Begriff, der so in der indischen Tra-dition überhaupt nicht vorkommt. Alsowenn ich mit meinem heutigen Blick da-von ausgehe, dass Bedürfnisse unter-schiedlicher Art einfach zum Wesen desMenschen dazugehören und ein völligerVerzicht auf Bedürfnisse deshalb einfachUnsinn ist: Was können dann diese Sû-tren noch meinen?

♧:WIR BRAUCHEN AUF den direkten Be-zug zum Text erst einmal gar nicht ver-zichten. Wir können weiterhin ganz ausdem Yoga Sûtra heraus fragen: Wassteckt denn in dem Begriff vairâgya?Und daraus ergibt sich Erhellendes.Ganz wörtlich bedeutet es: ohne (vai)râga. Was nun meint râga im Yoga Sûtra? Keineswegs einfach jedes Be-dürfnis, jedes Verlangen. Dies wird inder Darstellung von râga im zweiten Ka-pitel deutlich. Râga wird dort in einenunmittelbaren Zusammenhang mit avi-

stellen? Die grammatikalische Verwen-dung der Silbe bhyâm, die »beides ge-meinsam« bedeutet, fordert diesen Zu-sammenhang per se schon ein. Hier abhyâsa, die Praxis, die mich weiterbrin-gen oder Erreichtes bewahren soll. MeinEngagement, von dem ich etwas erwar-ten muss, sonst würde ich ja nicht üben.Meine Zielorientiertheit. Damit verbun-den ist aber auch eine Gefahr, nämlichdass ich zu viel von mir erwarte. Oderan Erreichtem festhalte und das Ziel ausden Augen verliere. Oder dass ich michklammere an falschen Vorstellungendarüber, was damit möglich sein kann.Als Korrektiv dafür brauche ich vairâgyaals innere Haltung. Sie hilft mir zu ver-meiden, dass mich mein Streben nachLeidreduzierung und einem besserenVerstehen-Können neu verstrickt.

Die Verbindung der beiden, also abhyâsa und vairâgya lässt sich sehr un-mittelbar in der eigenen Yogapraxis er-fahren. Wenn ich Yoga nicht nur theo-retisch reflektiere sondern es praktiziere,spricht mich dieses Sûtra also genaudurch die Darstellung des beschriebe-nen Spannungsbogens an: Ich brauchevairâgya, damit mein notwendiges Be-mühen in den rechten Bahnen bleibt. Sohat die Aufforderung zu vairâgya jetzterst einmal einen unmittelbaren Bezugzu meiner Erfahrung. Das ist die we-sentliche Erklärungslinie in DesikacharsKommentar zu den Sûtren.12 Und dervorhin angesprochene Artikel in VivekaNr. 7 folgt diesem Ansatz.

☆:BIS JETZT SCHEINBAR wirklich, ohnegroße Umdeutungen vorgenommen zuhaben.

♧:DANN ALSO weiter. Für die Diskussionist auch dies wichtig: Anders als wir esbisweilen lesen, ist vairâgya allein in Patañjalis Text nicht identisch mit Yoga.»Loslassen können« oder »Gelassen-heit« gilt dem Yoga Sûtra nicht als dieEssenz des Yoga. Vairâgya wird viel-mehr zusammen mit abhyâsa als einMittel vorgestellt, das zu einem be-stimmten Ergebnis führen soll: cittav®tti-nirodhah. Fortschritt in abhyâsa- vairâgya lässt sich also allein daran fest-machen, ob sich mein Geist in diese

Geisteszustandes.11 Die Beschreibungsogenannter übernatürlicher Kräftemüsste man dann auch als Allmachts-fantasien lesen, wie wir sie ja auch ausdem abendländischen Mittelalter ken-nen: aus dem Kontext alchemistischerund magischer Vorstellungen oder reli-giöser Bewegungen.

♤:DIESER »DRITTE« WEG, also dass je-des Sûtra immer im Licht der zentralenZiele des Yoga gelesen werden muss –was heißt das nun für die Aussage des12. Sûtras im 1. Kapitel: »abhyâsa undvairâgya, diese beiden zusammen füh-ren uns zum Zustand des Yoga«?

♧:FAKT IST, DASS die Antwort auf dieFrage, was den auf ein bestimmtes Zielausgerichteten Yogaweg ausmacht, al-lein durch das Gegensatzpaar »etwastun und etwas lassen« gegeben wird.An späterer Stelle wird diese Aussagenoch durch viele andere ergänzt undkonkretisiert. Hier aber steht nur »tunund gleichzeitig lassen«. Nicht etwa:»Opferdienst und magisches Ritual«;oder: »Fasten und Treue zum Guru«;oder: »Kartenlegen und Stimmen ausdem Jenseits folgen«; oder: »dem dhar-ma folgen«. Im Kontext der Ziele desYoga heißt »tun« nur eine eigenen selb-ständige und regelmäßige Praxis mei-nen. Und »lassen« handelt davon, dasswir Hinderliches loswerden sollten. NachKrishnamacharya müssen beide Begriffenun so gelesen werden, dass sich ihr In-halt in das Gesamtkonzept des YogaSûtra einordnen lässt.

☆:DAS GILT DOCH auch für jede moder-ne Textanalyse: Sprache, Wörter sindimmer kontextsensitiv. Bei der Deutungvon Geschriebenem spielt der jeweiligeBezugsrahmen immer eine Rolle.

♧:ALS ZENTRAL IM Gesamtkonzept desYoga Sûtra habe ich vorhin das ThemaLeid und dessen Verringerung sowie einangemessenes Verständnis unsererSelbst genannt. Abhyâsa und vairâgyahaben nur im Rahmen dieses Ziels ihrenPlatz. Schauen wir uns also jetzt nochmal die Bedeutung von vairâgya genau-er an. Was liegt näher, als diesen Begriffzuerst einmal in den Zusammenhangmit dem Wort davor, mit abhyâsa zu

12 T.K.V. Desikachar, Über Freiheit und Medi-tation, Via Nova, 1997, S. 32f

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Vairâgya

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dyâ, der Täuschung, dem falschen Da-für-Halten gestellt. Râga wird nicht ein-fach als Bedürfnis definiert, sondern alsein Bedürfnis, das sich aus einer Täu-schung heraus entwickelt. Avidyâ ist dasFeld, auf dem die übrigen kleÍa wach-sen, heißt es deshalb im Kapitel 2, Sûtra4. Also ohne Täuschung kein râga.

Ein Verlangen nach sozialer Wärmeetwa beruht nicht auf einer Täuschungüber die Natur des Menschen sondernauf ihrem Gegenteil. Wir wissen heute,dass eine Nichterfüllung dieses Bedürf-nisses dem Wesen des Menschen wider-spricht, seine Potentiale zerstört, ihnkrank macht. Râga hat viel mehr mitSucht zu tun als mit Bedürfnis. Oderbesser: Wenn wir von râga sprechenbraucht es einen Dialog darüber, wel-ches Verlangen angemessen ist und wel-ches nicht.

Râga ist zum Beispiel das – oft un-bewusste – Verlangen danach, mit Hilfeeiner regelmäßigen und intensivenYogapraxis gegen ernsthafte Krankheitgefeit zu sein. Ein solches Bedürfnis istgeprägt von der Täuschung über dasWesen von Krankheit und Blindheitgegenüber der begrenzten Möglichkei-ten des Menschen, Einfluss auf ihr Ent-stehen zu nehmen. Ein ähnliches »fal-sches Dafür-Halten«, also ein avidyâ istetwa auch die Vorstellung, der Kauf ei-nes Kashmirpullovers könnte den Frusteines Arbeitstags nachhaltig kompensie-ren – und entsprechend wäre ein so ent-standener Kaufwunsch râga. Unter vai-râgya ist dann das Verlieren solcher Artvon »Sehnsüchten« zu verstehen – unddies aus einer entsprechenden Einsichtheraus.

♤:ALSO DOCH EINE »Neudeutung« vonvairâgya?

♧:NEIN, VIELMEHR EIN Abklopfen derBedeutung des Begriffes auf seine prak-tische Relevanz, und dies mit einem fes -ten Blick auf die wesentlichen Anliegendes Yoga Sûtra. Viele finden es genialund eng mit ihrer eigenen Erfahrungverbunden, wie das Yoga Sûtra be-schreibt, was uns immer tiefer in denYoga führt: Das Aufrechterhalten einesSpannungsbogens zwischen Bemühen,dem Verlangen nach Veränderung, sichZiele zu setzen einerseits und Lassen-Können andererseits. Sowohl das Bemü-hen als auch das Lassen-Können lässt

sich so innerhalb menschlicher Maßstä-be verstehen, denen sich auch zu Patañ-jalis Zeiten niemand entziehen konnte.Es besteht überhaupt keine Notwendig-keit, der vom Theoriegebäude des Sâμ-khya bestimmten Erläuterung des 16.Sûtras im 1. Kapitel zu folgen, um dieAussage des 12. Sûtra zu verstehen. ImGegensatz zu den Sûtren 13 und 14über abhyâsa ist dieses Sûtra, das einerIgnoranz gegenüber dem stetigen Wan-del des Lebensprozesses das Wort redet,einfach wenig erhellend.

Jetzt erst kann die persönliche Aus-einandersetzung mit dem Text begin-nen, mit abhyâsa ebenso wie mit vai -râgya. Wenn wir uns nämlich in Bezugauf abhyâsa dem Ideal des dauerüben-den Askesen oder Mönchs verweigern,müssen wir nun selbst das Ideal einerangemessenen Praxis entwickeln unduns darum bemühen, ihm nahezukom-men. Welchen Anforderungen hat einePraxis zu genügen? Welche Erwartun-gen daran sind realistisch? ... Und wennwir in Bezug auf vairâgya uns nicht hin-ter dem Glauben verstecken, die bestealler Lösungen ließe sich schließlich dortfinden, »wo unser Vorstellungsvermö-gen nicht mehr hinreicht«, verlangt diesimmer wieder neu konkrete und aktuel-le Antworten auf die Frage: »Wie vielGelassenheit ist unter welchen Umstän-den angemessen?« Wovon ich lassensoll erschließt sich dann nur, wenn ichweiß wohin ich eigentlich will.

Solche Fragen sind nun tatsächlichvon Gewicht. Ich finde, dass die eigent-

liche »Light«-Version des Sûtras nicht inseiner Alltagskonkretisierung bestehtsondern vielmehr im träumerischen Par-lieren über vollkommenes Ledigsein,dem Wunsch nach einer Abwesenheitjeglicher Erfahrung oder den völligenStillstand des Geistes. Solches Redenkommt leicht über die Lippen, geradeweil es vor allem aus Worthülsen be-steht, die sich nicht im Feuer der Wirk-lichkeit bewähren müssen.

☆:EINE ERSTE ANTWORT auf die Frage,worin - vom Gesamtkonzept des YogaSûtra aus gesehen - eine angemesseneGelassenheit sich unterscheidet von ei-ner »kalten Gelassenheit«13 könnte jadann so aussehen: Das richtige Maß anGelassenheit – mir selbst, einem Men-schen, einer Situation, der Welt gegenü-ber – zeigt sich daran, dass sie mit einertieferen Einsicht einhergeht.

♧:JA. NICHT DIE zunehmend größereDurstlosigkeit kann dann mehr als Maßfür ein gelungenes vairâgya gelten. Vai-râgya muss statt dessen immer in seinerFunktion als Mittel gelesen werden. AlsMittel, das einer größeren Öffnung fürdie Wirklichkeit dient. Und Erfolg im Be-mühen um vairâgya lässt sich folgerich-tig am besten an der wachsenden Fä-higkeit ablesen, mit den eigenen Gefüh-len und Gedanken immer angemesse-ner auf diese Wirklichkeit zu reagieren.

☆:ICH WURDE DARAN gerne noch wei-ter diskutieren, vielleicht auch mit demBlick auf Patañjalis anderen Begriff von»Gelassenheit«, nämlich upek‚â, den erim Zusammenhang mit der Arbeit anGefühlen im 33. Sûtra des ersten Kapi-tels benutzt.

♤:UND ICH BIN noch nicht überzeugt.

Wird fortgesetzt.

13 Der Begriff »kalte Gelassenheit« stammtvon Karl Philipp Moritz, der ihn Ende des 18.Jahrhunderts in den Beiträgen zur Philoso-phie des Lebens verwendet. Den Hinweis ver-danken wir einem wunderbaren Büchlein,das sich von der Ratgeber-Schwemme zumThema Gelassenheit in seiner Tiefe, Intelli-genz und Differenziertheit wohltuend ab-hebt: Thomas Strässle, Gelassenheit, Über ei-ne andere Haltung zur Welt, Hanser 2013.Über die »kalte Gelassenheit« bei Karl PhilippMoritz heißt es dort (S. 58 f): »Sie gilt ihm alsder öde Zustand, in dem der Mensch so ander Gegenwart klebt, dass er keine Hoffnun-gen mehr auf Künftiges nährt und kein Ver-langen nach etwas verspürt, das er nochnicht hat, als ein Zustand, in dem das Lebennur mehr als ein träger Strom dahinfließt,dessen langsamen Fluss das Auge kaum er-kennen kann. »Hoffnung und Verlangen«aber vermögen im Gegenzug nicht bloß trü-be Stunden aufzuheitern, sondern sie erhal-ten den grundlegenden Trieb zu Leben. So-bald sie »nur eine Minute gänzlich aufhören,gerät unser Leben wirklich in Gefahr«.«

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