2. unternehmensführung und die handhabung von ......3 2.2 die handelnden akteure und ihre...

55
1 2. Unternehmensführung und die Handhabung von Entscheidungsproblemen 2.1 Entscheidung und die Bewältigung von Problemen Wenn jemand Rad fährt und dabei „über Gott und die Welt nachdenkt“, nimmt er laufend die sich ändernde Situation wahr und reagiert auf Hindernisse, ohne dass ihn die damit verbundenen vielfältigen Prozesse der Informationsverarbeitung als „Bewältigung von Problemen“ bewusst werden. Man kann auch sagen, dass dieser Akteur mehr oder weniger „routinemäßig“ oder auch „automatisch“ handelt, obgleich die dabei stattfindenden Informationsverarbeitungsprozesse recht kompliziert sein mögen. Wenn wir uns mit Entscheidungen bzw. Entscheidungsprozessen befassen, dann meinen wir Episoden im Strom der Handlungen, die auftauchen, weil sich der Akteur eines Problems bewusst wird und sich explizit um die Bewältigung dieses Problems bemüht. Bei unserem Radler ist dies etwa der Fall, wenn er „plötzlich“ damit konfrontiert wird, dass der Radweg endet. Bewusste Bemühungen um die Bewältigung von Problemen und „Entscheidungsfindung“ hängen deshalb eng zusammen und können sogar synonym verwendet werden. Entscheidungen werden also relevant, wenn sich ein Akteur im Handlungsstrom eines Problems bzw. einer problematischen Situation bewusst wird. Dies initiiert einen Problemlösungs- und Entscheidungsprozess. Solche Prozesse sind Episoden im Handlungsstrom und umfassen natürlich selbst wiederum viele mit dem Problem bzw. der Entscheidung verbundene Handlungen. Die enge Beziehung zwischen Ent- scheidungsfindung und Problemlösen wird vor allem dann deutlich, wenn man im Entscheiden nicht ausschließlich ein „Wählen zwischen ...“, sondern ein „Erwählen von ...“ versteht. Es ist durchaus denkbar, dass im Rahmen eines Entscheidungspro- zesses lediglich eine Lösung des Entscheidungsproblems entwickelt wird, auf die sich der Akteur dann festlegt. Dies wird noch im weiteren Verlauf dieses Teilkapitels eine zentrale Rolle spielen. Dabei wird nicht ausgeschlossen, dass bei den einzelnen Schritten der Erarbeitung einer „Lösung“ sehr wohl Alternativen in Erwägung gezogen werden. Dies ist jedoch im Einklang mit der Aussage, dass am Ende des Prozesses der Entscheidungsfindung nur eine Lösung steht. Wenn wir in diesem Zusammenhang auch von „Entscheidungsfindung“ sprechen dann deshalb, weil der Terminus „Entscheidungsfindung“ möglicherweise dort vorzuziehen ist, wo die im Problemlösungsprozess erfolgende Festlegung hervorgehoben wird, während ein Akteur zweifellos auch Probleme (z. B. ein Kreuzworträtsel) lösen kann, ohne dass damit ein besonderes Commitment (eine Festlegung) verbunden ist. Wir sprechen in der Überschrift von der Bewältigung von Problemen und nicht von deren Lösung. Der Begriff des Problemlösens impliziert, dass das Problem tatsächlich auch gelöst wird. Wer eine Diplomarbeit (oder als Professor eine wissenschaftliche Veröffentlichung) geschrieben (und dabei ständig auch Entscheidungen getroffen) hat, wird jedoch bisweilen Zweifel besitzen, ob er das ursprüngliche Problem wirklich adäquat definiert und gemäß dieser Definition auch gelöst hat. Unsere nachfolgenden Überlegungen zu den Merkmalen kognitiver Problemlösungsprozesse werden vielfältige Anhaltspunkte für die These liefern, dass von einer wirklichen Lösung in aller Regel nicht gesprochen werden kann. Probleme werden oftmals lediglich

Upload: others

Post on 20-Aug-2020

0 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

1

2. Unternehmensführung und die Handhabung von Entscheidungsproblemen

2.1 Entscheidung und die Bewältigung von Problemen

Wenn jemand Rad fährt und dabei „über Gott und die Welt nachdenkt“, nimmt er laufend die sich ändernde Situation wahr und reagiert auf Hindernisse, ohne dass ihn die damit verbundenen vielfältigen Prozesse der Informationsverarbeitung als „Bewältigung von Problemen“ bewusst werden. Man kann auch sagen, dass dieser Akteur mehr oder weniger „routinemäßig“ oder auch „automatisch“ handelt, obgleich die dabei stattfindenden Informationsverarbeitungsprozesse recht kompliziert sein mögen. Wenn wir uns mit Entscheidungen bzw. Entscheidungsprozessen befassen, dann meinen wir Episoden im Strom der Handlungen, die auftauchen, weil sich der Akteur eines Problems bewusst wird und sich explizit um die Bewältigung dieses Problems bemüht. Bei unserem Radler ist dies etwa der Fall, wenn er „plötzlich“ damit konfrontiert wird, dass der Radweg endet. Bewusste Bemühungen um die Bewältigung von Problemen und „Entscheidungsfindung“ hängen deshalb eng zusammen und können sogar synonym verwendet werden.

Entscheidungen werden also relevant, wenn sich ein Akteur im Handlungsstrom eines Problems bzw. einer problematischen Situation bewusst wird. Dies initiiert einen Problemlösungs- und Entscheidungsprozess. Solche Prozesse sind Episoden im Handlungsstrom und umfassen natürlich selbst wiederum viele mit dem Problem bzw. der Entscheidung verbundene Handlungen. Die enge Beziehung zwischen Ent-scheidungsfindung und Problemlösen wird vor allem dann deutlich, wenn man im Entscheiden nicht ausschließlich ein „Wählen zwischen ...“, sondern ein „Erwählen von ...“ versteht. Es ist durchaus denkbar, dass im Rahmen eines Entscheidungspro-zesses lediglich eine Lösung des Entscheidungsproblems entwickelt wird, auf die sich der Akteur dann festlegt. Dies wird noch im weiteren Verlauf dieses Teilkapitels eine zentrale Rolle spielen. Dabei wird nicht ausgeschlossen, dass bei den einzelnen Schritten der Erarbeitung einer „Lösung“ sehr wohl Alternativen in Erwägung gezogen werden. Dies ist jedoch im Einklang mit der Aussage, dass am Ende des Prozesses der Entscheidungsfindung nur eine Lösung steht. Wenn wir in diesem Zusammenhang auch von „Entscheidungsfindung“ sprechen dann deshalb, weil der Terminus „Entscheidungsfindung“ möglicherweise dort vorzuziehen ist, wo die im Problemlösungsprozess erfolgende Festlegung hervorgehoben wird, während ein Akteur zweifellos auch Probleme (z. B. ein Kreuzworträtsel) lösen kann, ohne dass damit ein besonderes Commitment (eine Festlegung) verbunden ist.

Wir sprechen in der Überschrift von der Bewältigung von Problemen und nicht von deren Lösung. Der Begriff des Problemlösens impliziert, dass das Problem tatsächlich auch gelöst wird. Wer eine Diplomarbeit (oder als Professor eine wissenschaftliche Veröffentlichung) geschrieben (und dabei ständig auch Entscheidungen getroffen) hat, wird jedoch bisweilen Zweifel besitzen, ob er das ursprüngliche Problem wirklich adäquat definiert und gemäß dieser Definition auch gelöst hat. Unsere nachfolgenden Überlegungen zu den Merkmalen kognitiver Problemlösungsprozesse werden vielfältige Anhaltspunkte für die These liefern, dass von einer wirklichen Lösung in aller Regel nicht gesprochen werden kann. Probleme werden oftmals lediglich

Page 2: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

2

„gehandhabt“, nicht jedoch in einem engeren Sinne des Wortes „gelöst“. Die Bezugnahme auf das Erarbeiten einer „Problemhandhabung“ im Zuge des Schreibens eines Buches mag befremdlich erscheinen, wenn es im vorliegenden Zusammenhang doch um die Führung von Unternehmen geht. Aber die Erarbeitung beispielsweise eines strategischen Programms hat große Ähnlichkeit mit der Erarbeitung eines (Buch-)Textes, insbesondere wenn man dieses strategische Programm schriftlich fixiert.

Die These von der Problemhandhabung wird noch deutlicher, wenn wir berücksich-tigen, dass die Handhabung eines Entscheidungsproblems in aller Regel gleichzeitig auch eine Handhabung sozialer Abhängigkeiten des Entscheiders impliziert. Wir müssen davon ausgehen, dass der einzelne Entscheider normalerweise in ein Netz von Abhängigkeiten und Interdependenzen involviert ist und dass seine individuellen Prozesse der Handhabung von Problemen normalerweise immer auch Aspekte der Handhabung sozialer Abhängigkeiten und Interdependenzen einschließen. Wenn ein Studierender seinen „betreuenden“ Professor (vielleicht durch geschicktes Zitieren dieses Professors) davon zu überzeugen versucht, dass die vom Studierenden im Rahmen seiner Seminararbeit im Interesse der Machbarkeit äußerst vereinfachte Problemsicht durchaus angemessen sei, dann handhabt er damit letztlich seine soziale Abhängigkeit von diesem Professor.

Auch wenn man zunächst „nur“ individuelle Entscheidungsprozesse betrachtet, muss man die damit verbundenen Bemühungen um die Handhabung der vielfältigen sozialen Abhängigkeiten in die Betrachtung einbeziehen. Manche Entscheider der Praxis sind relativ „unterdurchschnittliche Problemlöser“, aber dennoch äußerst er-folgreich, weil sie ein großes Geschick in der Handhabung ihrer sozialen Abhän-gigkeiten besitzen. Und dieser Erfolg steigert sich noch, wenn sie mit der Zeit Machtpositionen erringen, die andere Entscheider „nötigen“, bei ihren Bemühungen um die Bewältigung ihrer Probleme auf diesen Mächtigen Rücksicht zu nehmen.

Bisher haben wir nur von einem Akteur, der mit der Bewältigung eines (Entscheidungs-)Problems konfrontiert ist und dabei auch seine Abhängigkeiten von anderen Akteuren „handhabt“ gesprochen. Die unmittelbar nachfolgenden beiden Teilkapitel sind diesen Zusammenhängen gewidmet. Die Betrachtung der Entscheidungen eines Akteurs in einem Netz von wechselseitigen Abhängigkeiten ist für uns gleichzeitig die Basis, in einem weiteren Schritt die vielfältigen kollektiven Entscheidungsprozesse zu untersuchen. Ein kollektiver Entscheidungsprozess liegt vor, wenn mehrere Akteure ihre individuellen Entscheidungen in Interaktion treffen und sich dieses sozialen Interaktionszusammenhangs auch bewusst sind. Wenn zwei Akteure miteinander verhandeln, dann treten sie in vielfältige Interaktionen ein und treffen dabei laufend ihre individuellen Entscheidungen über ihre nächsten „Verhandlungszüge“, aber natürlich auch darüber, letztlich ein Verhandlungsergebnis zu akzeptieren und anschließend trotz eventuell auftauchender neuer Schwierigkeiten auch einzuhalten (oder auch opportunistisch Unklarheiten des Verhandlungsergebnisses zu Lasten des Verhandlungspartners auszunutzen). Wenn man Episoden kollektiver Entscheidungsprozesse untersucht, dann liefert die Betrachtung der Individualentscheidungen der beteiligten Akteure gleichsam die Bausteine.

Page 3: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

3

2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen

Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht im Strom der Handlungen eines Akteurs auf, wenn dieser sich eines zu bewältigenden Problems bewusst wird. Und natürlich sind die Bemühungen um die Bewältigung dieses Problems selbst wieder Handlungen. Eine theoretische Analyse der Entscheidungsepisoden benötigt deshalb eine handlungstheoretische Grundlage. Wir wollen mit dem folgenden noch sehr einfachen Handlungsmodell hierzu einige Hinweise geben.

Ein einfaches Handlungsmodell Eine zentrale These der Handlungstheorie bringt zum Ausdruck, dass der Akteur stets im Hinblick auf seine „Definition der Situation“ handelt. Dies gilt natürlich auch, wenn er unvermutet auf Probleme stößt und letztendlich entscheiden muss. Dann geht es um seine „Definition der Entscheidungssituation“. Nicht eine „objektive Realität“, sondern das subjektive „innere Modell“, das sich der Akteur von seiner Situation bildet, liegt seinem Handeln zu Grunde. Die Definition der Situation steht also gleichsam als intervenierende Größe zwischen den das Handeln auslösenden Stimuli und den Reaktionen des Akteurs.

Eine verfeinerte Betrachtung erhält man, wenn man die Struktur des menschlichen Gedächtnisses berücksichtigt. Nach dem Kriterium der Zeitdauer, in der Informationen jeweils gespeichert sind, kann (sehr vereinfachend) zwischen Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis unterschieden werden. Beim Langzeitgedächtnis handelt es sich um den Teil des Gedächtnisses, dessen Inhalt erst durch die Überführung ins Kurzzeitgedächtnis aktiviert wird. Das Langzeitgedächtnis ist unbewusst, hat aber eine außergewöhnlich große Speicherkapazität. Dagegen repräsentiert das Kurzzeit-gedächtnis die jeweils hervorgerufene Einstellung des Individuums. Das Kurzzeit-gedächtnis ist aktiv am Handeln beteiligt und veranlasst die „Hervorrufung“ von Wissen aus dem Langzeitgedächtnis. Wissen bleibt in ihm nur relativ kurze Zeit gespeichert. Entscheidend für den weiteren Gang der Erörterungen ist jedoch, dass die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses nur verhältnismäßig klein ist.

Eine weitere Verfeinerung der Analyse der zwischen Stimulus und Reaktion inter-venierenden Wissensstrukturen wird ermöglicht, wenn man in die Teilstrukturen „Einstellung“, „Definition der Situation“ und „Persönlichkeit“ untergliedert. Alles Wissen, das in einem Moment im Kurzgedächtnis ist, prägt die momentane Ein-stellung des Menschen. Die Fülle des im Langzeitgedächtnis gespeicherten Wissens konstituiert demgegenüber die spezifische Persönlichkeit des Menschen. Sieht man von den biologisch-physischen Eigenschaften des Menschen einmal ab, so manifestiert sich seine Individualität oder Persönlichkeit in der Fülle von Wissen, das der Mensch in seinem Langzeitgedächtnis gespeichert hat und das seine persönliche Entwicklung und Erfahrung widerspiegelt. Dieses Wissen umfasst die spezifischen Begriffe, Überzeugungen, Werte und Attitüden des Menschen, aber auch seine Gewohnheiten und Fähigkeiten.

Abbildung 2-1 gibt die Zusammenhänge zwischen Einstellung, Persönlichkeit und Definition der Situation in vereinfachter Form wieder. Die Umwelt sendet laufend

Page 4: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

4

Signale, die auf den Organismus zum Teil als Stimuli wirken (Pfeil 1), und auf die er mit Reaktionen antwortet (Pfeil 2). Diese Reaktionen werden durch die im Kurz-zeitgedächtnis ablaufenden Wissensverarbeitungsprozesse ausgelöst. Das im Kurz-zeitgedächtnis gespeicherte Wissen prägt die momentane Einstellung des Menschen. Die momentane Einstellung ist das Ergebnis der in einer bestimmten Situation empfangenen Signale (Pfeil 5) und des dadurch aus dem Langzeitgedächtnis hervorgerufenen Wissens (Pfeil 6). Gleichzeitig bestimmt die momentane Einstellung, welche Umweltsignale überhaupt wahrgenommen werden (Pfeil 4) und welches Wissen daraufhin aus dem Langzeitgedächtnis hervorgerufen wird (Pfeil 8).

Persönlichkeit

EinstellungStimulus Reaktion

Umwelt

5

4

3a

3c

Definitionder

Situation3b

8 6

7 7

21

Abb. 2-1: Ein einfaches Handlungsmodell: Einstellung, Persönlichkeit, Definition der Situation

Pfeil 7 deutet an, dass die Persönlichkeit das Ergebnis der gesamten Geschichte des Menschen ist, die sich durch die Folge der Stimuli und der dadurch hervorgerufenen Reaktionen beschreiben lässt. Die Pfeile 3a, 3b und 3c deuten schließlich an, dass nicht alles hervorgerufene bzw. wahrgenommene Wissen zu Prämissen der Handlung wird (Pfeil 3a) und damit die Reaktion des Menschen prägt (Pfeil 3b), und dass die je-weilige Definition der Situation Rückwirkungen auf die momentane Einstellung und damit auf die Wahrnehmung besitzt (Pfeil 3c).

So weit ein erstes, noch sehr einfaches Handlungsmodell. Vor diesem Hintergrund wollen wir nun einen Blick auf die Entscheidungen eines Akteurs werfen und dabei insbesondere verdeutlichen, weshalb wir es als gerechtfertigt ansehen, dass es sich hierbei insbesondere um eine Problemhandhabung handelt.

Wir sprechen nicht zuletzt auch deshalb von einer Problemhandhabung, weil das Individuum nicht in der Lage ist, alle zu einer Lösung nötigen Informationen zu verarbeiten. Deshalb kann man unterstellen, dass es im Zusammenhang mit der Problemhandhabung zu einer nur unvollständigen Verarbeitung relevanten Wissens kommen wird. Der folgende Abschnitt versucht, den Umgang des Individuums mit dieser Situation zu modellieren.

Page 5: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

5

Die Suche nach relevantem Wissen im Entscheidungsprozess Die Informationsverarbeitungskapazität unterliegt – wie wir erläutert haben – erheb-lichen Beschränkungen. Eine Überschreitung dieser Kapazität ruft einen kognitiven Stress hervor, auf den das Individuum mit Strategien der Wissensverarbeitung und des Suchverhaltens reagiert, die erheblich vom entscheidungslogischen Ideal abweichen. So ist davon auszugehen, dass das Individuum seine Entscheidungsprobleme erheblich vereinfacht, um sie in den Bereich seiner intellektuellen Fähigkeiten zu bringen.

Eine solche Vereinfachung besteht etwa darin, nicht nach „optimalen“, sondern le-diglich nach befriedigenden Alternativen zu suchen. In diesem Sinne charakterisiert Herber Simon das Entscheidungsverhalten als „satisfizing“ im Gegensatz zur klassischen Vorstellung von Entscheidung als „optimizing“. Das Anspruchsniveau des Individuums hinsichtlich des Grades der Zielerreichung trennt die Ergebnisse in be-friedigende und unbefriedigende. Nimmt man an, dass das Entscheidungssubjekt le-diglich eine befriedigende Alternative sucht, so kann es die ihm bekannten Alterna-tiven sukzessive daraufhin testen, inwieweit sie seinen Ansprüchen genügen. Es wählt schließlich die erste Alternative, die seinem Anspruchsniveau entspricht. Ein Vergleich der Ergebnisse von Alternativen ist zur Entscheidungsfindung nicht erforderlich. Da das Entscheidungssubjekt seine Aufmerksamkeit sukzessive einzelnen Alternativen zuwenden kann, reduziert sich der Umfang des zur Entscheidungsfindung erforderlichen Wissensverarbeitungsaufwands.

Lindblom (1965) nennt weitere Merkmale des individuellen Entscheidungsverhaltens, die letztlich Vereinfachungen der Entscheidungsprobleme im Hinblick auf die be-schränkte Wissensverarbeitungskapazität zum Ausdruck bringen:

(1) Das Individuum erwägt lediglich kleine, „inkrementale“ Änderungen, die sich vom gegenwärtigen Zustand nicht all zu weit entfernen. Nur in diesem Falle ist es dem Individuum möglich, einigermaßen verlässliche Prognosen der Konsequenzen seiner Alternativen zu ermitteln. Revolutionäre Änderungen sind stets mit unüberwindbaren Unsicherheiten verbunden. Außerdem hebt Lindblom hervor, dass inkrementale Änderungen leichter zu bewerten sind. Das Individuum ist nicht in der Lage, aber auch nicht gezwungen, alle denkbaren Konsequenzen zu ordnen.

(2) Das Individuum wird in der Regel nur relativ wenige Alternativen betrachten und darauf verzichten, bei der Suche von Alternativen eine wie auch immer geartete „Vollständigkeit“ anzustreben.

(3) Das Individuum bezieht lediglich eine beschränkte Menge der möglichen Kon-sequenzen der einzelnen Alternativen in die Analyse mit ein. Die Zahl der Kriterien (Ziele), die der Prognose der Konsequenzen zu Grunde liegt, ist folglich begrenzt. Auch hier liegt die Ursache in der begrenzten Wissensverarbeitungskapazität des Individuums.

(4) Das Individuum verzichtet in der Regel darauf, das Entscheidungsproblem end-gültig zu fixieren. Es passt die Problemdefinition laufend an die durch das Suchver-halten erkundeten Möglichkeiten an. Das Problem wird ständig neu definiert.

Page 6: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

6

(5) Das Individuum erwartet nicht, das jeweilige Problem endgültig zu lösen. Die ständige Neuformulierung der Problemdefinition und die Vernachlässigung von u. U. wesentlichen Kriterien und Konsequenzen lassen in der Regel Nachfolgeprobleme entstehen. Ein komplexes Problem wird folglich in einer Folge von Problem-lösungsversuchen immer wieder „angegangen“. Die Erwartung des Individuums, sich mit dem Problem immer wieder befassen zu müssen, lässt die Vernachlässigung wesentlicher Aspekte für das Individuum weniger alarmierend erscheinen.

(6) Das Individuum lässt die einzelnen Probleme auf sich zukommen. Nur selten ver-folgt das Entscheidungssubjekt ausgesprochen langfristige Ziele, die es systematisch zu erreichen sucht.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zeichnet Lindblom das Bild eines sich von Problem zu Problem „durchwurstelnden“ Individuums. Er charakterisiert die Ent-scheidungstheorie als die „Wissenschaft des Durchwurstelns“ (Science of Muddling Through).

Eine weitergehende Diskussion des Suchverhaltens hat die intraindividuellen Kon-flikte des Individuums in die Betrachtung einzubeziehen. March und Simon (1958) gehen bei ihren Überlegungen zum Entscheidungsverhalten von einer Typologie intraindividueller Konflikte aus, die nicht auf einer derartigen Voraussetzung beruht. Sie unterscheiden zwischen drei Arten von Konflikten: Nicht-Akzeptierbarkeit liegt vor, wenn das Individuum keine Alternative kennt, die seine Ansprüche erfüllt. Nicht-Vergleichbarkeit ist gegeben, wenn das Individuum zwar mehrere Alternativen kennt, die allen Ansprüchen genügen, aber nicht in der Lage ist, Bewertungsunterschiede festzustellen, die die Alternativen vergleichbar machen. Unsicherheit ist vorhanden, wenn nicht genügend Informationen über die Konsequenzen der Alternativen zur Verfügung stehen, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit den Schluss zulassen, dass die Alternativen den gestellten Ansprüchen genügen. Konflikte der Nichtakzeptierbarkeit und der Unsicherheit können bereits gegeben sein, wenn dem Individuum zunächst nur eine Verhaltensweise bekannt ist. Die Nichtvergleichbarkeit setzt ex definitione das Vorliegen mehrerer Alternativen voraus.

Abbildung 2-2 gibt in einem Flussdiagramm den Ablauf des Suchverhaltens wieder. Das Flussdiagramm zeigt die vielfältigen Möglichkeiten eines Wechsels im Kon-flikttyp als Folge des jeweiligen Suchverhaltens sowie die typische Reaktion des Individuums auf die verschiedenen Konflikttypen.

Page 7: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

7

Suche: Kriterien Suche: Alternativen Suche: Informationen

Suchenach zusätzlichenAlternativen aus-

sichtsreich?

Start Ende

Anspruchsanpassung

Nichtvergleichbarkeit Nichtakzeptierbarkeit Unsicherheit

Konflikt?

Suchenach zusätzlichen

Kriterien aussichts-reich?

Suchenach zusätz-

licher Information aus-sichtsreich?

nein

nein

nein

nein

ja

ja

jaja

Erfolg? Erfolg? Erfolg?

Prognosemöglich?

nein

nein nein

nein

ja jaja

ja

Abb. 2-2: Intraindividuelle Konflikte und Suchverhalten

Das Schaubild verdeutlicht zugleich, dass es kein allgemein gültiges Phasenschema für den Prozess der Suche nach Alternativen, nach Informationen zur Prognose der Konsequenzen und nach Kriterien zur Bewertung der Alternativen gibt. Der Fortgang des Suchverhaltens hängt allein von den Ergebnissen der vorhergehenden Suchprozesse ab.

Das Schaubild gibt insofern den „normalen“ Ablauf des Suchverhaltens wieder, als angenommen ist, dass eine Konflikthandhabung zumindest über eine Anspruchsan-passung möglich sei. Darin äußert sich eine gewisse Flexibilität des Individuums, die selbstverständlich nicht in jedem Falle vorausgesetzt werden kann. Es ist durchaus denkbar, dass das Individuum in Ausnahmesituationen nicht zu einer Handhabung seiner Konflikte gelangt. Die psychologische Literatur enthält eine Fülle von Hinweisen auf Verhaltensformen wie Aggressivität, Umleitung der Konflikte, Ver-drängung und Flucht aus der Problemsituation.

Nun ist eine Konflikthandhabung durch Anspruchsanpassung in der Regel lediglich als „Quasilösung“ zu betrachten. Die Anspruchsanpassung ermöglicht es dem Indi-viduum, sich zu einem Entschluss durchzuringen. Gleichzeitig führt sie jedoch zu einem konfliktähnlichen Zustand nach der Entscheidung, den Festinger (1957) als „kognitive Dissonanz“ bezeichnet.

Es ist in der Entscheidungstheorie üblich, den Entscheidungs- und Problemlösungs-prozess begrifflich so weit zu fassen, dass auch solche informationellen Teilprozesse

Page 8: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

8

in den Gesichtskreis der Entscheidungstheorie fallen, die nach dem eigentlichen Entschluss oder Wahlakt stattfinden. Häufig wird der Entscheidungsprozess wie folgt dargestellt: Konflikt - Suche - Entscheidung (Commitment) - Realisation - Kontrolle - Abweichungsanalyse - Konflikt. Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Kon-zeption als unrealistisch. Sie steht – zumindest in dieser skizzierten Fassung – in Wi-derspruch zur sozialpsychologischen Theorie der kognitiven Dissonanz.

Nach dieser Theorie ist die Wissenssuche und -verarbeitung nach der Entscheidung keineswegs durch den ausschließlichen Soll-Ist-Vergleich einer Kontrollphase cha-rakterisiert. Bevor der Entscheidungsprozess in die Anregungsphase eines neuen mündet, findet vielmehr ein spezifisch geartetes Suchverhalten statt, das in der Regel die Feststellung einer Soll-Ist-Abweichung gerade verhindert. Es findet – mit anderen Worten – meist keine Kontrolle im üblichen Sinne des Begriffes „Kontrolle“ statt. Stattdessen passiert so etwas „wie eine Konfliktleugnung“: Man möchte die getroffene Entscheidung aufrechterhalten, in dem man jenem Wissen unbewusst aus dem Weg geht, das der Entscheidung widersprechen könnte. Andererseits sucht man nach Wissen, das die getroffene Entscheidung rechtfertigt. So wird ein Autokäufer, dem sein Entschluss schwer fiel, nach der Entscheidung aktiv nach Wissen suchen, das seine Wahl bekräftigt. Er wird die Werbung für das gekaufte Fahrzeug mehr beachten als die Werbung für das nicht gewählte Auto oder gar für eine Marke, die nicht in Erwägung gezogen wurde. Es muss also angenommen werden, dass das Verhalten nach der Entscheidung durch den Versuch gekennzeichnet ist, Wissen zu suchen, das die getroffene Entscheidung rechtfertigt. Die beschriebenen, unter den Begriff der „Konfliktleugnung“ subsumierbaren Verhaltensweisen stehen in offensichtlichem Gegensatz zur These der traditionellen Entscheidungslehre, dass auf die Realisationsphase eine Kontrollphase folgt, an die sich über Abweichungsinformationen die Anregungsphase einer neuen Entscheidung anschließt. Es muss vielmehr angenommen werden, dass sich das Individuum mit der Reduktion der kognitiven Dissonanz gegen die Wahrnehmung eines neuen Konflikts stemmt: Die Konfliktleugnung bewirkt, dass ein Problem übersehen wird, das sich bei objektiver Betrachtungsweise unter Umständen ergeben hätte. Das geschilderte Suchverhalten nach der Entscheidung steht deshalb im Widerspruch zu der Hypothese, dass das Nichteintreffen von den der Entscheidung zu Grunde gelegten Konsequenzen gleichsam automatisch zu einem neuen Entscheidungsproblem führe. Der Ablauf eines Entscheidungsprozesses könnte dann in folgenden Schritten dargestellt werden: Konflikt - Suche - Entscheidung - Realisation – kognitive Dissonanz - Reduktion der kognitiven Dissonanz - Konsonanz.

Natürlich stellt sich dann die Frage, was das Individuum bewegt, von der Konflikt-leugnung abzugehen und einen neuen Konflikt und somit ein neues Entscheidungs-problem wahrzunehmen. Häufig erfolgt dies aufgrund sozialer Einflüsse anderer Akteure: Man denke etwa im Unternehmen an den Controller, der den (interindivi-duellen) Konflikt mit anderen Entscheidungsträgern nicht scheut und diese nötigt, von einem rechtfertigenden Wissensverhalten zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der veränderten Situation überzugehen. Damit gelangen wir zu der generellen Frage, wie sich denn die sozialen Beziehungen des Individuums, d. h. seine „Sozialität“ auf das Entscheidungsverhalten auswirken, auf die wir im nachfolgenden Teilkapitel etwas näher eingehen werden.

Page 9: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

9

„Creeping Commitment“ Die bisherigen Ausführungen zum Einfluß der intraindividuellen Konflikte und der kognitiven Dissonanz gehen von der Annahme aus, die Entscheidung sei ein punk-tueller Akt, der eine eindeutige Unterscheidung der Stadien vor und nach der Ent-scheidung ermöglicht. Tatsächlich ist wohl ein "Creeping Commitment" anzunehmen. Einzelne Aspekte der Definition der Situation werden (vorläufig) fixiert: Sofern Informationen auftauchen, die diesen Aspekten zu widersprechen scheinen, erzeugen sie kognitive Dissonanz, deren Reduktion mit einem rechtfertigenden In-formationsverhalten verbunden ist. Gerade deshalb werden diese Aspekte der De-finition der Situation nicht stets von neuem kritisch in Frage gestellt. Man könnte auch sagen: Im Zuge der Entscheidungsepisode werden gleichsam „Sperrklinken“ wirksam, die durch rechtfertigendes Suchverhalten aufrechterhalten werden. Natürlich kann der Entscheider, wenn er sich mit seinen Bemühungen um ein Problem in einer „Sackgasse“ sieht, die eine oder andere Sperrklinke wieder aufheben. Aber grundsätzlich vollzieht sich der Prozess in der Weise, dass immer mehr Sperrklinken wirksam werden und der Spielraum für weiterhin kritisches Suchverhalten dadurch eingeschränkt wird, bis schließlich nur noch ein rechtfertigendes Suchverhalten übrig bleibt und das Individuum normalerweise auf die so entstandene Problembewältigung festgelegt ist. Zu dieser Festlegung gelangt er letztlich durch ein „Creeping Commitment“.

Einmal mehr mache sich der Leser am Beispiel der Erarbeitung eines Textes (etwa über ein sehr umfangreiches strategisches Programm) bewusst, in dem sich „am Ende“ die Bewältigung eines Problems manifestiert. Dieses Beispiel ist nicht nur das Ergebnis eines Prozesses des Creeping Commitment. Es dokumentiert noch ein Weiteres: Es werden zwar im Zuge des Prozesses immer wieder Entscheidungen getroffen (u. U. auch hinsichtlich der Aufhebung bereits existierender „Sperrklinken“). Es werden aber äußerst selten mehrere alternative Texte erarbeitet, zwischen denen dann am Ende eine Alternative durch einen eher punktuellen Entscheidungsakt ausgewählt wird. Die Gleichsetzung eines Entscheidungsprozesses mit der Entwicklung mehrerer Alternativen, zwischen denen gewählt wird, stellt angesichts der Art und Weise, wie „echte“ Führungsentscheidungen zustande kommen, eine höchst verengte Sicht dar. Auch wenn „am Ende“ zwischen Alternativen „entschieden“ wird, zeigt sich in der Erarbeitung dieser Alternativen selbst ein Creeping Commitment. Und dies kann sich sogar auch schon im „Vorvergleich der sich abzeichnenden „Alternativen“ zugunsten einer der Alternativen entfalten. Der „Entscheidungsakt“ ist u. U. nur noch symbolisch, auch wenn der Akteur dies als „Auswählen von Alternativen“ bewusst erlebt.

Die nachfolgenden Überlegungen sollen die angedeutete Sichtweise der (Führungs-) Entscheidungen vertiefen. Wir wollen dabei in zwei Schritten vorgehen. Zunächst wollen wir unseren Begriffapparat verfeinern und insbesondere den Begriff der „Problemdefinition“ genauer betrachten. In einem zweiten Schritt wollen einen Bezugsrahmen vorstellen, der die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen der Fortentwicklung der Problemdefinition einerseits und der Erarbeitung einer „Lösungshypothese“ für das Problem andererseits verdeutlicht. Dabei geht es uns insbesondere darum den Leser mit der Feststellung vertraut zu machen, dass Führungsentscheidungen „schlecht strukturiert“ sind.

Page 10: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

10

Problemdefinitionen und Lösungshypothesen im Entscheidungsprozess Im Zusammenhang mit dem einfachen Handlungsmodell gemäß Abb. 2-1 haben wir die Bedeutung der Definition der Situation herausgestellt. Wird sich der Akteur im laufenden Geschehen einer für ihn problematisch gewordenen Situation bewusst, so sieht er sich mit einer Definition der Entscheidungssituation konfrontiert. Diese stellt sich ihm als schlecht-definiert dar. Man spricht auch von „schlecht-strukturierten“ Entscheidungen. Diese schlechte Definition bzw. Strukturierung der Entscheidungssituation ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass der Akteur zunächst nur sehr vage Vorstellungen darüber besitzt, worin eigentlich genau sein Problem besteht. Und dies erleichtert es natürlich nicht, nach einer „Lösung“ dieses Problems zu suchen. Die (jeweils in Erwägung gezogenen) Merkmale der Problemdefinition sind (mehr oder weniger) vage „Kriterien“, denen die Lösung letztendlich zu genügen hat. Man kann sie auch als „Beschränkungen“ bzw. „Constraints“ für die zu findende Lösung charakterisieren. Sie sind (zumindest am Anfang) „offene“ Beschränkungen, die es im Zuge der Bemühungen um das Entscheidungsproblem zu „schließen“ gilt. Die Offenheit der Beschränkungen macht die Problemdefinition nicht-operational. Wie muss man sich die Bemühungen um solche nicht-operational definierten Probleme vorstellen?

„…(Z)unächst ist es nicht klar, worin das Problem besteht oder welchen Tests irgendeine Lösung genügen müßte. Ein wichtiger Teil des Denkens beginnt auf dieser Stufe – jener Stufe, während deren das Problem definiert wird … Wir suchen herum, gehen einem Hinweis nach, setzen darauf, daß wir irgendeine gute Idee bekommen werden, wenn wir einige Zeit auf dies oder jenes verwenden, strampeln uns mit einigen Beispielen ab, versuchen uns vorzustellen, was noch fehlt oder was wir loswerden könnten, jedoch sind wir niemals genau dessen sicher, wonach wir eigentlich suchen. Wir versuchen, uns ein besseres Bild von der Situation zu schaffen … Die Problemstellung wird verschiedentlich geändert, während wir uns mit der Aufgabe herumschlagen, mehr darüber zu lernen und ein umfangreicheres, klareres Bild von ihr zu gewinnen … Häufig wird das Problem auf diese Weise allmählich operational definiert, und der Test für eine Lösung wird ungefähr gerade zu der Zeit offensichtlich, wenn die Lösung auch gefunden wird.

In der Zeitspanne, während wir noch herumwursteln, um bei dem Versuch Klarheit zu gewinnen, einen Test zu entdecken, der das Problem operational macht, benutzen wir zwar heuristische Tricks, jedoch häufig benutzen wir sie ohne Rückkopplung, ohne jede Sicherung, daß sie uns einer Definition oder Lösung des Problems näher bringen … Es wäre vollständig falsch zu glauben, daß alle Probleme in operational definierter Form vorliegen und daß das Denken lediglich darin besteht, in einer Menge von Alternativen nach einer geeigneten zu suchen. In der Tat behaupten manche Leute, dass in dem Moment, wenn das Problem operational definiert wurde, das ‚eigentliche’ Denken bereits vorüber ist, daß die eigentliche Ausführung der Suche nach der Lösung lediglich eine mechanische Pflichtübung ist, bei der man zwar möglicherweise effizient und trickreich sein kann, jedoch nicht kreativ.“ (Miller et al 1960, S 171ff)

Das Zitat gibt einen ersten Eindruck vom „Schließen offener Beschränkungen“ und von den parallelen Bemühungen um eine „Lösung“. Um solche Zusammenhänge genauer untersuchen zu können, ist es sinnvoll, die Funktionen der Merkmale der Problemdefinition bzw. der sich in der Problemdefinition jeweils manifestierenden Beschränkungen näher zu betrachten.

Die Beschränkungen besitzen eine dreifache Funktion. Sie sind zunächst Bewertungskriterien, die dafür maßgebend sind, ob eine Lösungshypothese tatsächlich eine Lösung darstellt oder nicht. Sie dienen der Verifikation der Lösungshypothese

Page 11: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

11

und können daher als Lösungsverifikatoren bezeichnet werden. Die Verifikation oder Bewertung einer Lösungshypothese setzt voraus, dass diese hinreichend präzisiert und beschrieben ist. Definitionsmerkmale des Problems bilden gleichzeitig jene Kriterien, nach denen die Lösungshypothese beschrieben wird. Sie stellen somit auch Lösungsdeskriptoren dar. Sie treffen jene Gesichtspunkte, hinsichtlich deren die Konsequenzen der als Lösung vorgeschlagenen Maßnahmen zu prognostizieren bzw. zu beschreiben sind. Schließlich können einzelne Beschränkungen der Problemdefinition auch die Funktion des so genannten Lösungsgenerators ausüben. In jeder Phase des Problemlösungsprozesses wird sich die Aufmerksamkeit des Individuums – wegen seiner beschränkten Kapazität des Kurzgedächtnisses – stets nur auf eine kleine Teilmenge der Merkmale der Problemdefinition konzentrieren. Im Extremfall ist dies lediglich eine Beschränkung. Diese wird zum Ausgangspunkt für die Suche und Entwicklung (Generierung) von Lösungen gewählt. Das Individuum sucht Aktionen, die mit diesem hervorgehobenen Attribut der Problemdefinition assoziiert werden, die folglich Mittel zum Zwecke der Erfüllung dieser Beschränkungen sind. Beschränkungen oder Merkmale der Problemdefinition, die das Individuum bei der Suche oder Entwicklung von Lösungen leiten, sind Lösungsgeneratoren. Erst in einem zweiten Schritt wird die jeweils gefundene Lösungshypothese hinsichtlich der übrigen Merkmale der Problemdefinition beschrieben und getestet. Die Unterscheidung von Verifikatoren (bzw. Deskriptoren) und Generatoren führt zu einer gewissen Asymmetrie in den Merkmalen der Problemdefinition, die dann relevant wird, wenn man die Suche nach Lösungshypothesen explizit in die Analyse des Entscheidungsprozesses einbezieht.

Mit dem in diesem Abschnitt eingeführten Begriffsapparat kann man auch das im Flussdiagramm der Abb. 2-3 umrissene Geschehen interpretieren. Die jeweils „relevanten“ Anspruchsniveaus und die dahinter stehenden Kriterien fungieren zunächst als Generatoren für die Suche nach neuen Alternativen. Diese Anspruchsniveaus liefern dann aber auch die Deskriptoren, anhand deren die Konsequenzen der Alternativen zu beschreiben sind. Und natürlich sind dann die jeweils gefundenen und beschriebenen Alternativen dahingehend zu verifizieren, ob sie den Kriterien bzw. den Anspruchsniveaus genügen, die dann auch die Verifikatoren darstellen. Wenn man – so wie im Flussdiagramm der Abb. 2-3 als Möglichkeit unterstellt – diese Verifikation scheitert, dann werden – nach Art des Scheiterns – zusätzliche Kriterien und/oder die Anspruchsniveaus gesucht. Dies bedeutet, dass die durch die Kriterien bzw. Anspruchsniveaus zum Ausdruck gebrachte Problemdefinition fortentwickelt bzw. modifiziert wird. Der in der Abb. 2-3 dargestellte Prozess schließt also Veränderungen der Problemdefinition mit ein. Schließlich kann auch die Folge von Alternativen sich darin äußern, dass jeweils die eventuell zu suchenden zusätzliche neue Alternative sich aus Modifikation der alten ergibt, als letztlich an der Entwicklung und Modifikation einer Lösungshypothese gearbeitet wird.

Diese Neuinterpretation des Prozesses gemäß Abb. 2-3 im Lichte der in diesem Abschnitt eingeführten Begrifflichkeiten, wirkt sicherlich etwas „angestrengt“ und überflüssig. Dies hat damit zu tun, dass in diesem Flussdiagramm ausschließlich operationale Kriterien bzw. Anspruchsniveaus unterstellt sind. Es gibt also jeweils keinen Zweifel, ob eine Alternative den (von vornherein geschlossenen) Beschränkungen genügt oder nicht. Dies ist auch dann der Fall, wenn die Bedingungen

Page 12: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

12

der „Nichtvergleichbarkeit“ gegeben sind. Uns interessieren im vorliegenden Zusammenhang aber insbesondere solche problematischen Entscheidungssituationen, die durch nicht-operationale Problemdefinitionen und offene Beschränkungen charakterisiert sind. Nur wenn man dies systematisch in die Betrachtung einbezieht, kommt man den „echten“ schlecht-strukturierten (Führungs-)Entscheidungen theoretisch näher. Der folgende Bezugsrahmen, der trotz seiner auf den ersten Blick erscheinenden Kompliziertheit nur einen ersten theoretischen Zugang ermöglichen soll, stellt in spekulativer Weise die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen den Bemühungen um eine Definition des Problems und der Erarbeitung einer Lösungshypothese in den Mittelpunkt.

Ein „Quasi-Flussdiagramm“ des Prozessablaufs Die Abb. 2-3 ist ein „Quasi-Flussdiagramm“, das nicht der Darstellung des Prozessablaufs selbst, sondern der Ordnung der Gedanken über den Prozess dient. Das Schaubild kann allenfalls als Vorstufe zu einem Flussdiagramm angesehen werden. Die fett gezeichneten Pfeile geben Zusammenhänge wieder, die für Lösungsprozesse operationaler und nicht-operationaler Probleme gleichermaßen relevant erscheinen. Die einfach gezeichneten Pfeile deuten dagegen Zusammenhänge an, die bei der Lösung nicht-operationaler Probleme zusätzlich vorliegen.

Page 13: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

13

Def

initi

on b

zw. M

odifi

katio

n de

s Pro

blem

s

Stop

Star

t

"exo

gene

"D

eskr

ipto

ren

"exo

gene

"V

erifi

kato

ren

"exo

gene

"G

ener

ator

en

Bes

chre

ibun

gde

rLö

sung

shyp

othe

se

Entw

ickl

ung

bzw

.M

odifi

katio

n de

rLö

sung

shyp

othe

se

Ver

ifika

tion

der

Lösu

ng b

zw. d

esLö

sung

sfor

tsch

ritts

Lösu

ngs-

desk

ripto

ren

Lösu

ngs-

verif

ikat

oren

Lösu

ngs-

gene

rato

ren

1

32

5

4

6

7

89

10

11

12

13

14

15

16

1718

1919

b

19a

19c

20

nein ja

Abb. 2-3: Der Prozessablauf bei der Handhabung von Problemen

In der Regel wird ein Problemhandhabungsprozess durch eine Stimulusinformation ausgelöst, die eine Definition des Problems hervorruft, welche mehr oder weniger vollständig bzw. operational ist (Pfeil 1). Die Definitionsmerkmale des Problems stellen Beschränkungen dar, die als Lösungsgeneratoren, Lösungsdeskriptoren und Lösungsverifikatoren fungieren (Pfeile 2, 8 und 9). Dies gilt für operationale wie für nicht-operationale Probleme. Die als Lösungsgeneratoren fungierende Teilmenge der Beschränkungen (Pfeil 2) leitet der Akteur bei der – in der Regel schrittweisen – Entwicklung einer Lösungshypothese (Pfeil 3). Bei nicht-operationalen Problemen ist davon auszugehen, dass offene Beschränkungen ebenfalls als Lösungsgeneratoren fungieren können, nicht jedoch als Verifikatoren. Hierzu ist zunächst eine Schließung der offenen Beschränkung erforderlich. Lösungsgeneratoren rufen Merkmale einer Lösungshypothese hervor (Pfeil 3). Diese Merkmale stellen in der Regel gleichzeitig

Page 14: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

14

eine Schließung der offenen Beschränkungen dar, die als Generatoren fungieren (Pfeil 4). Das bedeutet, dass u. U. Merkmale der Lösungshypothese zu Merkmalen der Problemdefinition werden. Wenn jemand vor dem Problem steht ein Haus zu finden, das „auch für geschäftliche Empfänge geeignet ist“ und unter diesem Gesichtspunkt ein spezifisches Haus besichtigt, mögen die konkreten Merkmale dieses Hauses, die es für Empfänge geeignet erscheinen lässt, als „Schließung“ der zunächst offenen Beschränkung ansehen und sich im weiteren an dieser vorläufig geschlossenen Beschränkung orientieren, auch wenn er aus anderen Gründen (etwa weil das besichtigte Haus eine „ungünstige Lage“ aufweist) nicht wählt, sondern einem Architekten den Auftrag erteilt, ein geeignetes Haus zu entwerfen.

Bisher wurde davon ausgegangen, dass der Problemlösungsprozess durch die Hervor-rufung einer – wenn auch vagen – Problemdefinition ausgelöst wird (Pfeil 1). Bei nicht-operationalen Problemen wird der Prozess vielfach auch dadurch ausgelöst, dass eine mögliche Aktion hervorgerufen wird, für die zunächst noch kein Problem existiert. Dies ist etwa der Fall, wenn ein Unternehmer auf einer Messe Gefallen an einer Maschine findet und nun überlegt, ob es in seiner Unternehmung ein Problem gibt, für das der Einsatz dieser Maschine eine Lösung sein könnte. Der Prozess wird dadurch ausgelöst, dass ein exogener Lösungsgenerator wirksam wird (Pfeil 5), der eine Lösungshypothese generiert (Pfeil 6).

Exogen ist ein Lösungsgenerator dann, wenn er nicht bereits Merkmal der Problem-definition ist. Die Annahme solcher exogenen Lösungsgeneratoren setzt voraus, dass die Einstellung des Akteurs, d. h. die jeweils hervorgerufenen Informationen, nicht ausschließlich durch die Definition des Problems geprägt ist. Exogene Generatoren werden gleichsam zufällig hervorgerufen. Dies ist jedoch nur ein Ausdruck für die Aussage, dass die momentane Einstellung (im Sinne des dargestellten einfachen Handlungsmodells) nicht völlig unter der Kontrolle des Akteurs steht. Umweltsignale, die zunächst problemfremde Informationen hervorrufen, erweisen sich nicht nur als Störungen des Problemlösungsprozesses, sondern sie sind gleichzeitig Voraussetzung für die Hervorrufung exogener Generatoren, die für die Lösung nicht-operationaler Probleme unbedingt erforderlich sind. Die Tatsache, dass die Einstellung des Akteurs nicht völlig unter dessen Kontrolle steht, ist für die Lösung nicht-operationaler Probleme somit von großer Bedeutung. Für die Lösung solcher Probleme ist es sogar erforderlich, dass der Akteur bewusst auf eine Kontrolle der momentanen Einstellung verzichtet. Freies Assoziieren im Sinne eines "Brain Storming", dessen Bedeutung für kreative Leistungen immer schon hervorgehoben wurde, kann hierfür als Beispiel betrachtet werden. Auf diese Weise "öffnet" sich der Akteur für exogene Generatoren. Diese dienen nicht nur der Entwicklung von Lösungshypothesen (Pfeil 6). Die Merkmale der Lösungshypothese stellen gleichzeitig Schließungen der offenen Beschränkungen dar. Sie können daher als Generatoren der Problemdefinition (Pfeil 7) bezeichnet werden. Wird auf diese Weise eine nicht-operationale Problemdefinition generiert bzw. hervorgerufen, so ist durchaus denkbar, dass im weiteren Verlauf des Problemhandhabungsprozesses die ursprüngliche Lösungshypothese verworfen und modifiziert wird. Ihre Funktion als Problemgenerator (Pfeil 7) bedeutet nicht gleichzeitig ihre Verifikation als Lösung des von ihr hervorgerufenen Problems.

Jene Merkmale der Problemdefinition, die nicht Lösungsgeneratoren sind, erfüllen die Funktion der Lösungsdeskriptoren (Pfeil 8) und Lösungsverifikatoren (Pfeil 9). Als

Page 15: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

15

Deskriptoren geben sie an, nach welchen Gesichtspunkten die Lösungshypothese zu beschreiben und zu präzisieren ist. Sie stellen die Kriterien dar, hinsichtlich derer die Konsequenzen der hypothetisch vorgeschlagenen Aktionen zu prognostizieren sind (Pfeil 10). Diese Funktion ist sowohl bei operationalen wie bei nicht-operationalen Problemen zu erfüllen. Bei nicht-operationalen Problemen sind jedoch zusätzlich exogene Deskriptoren anzunehmen. Der Akteur analysiert die jeweilige Lösungshypothese nicht nur nach Gesichtspunkten, die durch die Problemdefinition vorgegeben sind. Die Analyse ist sehr viel "freier" und schließt Gesichtspunkte mit ein, die auf andere Weise hervorgerufen werden (Pfeil 11). Auch hier kann der Akteur auf eine bewusste Kontrolle der Einstellung verzichten und durch freies Assoziieren nach zusätzlichen Deskriptoren suchen. Die durch exogene Deskriptoren hervorgerufenen Merkmale der Lösungshypothese können ebenfalls in die Problemdefinition Eingang finden (Pfeil 12).

Die jeweiligen Definitionsmerkmale, die keine Lösungsgeneratoren darstellen, erfüllen neben der Funktion der Deskriptoren gleichzeitig auch die Funktion der Verifikatoren (Pfeil 9). Hierzu ist es freilich ex definitione erforderlich, dass die ursprünglich offenen Beschränkungen bereits geschlossen sind. Sie dienen der Feststellung, ob eine Lösungshypothese tatsächlich als Lösung zu gelten hat oder nicht (Pfeil 13). Ist die Lösungshypothese verifiziert, so kommt der Prozess zum Abschluss (Pfeil 14). Sowohl bei operationalen wie bei nicht-operationalen Problemen ist jedoch in der Regel anzunehmen, dass Verifikationstests nicht erst dann vorgenommen werden, wenn die Lösungshypothese bereits vollständig formuliert ist. Das selektive "Tasten" durch das Problemlabyrinth, das für heuristische Problemlösungsprozesse so charakteristisch ist, bedeutet, dass die Lösungshypothese schrittweise entwickelt und getestet wird. Man muss daher davon ausgehen, dass zunächst Verifikatoren herangezogen werden, um einen Fortschritt in der Problemlösung festzustellen. Hierzu sind heuristische Prinzipien erforderlich, die gleichsam als exogene Verifikatoren fungieren (Pfeil 15). Sie sind nicht Bestandteil der Problemdefinition, dienen dem Akteur jedoch als Indikatoren dafür, dass es seiner Problemlösung näher kommt. Das ist identisch mit der Annahme, dass die Merkmale der bis dato entwickelten und als Lösungsfortschritt verifizierten Lösungshypothese als Teillösung akzeptiert werden. Dadurch wird auch die Definition des Problems verändert, weil sich die Ausgangslage des weiteren Problemhandhabungsprozesses gewandelt hat (Pfeil 16). Hierin äußert sich letztlich die These, dass der Problemhandhabungsprozess sowohl als sukzessives Entwickeln und Modifizieren einer Lösungshypothese als auch als ständige Transformation der Problemdefinition aufgefasst werden kann. Reitman (1965) spricht in diesem Zusammenhang von "Constraint Proliferation". Diese Interpretation scheint für die Analyse des Handhabungsprozesses nicht-operationaler Probleme äußerst bedeutungsvoll.

Bei operationalen Problemdefinitionen benötigt der Akteur im Falle der Verifikation der Lösungshypothese kein zusätzliches Kriterium, das ihn zu einem Abschluss des Problemlösungsprozesses und zu einer endgültigen Entscheidung führt (Pfeil 14). Die Verifikatoren selbst fungieren als solche Kriterien. Bei nicht-operationalen Problemen muss der Prozess dann, wenn die Lösungshypothese mit den geforderten Merkmalen oder Beschränkungen der Problemdefinition übereinstimmt, keineswegs zum Abschluss gelangen. Der Akteur muss sich erst noch vergewissern, ob es das Problem hinreichend definiert und die offenen Beschränkungen adäquat geschlossen hat. Sofern

Page 16: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

16

der Akteur noch Zeit für seine Entscheidung besitzt, wird es damit fortfahren, die gefundene und vorläufig bereits verifizierte Lösungshypothese zu analysieren. Aufgrund exogener Deskriptoren wird der Akteur die Lösungshypothese weiter beschreiben (Pfeil 17), um auf diese Weise zusätzliche Merkmale der Problemdefinition zu generieren (Pfeil 12). Dies führt zu einer Rückkoppelung, die unter Umständen die schon vorläufig verifizierte Lösungshypothese doch noch verwirft, weil ihre zusätzliche Analyse und Beschreibung zusätzliche Verifikatoren hervorruft, vor welchen die Lösungshypothese nicht bestehen kann.

Schließlich kann sich der Akteur noch einmal für exogene Lösungsgeneratoren offen halten (Pfeil 18), die zu einer nochmaligen Modifikation der Lösungshypothese führen (Pfeil 6), gleichzeitig aber auch eine neue Möglichkeit der Schließung der offenen Beschränkungen offerieren (Pfeil 7). Die damit ebenfalls verursachte Modifikation der endogenen Deskriptoren (Pfeil 8) und Verifikatoren (Pfeil 9) führt dann unter Umständen zum Verwerfen der ursprünglich schon vorläufig verifizierten Lösungshypothese. Gleichzeitig beginnt die Arbeit mit einer neuen Lösungshypothese. Bei nicht-operationalen Problemen ist es folglich durchaus möglich, dass eine exogen generierte neue Lösungshypothese eine alte verdrängt, obwohl sich diese zunächst als verifiziert erwiesen hat. Bei nicht-operationalen Problemen ist demnach zu klären, unter welchen Bedingungen der Akteur eine einmal vorgenommene Schließung der offenen Beschränkungen beibehält.

Die bisherigen Überlegungen gingen davon aus, dass der Vergleich zwischen Lö-sungshypothese und Problemdefinition zu einer – wenn auch möglicherweise vor-läufigen – Verifizierung der Lösung bzw. des Lösungsfortschrittes führt (Pfeile 13 bis 18). Im Falle einer Falsifizierung sind dagegen andere Reaktionen des Akteurs zu erwarten (Pfeile 19 und 20). Zunächst ist bei operationalen wie bei nicht-operationalen Problemen anzunehmen (Pfeil 19), dass die Falsifizierung zu einer Modifikation der Lösungshypothese durch erneute Anwendung des Lösungsgenerators (Pfeil 19a) oder aber – falls dies mit einem Misserfolg endet – zu einer Änderung des Lösungsgenerators selbst (Pfeil 19b) führt. Im letzteren Falle wählt der Akteur eine andere Teilmenge der Definitionsmerkmale als Lösungsgeneratoren. Bei nicht-operationalen Problemen ist dies meist auch mit einer Änderung der Schließung der offenen Beschränkungen verbunden (Pfeil 4). Schließlich kann hier der Akteur auch auf exogene Lösungsgeneratoren zurückgreifen (Pfeil 19c): Es lässt sich bei der Entwicklung von Lösungsalternativen und bei der damit eng verbundenen Schließung offener Beschränkungen nicht allein von den Merkmalen der bis dato formulierten Problemdefinition leiten.

Ganz allgemein zeigen diese Überlegungen, dass bei nicht-operationalen Problemen die Problemdefinition während des Problemhandhabungsprozesses erheblich verän-derlicher ist als bei operationalen Problemen. Der bei operationalen Problemen wohl-definierte angestrebte Endzustand erfährt dann eine Änderung, wenn die Pro-blemlösungsversuche erfolglos bleiben und eine Anspruchsanpassung erforderlich wird (Pfeil 20). Selbstverständlich kann dieser Mechanismus auch bei nicht-opera-tionalen Problemen wirksam werden. Ein Blick auf die Abbildung zeigt jedoch, dass bei nicht-operationalen Problemen zusätzliche Rückkoppelungen zur Problemdefi-nition existieren (Pfeile 4, 7 und 12). Während bei operationalen Problemen zwischen Problemdefinition und Lösungshypothese vornehmlich einseitige Beziehungen

Page 17: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

17

bestehen, ist der Lösungsprozess bei nicht-operationalen Problemen durch eine wechselseitige Beeinflussung von Problemdefinition und Lösungshypothese charak-terisiert. Diese wechselseitige Beeinflussung führt – wie bereits erwähnt – dazu, dass die Verifikation einer Lösungshypothese auch dann problematisch bleibt, wenn der Akteur die zunächst offenen Beschränkungen schließt und damit operationalisiert. Solche Schließungen sind immer vorläufiger Natur und lassen deshalb auch stets nur vorläufige Verifikationen der Lösungshypothese zu. Eine solche Verifikation führt nicht automatisch zu einem Commitment, d. h. zu einer Selbstverpflichtung, zu einem Entschluss des Akteurs.

Solche Selbstverpflichtungen sind für die Starrheit der versuchsweise geschlossenen Beschränkungen und für die endgültige Annahme einer "verifizierten Lösung" von großer Bedeutung. Es stellt sich daher die Frage, unter welchen Bedingungen der Akteur eine bestimmte Schließung offener Beschränkungen als endgültig akzeptiert und sich gleichsam zur unbedingten Beachtung dieser nunmehr geschlossenen Beschränkung selbst verpflichtet. Dies ist letztlich identisch mit der Frage, warum der Akteur bei nicht-operationalen Problemen nicht ewig weiter sucht, obwohl es mit jeder vorläufigen Problemdefinition und jeder vorläufig verifizierten Lösungshypothese unzufrieden ist.

Grundsätzlich sind zwei Antworten auf diese Frage denkbar:(1) Äußere Faktoren erzwingen den Stop im Suchverhalten. Von außen gesetzte Termine oder andere als dringlich empfundene Probleme seien als Beispiele genannt (2) Das Informationsverhalten im Entscheidungsprozeß ist nicht ausschließlich kritischer Natur, sondern auch darauf gerichtet, vorläufig akzeptierte Prämissen zu rechtfertigen und damit zu stabilisieren. Mit anderen Worten: eine ausschließlich kritische Einstellung verhindert den Abschluss des Entscheidungsprozesses. Letztere Feststellung richtet die Aufmerksamkeit erneut auf die Frage, unter welchen Bedingungen im Entscheidungsprozeß ein kritisches und unter welchen Bedingungen dagegen ein rechtfertigendes Informationsverhalten zu erwarten ist. Und dies steht – wie wir erläutert haben – in einem engen Zusammenhang mit der Feststellung, dass ein Entscheidungsprozess in aller Regel durch ein „Creeping Commitment“ geprägt ist. Gäbe es dieses Creeping Commitment nicht, so würde sich der durch die Abb. (1-7) charakterisierte Prozess wohl ständig im Kreise bewegen.

2.3 Problembewältigung und Handhabung sozialer Abhängigkeiten

Die Betrachtung der Akteure und ihre individuellen Entscheidungen ist unvollkommen, wenn man von der (impliziten) Annahme ausgeht, der Akteur handle und entscheide gleichsam „einsam“. Weitgehen unberücksichtigt bleibt bisher, dass der Akteur normalerweise in ein soziales Netz von Abhängigkeiten von anderen Akteuren eingebunden ist, die ihrerseits auch mehr oder weniger von diesem Akteur abhängig sind. Die Bewältigung von Problemen ist deshalb immer auch mit einer Handhabung dieser wechselseitigen Abhängigkeiten verbunden. Zur Vorbereitung dieser ergänzenden Betrachtung des individuellen Entscheidungsverhaltens wollen wir zunächst verschiedene „Eskalationsstufen“ der Sozialität unterscheiden.

Page 18: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

18

„Eskalationsstufen“ der Sozialität (1) Einer ersten Stufe würde etwa das Beispiel Robinson Crusoes entsprechen, bevor Freitag auftauchte: Zwar handelt und entscheidet Robinson auf seiner einsamen Insel völlig allein. Dennoch ist sein Handeln nicht zu erklären, wenn man nicht beachtet, dass in seine Definition der Situation jeweils jenes Hintergrundwissen eingeht, das er sich vorher als Mitglied der englischen Gesellschaft angeeignet hat. Seine "Persönlichkeit", sein Wissen, seine Fähigkeiten, seine Art zu denken und zu handeln, sind durch diese Lebenswelt sozial geprägt. Und auch wenn er nunmehr auf seiner einsamen Insel isoliert handelt und entscheidet, wird der jeweilige Erfolg oder Misserfolg im Lichte seines lebensweltlich geprägten Hintergrundwissens von ihm interpretiert.

(2) Eine weitere Stufe wird erreicht, wenn der Akteur zu anderen Akteuren in einer Situation wechselseitiger Abhängigkeit steht, ohne dass freilich die Akteure diese Interdependenz unmittelbar wahrnehmen und von den jeweiligen anderen Akteuren genauere Kenntnis besitzen. Wenn auf der Insel Robinsons, ohne dass dies Robinson weiß, ein anderer Akteur ebenfalls auf die Jagd geht, so hängt das Jagdglück beider Akteure in den verschiedenen Regionen der Insel unter anderem davon ab, wie und mit welchem Erfolg sich jeweils der andere auf der Jagd verhält. Die Handlungsfolgen der Aktivitäten beider Akteure sind "vernetzt". Ohne voneinander zu wissen, können doch beide Akteure mit der Zeit lernen, in welchen Regionen die Jagd deshalb besonders erfolgreich ist, weil der jeweils andere in einer anderen Region auf die Jagd geht.

(3) Die dritte Stufe ist erreicht, wenn die Akteure jeweils die Existenz des anderen und die Interdependenz wahrnehmen und beginnen, das jeweils eigene Verhalten auf eine Beobachtung des Verhaltens des anderen zu gründen. Sie mögen dann (über Versuch und Irrtum) lernen, welche Regelmäßigkeiten das Verhalten des jeweils anderen aufweist. Die jeweilige Definition der Situation wird hierdurch beeinflusst. Es liegt eine soziale Situation vor, bei der freilich die interdependenten Akteure nicht unmit-telbar in Interaktion treten.

(4) Die vierte Stufe ist erreicht, wenn zwischen den interdependenten Akteuren In-teraktionen auftreten. Während sie noch auf der dritten Stufe sich jeweils an das Verhalten des anderen angepasst haben, versuchen sie nunmehr, direkt auf die Handlungsorientierungen bzw. die Entscheidungsprämissen des anderen Einfluss zu nehmen. Dabei können sie sich selbstverständlich auch einer Sprache bedienen, sofern sie eine gemeinsame Sprache besitzen; die Interaktionen sind dann sprachlich vermittelte Interaktionen.

(5) Der Interaktionszusammenhang kann so geartet sein, dass man von einem kollektiven Entscheidungsprozess sprechen kann. Ein kollektiver Entscheidungs-prozess liegt dann vor, wenn die Beteiligten ihre Entscheidungen im Interaktionszu-sammenhang unter wechselseitiger Beeinflussung treffen und dies in dem Bewusstsein tun, dass es hierbei um Vereinbarungen geht.

Alle die hier skizzierten "Eskalationsstufen der Sozialität" werden im nun folgenden Abschnitt eine Rolle spielen, wenngleich die Erörterungen nicht der Leitlinie dieser Stufen folgen. Im Folgenden wollen wir einen ersten Schritt in diese Richtung tun und

Page 19: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

19

einen ersten Eindruck von den wechselseitigen Abhängigkeiten der Akteure vermitteln.

Wechselseitige Abhängigkeit Ein Akteur B hängt von einem Akteur A ab, wenn die Konsequenzen der Handlungen des B von den Handlungen des A beeinflusst werden. Hier gibt es vielfältige Ausprägungen einseitiger und wechselseitiger Abhängigkeiten. Wir wollen dies anhand der (natürlich sehr vereinfachenden) Matrix der Abb. 2-4 erläutern.

Page 20: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

20

a1 a2

b2

b11

1 4

4

Matrix 1

a1 a2

b1

b11

4 1

4

Matrix 2

a1 a2

b2

b11

1 4

4

Matrix 3

4

11

4

a1 a2

b2

b11

1 4

4

Matrix 4

1 4

4 1

a1 a2

b2

b11

4 1

4

Matrix 5

4

4

1

1

a1 a2

b2

b11

4 1

4

Matrix 6

1 4

44

a1 a2

b2

b12

4 3

4

Matrix 7

3

42

4

Abb. 2-4 Unterschiedliche Formen von Zwei-Personen-Spielen

Die Abhängigkeit des Akteurs B von dem Akteur A äußert sich in einer Art "Kontrolle" ("Control") des B durch den A. Diese Kontrolle kann eine Schicksalskontrolle oder eine Verhaltenskontrolle sein. Diese werden durch die Matrixen 1 und 2 repräsentiert. Von Schicksalskontrolle spricht man, wenn die

Page 21: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

21

Ergebnisse der Handlungen des B für diesen allein von den Entscheidungen des A abhängen, gleichgültig, wozu sich B entschließt. Es ist also ohne Bedeutung, ob B etwa die Alternative b1 oder die Alternative b2 wählt. Allein die Wahl des Akteurs A zwischen den Alternativen a1 und a2 ist maßgeblich dafür, welches Ergebnis B erzielt. Diese Konstellation wird durch die Ergebnismatrix 1 verdeutlicht, in der die „Gewinne“ des B vermerkt sind. Von Verhaltenskontrolle wird gesprochen, wenn der Erfolg der Entscheidungen des B nicht allein davon abhängt, ob A die Alternative a1 oder a2 wählt, sondern auch davon, welche Alternative B selbst ergreift. A kann mit seiner Entscheidung das Verhalten des B jedoch steuern, wie Matrix 2 verdeutlicht.

Der Einfachheit halber wurde bisher nur die einfache Abhängigkeit eines Entschei-dungsträgers von einem anderen betrachtet. Wesentlich interessanter wird die Untersu-chung beim Vorliegen wechselseitiger Abhängigkeiten, wie sie in den nachfolgenden Ergebnismatrizen dargestellt werden. Der untere Teil der Matrizen zeigt jeweils die Ergebnisse des B. Der obere Teil der Matrizen zeigt die Ergebnisse des A. Einer Kontrolle des B über A steht eine Kontrolle des A über B gegenüber. Deshalb müssen die Ergebnismatrizen beider Entscheidungsträger betrachtet werden. In Matrix 3 steht Schicksalskontrolle gegen Schicksalskontrolle, in Matrix 4 Schicksalskontrolle gegen Verhaltenskontrolle, in Matrix 5 und Matrix 6 sind zwei Fälle wechselseitiger Ver-haltenskontrolle dargestellt. Im Falle der Matrix 5 können beide Entscheidungsträger ihre meistpräferierten Ergebnisse erzielen, wenn B die Alternative b1 und A die Alternative a2 wählt oder aber, wenn B die Alternative b2 und A die Alternative a1 realisiert. Beide können also ihr Ziel erreichen: Man spricht daher von Entscheidungsinterdependenz bei Komplementarität. Im Gegensatz dazu liegt bei Matrix 6 eine Konfliktsituation vor. Hier kann entweder nur A oder nur B sein maxi-males Ergebnis erreichen. Man spricht in diesem Fall von Konkurrenz.

Die vorstehenden Überlegungen bedienen sich der aus der Spieltheorie bekannten Ergebnismatrizen, um in freilich sehr vereinfachter Form die Ausgangssituation zu charakterisieren, die für Entscheidungsinterdependenzen typisch ist. In der Spiel-theorie werden dabei verschiedene Typen von Spielen unterschieden, denen jeweils unterschiedliche Situationen von Entscheidungsinterdependenzen zugrunde liegen. Das Interesse konzentriert sich dabei auf die Zwei-Personen-Spiele. Die in der Realität ungleich bedeutsameren n-Personen-Spiele werden zwar nicht vernachlässigt, bislang jedoch mit geringem Erfolg untersucht. Abbildung 2-5 gibt eine mögliche Klassifizie-rung derjenigen Zwei-Personen-Spiele wieder, die im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung sind. Konstantsummenspiele liegen vor, wenn sich die Ergebnisse der Beteiligten stets auf einen konstanten Betrag aufaddieren. Ergebnismatrix 6 in Abb. 2-4 gibt einen solchen Fall wieder. Die Entscheidungsinterdependenz nimmt hier den Charakter einer reinen Konkurrenz an. Die Entscheidungsträger stehen in Konflikt zueinander.

Page 22: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

22

reine Kooperation(reine "Koordinationsspiele")

"gemischte" Spiele(mixed-motive games)

VariabelsummenspieleKonstantsummenspiele

reiner Konflikt

Zwei-Personen-Spiele

Abb. 2-5 Klassifizierung von Zwei-Personen-Spielen

Bei Variabelsummenspielen addieren sich die Ergebnisse auf eine jeweils andere Summe. Die Ergebnismatrizen 3, 4 und 5 aus Abb. 2-4 sind Beispiele hierfür. Diese geben jedoch lediglich einen der möglichen Typen wieder, nämlich den Fall des reinen Koordinationsspieles, bei welchem die Beteiligten bei entsprechender Kooperation jeweils ihre meistpräferierte Alternative erreichen können. Hier liegen gleichgerichtete Interessen vor, und es sind lediglich die Voraussetzungen zu schaffen, dass die Beteiligten ihre Entscheidungen aufeinander abstimmen können. Variabel-summenspiele sind jedoch in der Regel gemischte Spiele (Mixed-Motive Games). Matrix 7 gibt einen solchen Fall wieder:1 Zwar können auch hier nicht beide Beteiligten gleichzeitig ihre meistpräferierte Alternative realisieren. Insofern liegt ein Konflikt vor. Dennoch können die Beteiligten durch Kooperation (d. h. durch eine Einigung auf b2 und a2) ihre Situation vergleichsweise günstig gestalten. Hier würden beide jeweils wenigstens einen Gewinn von 3 realisieren. Doch haben beide auch einen Anreiz, den jeweils anderen „auszutricksen“: Denn wenn der jeweils andere sich an die Vereinbarung hält und kooperiert, könnten man durch das Austricksen selbst durch einen Gewinn von 4 realisieren, während der nach wie vor kooperierende „dumme“ Akteur nur einen Gewinn von 1 verwirklicht. Da nun aber jeder der beiden Akteure befürchten muss, dass der andere (trotz entgegen gesetzter „Schwüre“) nicht kooperiert, werden beide Akteure aus reiner Vorsicht letztlich b1 a1 wählen und sich mit einem Gewinn von je 2 zufrieden geben müssen.

Die in der Abb. 2-4 beispielhaft wiedergegebenen Situationen sind natürlich extrem vereinfacht. Der einzelne Akteur steht in aller Regel zu einer sehr großen Zahl anderer Akteure in einer Abhängigkeitsbeziehung bzw. in einer Entscheidungsinterdependenz, die er bei seinen Bemühungen um die Bewältigung seiner Probleme handhaben muss. Dabei ist davon auszugehen, dass der einzelne Akteur nur eine Teilmenge seiner Abhängigkeiten und Interdependenzen überhaupt wahrnimmt. Und nur eine Teilmenge der überhaupt wahrgenommenen Abhängigkeiten und Interdependenzen wird in der

1 Die durch die Matrix 7 beschriebene Situation entspricht dem bekannten Gefangenendilemma.

Page 23: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

23

Weise beachtet, dass der Akteur versucht, die Entscheidungen der anderen zu an-tizipieren und diese Erwartungen zu Prämissen seines eigenen Verhaltens zu machen. Hiermit eng verbunden ist die Frage, was einen Akteur dazu bewegt, „fremde“ Infor-mationen als Entscheidungsprämissen zu akzeptieren.

Die Annahme „fremder“ Informationen als Entscheidungsprämissen Der Prozess der Annahme oder Ablehnung einer Entscheidungsprämisse ist selbst ein den eigentlichen Entscheidungsprozeß überlagernder und mit ihm eng verbundener Prozess der Informationsverarbeitung. In ihn gehen stets zusätzliche motivierende Informationen ein. Dies wird deutlich, wenn man die Annahme bzw. Ablehnung als eine Folge von Tests betrachtet, denen die Information genügen muss, um als Entscheidungsprämisse akzeptiert zu werden. Ein Testkriterium mag etwa darin bestehen, dass die übermittelte Information dann akzeptiert wird, wenn der Sender die Möglichkeit zu Sanktionen besitzt oder in dem Ruf eines Experten steht. Wir wollen jene zusätzlichen Informationen, die aufgrund des jeweiligen Testkriteriums erforderlich sind, als die zur Annahme motivierenden Informationen bezeichnen.

Motivierende Informationen können primäre und sekundäre Informationen sein. Ein Beispiel mag die Bedeutung dieser Unterscheidung für die Annahme von Ent-scheidungsprämissen verdeutlichen. Ein Akteur B steht vor der Entscheidung, eine bestimmte, von A übermittelte Prognose als Basis seiner Entscheidung zu akzeptieren. Wenn A gleichzeitig mit der Kommunikation dieser Prognose eine Reihe von Informa-tionen über konkrete Beobachtungen übermittelt, welche die Hypothese dieser Pro-gnose stützen, liegen primäre motivierende Informationen vor. Weiß B jedoch, dass A auf dem entsprechenden Gebiet ein Experte ist, und vermag A diese von B wahrgenommene Sachverständigkeit zusätzlich in das rechte Licht zu rücken, so liegt eine sekundäre motivierende Information vor. In der Realität werden meist primäre und sekundäre Informationen gleichzeitig die Basis für die Annahme von Entscheidungsprämissen abgeben.

Die Annahme einer Entscheidungsprämisse kann routinemäßig, d.h. ohne weiterge-hende Überlegung, oder aber bewusst kalkuliert erfolgen. Diese Unterscheidung charakterisiert die beiden Endpunkte eines ganzen Kontinuums von Möglichkeiten. Erfolgt eine kalkulierte Annahme einer Entscheidungsprämisse, so wird die Annahme oder Ablehnung von Informationen als Problem betrachtet. Der Akteur wird mit einem Suchverhalten reagieren, in dessen Verlauf es sich beispielsweise genauere Vor-stellungen über die Ressourcen eines Machthabers, dessen Motivation und Geschicklichkeit, seine Ressourcen auch tatsächlich einzusetzen, sowie über die eigenen Kosten der Weigerung usw. zu verschaffen trachtet . Dabei beschränkt sich das Entscheidungsproblem nicht nur auf eine Auswahl zwischen den beiden Alternativen "Annahme" oder "Ablehnung". Der Akteur kann - im Falle offener Beschränkungen - nach Schließungen bzw. Interpretationen suchen, die einer modifizierten Annahme gleichkommen. Es kann die Entscheidungsprämisse nur vorläufig annehmen und sich in einem Problemlösungsprozess darüber Gedanken machen, wie es durch geeignete Gegenmaßnahmen den Kontrahenten dazu überreden kann, mit einer modifizierten Annahme zufrieden zu sein. Unternimmt der Akteur solche Maßnahmen, bevor es eine Entscheidungsprämisse akzeptiert, und reagiert darauf der Kontrahent erneut mit manipulativen Aktionen, so wird der individuelle

Page 24: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

24

Entscheidungsprozeß immer mehr zum Bestandteil eines umfassenden Verhandlungs-prozesses.

Die Gründe, weshalb auf den Sender und die Übermittlungsumstände verweisenden Informationen ein Akteur zur Annahme "fremder" Entscheidungsprämissen motivieren können, ist die Frage nach den Grundlagen der Macht des Senders über den Empfänger. Abb. 2-6 gibt die wichtigsten Machtgrundlagen wieder.

Im Mittelpunkt steht die Annahme einer Information als Entscheidungsprämisse. Pfeil 1 deutet an, dass die Machtgrundlage in der Fähigkeit des Senders dieser Information bestehen kann, Sanktionen (Belohnungen, Bestrafungen) wirksam werden zu lassen. Die Entscheidungsprämisse kann jedoch auch akzeptiert werden, weil sie von einem Sender stammt, dessen Sachverständigkeit anerkannt ist (Pfeil 2). Die Anerkennung als Sachverständiger oder Experte hängt vielfach davon ab, ob eine gewisse Koorientierung mit dem Sender der Informationen wahrgenommen wird. Nicht selten beruht die Machtgrundlage des Senders auf dem Umstand, dass sich der Empfänger mit ihm identifiziert (Pfeil 3).

Annahme derEntscheidungs-

prämisse

Sachver-ständigkeit

KoorientierungSanktionen

Normen(Regelungen)

Internalisation

5

4

1

7

10

1169

2

8

Identifikation

3

Abb. 2-6: Annahme oder Ablehnung potentieller Entscheidungsprämissen

In sozialen Systemen existieren schließlich in aller Regel Normen und Regelungen, die die Annahme bestimmter "autorisierter" Informationen als Entscheidungsprämissen zwingend vorschreiben (Pfeil 4). Die auf solchen Normen beruhende Macht wird vielfach als legitimierte Macht bezeichnet. Die das Autorisierungsrecht und die Gehorsamspflicht vorschreibenden Normen sind nicht selten von den Individuen im

Page 25: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

25

Laufe ihres sozialen Lernprozesses internalisiert. Der Akteur assoziiert diese Normen dann nicht mehr mit denjenigen Personen oder Gruppen, von denen sie ursprünglich stammen.

Die Internalisierung (Pfeil 5) ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit, weshalb Normen die Annahme von Entscheidungsprämissen legitimieren können. Bei mehrstu-figer Betrachtung kann auch die Frage gestellt werden, weshalb nicht-internalisierte Normen akzeptiert werden. Auch dies kann aufgrund der Sanktionsmöglichkeiten des Senders (Pfeil 6), der Identifikation mit ihm (Pfeil 7), seiner Sachverständigkeit (Pfeil 8), aber auch aufgrund von Normen höherer Ordnung (Pfeil 9) geschehen. Auch soziale Systeme weisen Normen auf, die den Einsatz anderer Machtgrundlagen legitimieren (Pfeile 10 und 11). So gibt es Normen, die bestimmte Personen als Ex-perten ausweisen und eine Ablehnung der Expertenurteile als unzulässig erscheinen lassen. Ähnliches gilt für die Legitimation von Bestrafungen und Belohnungen.

Anpassung und Manipulation Der einzelne Akteur verhält sich in Situationen wechselseitiger Abhängigkeiten nicht nur als Anpasser. In vielen Fällen versucht der Akteur, die Handhabung seiner eigenen Probleme dadurch zu fördern, dass er aktiv auf die Entscheidungen der anderen Akteure Einfluss nimmt und versucht, diese zu manipulieren. Im Falle der Anpassung nehmen die Akteure die erwarteten oder tatsächlichen Handlungen bzw. Entscheidungen der anderen Akteure als Datum hin. Sie versuchen gleichsam, „das Beste“ aus den als gegeben unterstellten Situationen zu machen. Sehr oft bilden sich die einzelnen Akteure Erwartungen, die dann jedoch von den übrigen Akteuren ent-täuscht werden. Man reagiert auf derartige Enttäuschungen mit einem strafenden Verhalten. Dies kann bei den anderen Akteuren einen Lernprozess darüber auslösen, welches Verhalten „man“ von ihnen erwartet. Daraus ergibt sich die Tendenz, dass die einzelnen Akteure dazu neigen, sich bei der Gestaltung ihrer eigenen Lebenssphäre so zu verhalten, wie man es von ihnen erwartet. Die Erwartungen der anderen werden auf die Weise zu Zumutungen, die den Charakter von Normen für „richtiges Verhalten“ annehmen.

Im Falle der Manipulation nehmen die Akteure die Handlungen bzw. Entscheidungen der anderen Akteure nicht als Datum hin. Sie ergreifen Maßnahmen der aktiven Beeinflussung, die bewirken sollen, dass die den Handlungen zu Grunde liegenden Erwartungen über das Verhalten der anderen auch tatsächlich eintreffen, sowie dass Störungen weitgehend ausgeschlossen werden. Durch die Manipulation der interde-pendenten Akteure „schirmt“ der Akteur seine Pläne gegen Störungen ab. Es absor-biert die Ungewissheit, die sich hinsichtlich des Erfolges der eigenen Entscheidungen aus den Interdependenzen zu anderen Akteuren ergeben. Manipulation in diesem Sinne steht in einem engen Zusammenhang mit der Ausübung von Macht. Manipulation (in diesem weiteren Sinne) umfasst also jene Verhaltensweisen, die darauf gerichtet sind, andere Akteure zur Annahme bestimmter Entscheidungsprä-missen zu bewegen. Von Manipulation in einem engeren Sinne wird gesprochen, wenn der Beeinflusste nicht erkennt, dass eine Einflussnahme vorliegt bzw. wer ihn mit welchen Methoden zu beeinflussen trachtet. Die anderen Akteure können auf die Manipulationsversuche mit einer Anpassung reagieren. Sie können jedoch auch ihrerseits zu manipulativen Gegenmaßnahmen greifen. Bei wechselseitiger

Page 26: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

26

Manipulation treten die Beteiligten – sieht man einmal vom Kampf als wechselseitiger Anwendung physischer Gewalt ab – in Verhandlungen ein. Die einzelnen Akteure treffen dann ihre individuellen Entscheidungen in mehr oder weniger enger Interaktion. Es kommt zu einem kollektiven Entscheidungsprozess. Dabei können sich die Beteiligten einer Vielzahl manipulativer Taktiken bedienen. Im Folgenden wollen wir nun einen kurzen Überblick über das Repertoire solcher manipulativen Taktiken geben:

(1) Drohung: Eine erste manipulative Taktik ist die Drohung. Der Akteur A kündigt für den Fall, dass B nicht das gewünschte Verhalten wählt bzw. seinen Entscheidungen nicht gewünschte Beschränkungen auferlegt, negative Sanktionen an. Drohungen müssen nicht explizit ausgesprochen werden, sondern können den Beeinflussten auch durch Handlungen signalisiert werden, die die entsprechenden Sanktionserwartungen hervorrufen. Der Aufbau einer Armee hat implizit solche Wirkungen, ohne dass je explizit mit ihrem Einsatz gedroht würde. Ein Problem für den Drohenden besteht meist darin, dem Bedrohten glaubhaft zu machen, dass er im Falle des Ungehorsams tatsächlich Sanktionen wirksam werden lässt. Nicht selten sind die angedrohten Sanktionen so geartet, dass ihre Realisierung auch den Drohenden selbst schlechter stellt, obwohl dieser damit das von ihm gewünschte Verhalten des B erzwingt. Der Drohende muss die ihm keinen Vorteil einbringenden Sanktionen durchführen, damit seine Glaubwürdigkeit für spätere Manipulationsversuche nicht leidet.

(2) Belohnungen/bedingte Kompensation: Das Problem der Glaubwürdigkeit besteht auch in jenen Fällen, in denen ein Akteur einen anderen Akteur durch Kompensation für den Fall belohnt, dass dieser das gewünschte Verhalten zeigt. In diesem Falle besteht die manipulative Maßnahme in einem Versprechen positiver Sanktionen oder Belohnungen. Auch hier muss der Versprechende jene Ressourcen besitzen, die er zur Realisation der versprochenen positiven Sanktionen verwenden kann. Dabei kann der Versprechende auch in diesem Falle mit seinen Maßnahmen Erfolg haben, ohne dass er die Sanktion tatsächlich wirksam werden lässt. Freilich wird seine Glaubwürdigkeit sehr schnell darunter leiden, wenn er nicht jedes Mal sein Versprechen einlöst und den Adressaten des Versprechens tatsächlich belohnt. Die Erfüllung der Versprechungen kann jedoch auch negative Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit in zukünftigen Manipulationsversuchen besitzen. Dies ist der Fall, wenn die Ressourcen für die Einlösung der positiven Sanktionen bzw. Kompensationen erkennbar verbraucht werden und es somit unwahrscheinlich wird, dass späterer Versprechungen eingelöst werden können.

Versprechungen einer Belohnung spielen insbesondere bei der Ankündigung von bedingten Kompensations- oder Ausgleichszahlungen (Side Payments) eine besondere Rolle. Solche Kompensationszahlungen müssen nicht unbedingt monetärer Natur sein. Auch das Versprechen von Konzessionen, d. h. der Bereitschaft, den eigenen Entschei-dungen bestimmte Beschränkungen aufzuerlegen, oder das Versprechen, den anderen bei späteren Entscheidungsproblemen entsprechend zu unterstützen, sind typische Mit-tel, die im Zusammenhang mit der Koalitionsbildung eingesetzt werden. Schließlich kann das Versprechen auch darin bestehen, eine bereits existierende Drohung nicht auszuführen.

Page 27: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

27

(3) Unbedingte Kompensationen: Im Falle versprochener Belohnungen liegen bedingte Kompensationen vor. Der Akteur A leistet dem Akteur B nur unter der Bedingung Kompensationen, dass dieser seine Entscheidungen entsprechend trifft oder sich zur Annahme bestimmter Beschränkungen als Entscheidungsprämissen verpflichtet. Häu-fig besteht die Manipulation jedoch in einer unbedingten Kompensation. Es wird die Kompensation ohne Bedingung geleistet, weil erwartet wird, dass der Adressat durch die Kompensation in die Lage versetzt wird, die gewünschte Entscheidung zu treffen. Der Akteur A nimmt hier an, dass gleichgerichtete Interessen existieren, der Akteur B jedoch durch gewisse Umstände daran gehindert ist, die auch von ihm selbst meist präferierte Alternative zu wählen. Die Gewährung von Entwicklungshilfe, die an keinerlei Bedingungen geknüpft ist, kann als eine manipulative Maßnahme dieser Art aufgefasst werden. Wenn solche Kompensationen auch nicht von Bedingungen abhängig gemacht werden, so ist die Gewährung der Kompensation doch oft mit dem Versuch verbunden, den anderen von seinem gerade durch die unbedingte Kompensation hervorgerufenen Misstrauen zu befreien. Auch hier kommt somit das Problem der Glaubwürdigkeit zum Tragen, keine anderen „Hintergedanken“ zu besitzen, als den anderen in die Lage zu versetzen, seinen komplementären Interessen entsprechend zu entscheiden.

(4) Reziprozitätsnorm: Subtilere Methoden der Manipulation als Drohungen oder bedingte bzw. unbedingte Kompensationen liegen vor, wenn sich der Akteur bei seinem Beeinflussungsprozess auf die Reziprozitätsnorm bezieht. Diese Norm schreibt vor, dass man keine Leistung und kein Zugeständnis akzeptieren sollte, ohne sich zu einer „fairen“ Gegenleistung verpflichtet zu fühlen. Diese meist internalisierte Norm ist freilich lediglich eine offene Beschränkung, deren Schließung recht unterschiedlich ausfallen mag. Über das, was als „fair“ anzusehen ist, wird kaum ein allgemeiner Konsens vorhanden sein. Dennoch ist die Bezugnahme auf diese Norm eine ebenso häufige wie erfolgreiche Methode, andere zur Annahme von Entscheidungsprämissen zu motivieren. Ein Blick in die Realität zeigt, wie viele Entscheidungen dadurch beeinflusst werden, dass sich der Entscheidungsträger jemand anderem „erkenntlich zeigen“ möchte – sei es, dass er sich diesem bereits verpflichtet fühlt, weil dieser sich früher „erkenntlich gezeigt“ hat, sei es, dass er den anderen dazu verpflichten möchte, sich bei späterer Gelegenheit seinerseits erkenntlich zu zeigen.

(5) Taktik der vollendeten Tatsachen: Diese stellt ebenfalls eine sehr subtile Form der Manipulation dar. Sie ist sehr schwer von einer reinen Anpassung zu unterscheiden. Dies gilt vor allem für den beeinflussten Akteur. Im Gegensatz jedoch zur Anpassung, die dem anderen meist mehrere Möglichkeiten der Reaktion – insbesondere der Manipulation – offen lässt, wird bei der Taktik der vollendeten Tatsachen die Entscheidung vom Akteur A bewusst so getroffen, dass dem Akteur B praktisch nur die Möglichkeit bleibt, auf die von A intendierte Entscheidung einzugehen oder ganz erhebliche Nachteile in Kauf zu nehmen. Es entspricht der Taktik der vollendeten Tatsachen, dass der Akteur A seine Entscheidung mit einer öffentlichen Festlegung (Commitment) verbindet und/oder alle Kommunikationsverbindungen zum Akteur B abbricht („mit unbekanntem Ziel abgereist“). Dieser besitzt keine Möglichkeit mehr, ihn durch manipulative Maßnahmen zur Revision seiner Entscheidung zu bewegen. Vor allem in Verhandlungen ist diese Taktik ein im Endstadium häufig gebrauchtes Mittel, um erfolgreich abzuschließen.

Page 28: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

28

(6) Autorisierte Vorschrift: Eine – zumindest was ihre literarische Erörterung betrifft – in Organisationen im Vordergrund stehende manipulative Taktik ist die autorisierte Vorschrift. Sie hat mit der Taktik der vollendeten Tatsachen gewisse Ähnlichkeit. In diesen Fällen macht der Akteur A von seinem verfassungsmäßigen Recht der Autorisierung von Entscheidungen Gebrauch. Er schafft damit durch die Kultur und die Verfassung sanktionierte offizielle Informationen, die der Akteur B als Prämissen seiner Entscheidungen zu akzeptieren hat. Während bei der Taktik der vollendeten Tatsachen die weitere Diskussion durch das Verhalten des Akteurs A ausgeschlossen wird, wird diese Diskussion im Falle der autorisierten Vorschrift durch die das Autorisierungsrecht legitimierenden Normen abgebrochen. Die das Autorisierungsrecht legitimierenden Normen und Werte schreiben nicht nur den routinemäßigen Gehorsam vor, sondern verbieten auch meist die weitere Diskussion, nachdem der Akt der Autorisierung einmal vollzogen ist. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass diese Norm ihrerseits durch Sanktionen des sozialen Systems gestützt wird. Die Autorisierung ist deshalb auch als implizite Drohung zu betrachten, Bestrafungen wirksam werden zu lassen. Umgekehrt kann eine explizite Drohung die Autorisierung für den Fall ankündigen, dass der Beeinflusste nicht „freiwillig“ eine gewünschte Entscheidungsprämisse akzeptiert. Alle Beteiligten wissen, dass der Akt der Autorisierung für den Inhaber des Autorisierungsrechts die legale Möglichkeit eröffnet, für den Fall des Ungehorsams Sanktionen wirksam werden zu lassen. Inwieweit die autorisierte Vorschrift bei den alltäglichen Entscheidungen des organisatorischen Informations- und Entscheidungssystems als dominierende manipulative Taktik anzusehen ist, ist eine empirisch zu klärende Frage. Vielfach wird der autorisierte Befehl nur als Ultima Ratio angesehen, wenn andere Manipulationsmaßnahmen versagen.

(7) Überzeugen und Überreden: Vor allem die Taktik des Überzeugens oder Über-redens (Persuasion) wird heute als die in zunehmendem Maße den Befehl ersetzende Führungs- bzw. Beeinflussungsmethode angesehen. Nicht selten beinhaltet die Kultur der Organisation bereits informelle Normen, die den Befehl zu Gunsten der Überzeugung fast schon tabuisieren. Schon die für unseren Kulturkreis typische positive Konnotation des Wortes „Überzeugung“ und die negative Konnotation des Wortes „Befehl“ deuten auf diese Tatsache hin. Überzeugen und Überreden zu definieren und voneinander abzugrenzen, bereitet einige Schwierigkeiten. Dies gilt umso mehr, als die angelsächsische Literatur eine solche sprachliche Differenzierung nicht kennt und allein von „Persuasion“ spricht. Die Hauptzahl der wissenschaftlichen Erörterungen der verschiedenen Methoden und Taktiken des „Persuasion“ entstammt jedoch dem angelsächsischen Sprachraum. Im Anschluss an Habermas (1981a, b) schlagen wir vor, Überzeugung tendenziell eher an ein „rational motiviertes Einverständnis“ zu koppeln; die Akteure handeln aufgrund einer gemeinsamen, in verständigungsorientierter Absicht erzielten Definition der Situation. Überredung liegt demgegenüber tendenziell eher bei einem in strategischer Einstellung erzielten und meist auf verschiedene Formen des Machtgebrauchs zurückgreifenden „empirisch motivierten Einverständnis“ vor.

Die terminologischen Schwierigkeiten, "Persuasion" abzugrenzen, haben ihren Grund vor allem darin, dass die verschiedenen Taktiken der Manipulation nur selten allein eingesetzt werden. Dies gilt vor allem dann, wenn damit gerechnet werden muss, dass der Beeinflusste nicht routinemäßig mit der Annahme der gewünschten

Page 29: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

29

Entscheidungsprämisse reagiert, sondern die Annahme oder Ablehnung zu einem ex-pliziten Entscheidungsproblem erhebt. Die verschiedenen Taktiken können dabei durchaus konkurrieren. So wird eine ausgesprochene Drohung meist ein "Klima" schaffen, das einem Überzeugungsversuch nicht gerade förderlich ist. Andererseits kann durchaus eine Komplementarität bestehen. Hierbei kann zwischen einer Art "horizontaler" und "vertikaler" Komplementarität unterschieden werden. Horizontale Komplementarität liegt etwa vor, wenn eine autorisierte Vorschrift erlassen wird, deren Annahme als Entscheidungsprämisse durch den gleichzeitigen erfolgreichen Versuch unterstützt wird, den Beeinflussten davon zu überzeugen, dass die Annahme der Entscheidungsprämisse im Einklang mit seinen eigenen Werten und Überzeugungen steht. Vertikale Komplementarität ist dagegen dann gegeben, wenn etwa die manipulative Taktik des Versprechens eingesetzt wird und zusätzlich der Versuch unternommen wird, den Beeinflussten von der für den Erfolg der Taktik aus-schlaggebenden Glaubwürdigkeit des Versprechenden zu überzeugen. In diesem Falle wird nicht - wie im Beispiel der horizontalen Komplementarität - versucht, den Beeinflussten von der Richtigkeit der potentiellen Entscheidungsprämisse zu überzeugen, sondern ihn in seiner Erwartung zu bestärken, dass die Versprechungen tatsächlich eingehalten werden.

Die angesprochenen manipulativen Taktiken beruhen in aller Regel auf Interaktionen zwischen dem betrachteten Entscheider und anderen Akteuren, auf die dieser Entscheider Einfluss zu nehmen versucht. Dies ist natürlich in den meisten Fällen kein „einseitiger“ Vorgang. Man muss vielmehr davon ausgehen, dass wechselseitige Einflussnahmen auftreten und es zu einem kollektiven Entscheidungsprozess kommt.

2.4 Individualentscheidungen und kollektive Entscheidungsprozesse

Die Betrachtung des individuellen Entscheidungsverhaltens eines Akteurs und der damit in aller Regel verbundenen Aktivitäten der Handhabung sozialer Abhängigkeiten liefert gleichsam die Bausteine für die Analyse kollektiver Entscheidungsprozesse. Diese sehen wir als Episoden im laufenden Geschehen der Organisation, insbesondere natürlich im Zusammenhang mit den Bemühungen um deren Führung. Eine Episode kollektiver Entscheidungsprozesse taucht auf, wenn mehrere Akteure unter wechselseitiger Beeinflussung ihre individuellen Entscheidungen in dem Bewusstsein treffen, dass es darum geht, zu Vereinbarungen zu gelangen. Diese Charakterisierung kollektiver Entscheidungsprozesse ist im Folgenden etwas näher zu erläutern. Zunächst wollen wir die in kollektiven Entscheidungsprozessen angestrebten Vereinbarungen betrachten, um dann in einem weiteren Abschnitt die Merkmale der Episodenbetrachtung darzulegen.

Vereinbarungen im Mittelpunkt kollektiver Entscheidungsprozesse Das Spektrum möglicher Erscheinungsformen von Vereinbarungen ist sehr vielfältig. Wir können dieses Spektrum im Folgenden nur beispielhaft und schlaglichtartig erläutern. Verträge, offizielle Beschlüsse, aber auch mehr informelle und sog. „implizite“ Vereinbarungen kennzeichnen die Spannweite dieses Begriffs.

Page 30: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

30

Vertragliche Vereinbarungen im Sinne der gesellschaftlichen Rechtsordnung betreffen zunächst die vielfältigen Transaktionen mit Kunden, Lieferanten, Kapitalgeber usw.. Diese Entscheidungsprozesse sind interorganisationale Entscheidungsprozesse, die etwa im Falle der Transaktion komplexer Investitionsanlagen recht komplizierter Natur sind. Natürlich sind aber auch jene Verträge zu nennen, die den Charakter von Arbeitsverträgen besitzen. Schließlich sind beispielhaft auch Gesellschaftsverträge zu nennen, in denen es unter anderem um die Gestaltung der Verfassung der jeweiligen Unternehmung geht.

Vereinbarungen liegen in unserer Sicht aber auch im Falle offizieller Beschlüsse von autorisierungsberechtigten Organen der Unternehmung vor. Aufgrund der jeweils relevanten institutionellen Ordnung gelten Beschlüsse als Vereinbarungen der beteiligten Akteure, sich im Folgenden an diese Beschlüsse zu halten.

Wir wollen allerdings nicht den Eindruck erwerben, als würde das Geschehen in Organisationen in erster Linie über Beschlüsse im angesprochenen Sinne geprägt. Viele Vereinbarungen und entsprechende Entscheidungsprozesse sind eher informeller Natur: Man verhandelt und einigt sich, ohne dass hieraus offizielle Beschlüsse oder gar Beschlussdokumente resultieren. Oftmals sind die Vereinbarungen lediglich implizit. Ohne eine explizite Vereinbarung auszusprechen begnügt man sich mit „Signalen“ der Beteiligten, dass sie im weiteren Verlauf „sich entsprechend“ verhalten werden.

In kollektiven Entscheidungsprozessen werden vielfach die meisten der angesprochenen Arten von Vereinbarungen relevant. Die Vereinbarung zwischen Käufer und Einkäufer zweier Unternehmen bedarf u. U. der Beschlüsse der Gremien der beteiligten Unternehmen, die ihrerseits von den Juristen der Unternehmen zu Verträgen verdichtet werden. Manches, was in den Beschlüssen festgelegt und auch der anderen Seite kommuniziert wird, taucht jedoch (vielleicht auch aus rechtlichen Gründen) im Vertrag selbst nicht auf. Und die beteiligten Verkäufer bzw. Einkäufer mögen zusätzliche, ihren Gremien sogar nicht bekannte Vereinbarungen hinsichtlich der Abwicklung der Transaktion getroffen haben, die in Einzelaspekten sogar impliziter Natur sind. Vielleicht betreffen Einzelvereinbarungen innerhalb des kollektiven Entscheidungsprozesses sogar die Festlegung, dass man nicht alle Elemente der offiziellen Beschlüsse und der ausgearbeiteten Verträge völlig ernst nimmt und dass man sich bezüglich der damit u. U. noch nicht vereinbarten Aspekte später schon noch einigen wird.

Diese beispielhaften Überlegungen sollen deutlich machen, dass in kollektiven Entscheidungsprozessen ganze Sequenzen von Vereinbarungen eine Rolle spielen können. Man denke etwa an Vereinbarungen im Zuge einzelner Verhandlungsschritte, etwa wenn man vereinbart, im Zuge der weiteren Verhandlungen für eine gewisse Zeit nicht mit einem anderen zu verhandeln und/oder Vereinbarungen über die Zurverfügungstellung von Informationen, die man vereinbarungsgemäß dann vertraulich behandelt usw.. Schließlich ist zu beachten, dass Beschlüsse bzw. Verträge selten vollständig sind. Es ist allen Beteiligten klar, dass im Zuge der Realisierung Nachverhandlungen bzw. weitere Vereinbarungen hinsichtlich der Interpretation und/oder Ergänzung des Vereinbarten erforderlich sein werden.

Page 31: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

31

Der Leser möge sich mit unseren schlaglichtartigen Erläuterungen begnügen. Viel Weiterführendes kann man im Forschungsbereich der Neuen Institutionenökonomik finden, die sich – allerdings im Kontext der Economics – mit Vertragstheorien befasst. Die auf der Grundlage der Neuen Institutionenökonomik entwickelte Organisationstheorie kennzeichnet Organisationen auch als „Nexus of Contracts“ bzw. (um eine allzu enge begriffliche Anbindung an die durch das jeweilige Rechtssystem definierte Verträge zu vermeiden) als „Nexus of Treaties“. In diesem theoretischen Zusammenhang wird auch auf die realistische Annahme Bezug genommen, dass Akteure ein „opportunistisches“ Verhalten an den Tag legen und alle Möglichkeiten nutzen, Verträge bzw. Vereinbarungen zu unterlaufen und den Partner auszutricksen oder gar zu betrügen.

Wenn wir das Streben nach Vereinbarungen in den Mittelpunkt unserer begrifflichen Charakterisierung kollektiver Entscheidungsprozesse stellen, so schließt dies natürlich nicht aus, dass solche Entscheidungsprozesse auch scheitern und bisweilen ausgehen wie das „Hornberger Schießen“. Dennoch zeigen natürlich auch solche Entscheidungsprozesse Wirkungen auf die Beteiligten, die aus diesen Entscheidungsprozessen anders herausgehen als sie hineingegangen sind. Und wenn wir davon sprechen, dass die Beteiligten sich in dem Bewusstsein wechselseitig beeinflussen, dass es um Vereinbarungen geht, dann bedeutet dies nicht, dass alle Beteiligten eines kollektiven Entscheidungsprozesses selbst eine Vereinbarung auch tatsächlich anstreben. Im Extremfall tut dies nur ein Akteur. Die übrigen wissen bzw. vermuten dies und insofern treffen sie ihre individuellen Entscheidungen in diesem Entscheidungsprozess „in dem Bewusstsein, dass es um Vereinbarungen geht“. Sie selbst tun aber u. U. alles, dass es zu einer Vereinbarung gerade nicht kommt.

Kollektive Entscheidungsprozesse als Episoden im laufenden Geschehen Das laufende Geschehen von Unternehmen ist durch einen Strom von Handlungen (einschließlich von Interaktionen) einer Vielzahl von Akteuren gekennzeichnet. In diesem Handlungsstrom tauchen immer wieder auch Individualentscheidungen auf, insbesondere solche, die die Akteure tagtäglich im Zuge der Ausübung ihrer Rollen zu treffen haben. Auch solche Individualentscheidungsprozesse sind Episoden. Im vorliegenden Teilkapitel interessieren solche umfassenderen Episoden, die den Charakter kollektiver Entscheidungsprozesse besitzen und die natürlich dann Subepisoden individueller Entscheidungen einschließen. Freilich gilt: Das laufende Geschehen, aus dem Episoden kollektiver Entscheidungsprozesse auftauchen, ist – wie erläutert – immer auch durch Individualentscheidungen und die damit verbundenen Bemühungen um die Handhabung sozialer Abhängigkeiten geprägt, die nicht „Bausteine“ kollektiver Entscheidungsprozesse sind.

Eine Episode umfasst also einen Teilstrom von Handlungen bzw. Individualentscheidungen, mit einem Anfang und einem Ende. und dieser Teilstrom vollzieht sich in einem Umfeld. Man kann auch sagen: Eine Episode ist ein Ausschnitt aus dem Handlungsstrom des laufenden Geschehens. Eine kollektive Entscheidungsepisode beginnt, wenn ein Akteur für andere Akteure erkennbare Anstrengungen unternimmt, zu Vereinbarungen zu gelangen. Andere Akteure können sich dem natürlich widersetzen und der kollektive Entscheidungsprozess endet schon wieder, kaum dass er initiiert ist. Es mag aber auch tatsächlich zu Vereinbarungen

Page 32: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

32

kommen, etwa z Verträgen bzw. Beschlüssen. Wir haben aber bereits ausgeführt, dass es vielfach zu Nachverhandlungen und/oder zu neuen Vereinbarungen darüber kommt, wie eine frühere Vereinbarung zu interpretieren bzw. anzuwenden ist. Dies kann dazu führen, dass es äußerst schwer fällt, das Ende einer Episode zu bestimmen, vor allem, wenn die späteren Vereinbarungen mit einem größeren zeitlichen Abstand folgen.

In der Literatur werden Entscheidungsprozesse vielfach durch relativ einfache Phasenschemata beschrieben. Abb. 2-6 gibt ein typisches Beispiel wieder, das trotz des einfachen Phasenschemas aufgrund der vielfältigen (durch Pfeile angedeuteten) Vor- und Rückkopplungen impliziert, dass der einzelne Entscheidungsprozess einen höchst individuellen Verlauf nehmen kann. Betrachten wir das Schema im Lichte unseres Episodenkonzepts. Das „Scanning“ und auch Aktivitäten des „Problem Discovery and Diagnosis“ können sich durchaus noch im Vorfeld einer kollektiven Entscheidungsepisode vollziehen. Einzelne Akteure mögen Probleme entdecken und auch diagnostizieren, aber zunächst keine Anstalten machen, mit anderen hierzu zu Vereinbarungen zu gelangen, etwa weil sie sich angesichts der Machtverhältnisse bzw. der institutionellen Ordnung keine Chance ausrechnen. Es kann aber dabei im Vorfeld schon auch vielfältige Kommunikation mit anderen Akteuren stattfinden, in denen über das Problem diskutiert wird, etwa in „handlungsentlasteten Interaktionszusammenhängen anlässlich gemeinsamer Mittagessen oder anlässlich der berühmten Gespräche am Kamin“. Solche Aktivitäten und Kommunikationen können auch einen Art „Gärprozess“ prägen, der erst später (unter erklärungsbedürftigen Bedingungen) zu einem kollektiven Entscheidungsprozess führt. In diesem Gärprozess mag dann auch sogar einiges von dem ablaufen, was im Sinne der Abb. 2-6 als „Search and Innovation“ bezeichnet ist.

Page 33: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

33

Causal linkages:

a. Scanning detects a possible opportunity, threat, variance or disturbance.a´. Diagnosis calls for more detailed information.b. Discovery and diagnosis determines the direction and location of search.b´. Search and innovation produce redefinitions of the problem, changes in level of

aspiration, and displacement of ideal.c. Search and innovation provide what is to be evaluated and chosen.c´. Evaluations and choises foreclose on what will be sought. Search is conducted to

justify what has already been chosen as a solution.d. Evaluation and choice must be authorized before being implemented.d´. Rejected authorization or failed implementation forces reevaluation, (d´´) redesign,

(d´´´) redefinition.e. Problem diagnosis determines the evaluation and choice. Search is eliminated. The

solutions to the problem are given by the diagnosis.e´. The evaluation and choice result in modifying the diagnosis. What we want to

do leads to our articulating that we have problems.f. Implementation experience changes scanning focus.

Scanning

Problem Discovery

and Diagnosis

Search and Innovation

Evaluation and Choice

Authoriza-tion and

Implemen-tation

ee´

a

d´´´d´´

d

d´c´b´

cb

f

Abb.2-6 Phasenschema eines Entscheidungsprozesses

Das Phasenschema der Abb. 2-6 legt zunächst den Schluss nahe, dass ein kollektiver Entscheidungsprozess mit der Implementierung endet. „Implementierung“ schließt – in unserer Sicht – natürlich nicht aus, dass es hierbei auch zu Nachverhandlungen kommt. Das Schaubild bringt dies ja selbst durch die Möglichkeit zum Ausdruck, dass im Zuge der Implementierung wiederum Aktivitäten der übrigen Phasen ausgelöst werden. Andererseits können im Lichte der Episodenbetrachtung sich viele Aktivitäten einer Implementierung nach Abschluss der Episode vollziehen. Man stelle sich im Zuge einer Transaktion einen Entscheidungsprozess vor, der zu einem Vertrag führt, der seinerseits so klar ausformuliert ist, dass mit der Kommunikation der Vertragsinhalte an die ausführenden Stellen die Implementierung den institutionalisierten Routinen folgen kann, ohne dass weitere Vereinbarungen relevant werden.

Diese kurzen Hinweise machen deutlich, dass die in der Abb. 2-6 wiedergegebenen Aktivitäten innerhalb, aber auch außerhalb einer kollektiven Entscheidungsepisode auftreten können. Solche und ähnliche Darstellungen des Entscheidungsprozesses helfen deshalb wenig, wenn es um die Feststellung des Beginns bzw. des Endes eines Entscheidungsprozesses (als Ausschnitt aus dem laufenden Geschehen) geht. Häufig vermitteln solche entscheidungstheoretischen Ansätze sogar den Eindruck, dass das Geschehen in und zwischen Organisationen ausschließlich als Entscheidungsprozesse zu erfassen ist. Das Denken im Sinne eines Episodenkonzepts ist diesen Ansätzen fremd. Doch gehen wir einen Schritt weiter und erläutern wir, was mit dem Episodenkonzept in einem umfassenderen Theorieansatz zum Ausdruck gebracht wird. Abb. 2-7 soll helfen, unsere Darlegungen nachzuvollziehen. Die Abb. 2-7 geht

Page 34: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

34

vereinfachend davon aus, dass nur zwei Akteure A und B in den kollektiven Entscheidungsprozess involviert sind. Die Abbildung geht ferner davon aus, dass diese Akteure über je spezifische Potentiale verfügen. Außerdem wird in der Abbildung angedeutet, dass im Umfeld (einschließlich im „Vorfeld“) der betrachteten Episode auch andere, im Bezug auf diese Episode „exogene“ Prozesse stattfinden. Schließlich sind in der Abbildung „lebensweltliche Gegebenheiten“ und „Verteilung von Ressourcen“ angesprochen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Potentiale der beteiligten Akteure durch die jeweiligen lebensweltlichen Gegebenheiten (also durch die institutionelle Ordnung, die kulturellen Deutungs- und Bewertungsschemata, durch spezifische Persönlichkeitsmerkmale, aber auch durch relevante Programmatiken), aber auch durch die Verteilung relevanter Ressourcen (die ihrerseits durch die lebensweltlichen Gegebenheiten, insbesondere durch die jeweilige institutionelle Ordnung beeinflusst werden) geprägt sind. Die Pfeile der Abbildung bringen schließlich Zusammenhänge zwischen den Potentialen (bzw. den dahinter stehenden lebensweltlichen Gegebenheiten und Ressourcenverteilungen) einerseits und den Prozessen innerhalb und außerhalb der betrachteten Episode andererseits zum Ausdruck. Wir können im vorliegenden Rahmen die durch die Abbildung symbolisierten Aspekte und Zusammenhänge nicht im Einzelnen erläutern und müssen uns auf Beispiel beschränken.

Die in eine Episode involvierten Akteure versuchen, den Verlauf der Entscheidungsepisode in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Dabei greifen sie auf (z. B. Macht-)Potentiale zurück (Pfeile 1), deren Beschaffenheit und Ausprägung von mehreren Faktoren abhängt. Die institutionelle Ordnung gibt etwa einem Akteur Autorisierungsrechte, denen andere Akteure unterworfen sind. Oder: Die Beherrschung spezifischer Deutungs- und Bewertungsschemata mag die Basis für die Expertenmacht eines Akteurs sein.

Schließlich: Der Zugriff auf spezifische Ressourcen schafft die Voraussetzungen für die Ausübung einer Sanktionsmacht. Im Zuge von Entscheidungsepisoden werden Potentiale nicht nur aktiviert, sondern auch „reproduziert“ (Pfeil 2). Wer beispielsweise seine Expertenmacht in einer Entscheidungsepisode geltend machen kann, der wird möglicherweise in anderen Episoden um so mehr als Experte angesehen und entsprechendes Gewicht haben. Und der erfolgreiche Einsatz des Autorisierungsrechts festigt dieses Recht bzw. die dieses Recht vermittelnde institutionelle Ordnung. Die Potentiale werden aber auch von den Aktivitäten und Interaktionen beeinflusst, die die Akteure „außerhalb“ der betrachteten Entscheidungsepisode unternehmen (Pfeil 3).

Page 35: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

35

Episode

Potentiale BPotentiale A

A B

Exogene Prozesse

4

3 3121

Lebensweltliche Gegebenheiten

undVerteilung von Ressourcen

Abb.2-7 Entscheidungsepisode und Potentiale

Wer ständig auf Expertentagungen außerhalb des Unternehmens sein Expertentum durch andere Tagungsteilnehmer bestätigt erhält, festigt seinen Einfluss als Experte auch im eigenen Unternehmen, insbesondere z. B. dann, wenn andere Akteure des Unternehmens trotz eigener Bemühjungen niemals Einladungen zu solchen Tagungen erhalten. Es ist also keineswegs ausgeschlossen, dass eine Veränderung der Potentiale von A indirekt auch Auswirkungen auf die Potentiale von B zeitigt (und umgekehrt). Ebenso ist es möglich, dass sowohl A als auch B auf direktem Wege versuchen, die Potentiale des jeweils anderen zu fördern oder zu beeinträchtigen. Etwa – um bei unserem Beispiel zu bleiben – wenn der Akteur A bei den Veranstaltern von wichtigen Tagungen gegen B intrigiert und dessen Teilnahme auf diese Weise verhindert. Schließlich können auch exogene Entwicklungen zu Potentialveränderungen führen (Pfeil 4). Das überraschende Ausscheiden eines wichtigen Funktionsträgers innerhalb der Organisation mag beispielsweise einen Kompetenzzuwachs des Akteurs B nach sich ziehen, den er dann auch in der im Fokus stehenden Entscheidungsepisode gegenüber Akteurs A zur Geltung bringen kann.

Soweit unsere beispielhafte Charakterisierung unseres Episodenkonzepts, das - so ist hoffentlich deutlich geworden – auf vieles Bezug nimmt, was wir in vorhergegangen Kapiteln angesprochen haben. Im Folgenden wollen wir nun stichpunktartig einige weiterführenden Perspektiven der Betrachtung kollektiver Entscheidungsprozesse

Page 36: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

36

darlegen und damit die zunächst sicherlich auch etwas abstrakten Überlegungen zum Episodenkonzept konkreter machen.

2.5 Perspektiven kollektiver Entscheidungsprozesse

Wir können im vorliegenden Rahmen nicht einen Überblick über die vielfältigen wissenschaftlichen Ansätze zur Analyse kollektiver Entscheidungsprozesse in Organisationen anstreben. Uns geht es in erster Linie darum, jenes Bild zu ergänzen bzw. sogar zu korrigieren, das typischerweise durch die Abb.2-6 gekennzeichnet wird. Dort wird – zumindest bei oberflächlicher Betrachtung – der Eindruck vermittelt, als dominierten in kollektiven Entscheidungsprozesse Aktivitäten, die etwas mit der Gewinnung von Erkenntnissen zu tun haben. Wir knüpfen aus diesem Grunde an jener Literatur an, die die Betrachtung kollektiver Entscheidungsprozesse eng mit der Frage nach der Art und Weise der Bewältigung von (interindividuellen) Konflikten in Verbindung bringt.

Entscheidungsepisoden und die Handhabung von Konflikten March und Simon (1958) beschreiben kollektive Entscheidungsprozesse als Prozesse der Konflikthandhabung. Dabei geht es natürlich um interpersonale Konflikte (im Gegensatz zu den intraindividuellen Konflikten, die wir im Zusammenhang mit der Betrachtung der Individualentscheidungen kennen gelernt haben). Die Autoren unterscheiden vier Arten solcher Konflikthandhabungen: (1) Problem Solving: Die Kooperationsbereitschaft der Beteiligten ist so hoch, dass sie sich auf eine völlig kooperative Diskussion beschränken und zu einem authentischen, nicht manipulierten Konsens zu gelangen trachten. (2) Persuasion: Eine kooperative Diskussion ist hier zwar noch vorzufinden, die Beteiligten betreiben aber nur noch dort eine offene, wechselseitige Aufklärung, wo sie nicht eine Verschlechterung ihrer Position im kollektiven Entscheidungsprozess befürchten müssen. (3) Bargaining: Hier tritt eine kooperative Diskussion in den Hintergrund; wechselseitige Machtausübung dominiert und die Beteiligten schrecken nicht davor zurück, durch Drohungen, Versprechungen und entsprechende Bluffs die anderen zu Zugeständnissen zu bewegen. Die Problemlösungs- und Konsensbildungsbemühungen werden immer mehr durch ein Aushandeln überlagert. (4) Politics: Hier wird die gleiche Situation wie im „Bargaining“ unterstellt. Die Arena wird jedoch von den Beteiligten nicht als fixiert angesehen. Dies ist u. a. dahingehend zu verstehen, dass über die Spielregeln der Arena keine volle Übereinstimmung besteht.

Die von March und Simon genannten Typen kollektiver Entscheidungsprozesse können als besonders hervorgehobene Punkte eines ganzen Kontinuums von Mög-lichkeiten angesehen werden. Walton/McKersie (1965) unterscheiden in diesem Sinne zwischen integrativen und distributiven Entscheidungsprozessen. Das eine Extrem bildet dann das reine gemeinsame Problemlösen. Je mehr man sich auf dem Kontinuum in Richtung des anderen Extrempunktes bewegt, desto mehr ist das Problemlösen durch wechselseitige Überredungsversuche „durchsetzt“ und desto mehr kann man von einem „distributiven“ Entscheidungsprozess sprechen. Die Elemente des mit Drohungen, Versprechungen und Ausgleichszahlungen operierenden „Aushan-delns“ erhalten ein immer größeres Gewicht und dominieren schließlich den Prozess.

Page 37: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

37

Das andere Extrem bildet somit ein Verhalten im Sinne von „Politics“, bei dem nur ein Minimum an Spielregeln von den Beteiligten als verbindlich akzeptiert wird.

Die wissenschaftlichen Ansätze zur Konfliktforschung sind natürlich sehr vielfältig. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf eine Sichtweise, die auf Pondy (1967) zurückgeht. Sie ist nicht zuletzt deshalb von besonderem Interesse, weil dieser Autor ebenfalls von Episoden, hier von Konfliktepisoden, spricht. Im vorliegenden Rahmen können wir freilich nicht vertiefend der Frage nachgehen, inwieweit Entscheidungsepisoden in unserem Sinne hierzu „deckungsgleich“ sind. Pondy weist auf die unterschiedlichen Konfliktbegriffe in der wissenschaftlichen Diskussion hin und macht den Vorschlag, alle durch die unterschiedlichen Definitionen erfassten Tatbestände mit dem Konfliktbegriff zu belegen und sie jeweils durch geeignete Zusätze zu charakterisieren. Auf diese Weise umreißen die einzelnen Konfliktbegriffe gleichzeitig typische Stadien oder Phasen im Prozess der Entstehung und Handhabung von Konflikten. Abbildung 2-8 gibt das Modell einer mehrere Phasen durchlaufenden Konfliktepisode wieder.

Abb.2-8 Schema einer Konfliktepisode

Im Stadium latenter Konflikte bestehen objektiv die Voraussetzungen für einen Konflikt, der jedoch von den Beteiligten nicht wahrgenommen wird. Nur unter be-stimmten Bedingungen gehen latente Konflikte in wahrgenommene Konflikte über. Es gibt jedoch auch wahrgenommene Konflikte, bei denen die subjektive Wahrnehmung nicht mit den objektiven Gegebenheiten übereinstimmt. Wahrgenommene Konflikte können, müssen jedoch nicht zu emotional aufgeladenen Konflikten führen. Bestehen jedoch emotionale Konflikte, so werden hierdurch nicht selten die Wahrnehmungen der Beteiligten stark beeinflusst. Die Konfliktepisode erreicht schließlich das Stadium manifester Konflikte, wenn die Beteiligten ein äußerlich beobachtbares

GefühlterKonflikt

Wahrgenom-mener Konflikt

LatenterKonflikt

ManifesterKonflikt

Nachwirkungen dervorangegangenenKonfliktepisode

Konflikt-nachwirkungen

Unterdrückungs-und Ablenkungs-

mechanismen

Spannungeninnerhalb undaußerhalb derOrganisation

StrategischeErwägungen

Verfügbarkeit vonKonflikthand-

habungsmechanismen

Umwelteinflüsse Umwelteinflüsse

Page 38: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

38

Konfliktverhalten zeigen, aktiv aufeinander Macht ausüben oder gar physische Gewalt anwenden.

Der Bezugsrahmen der Abb. 2-8 zeigt einige Faktoren auf, die dafür maßgebend sind, ob ein Konfliktprozess von einem Stadium in ein anderes übergeht. Gleichzeitig hat die Art und Weise des Verlaufs der Konfliktepisode Rückwirkungen bzw. Nachwirkungen, die insbesondere diese Faktoren verändern oder aber auch bestätigen. Wenn sich z. B. verfügbare Institutionen mit entsprechenden Konflikthandhabungsmechanismen im Rahmen einer Episode bewähren und diese Episode damit auch „kanalisieren“, dann steigt natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass diese Institutionen bzw. Mechanismen auch in späteren Episoden ihre entsprechenden Wirkungen zeitigen. Sind in einer Organisation zunächst hohe Spannungen vorhanden, die Episode jedoch aufgrund der dennoch funktionierenden Mechanismen der Konflikthandhabung letztlich einen relativ friedlichen Verlauf nimmt, dann mag dies auch zum Abbau dieser Spannungen und damit zu anderen Voraussetzungen für den Verlauf späterer Episoden beitragen. Wollte man diese hier beispielhaft angesprochenen Zusammenhänge in das Schemata Abb. 2-8 explizit machen, so müsste man die angesprochenen Nachwirkungen über entsprechende Pfeile mit den Feldbedingungen verbinden. Nicht erfasst wären dann aber jene Handlungen der Akteure „außerhalb“ einer Episode, die ihrerseits die in der Abbildung angesprochenen Feldbedingungen beeinflussen. Wenn sich die Akteure aufgrund der Persönlichkeiten herzlich unsympathisch finden, jeden sozialen Kontakt eher als belastend empfinden und sich in ihren alltäglichen Handlungen hierdurch beeinflussen lassen, dann ist das Entstehen und eventuelle Eskalieren von Spannungen nicht überraschend, was sich dann auch in der Konfliktepisode auswirkt. Oder: Wenn in einer Organisation (unter Nutzung entsprechender konflikttheoretischer Deutungs- und Bewertungsschemata) vielfältige Aufklärungsaktivitäten über Konflikte auftreten, die die Akteure das Funktionieren von Unterdrückungs- bzw. Ablenkungsmechanismen bewusst machen, dann ist nicht ausgeschlossen, das sich hieraus auch Veränderungen der Mechanismen ergeben.

Die Hervorhebung der mehr oder weniger kooperativen Art der Konflikthandhabung ergänzt die in der Literatur vielfach dominierende Betrachtung kollektiver Entscheidungsprozesse, wie sie beispielsweise in Abb. (Phasen) wiedergegeben wird. Dort werden in erster Linie Aktivitäten und Interaktionen der beteiligten Akteure angesprochen, die (zumindest bei vordergründiger Betrachtung) Aktivitäten der Aufklärung bzw. der Erkenntnisgewinnung (etwa über das Erkennen von Problemen, deren Diagnose, der Suche nach Lösungen und deren Bewertung) in den Vordergrund gestellt. Geht man von der Perspektive der Konflikthandhabung aus, dann geraten zusätzliche Aktivitäten in den Blick, die etwas mit Macht, aber auch mit Konsens zu tun haben. Im Folgenden wollen wir versuchen, alle diese Aspekte in die Betrachtung einzubeziehen.

Erkenntnis, Macht, Konsens, Commitment Die Aktivitäten bzw. Interaktionen des laufenden Geschehens einer Organisation, aus denen Episoden kollektiver Entscheidungsprozesse ausdifferenziert werden, kann man – wie bereits erwähnt – in mehrere Klassen einteilen: Sieht man einmal von den Aktivitäten der Produktion, Transformation und Distribution physischer Objekte ab, so

Page 39: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

39

haben diese Aktivitäten und Interaktionen mit der Produktion und Distribution von Erkenntnis, mit dem Aufbau, der Ausübung und der Sicherung von Macht sowie mit der Bildung von Konsens zu tun. Dabei ist bei der Betrachtung dieser verschiedenen Klassen von Aktivitäten und Interaktionen davon auszugehen, dass sich diese nicht gegenseitig ausschließen: Ein und dieselbe Aktivität (z. B. die Herstellung einer Peitsche) stellt gleichermaßen eine Transformation physischer Objekte und den Aufbau von Macht dar.

Abbildung 2-9 symbolisiert dies durch die Überlappung der mit „Erkenntnis“, „Macht“ und „Konsens“ bezeichneten drei Kreise. Das Viereck symbolisiert demge-genüber die einzelnen Episoden kollektiver Entscheidungsprozesse. Damit wird an-gedeutet, dass die einzelnen Entscheidungsepisoden selbst Aktivitäten und Interak-tionen der verschiedenen Klassen umfassen. Schließlich bringt die Abbildung zum Ausdruck, dass es im Rahmen von politischen Systemen bzw. Organisationen er-kenntnis-, macht- und konsensbezogene Aktivitäten gibt, die nicht konkreten Ent-scheidungsepisoden zuzurechnen sind. Es handelt sich um generelle Aufklärung, Macht- bzw. Konsensbildung. Im Folgenden sollen zunächst die drei Klassen von Aktivitäten und Interaktionen näher betrachtet werden.

Erkenntnis Macht

Konsens

Entscheidungsepisoden

Abb. 2-9: Erkenntnis, Macht und Konsens in Entscheidungsepisoden

(1) Erkenntnis: Die erste hier zu betrachtende Klasse von Aktivitäten und Interak-tionen steht mit der Produktion, Distribution und Vermittlung von Erkenntnissen in Zusammenhang. Unter „Erkenntnis“ verstehen wir alles Wissen, das in Medien gleichsam außerhalb der Köpfe der Menschen gespeichert ist, sei es permanent, sei es (wie im Falle eines Gespräches) nur temporär. Dieses Wissen ist in der Regel in-tersubjektiv kritisierbar. Erkenntnis in diesem Sinne ist dann der Inbegriff von Tat-sachenbehauptungen, Gesetzesaussagen, Theorien, Technologien, aber auch von Werturteilen und moralischen Normen, wobei von den psychischen Dispositionen von

Page 40: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

40

Menschen abstrahiert wird. Erkenntnisse können in einem sozialen System unabhängig von einzelnen Individuen (in Archiven, Bibliotheken usw.) existieren. Sie zeugen dann u. a. von vergangenem und gegenwärtigem Wissen sowie von Werten oder Vorhaben anderer Menschen.

Mit „Aufklärung“ bezeichnen wir alle Aktivitäten und Interaktionen, die der Pro-duktion, Distribution, aber auch der Vermittlung von intersubjektiv kritisierbarer Erkenntnis dienen. Wer im Wald spazieren geht, Wissen über Pilze sammelt und stirbt, betreibt keine Aufklärung. Wenn er vorher noch ein Buch über Pilze schreibt, ist dieser Waldspaziergang u. a. auch eine Aufklärungsaktivität in der Gesellschaft. Aufklärung liegt aber auch dann vor, wenn bereits intersubjektiv kritisierbare Er-kenntnisse vorliegen, die Individuen in der Weise vermittelt werden, dass diese Er-kenntnisse in den Bestand der Kognitionen dieser Individuen eingehen. Auf diese Weise kann man sich selbst oder auch anderen Erkenntnisse vermitteln.

Aufklärung als Produktion, Distribution und Vermittlung von intersubjektiv kriti-sierbaren Erkenntnissen umfasst keineswegs alle mit einer Veränderung der Er-kenntnisse eines sozialen Systems verbundenen Prozesse. Stets findet man auch Aktivitäten der „Vernichtung“ von Erkenntnissen, der Verhinderung ihrer Ausbreitung usw. Will man diese Prozesse einbeziehen, so empfiehlt es sich, allgemein von „Erkenntnisprozessen“ in sozialen Systemen zu sprechen. Derartige Erkenntnis- bzw. Aufklärungsprozesse sind keineswegs ausschließlich symbolische Prozesse. Wer eine physische Versuchsanordnung erstellt, eine Zensurbehörde abbaut oder den freien Eintritt zu einer öffentlichen Bibliothek durchsetzt, zeigt ein Verhalten, das u. a. auch als Erkenntnisprozess in dem betreffenden sozialen System anzusehen ist. Ein Erkenntnisprozess in diesem Sinne liegt auch vor, wenn sich jemand mit der Schaffung und Sicherung von Voraussetzungen für die Aufklärung befasst.

(2) Macht: Die zweite hier zu betrachtende Klasse von Aktivitäten bzw. Interaktionen im Ongoing Process bezieht sich auf Macht bzw. Machtprozesse. An dieser Stelle mag die berühmte Definition Max Webers (1972: 28) genügen: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“

In der machttheoretischen Literatur finden sich viele Versuche, verschiedene Machtpotentiale bzw. Machtgrundlagen zu klassifizieren. Weiter oben haben wir hierzu Überlegungen angestellt. Diese Machtgrundlagen sind nicht a priori gegeben, sondern müssen in der Regel „produziert“ werden. Die Unterscheidung zwischen dem Vorhandensein von Ressourcen und deren Umwandlung in Machtgrundlagen ist freilich eine recht willkürliche Zweiteilung des Prozesses. Grundsätzlich können wohl alle Ressourcen, über die ein Akteur verfügt, auch zur Ausübung von Macht herangezogen werden. Diese Ressourcen weisen freilich einen unterschiedlichen „Grad der Machtnähe“ auf, der etwa analog zum „Liquiditätsgrad“ von Wirtschafts-gütern gesehen werden kann. Bei einem niedrigen Grad der Machtnähe einer Res-source bedarf es großer Anstrengungen und relativ langer Zeit, bis auf der Grundlage dieser Ressource tatsächlich Macht ausgeübt werden kann.

Vorhandene Machtgrundlagen unterliegen unter Umständen Abnutzungserschei-nungen. Sie bedürfen der Pflege und der Sicherung. Die Machtprozesse in einem sozialen System erstrecken sich folglich nicht nur auf die Ausübung von Macht, son-

Page 41: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

41

dern auch auf die Schaffung und Sicherung der Machtgrundlagen. Wenn beispiels-weise die Machtposition mit den Möglichkeiten eines bestimmten Amtes verbunden ist, in das man gewählt wird, so muss man sich um die Wiederwahl kümmern. Wessen Macht darauf beruht, dass ein anderer Mächtiger bereit ist, seine eigene Macht für ihn einzusetzen, muss fortwährend dessen Unterstützung sichern.

Machtprozesse sind schließlich auch jene Aktivitäten und Interaktionen, die eine Vernichtung von Machtgrundlagen oder der Fähigkeit, Machtgrundlagen einzusetzen, zur Folge haben. Wenn der ursprünglich Machtunterworfene B Zugang zu Er-kenntnissen erhält, die ursprünglich für A Informationsvorteile und damit Exper-tenmacht begründeten, so wird damit diese Machtgrundlage des A „vernichtet“. Ähnliches gilt, wenn B verlässlich darüber aufgeklärt wird, dass A normalerweise „blufft“, wenn er Drohungen ausspricht. Diese und ähnliche Beispiele zeigen, dass Machtprozesse und Erkenntnisprozesse in vielen Fällen nicht getrennt werden können.

(3) Konsens: Eine dritte Klasse von Aktivitäten und Interaktionen ist mit der Bildung von Konsens (aber auch dessen Zerstörung) sowie mit der Herstellung und Sicherung der hierfür erforderlichen Voraussetzungen befasst. Konsensbildung liegt vor, wenn unterschiedliche Standpunkte angenähert werden oder über etwas eine Übereinstimmung herbeigeführt wird. Etzioni (1968: 469) versteht z. B. unter Konsens „eine Kongruenz in den Perspektiven von zwei oder mehr Akteuren“. Bei Habermas (1981a) ist ein Konsens durch ein rational motiviertes Einverständnis über erhobene Geltungsansprüche gekennzeichnet.

Wir halten es für zweckmäßig, davon auszugehen, dass ein Konsens nicht nur durch wechselseitige Aufklärung zustande kommt. Häufig ist er auch das Ergebnis von Machtausübung. Freilich stellt sich dann das Problem, ob ein solcher Konsens au-thentisch sein kann (vgl. Etzioni 1968). Schließlich möchten wir nicht ausschließen, dass eine Konsensbildung bzw. Koorientierung Ergebnis von sozialen Handlungen sein kann, die weder mit Macht noch mit Erkenntnis zu tun haben. Das „gemeinsame Erleben“ einer Situation kann z. B. dazu beitragen, dass sich eine Koorientierung im Sinne einer „kollektiven Gleichgestimmtheit“ (vgl. Habermas 1981a: 386 f.) herausbildet.

Abbildung 2-9 bringt – wie bereits angedeutet – auch zum Ausdruck, dass Aktivitäten und Interaktionen genereller Aufklärung, Machtausübung und Konsensbildung existieren. Man kann auch sagen, dass mit diesen Aktivitäten und Interaktionen „Potentiale“ aufgebaut, gepflegt, aber auch vernichtet werden, die in den konkreten Entscheidungsepisoden aktiviert werden können. Solche Potentiale können sich in allgemeinem Wissen, in Machtgrundlagen und in einem allgemeinen Konsens äußern, aber auch in Bedingungen, die Aufklärungs-, Macht- und Konsensbildungsaktivitäten erleichtern können. Führung hat viel mit derartigen Potentialen zu tun. Die Sichtweise, dass Führungskräfte ständig in Entscheidungsprozesse zur Steuerung und Regelung von Produktion und Distribution involviert sind, ist nicht zutreffend. Es ist eine empirische Frage (und sicherlich ein Ausdruck des jeweiligen Führungsstils), in welchem Umfange sich die einzelnen Führungskräfte derartigen generellen Aktivitäten der Aufklärung, Machtausübung und Konsensbildung widmen.

Der Aufbau, die Pflege und die Vernichtung von Potentialen kann eine manifeste Funktion des Verhaltens und damit explizit Gegenstand von Entscheidungen der

Page 42: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

42

Beteiligten sein. In diesem Falle müssen wir damit rechnen, dass wir in einer Orga-nisation eine Fülle von Problemlösungsbemühungen von Beteiligten finden, die auf derartige Potentiale gerichtet sind. Ebenso ist es aber möglich, dass der Aufbau, die Pflege oder die Vernichtung von Potentialen eine latente Funktion des Verhaltens der Beteiligten ist: Ein bestimmtes Verhalten eines Akteurs kann die Konsensbildung fördern, ohne dass dies vom Beteiligten beabsichtigt wurde.

Die kollektiven Entscheidungsprozesse sind Episoden im laufenden Geschehen, in deren Rahmen bewusste Anstrengungen unternommen werden, zu neuen Commit-ments zu gelangen oder alte zu modifizieren und aufzugeben. Zu jedem Zeitpunkt besteht in der Organisation eine Menge von Festlegungen. Hierbei handelt es sich um Vorhaben, Pläne, Projekte, Ziele, kurz: um symbolische Vorstellungen von etwas Angestrebtem, auf dessen Verwirklichung Ressourcen „festgelegt“ sind. Derartige Festlegungen können sich auch auf faktische Informationen (z. B. Prognosen) erstrecken: Man ist auf die Verteidigung dieser Hypothesen gegen Widerspruch festgelegt.

Selbstverständlich sind die Commitments der beteiligten Akteur nicht konsent: Die „Vorhaben“ der einzelnen Akteure können miteinander konkurrieren. Es ist eine Funktion der Führung, die Akteure zu einer gewissen Koorientierung in ihren Festlegungen zu bringen. In der klassischen Führungsdiskussion wird dies normalerweise dadurch zum Ausdruck gebracht, dass Führung darin bestünde, das System auf „einheitliche Ziele“ auszurichten. Ebenso ist es aber auch möglich, dass die Akteure sich selbst koordinieren und dadurch die Konkurrenz der verschiedenen „Vorhaben“ wenigstens teilweise reduzieren. Die ausschließliche Bezugnahme auf Ziele (mit einem Commitment versehene angestrebte zukünftige Zustände der Welt) erscheint uns jedoch als zu eng.

Man kann das mehr oder weniger inkonsistente „System der Festlegungen“ eines sozialen Systems als dessen „Programmbasis“ bezeichnen. Diese Programmbasis unterliegt ständig Veränderungen: Alte Commitments werden modifiziert oder auf-gegeben, neue treten hinzu; die Intensität der einzelnen Commitments nimmt zu oder ab. Grundsätzlich gilt wohl, dass Festlegungen einem Erosionsprozess unterliegen, gegen den ständig „anzukämpfen“ ist.

Diese Veränderungen der Programmbasis stehen in enger Beziehung zu Macht-, Konsens- und Erkenntnisprozessen. Machtausübung bedeutet vielfach, dass bestehende Commitments eines Machtunterworfenen zeitweise „außer Kraft gesetzt“ oder dauerhaft aufgegeben werden. Konsensbildung bezieht sich u. a. auch auf Prozesse, die zu einer Koorientierung in den Festlegungen der Akteure des sozialen Systems führen. Schließlich wird eine Aufklärung über die mutmaßliche Nichterreichbarkeit eines Vorhabens dazu führen, dass der Erosionsprozess der da-hinter stehenden Commitments beschleunigt wird.

Viele der die Programmbasis verändernden Prozesse stehen nicht unter der Kontrolle einer Steuerungsinstanz. Dies ist besonders zu beachten, da man geneigt sein könnte, gerade das Entstehen und die Veränderung von Commitments ausschließlich als Ergebnis bewusster Prozesse der Willensbildung, d. h. als Output von Ent-scheidungsprozessen zu sehen. Wenngleich wir vor dem Hintergrund unserer Erörterungen im zweiten Hauptkapitel zur politischen Dimension der

Page 43: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

43

Unternehmensführung die politischen Entscheidungen in den Vordergrund stellen, muss doch beachtet bleiben, dass das politisch relevante Handeln nicht ausschließlich im Kontext einer Theorie der Entscheidungsprozesse behandelt werden kann.

Zur Promotion von Entscheidungen Im Zusammenhang mit jedem Entscheidungsprozess entstehen sekundäre Probleme: Interpersonelle Schwierigkeiten treten auf, Konflikte eskalieren, Widerstände ge-genüber der Implementierung tun sich auf, Kommunikationsstörungen und Miss-verständnisse entstehen usw. Die sekundären Probleme, die wir den zu bewältigenden primären Problemen begrifflich gegenüberstellen, können also ganz unterschiedlicher Natur sein. Aktivitäten zur Bewältigung sekundärer Probleme bezeichnen wir als Promotion. Wir wollen drei Arten der Promotion unterscheiden, die wir als Prozesspromotion, Ergebnispromotion und generelle Promotion bezeichnen.

Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet die Vorstellung, dass man die Bemü-hungen um die Bewältigung eines bestimmten primären Problems als Episode cha-rakterisieren kann, die einen Anfang und ein Ende besitzt und aus dem Kontinuum der vielfältigen Aktivitäten der Organisation gleichsam „herausgeschnitten“ ist. Auf der Grundlage dieses Konzepts gibt es zum einen Promotionsaktivitäten, die in einem engen Zusammenhang mit einer bestimmten Episode stehen. Darüber hinaus finden sich in Organisationen aber auch Aktivitäten einer generellen Promotion, die sich auf ganze Klassen zukünftiger Episoden beziehen. Ein allgemeines Programm eines Management-Development mit gruppendynamischen Übungen und Aufklärung über interpersonelle Probleme und Konflikte sowie deren Handhabungsmöglichkeiten kann als eine derartige generelle Promotion aufgefasst werden. Ganz allgemein haben alle Aktivitäten in der Organisation, die intendiert oder auch als Nebeneffekt der Kooperationsbereitschaft reproduzieren und festigen, Effekte einer generellen Promotion. Wir unterscheiden hier zwischen Prozesspromotion und Ergebnispromotion. Im Rahmen der Prozesspromotion werden jene Impulse gegeben, die den Prozess vorantreiben und an einem allmählichen „Versanden“ hindern. Bei der Ergebnispromotion geht es darum, die von den Entscheidungen Betroffenen, insbesondere die Ausführenden, die nicht am Entscheidungsprozess beteiligt sind, auf das Ergebnis des Entscheidungsprozesses festzulegen. Handelt es sich um die Festlegung der unmittelbar Beteiligten auf Ergebnisse (z. B. auch auf Zwischenergebnisse), dann liegt eine Prozesspromotion vor.

Die Promotion steht in einem engen Zusammenhang mit der Implementierung einer erarbeiteten Lösung. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Implementierung auch als Taktik der Promotion eingesetzt werden kann. Imple-mentierung schafft Tatsachen in der Welt. Sehr oft steuert man die Implementierung einer Lösung bewusst so, dass für die Betroffenen vollendete Tatsachen geschaffen werden. Dies geschieht in der Erwartung, dass sich bei vollendeten Tatsachen die Betroffenen und Beteiligten – wenn auch z. T. widerwillig – anpassen und die Lösung bzw. deren Konsequenzen notgedrungen akzeptieren, ohne dass sie abwandern oder nachträglich Gegenaktionen starten. Die Art und Weise der Implementierung wird so zum taktischen Instrument der Promotion. Die Implementierung als Taktik der Promotion zeigt sich besonders krass im so genannten „Bombenwurf“, auf den man im Zusammenhang mit der empirischen Betrachtung des Wandels von Unternehmen

Page 44: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

44

stößt. Der Bombenwurf bringt dabei zum Ausdruck, dass eine fertig ausgearbeitete Maßnahme ohne weitere Ankündigung in der Unternehmung eingeführt wird. Dieses Schaffen von Tatsachen im Sinne eines „strategischen Bombenwurfs“ bedarf natürlich insbesondere der (Ergebnis-)Promotion.

Nicht selten implementiert man im Interesse der Promotion Teillösungen oder – so weit es möglich ist – Grobkonzepte, ohne die Entwicklung einer detaillierten Ge-samtlösung abzuwarten. Man bewegt sich nicht so lange wie möglich im rein sym-bolischen Raum des Entwurfs und der kritischen Diskussion von Lösungen, sondern setzt die zeitliche Marke der Implementierung bewusst früh an, um den Gesamtprozess voranzutreiben. Hierdurch unterscheidet sich vielfach der „Macher“ vom „spekulativen Theoretiker“.

Eine hohe Implementierungshäufigkeit macht den Gesamtprozess der Bewältigung eines Problems zu einem iterativen Prozess, bei dem die einzelnen Teilschritte (Teillösungen) oft nur inkrementaler Natur sind. Man erhofft sich von diesem Vor-gehen insbesondere eine Erleichterung der Ergebnispromotion der Teillösungen. Jede erfolgreiche Implementierung einer Teillösung schafft zudem „Sperrklinken“, an die sich die Betroffenen möglicherweise gewöhnen. Wenn dies gelingt, wird dadurch die Promotion späterer Teilprozesse erleichtert. In dem Maße, wie man die Implementie-rung vor allem unter dem Gesichtspunkt der Promotion sieht, steigt freilich die Gefahr, dass die weitere Bearbeitung des primären Problems erheblich erschwert wird: Jede implementierte Teillösung kann sich später als irreversible Sackgasse erweisen, aus der man nicht mehr herausgelangt.

Diese Gefahr wird vermindert, wenn es gelingt, die zu bewältigende Aufgabe so zu dekomponieren, dass die Bewältigung der einzelnen Teilaufgaben (Erarbeitung einer Problemlösung und deren Implementierung) trotz laufender Implementierung für einen Fortschritt in der Bewältigung der Gesamtaufgabe führt. Dies ist auch der Grundgedanke der geplanten Evolution die wir im dritten Hauptkapitel kennen gelernt haben. Der Idee der geplanten Evolution liegt die Vorstellung eines hierarchisch strukturierten Problemlösungs- bzw. Planungsprozesses zu Grunde. Auf einer hohen Ebene der Betrachtungsweise wird in groben Umrissen eine Gesamtlösung skizziert, d. h. im Falle einer Systementwicklung eine konzeptionelle Gesamtplanung des zu entwickelnden Systems vorgenommen. Dieser Grobplan ist die Basis für die De-komposition des angestrebten Gesamtsystems in Subsysteme bzw. für die Generierung von Teilaufgaben, die dann in einer Folge von Iterationen sukzessive detailliert geplant und implementiert werden. Die einzelnen Schritte (Teillösungen) werden durch die konzeptionelle Gesamtplanung gesteuert. Jeder einzelne Schritt schafft irreversible Daten, die als Begrenzungen der folgenden Schritte zu beachten sind. Mit jedem begrenzten Einzelschritt wird Erfahrung gewonnen, die ihrerseits die Problemlösungs- und Implementierungsbemühungen der folgenden Schritte fördert, gleichzeitig aber auch Rückwirkungen auf die konzeptionelle Gesamtplanung hat. Letztere wird also im gesamten Prozess der Bewältigung des Problems im Lichte der durch die Implementierung der einzelnen Teilschritte gewonnenen Erfahrungen selbst angepasst.

Soviel zur Promotion von Entscheidungsprozessen bzw. deren Ergebnisse gegenüber Beteiligten und insbesondere gegenüber unbeteiligten Betroffenen. Dem Leser wird nicht entgangen sein, dass sich mit der Einführung der Promotionsaktivitäten in den

Page 45: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

45

Theoriezusammenhang im Bereich der kollektiven Entscheidungsprozesse das wiederholt, was wir bereits im Bereich der Individualentscheidungen im Zusammenhang mit den damit verbundenen „flankierenden“ Aktivitäten der Handhabung sozialer Abhängigkeiten diskutiert haben. Man kann auch sagen, dass es neben der primären Problematik eines Entscheidungsprozesses stets auch eine Vielfalt sekundärer Probleme gibt, deren Bewältigung förderlich für die Bemühungen um die primäre Problematik ist.

Ein abschließender Blick auf die Handhabung komplexer Probleme Unternehmen und Unternehmensverbindungen bewegen sich in einem pluralistischen Feld von Lebens-, Sprach- und Wissensformen. Wir haben es insbesondere nicht nur mit dem Interessenpluralismus, sondern mit einem Kontextpluralismus zu tun. Es ist davon auszugehen, dass es jeweils höchst spezifische Kontexte der Lebens-, Sprach- und Wissensformen sind, in denen Interessen, Forderungen und insoweit auch Problemsichtweisen artikuliert werden. Und dieser Kontextpluralismus erweitert sich noch beträchtlich, wenn auch (Forschungs-)Traditionen bei der Behandlung der Probleme eine Rolle spielen.

Die einzelnen Kontexte ermöglichen jeweils nur partielle Problemsichtweisen. Dies gilt auch, wenn der einzelne Interessent bzw. Beteiligte versucht, vor dem Hintergrund seiner eigenen kontextspezifischen Interessenlage das jeweilige Problem auch unter Einbeziehung der von ihm vermuteten Wünsche und Vorstellungen der anderen zu definieren. Auch in diesem Falle ist die von ihm formulierte Problemdefinition lediglich kontextspezifisch und partieller Natur. Die anderen Beteiligten sehen aus der Sicht ihrer Kontexte das Problem völlig anders.

Jeder Beteiligte liefert also allenfalls eine partielle Problemdefinition. Die Menge der partiellen Problemdefinitionen kann nicht zu einer einheitlichen Problemdefinition zusammengefasst werden, die unter den Betroffenen a priori konsensfähig ist. Komplexe Probleme sind durch die Existenz einer Menge partieller, kontextspezifi-scher Problemdefinitionen charakterisiert.

Komplexe Probleme sind somit Multi-Kontext-Probleme. Die verschiedenen Kontexte liefern partielle Problemdefinitionen, die untereinander nicht recht „zusam-menpassen“. Eine Eliminierung der Komplexität wäre nur möglich, wenn es gelänge, im Zuge der Problemlösungsbemühungen einen Metakontext zu entwickeln, der die unterschiedlichen Einzelkontexte abbilden und so das Problem als simplexes Problem erfassen könnte. Unter Echtzeitbedingungen erscheint dies eher unwahrscheinlich. Hier muss man davon ausgehen, dass Übersetzungen zwischen den verschiedenen Kontexten nur bis zu einem gewissen Grade gelingen und die Komplexität nicht völlig eliminiert werden kann.

Der Prozess der Komplexitätshandhabung wird von den Merkmalen, insbesondere von der Eigenkomplexität des Systems beeinflusst, das gleichsam die Arena des Prozesses bildet. Wir wollen dieses System im Folgenden auch als „Entscheidungsarena“ bezeichnen. Zur Entscheidungsarena gehören alle Personen, die in den Prozess der Problemhandhabung involviert sind, sei es als beauftragte Experten oder als Betroffene, die sich mit Forderungen wirksam einschalten. Dabei ist kennzeichnend,

Page 46: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

46

dass die Entscheidungsarena im Prozess der Komplexitätshandhabung selbst variabel ist. Viele Beiträge zu einer Bewältigung eines komplexen Problems manifestieren sich in einer Veränderung der Entscheidungsarena. Dies kann zumindest teilweise unter der Kontrolle einer Führung stehen, die die Struktur und die Grenzen der Ent-scheidungsarena manipuliert. Die Formen bzw. Taktiken der Komplexitätshandhabung schließen deshalb unter anderem auch bewusste Veränderungen der Entschei-dungsarena selbst mit ein. Dabei ist es typisch, dass diese Taktiken im Verlauf des gesamten Prozesses wechseln können.

Vor diesem Hintergrund können die grundlegenden Möglichkeiten der Komplexi-tätshandhabung zunächst einfach als „Komplexitätsbejahung“ und „Komplexitäts-verneinung“ charakterisiert werden (vgl. zum Folgenden Abbildung 2-10). Bei der Komplexitätsverneinung wird die Entscheidungsarena gleichsam „unter-dimensio-niert“: Es sind mehr Personen betroffen und mehr Kontexte relevant, als Eingang in die Entscheidungsarena finden. Das kann bewusst oder unbewusst geschehen. Im ersten Fall liegt eine Vergewaltigung, im zweiten eine Leugnung der Problemkomplexität vor. Bei der Vergewaltigung wird die Komplexität zwar relativ zutreffend eingeschätzt, die Entscheidungsarena aber bewusst klein gehalten, um den Prozess der Entscheidungsfindung nicht allzu sehr zu verkomplizieren. Leugnung der Komplexität beruht dagegen auf ihrer Unterschätzung; die Beteiligten sind sich dessen gar nicht bewusst, dass es auch andere Kontexte geben könnte, in denen das Problem anders definiert wird. Sie gehen davon aus, dass andere das Problem "eigentlich"

genauso sehen müssten wie sie selber. Beiträge, die nicht in die Problemdefinition passen, werden als "Müll" (im Sinne von Cohen et al. 1976) wahrgenommen und darauf zurückgeführt, dass die anderen offensichtlich nicht "verstanden" haben, worum es "tatsächlich" geht.

Komplexitätdes Problems

Keine Anerkennung derKomplexität

(Komplexitätsverneinung)

Explizite Anerkennung derKomplexität

(Komplexitätsbejahung)

BewußteKomplexitätsverneinung

(Komplexitätsvergewaltigung)

Definition betroffenerKontexte durch die

Betroffenen selbst (echteKomplexitätsbejahung)

Definition betroffenerKontexte in einem Kontext

(unechteKomplexitätsbejahung)

UnbewußteKomplexitätsverneinung(Komplexitätsleugnung)

Page 47: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

47

Abb. 2-10 Formen der Koplexitätshandhabung

Vielfach wird der Prozess der Problemhandhabung so gestaltet, dass er gleichsam zweistufig verläuft. In einer ersten Stufe liegt eine "Quasi-Vergewaltigung" oder Verdrängung der Problemkomplexität vor, die möglicherweise sogar auf einem Konsens der Beteiligten bzw. Betroffenen beruht. Damit wird die Voraussetzung geschaffen, auf einer zweiten Stufe das komplexe Problem z. B. in arbeitsteiliger Weise in Angriff zu nehmen. Auch dies soll noch beispielhaft etwas näher betrachtet werden. Auf der ersten Stufe "einigt" man sich auf einen relativ abstrakten Pla-nungsrahmen mit einer "esperantohaften" Planungssprache. Problemkomplexität wird dabei abstrahiert. Sie wird jedoch nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben. Mit der Abstraktion geht vielfach eine Verarmung der vorhandenen Aussagen einher. Diese Verarmung fördert andererseits Gemeinsamkeiten, wenn viele, vorher vorhandene Unterschiede verschwinden: Je abstrakter die zugrunde gelegten partiellen Kontexte bzw. Problemdefinitionen sind, desto weniger klaffen die Kontexte der betroffenen Personen auseinander und desto eher erreichen diese Personen Konsens über ihr komplexes Problem. Abstraktion bringt Nachfolgeprobleme mit sich, wenn die zunächst nur abstrakte Lösung irgendwann einmal detailliert werden muss. Doch glaubt man, dies in der zweiten Stufe leichter in den Griff zu bekommen, wenn man das in der ersten Stufe im abstrakten Planungskontext nahezu simplexe Problem im Sinne einer Aufgabendekomposition zu bewältigen trachtet. Man zerlegt die durch die abstrakte Problemdefinition umrissene und im Planungsrahmen konkretisierte Aufgabe in Teilaufgaben, die man "Garanten" in arbeitsteiliger Weise als deren "Teilprobleme" überträgt. Dabei liefert die Aufgabendekomposition der ersten Stufe oft nicht viel mehr als "Etiketten" für Entscheidungsarenen, die dann die durch ihre "Etiketten" umrissenen Teilaufgaben durchaus als (nunmehr jedoch beschränkt) komplexe Probleme anzugehen trachten. In dem Maße, wie mit der Aufgabendekomposition der ersten Stufe auch die Zugangsstrukturen zu den Entscheidungsarenen (wenn auch nur vage und mehrdeutig) "definiert" werden, wird das gesamte komplexe Problem ebenfalls "vergewaltigt". In dem Maße aber, wie diese Zugangsstrukturen "durchlässig" und "mehrdeutig" sind, könnte in der zweiten Stufe durchaus die Gegentendenz der Komplexitätsbejahung aufkommen.

Im Falle der Komplexitätsbejahung ist wohl zwischen einer echten und einer unechten Form zu unterscheiden. "Unecht" ist die Komplexitätsbejahung, wenn ein Mächtiger zwar wahrnimmt, dass das Problem aus der Sicht der Betroffenen unterschiedlich und kontextspezifisch gesehen wird, dass sich aber dieser Mächtige dann anmaßt, aus seinem Kontext heraus zu beantworten, wer Betroffener ist. Er bemüht sich dann durchaus darum, die aus seiner Sicht Betroffenen in adäquater Weise einzubeziehen, und insofern liegt in der Tat eine Bejahung der Komplexität vor. "Unecht" ist sie jedoch deshalb, weil es ja sein kann, dass dieser Mächtige aus der Sicht seines Kontextes die Betroffenheit anderer falsch einschätzt. Jemand anderer mag sich aus seiner Sicht als Betroffener wahrnehmen, obwohl der Mächtige selbst diese Betroffenheit nicht erkennt. Natürlich ist auch der umgekehrte Fall möglich. "Echte" Komplexitätsbejahung kann dann eigentlich nur heißen, dass es zugelassen ist, dass die Aktoren selbst im Zuge der Problemdefinition sich Hypothesen über eine mögliche Betroffenheit anderer Aktoren bilden und sie mit diesen Aktoren in Interaktion treten –

Page 48: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

48

und das Spiel wieder von vorne beginnen kann. Es muß eine Art "Selbstorganisation" der Entscheidungsarena ermöglicht werden, was dann unter Umständen einem "Schneeballsystem" gleicht. Dies sei kurz näher erläutert.

Man stelle sich folgendes vor: Ein Mensch A wird durch seine Umwelt in einer Weise beeinflusst, dass er in seinem Kontext das Vorliegen eines Problems wahrnimmt. Im Zuge der Auseinandersetzung mit diesem Problem bildet er kontextspezifische Hypothesen darüber, wer sonst noch von diesem Problem betroffen sein könnte. Mit einem dieser Betroffenen B tritt A in Interaktion. Sowohl A als auch B beschäftigen sich in kontextspezifischer Weise mit dem Problem, wobei sie miteinander interagieren, sich aber zunächst überhaupt nicht bzw. allenfalls nur sehr begrenzt verstehen. Sie produzieren füreinander "Müll". In dem Augenblick, wo A sich in kontextspezifischer Weise mit möglichen Lösungen seines Problems befasst, bildet er sich Hypothesen darüber, wer von der einen oder anderen Problemlösung betroffen sein könnte, sofern diese Lösung realisiert würde. Das gleiche gilt für B, wobei A und B sicherlich nicht die gleiche Menge von Betroffenen wahrnehmen. Wenn nun (aus welchen Gründen auch immer) sowohl A als auch B mit einzelnen der von ihnen kontextspezifisch definierten Betroffenen in Interaktion treten, so öffnen sie damit die bislang durch ihre Interaktionen konstituierte Entscheidungsarena gegenüber weiteren Partizipienten, die ihrerseits wiederum inkommensurablen "Müll" produzieren. Mit anderen Worten: Über die Ausweitung der Entscheidungsarena, die keineswegs durch einen gemeinsamen Plan vorgesehen ist, wird Komplexität produziert. Gleichzeitig wird aber deutlich: Die Entscheidungsarena organisiert sich selbst, freilich zunächst unter Inkaufnahme von rasch zunehmender Komplexität. Nur wenn ein solches "Schneeballsystem" möglich ist, bei dem freilich nicht alle im Laufe der Komplexitätsbejahung immer wieder neu definierten Betroffenen letztendlich zur Arena gehören müssen, liegt ein selbstorganisierender Prozeß vor.

Eine solche echte Komplexitätsbejahung stellt freilich ein höchst erklärungsbedürf-tiges Unterfangen dar, setzt sie doch voraus, dass die am Schneeballsystem Beteiligten ihre Informationen über Randbedingungen und Partizipienten der Entscheidungsarena sowie über das zu handhabende Problem auch an andere Betroffene weitgehend unverändert weiterleiten. Wenn hingegen ein strategisches Handeln der Akteure ins Spiel kommt, bei dem relevante Informationen bewusst vorselektiert, verfälscht oder anderen Betroffenen vorenthalten werden, um deren Zutritt zur Arena zu verhindern, scheitert der selbstorganisierende Prozess. Das Funktionieren einer Selbstorganisation verlangt also von den am Prozess beteiligten Akteure selbst ein komplexitätsbejahendes Verhalten. Verstößt eine hinreichende Anzahl von Beteiligten gegen dieses ethische Minimalprinzip der Selbstorganisation, so kommt das Schneeballsystem frühzeitig, d. h. bevor die relevanten Akteure sich als Betroffene konstituieren können, zum Erliegen.

Dabei schließt ein selbstorganisierender Prozess nicht aus, dass ein ursprünglich Be-troffener sich im weiteren Verlauf aus der Sicht seines Kontextes als nicht mehr be-troffen definiert und wieder ausscheidet. Zudem mögen einige Akteure die ihnen von den anderen angetragene Betroffenheit vor dem Hintergrund ihres eigenen Kontextes gar nicht wahrnehmen oder aber – in Relation zum Grad der Betroffenheit – die Kosten eines Engagements in der Entscheidungsarena für zu hoch bewerten. So wird sich mancher Teilnehmer aufgrund seiner Involvierung in eine Vielzahl von

Page 49: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

49

Entscheidungsarenen und den damit einhergehenden Echtzeitproblemen dazu ent-schließen, im Einzelfall auf eine Partizipation zu verzichten und sich trotz wahrge-nommener Betroffenheit als "Nicht-Betroffener" verhalten. Stattdessen wird dann das Engagement in anderen Arenen mit umso größerer Vehemenz verfolgt. Ein selbstorganisiereder Prozess kann also durchaus dazu führen, dass die Menge der Partizipienten beschränkt bleibt. Ebenso ist es möglich, dass die Partizipienten "auf-nahmefähig" werden für eine Führung, die dem Prozess der beständigen Komplexi-tätsproduktion Einhalt gebietet und auf diese Weise die Erarbeitung von Problemlö-sungen erst ermöglicht. Solche Beschränkungen ergeben sich aber aus dem Prozeß der Selbstorganisation, nicht aufgrund der Apriori-Entscheidung eines Mächtigen.

2.6 Schlussbetrachtung: Das Spektrum der Entscheidungsforschung

Im Mittelpunkt unserer Betrachtung der individuellen und kollektiven Entscheidungsprozesse steht die Formel von der Handhabung von Problemen, die in besonderem Maße relevant ist, wenn es um die „bösartigen“, komplexen Probleme geht. Wir wollen diese Schlussbetrachtung dazu nutzen, unsere Sichtweise im umfassenderen Spektrum der Entscheidungsforschung zu verorten. Dies soll anhand der Abb. X erfolgen, die einen Überblick über die verschiedenen Bereiche und die jeweiligen Entwicklungspfade der Entscheidungsforschung gibt.

Econonomics

Homo Oeconomicus

Entscheidungstheorien

normativ deskriptiv(Theorien der Entscheidungsverhalten)

mathematische Entscheidungs-

forschung

Entscheidungs-logik

Beschränkte Rationalität

„Handhabung von Entscheidungsproblemen“

Methoden und Systemkonzeptionen zur Unterstützung von

Entscheidungsprozessen

andere Quellen

andere Quellen

Abb. 2-11: Das Spektrum der Entscheidungsforschung

Die Entscheidungsforschung hat ihren Ursprung in den Wirtschaftswissenschaften. Schon immer bildete die Analyse des so genannten Rationalprinzips eine Grundlage der mikroökonomischen Theorie. Nach diesem Prinzip versucht ein rational handelnder Mensch (der Homo oeconomicus), seine Ressourcen so zu verwenden und

Page 50: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

50

auf die verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten zu verteilen, dass ein maximaler Zweckerfolg oder Nutzen erreicht wird. Die Versuche, dieses Rationalprinzip zu präzisieren und für die im Wirtschaftsleben vorherrschenden Situationen unvollkommener Informationen anwendbar zu machen, sind als Ursprung der Ent-scheidungstheorie anzusehen. Diese Theorie war anfänglich durchaus als deskriptive Theorie gedacht, die das tatsächliche Entscheidungsverhalten des Menschen erklären sollte. Die Analyse des ökonomischen Entscheidungsverhaltens mündete freilich sehr schnell in eine Theorie der Explikation der Rationalität, die in der Folge immer mehr den Rang einer rein formalen Entscheidungslogik erhielt und insofern einer Art normative Entscheidungstheorie darstellt. Abb. 2-12 gibt die Grundzüge dieser Entscheidungslogik wieder.

Page 51: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

51

Die Sprache der Entscheidungslogik geht von den Begriffen "Alternativen", "Ergebnisse" und "Umweltsituation" aus. Die Alternativen beschreiben jene Aspekte, die unter der Kontrolle des Entschei-dungssubjektes stehen und von ihm beeinflusst werden können. Alle Größen, die der Entscheider nicht unter Kontrolle hat, bilden die von ihm nicht beeinflussbare Umweltsituation. Jeder Alternative sind - je nach Eintreten der Umweltsituation - Ergebnisse (Konsequenzen, Pay-Offs) zugeordnet. Diese Zuord-nung wird durch die Ergebnisfunktion beschrieben. Bezeichnet man mit A die Menge der zur Verfügung stehenden Alternativen (a,A) und mit S die Menge der möglichen Umweltsituationen (s,S), so besagt die Ergebnisfunktion, dass jedem Paar (a, s) eindeutig ein Vektor e zugeordnet ist, dessen Komponenten die nach beliebigen quantitativen und qualitativen Gesichtspunkten beschriebenen Ergebnisse kennzeichnen. Hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Informationen über den Eintritt der jeweiligen Um-weltsituation werden drei Fälle unterschieden: Entscheidungen unter Sicherheit, unter Risiko und unter Unsicherheit. Entscheidungen unter Sicherheit liegen vor, wenn das Entscheidungssubjekt mit Sicherheit weiß, dass nur eine ganz bestimmte Umweltsituation eintreten wird. Bei Entscheidungen unter Risiko wird zusätzlich vorausgesetzt, dass dem Entscheidungssubjekt eine Wahrscheinlichkeitsverteilung über die Menge der möglichen Umweltsituationen gegeben ist. Fehlen dem Entscheidungssubjekt schließlich Vorstellungen über die Eintrittswahrscheinlichkeit der möglichen Umweltsituationen (und damit der Ergebnisse e bei Wahl einer Alternative a) und enthält die Menge S mehr als ein Element, so spricht man von Entscheidungen unter Unsicherheit. Ferner wird die Existenz einer von der konkreten Situation unabhängigen Präferenzordnung an-genommen. Der Entscheider kann bei allen möglichen Paaren von Ergebnisvektoren angeben, ob er einen der beiden Vektoren vorzieht oder aber beiden Vektoren gegenüber indifferent ist. Die Präferenzordnung kann durch eine (ordinale) Nutzenfunktion abgebildet werden. Jedem möglichen Ergebnisvektor ist eine reelle Zahl u (der so genannte "Nutzen") zuzuordnen, so dass gilt: e1 / e2 ø u(e1) ≥ u(e2). Damit ist zum Ausdruck gebracht, dass zunächst jede beliebige reelle Zahl als "Nutzen" des Ergebnisses fungieren kann. Es ist lediglich zu beachten, dass - wenn der Ergebnisvektor e1 einem anderen Ergebnisvektor e2 vorgezogen wird - diesem Ergebnisvektor e1 auch eine größere Zahl als dem Ergebnisvektor e2 zugeordnet wird. Entscheidungsregeln geben schließlich an, wie man von der Präferenzordnung der Ergebnisvektoren zur Präferenzordnung der Alternativen gelangt, die in einer konkreten Entscheidungssituation gegeben sind. Dies ist dann keine triviale Angelegenheit, wenn im Falle unvollkommener Informationen den einzelnen Alternativen nicht eindeutig nur ein Ergebnisvektor zugeordnet ist. In der entscheidungslogischen Diskussion findet sich hierzu eine Vielzahl von Vorschlägen. Bei Entscheidungen unter Risiko wird u.a. die Bayes-Regel vorgeschlagen: ai / aj ø 3 uik A pk ≥ 3 ujk A pk. k k Die Alternative ai wird der Alternative aj vorgezogen, wenn der Erwartungswert des Nutzens von ai größer ist als der Erwartungswert des Nutzens von aj. Bei Entscheidungen unter Unsicherheit, d.h. bei fehlenden Wahrscheinlichkeitsvorstellungen hinsichtlich des Eintritts der möglichen Umweltsituation, wird z.B. die Minimax-Regel als Entscheidungsregel relevant: ai / aj ø min uik ≥ min ujk k k Diese Regel bestimmt, dass jene Alternative zu wählen ist, bei welcher der Nutzen bei Eintritt der jeweils ungünstigsten Situation noch am größten ist.

Abb.2-12: Grundzüge der Entscheidungslogik

Die Kritik des im Sinne der Entscheidungslogik präzisierten Homo Oeconomicus als deskriptive Entscheidungstheorie hat durch Simon (1957), der später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, wesentliche Impulse erfahren. Er stellte die „kognitiven Beschränkungen der Rationalität“ heraus, die die deskriptive Relevanz der klassischen Theorie der Individualentscheidung zweifelhaft erscheinen lassen:

„(1) Rationalität erfordert vollständige Kenntnis und Voraussicht der möglichen Kon-sequenzen, die sich bei jeder Wahl ergeben werden. Tatsächlich ist die Kenntnis der Konsequenzen stets fragmentarisch. (2) Da diese Konsequenzen in der Zukunft liegen, muß bei ihrer Bewertung die Ein-bildungskraft den Mangel an tatsächlich erlebtem Gefühl ersetzen. Werte können jedoch nur unvollkommen antizipiert werden.

Page 52: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

52

(3) Rationalität erfordert eine Wahl zwischen allen möglichen Verhaltensweisen. Tat-sächlich werden jedoch jeweils nur sehr wenige aller möglichen Alternativen erwogen.“ (Simon 1957a, S. 81)

Diesen Ausführungen liegt die Überzeugung zugrunde, dass das Entscheidungssubjekt in der Regel weder die von der traditionellen Theorie unterstellten Informationen besitzt, noch in der Lage ist, die Menge möglicher Entscheidungskonsequenzen zu ordnen und sie auf diese Weise zu bewerten. Sowohl die faktischen als auch die wertenden Entscheidungsprämissen sind nicht in der Form gegeben, wie im Rahmen der geschlossenen Modelle angenommen wird. Später fügt Simon einen weiteren Gesichtspunkt hinzu, der zum zentralen Ansatzpunkt der neueren entscheidungstheoretischen Überlegungen wird, und zwar die beschränkte Fähigkeit des Individuums, Informationen zu verarbeiten und Probleme zu lösen:

"Die Kapazität des menschlichen Verstandes für die Formulierung und Lösung kom-plexer Probleme ist sehr klein im Vergleich zu dem Umfang der Probleme, deren Lösung für die Verwirklichung eines objektiv rationalen Verhaltens in der Realität - oder wenigstens für eine vernünftige Annäherung an eine solche objektive Rationalität - er-forderlich ist." (Simon 1957b, S. 198)

Ausgehend von dieser Kritik hat sich eine sehr umfangreiche deskriptive Entscheidungsforschung herausgebildet, während andererseits die Bemühungen um die Fortentwicklung und die Anwendung der Entscheidungslogik die Basis einer normativen Entscheidungsforschung darstellt. Beide Wege der Entscheidungsforschung haben sich inzwischen erheblich auseinander entwickelt. In Abb. 2-11 werden im Bereich der normativen Entscheidungsforschung einerseits die entscheidungslogische Forschung und andererseits die darauf aufbauende mathemati-sche Entscheidungsforschung unterschieden. Im Bereich der deskriptiven Forschung findet man zunächst eine recht umfangreiche Auseinandersetzung mit den kognitiven Beschränkungen des Individuums und dem damit verbundenen Konzept der „beschränkten Rationalität“. Darauf Bezug nehmend hat sich ein weiterer For-schungsbereich etabliert, der Entscheidungsprozesse als ‚Problemhandhabung’ kon-zeptualisiert. Im Zuge ihrer Entwicklung haben sich die beiden Bereiche der Ent-scheidungsforschung an zunehmend unterschiedlichen Nachbardisziplinen orientiert. Während die normative Entscheidungsforschung in erster Linie auf die philo-sophischen Logiken, die Wahrscheinlichkeitstheorie und die Mathematik Bezug nimmt, finden sich in der deskriptiven Entscheidungsforschung Einflüsse verschiedenster Ansätze der Sozial- bzw. Verhaltenswissenschaften. Besondere Bedeutung haben dabei die Handlungstheorie und die Problemlösungstheorie erlangt. In zunehmendem Maße werden die entscheidungstheoretischen Überlegungen im umfassenden Kontext der vielfältigen Organisationstheorien angestellt.

Die in der Abbildung erwähnte „mathematische Entscheidungsforschung“ entspricht weitestgehend dem, was heute unter der Bezeichnung „Operations Research“ wissenschaftlich behandelt wird. Im Mittelpunkt stehen Entscheidungsmodelle, die konkrete Entscheidungssituationen zum Ausdruck bringen und zu einer (meist) „optimalen“ Bewältigung dieser Situationen beitragen sollen. Im dritten Hauptkapitel haben wir solche Entscheidungsmodelle angesprochen und ihre Bedeutung im Rahmen umfassender Konzeptionen für Managementsysteme herausgearbeitet. Im unteren Teil der Abb. 2-11 ist von Methoden und Systemkonzeptionen zur Unterstützung von Entscheidungsprozessen die Rede, in deren Rahmen Modelle der mathematischen

Page 53: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

53

Entscheidungsforschung zum Einsatz kommen. Das Arsenal solcher Methoden stammt freilich auch aus anderen wissenschaftlichen Quellen. Der Leser denke etwa an das „Brainstorming“, das als Methode zur Gewinnung neuer Ideen vorgeschlagen wird, oder aber auch an Methoden der Konfliktbewältigung.

Abb. 2-11 deutet nun den Bezug der mathematischen Entscheidungsforschung zur for-malen Entscheidungslogik, aber auch zu der deskripitven Theorie der Entschei-dungsprozess an. Zunächst: Der Konstruktion von Entscheidungsmodellen (bzw. von Modellen des Entscheidungsverhaltens) liegen in aller Regel Konzeptionen der entscheidungslogischen Forschung zugrunde. Ein Vergleich der jeweiligen Modellkonstruktionen mit den entscheidungslogischen Konzeptionen zeigt jedoch erhebliche Vereinfachungen bzw. Verkürzungen auf, die bei der Formulierung von Modellen bezüglich der Präferenzen und Ziele sowie der Ungewissheitshandhabung vorgenommen werden. Gemessen an dem Standard der Entscheidungslogik, weisen Modelle zur Unterstützung betriebswirtschaftlicher Entscheidungen einen vielfach als nahezu primitiv zu bezeichnenden Aufbau auf. Die Entscheidungslogik liefert heuristische Hinweise für die formale Konstruktion von Entscheidungsmodellen, die jedoch im Interesse der tatsächlichen Anwendbarkeit mehr oder weniger hinter den Standards dieser Entscheidungslogik zurück bleiben (müssen).

In der mathematischen Entscheidungsforschung wird die Relevanz der deskriptiven Entscheidungstheorie für die Entwicklung und Beurteilung ihrer Modelle und Methoden häufig unterschätzt. So setzt die Beurteilung der Modelle und Methoden noch meist am Modell bzw. der Methode selbst an und analysiert lediglich die ihnen zugrunde liegenden Prämissen („Prämissenkritik“). Dies erscheint nicht hinreichend. Eine fruchtbare anwendungsorientierte Forschung (eben im Sinne der mathematischen Entscheidungsforschung) bedarf (1) eines realistischen Bildes des tatsächlichen Entscheidungsprozesses, die sie zu verbessern trachtet, welches letztlich nur die deskriptive Forschung zu vermitteln vermag. Sie ist (2) in gewissem Sinne auf die deskriptiv-empirische Forschung angewiesen, wenn es darum geht, brauchbare Methoden zu „entdecken“ oder zu „erfinden“. Es ist in diesem Sinne eine gute Forschungsheuristik erfolgreichen Praktikern ihre Methoden „abzuschauen“. Schließlich bedarf sie (3) der deskriptiv-empirischen Forschung, um zu testen, ob die vorgeschlagenen Methoden tatsächlich die in Aussicht gestellten „verbessernden“ Wirkungen auf die Entscheidungsprozesse besitzen. Dies gilt natürlich nicht nur für die Ansätze der mathematischen Entscheidungsforschung, sondern auch für jene Methoden und Systemkonzeptionen, die aus anderen Quellen stammen. Wir meinen natürlich, dass hierzu eine deskriptive Entscheidungstheorie von Nöten ist, die durch die Formel „Handhabung von Entscheidungsproblemen“ gekennzeichnet und im Kontext einer Organisationstheorie entwickelt wird, die unter anderem Entscheidungsprozesse als Episoden im laufenden Geschehen herausstellt.

Diese Organisationstheorie muss insbesondere eine theoretische Grundlage für die Analyse der Führung von Organisationen leisten. Vor deren Hintergrund haben wir im vorliegenden Teilkapitel Entscheidungsprozesse betrachtet, die im Rahmen der Bemühungen einer Führung (im Sinne eines Controlling Overlayer bzw. einer überlagernden Handlungsstruktur) relevant sind. Und das Episodenkonzept weist gleichzeitig auf Aktivitäten im Rahmen der Führung hin, die nicht im Rahmen von Entscheidungsepisoden auftreten. Nun haben wir jedoch großen Wert auf die

Page 54: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

54

Grundthese gelegt, dass Führung ein erklärungsbedürftiges Phänomen ist, man also nicht davon ausgehen kann, dass Unternehmen bzw. Unternehmensverbindungen stets eine (auch umfassende) Führung aufweisen. Es stellt sich dann natürlich die Frage, unter welchen Bedingungen Entscheidungsepisoden so verlaufen, dass als „Nachwirkung“ auch das (zeitweise) Verschwinden eines Controlling Overlayer festzustellen ist. Und umgekehrt können sich im Zuge von Entscheidungsprozessen Konstellationen entwickeln, die zum Entstehen einer Führung in einem bislang „führungslosen“ organisationalen Zusammenhang beitragen. Auf Vertiefungen solcher Fragen müssen wir freilich im vorliegenden Rahmen verzichten.

Kehren wir noch einmal zur Abb. 2-11 zurück. Diese Abbildung stellt die Entwicklung vom Modell des Homo Oeconomicus und dessen Kritik zur deskriptiven Entscheidungsforschung über die Theorie der beschränkt rationalen Entscheidungen hin zu entscheidungstheoretischen Bemühungen dar, die wir durch die Formel der „Handhabung von (komplexen) Entscheidungsproblemen“ zum Ausdruck gebracht haben. Bei der Darstellung der Grundzüge dieser These ist der Begriff der Rationalität nicht mehr aufgetaucht. Hierzu wollen wir abschließend einige Anmerkungen machen.

Man kann eine deskriptive Entscheidungstheorie zunächst ohne Bezugnahme auf die Rationalität entwickeln, um diesen Begriff dann aber in einem zweiten Schritt in den Theoriezusammenhang einzuführen. Der Begriff „Rationalität“ kennzeichnet eine grundlegende Idee oder – um unseren Begriff aus der Lebensweltbetrachtung hier aufzugreifen – ein kulturelles „Deutungs- und Bewertungsschema“. Akteure können und werden solche Deutungsschemata verinnerlichen; sie sind dann mehr oder weniger Ausdruck ihrer Persönlichkeit. Kulturelle Deutungs- und Bewertungsschemata können auch Institutionen verankert sein und sich in Normen bzw. Rollenmuster niederschlagen. Es liegt nahe, in die Betrachtung der Entscheidungsprozesse die Einflüsse von Persönlichkeitsstrukturen und/oder Institutionen einzubeziehen, und auf diese Weise wird dann auch „Rationalität“ eine für die deskriptive Entscheidungsforschung relevante Idee.

Bringt man „Rationalität“ mit kulturellen Deutungs- und Bewertungsschemata in Verbindung, dann entsteht für eine deskriptive Entscheidungstheorie freilich eine zusätzliche Schwierigkeit: Das Etikett „Rationalität“ wird in der wissenschaftlichen Diskussion für eine Vielfalt grundlegender Ideen verwendet und nicht nur auf das beschränkt, was im Zusammenhang mit dem Homo Oeconomicus bzw. der Entscheidungslogik als „rational“ charakterisiert wird. Es ist nicht auszuschließen, dass die unterschiedlichen Rationalitätsideen auch in den kulturellen Vorrat einer Unternehmung gelangen und über die angedeuteten Zusammenhänge in den Entscheidungsepisoden wirksam werden. Letztlich geht es – etwas anders ausgedrückt – in der deskriptiven Entscheidungsforschung um die Frage, was die Akteure jeweils unter „Rationalität“ verstehen und wie sich dieses auf ihr Handeln auswirkt.

Der Leser mag nun aber auch wissen wollen, was wir selbst unter „Rationalität“ verstehen. Tatsächlich verwenden wir – wie in einem späteren Kapitel noch noch zu erläutern sein wird – diesen Begriff in spezifischer Weise ebenfalls, allerdings angesichts der soeben dargestellten Überlegungen mit Zögern und eher subsidiär. Wir sprechen dann von einer „rationalen Praxis“ bzw. von einer „rationalen Lebenswelt“ und von der Möglichkeit, dass sich die Rationalität im Zuge der Entwicklung von

Page 55: 2. Unternehmensführung und die Handhabung von ......3 2.2 Die handelnden Akteure und ihre Entscheidungen Eine Entscheidungsepisode – so haben wir einleitend erläutert – taucht

55

Organisationen entfalten kann. Letztlich meinen wir damit die Möglichkeit, dass eine Praxis in zunehmendem Maße die Förderung von Erkenntnis- bzw. Lernprozessen bewirkt, die den Charakter von „Argumentationen“ (oder genauer: von „hypothesengesteuerten und argumentativ gefilterten Lernprozessen) aufweisen. Man könnte dann auch „nur“ von einer „Argumentationen fördernden Praxis“ sprechen und das Etikett „rational“ vermeiden.