alex demirovic [hrsg]_kritische theorie im gesellschaftlichen strukturwandel_2004

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Die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft sind so zahlreich wie die Diagnosen ihrer Ursachen: Postfordismus, Europäische Integration, So- zialstaatlichkeit sind nur einige der Themen, die von zahlreichen Gesell- schaftstheorien auf je eigene Weise erklärt werden. Doch nur die kritische Gesellschaftstheorie hat ihrem Anspruch nach den Gesamtprozess der ge- sellschaftlichen Formation vor Augen. Der vorliegende Band versucht aus dieser Perspektive viele Veränderungen im Kleinen zusammen mit größe- ren Tendenzen auf den verschiedenen Niveaus der Gesellschaft so zu ver- binden, dass ein Verständnis des inneren und widersprüchlichen Zusam- menhangs der Phänomene, Erfahrungen und Entwicklungen entsteht. Joachim Beerhorst leitet das Ressort Aus- und Weiterbildung für Haupt- amtliche beim Vorstand der IG Metall, Alex Demirovic lehrt Soziologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, Michael Guggemos leitet das Büro des IG Metall-Vorstandes. Kritische Theorie im gesellschaftlichen Strukturwandel Herausgegeben von Joachim Beerborst, Alex Demirovic und Michael Guggemos Suhrkamp

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artículo de Alex Demirovic sobre los cambios en la teoría social crítica

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Die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft sind so zahlreich wie die Diagnosen ihrer Ursachen: Postfordismus, Europäische Integration, So-zialstaatlichkeit sind nur einige der Themen, die von zahlreichen Gesell-schaftstheorien auf je eigene Weise erklärt werden. Doch nur die kritische Gesellschaftstheorie hat ihrem Anspruch nach den Gesamtprozess der ge-sellschaftlichen Formation vor Augen. Der vorliegende Band versucht aus dieser Perspektive viele Veränderungen im Kleinen zusammen mit größe-ren Tendenzen auf den verschiedenen Niveaus der Gesellschaft so zu ver-binden, dass ein Verständnis des inneren und widersprüchlichen Zusam-menhangs der Phänomene, Erfahrungen und Entwicklungen entsteht. Joachim Beerhorst leitet das Ressort Aus- und Weiterbildung für Haupt-amtliche beim Vorstand der IG Metall, Alex Demirovic lehrt Soziologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, Michael Guggemos leitet das Büro des IG Metall-Vorstandes.

Kritische Theorie im gesellschaftlichen

Strukturwandel

Herausgegeben von Joachim Beerborst,

Alex Demirovic und Michael Guggemos

Suhrkamp

-...u. tu Sy

UnWersWasWbtothek̂

edition suhrkamp 2382 Erste Auflage 2004

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2004 Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Ubersetzung, des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Jung Crossmedia GmbH, Lahnau

Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Umschlag gestaltet nach einem Konzept

von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt Printed in Germany

ISBN 3-518-12382-3

1 2 3 4 5 6 - 09 08 07 06 05 04

Inhalt

Vorwort 7

Oskar Negt Kritische Gesellschaftstheorie und emanzipatorische Gewerkschaftspolitik 14

Jürgen Hoffmann Jenseits des Mythos - »Internationale Solidarität« als Herausforderung der Gewerkschaftspolitik im Zeitalter der Globalisierung und Europäisierung 34

Birgit Mahnkopf/Elmar Altvater Formwandel der Vergesellschaftung - durch Arbeit und Geld in die Informalität 65

Ulrich Brand Kritische Theorie der Nord-Süd-Verhältnisse. Krisenexternalisierung, fragmentierte Hegemonie und die zapatistische Herausforderung 94

Hans-Jürgen Bieling Europäische Integration: Determinanten und Hand-lungsmöglichkeiten 128

Bernd Röttger Staatlichkeit in der fortgeschrittenen Globalisierung. Der korporative Staat als Handlungskorridor polit-ökonomischer Entwicklung 153

Susanne Heeg Globalisierung als catch-all-phrase für städtische Veränderungen? Das Wechselverhältnis zwischen global und lokal in Metropolen 178

Christoph Görg

Postfordistische Transformation der Naturverhältnisse . . 199

Harald Wolf Arbeit, Autonomie, Kritik 227

Karola Brede Das Problem der Verfügung über die Individualität der Angestellten. Macht, Unterordnung, Aggression 243

Alessandro Pelizzari Prekarisierte Lebenswelten. Arbeitsmarktliche Polarisierung und veränderte Sozialstaatlichkeit 266

Klaus Dörre Rechte Orientierungen unter Lohnabhängigen. Ursachen, Auswirkungen, Gegenstrategien 289

Bodo Zeuner Widerspruch, Widerstand, Solidarität und Entgrenzung -neue und alte Probleme der deutschen Gewerkschaften . . 318

Joachim Beerhorst Demokratisierung der Wirtschaft - theoretische Desiderate und politische Erinnerung 354

Andrea Maihofer Was wandelt sich im aktuellen Wandel der Familie? 3 84

Roland Roth Party und Protest - zum politischen Gehalt aktueller Jugendkulturen 409

Silvia Kontos Brüche - Aufbrüche - Einbrüche. Die Frauenbewegung und ihre Vorgaben für eine kritische Gesellschaftstheorie 427

Nancy Fräser Feministische Politik im Zeitalter der Anerkennung: Ein zweidimensionaler Ansatz für Geschlechter-gerechtigkeit 453

Alex Demirovic Der Zeitkern der Wahrheit. Zur Forschungslogik kritischer Gesellschaftstheorie 475

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren 500

Vorwort

Die Beiträge des vorliegenden Buches fragen nach der aktuellen Situation der Gesellschaft aus der Perspektive der kritischen Ge-sellschaftstheorie. Viele der beeindruckenden sozialen und politi-schen Veränderungen sind bekannt und auch in ihrer Wider-sprüchlichkeit offenkundig: der Ost-West-Gegensatz und die wechselseitige Bedrohung der Blöcke mit atomarer Vernichtung sind seit mehr als einer Dekade beseitigt - doch hat weltweit die Zahl militärischer Konflikte zugenommen, viele Regionen ken-nen den Zustand eines befriedeten Alltags selbst im begrenzten Sinne von Rechtssicherheit und Zivilität nicht; der Prozess der Entkolonialisierung ist in den vergangenen Jahren nahezu zum Abschluss gekommen - und doch lässt sich beobachten, dass die Länder des Nordens die des Südens wirtschaftlich und politisch weiterhin dominieren und daraus Vorteile ziehen; die Menschen-rechte sind ein wichtiger und weitgehend selbstverständlicher Be-zugspunkt der Weltpolitik geworden, doch die Würde des Men-schen wird gleichwohl durch unerträgliche Arbeitsbedingungen und eine Gefährdung der elementarsten Existenzbedingungen verletzt: Weltweit gibt es Menschenhandel und etwa 20 Millionen Sklaven; viele Millionen Menschen sind von Hunger und Krank-heit bedroht; die Produktivität und der Reichtum der Gesell-schaften sind in den vergangenen Jahren in erheblichem Maße an-gestiegen, gleichzeitig hat sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter geöffnet: Ein winziger Teil von vielleicht drei bis fünf Prozent der Menschheit ist im Besitz von so viel Vermögen wie der Rest der Weltbevölkerung zusammen; in der internatio-nalen Öffentlichkeit werden Weltprobleme wie die Erwärmung der Erdatmosphäre durch Kohlendioxidemissionen, die Zerstö-rung der Ozonschicht und der Wälder, der Artenschwund, die Überfischung des Wassers und die Übernutzung der Landflächen thematisiert und deutlich gemacht, dass der Umbau des westlich-industriellen Expansionsmodells hin zu einer nachhaltigen Wirt-schaftsweise dringend geboten ist - und gleichzeitig besteht die von Wirtschaft und Politik geförderte Erwartung, dass nur ein Mehr-vom-selben, also eine Stärkung des Wachstums in den füh-renden Industriestaaten die Weltwirtschaft stabilisieren könne; in

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einem bislang nicht bekannten Ausmaß verflechten sich Wirt-schaft und Politik global und regional - doch führt dies nicht zu besserer Koordination, Transparenz der Entscheidungen und umfassenderer Beteiligung der Menschen, sondern zu einer Aus-höhlung der nationalstaatlich verfassten Demokratie und zu viel-fachen regionalistischen und nationalistischen Ressentiments; verbilligter Transport und neue Kommunikationstechnologien schaffen die Bedingungen einer alltäglich gelebten Weltgesell-schaft - gleichzeitig aber führen rücksichtsloser Tourismus oder die weiträumige Streuung der Produktionsstandorte zu ökologi-scher Belastung, Zerstörung gewohnter Lebenszusammenhänge und kultureller Übermächtigung. Mit dem globalen Zugriff auf das menschliche Arbeitsvermögen werden die wohlfahrtsstaatli-chen Klassenkompromisse in zahlreichen der OECD-Staaten un-tergraben. Doch zeichnet sich nicht ab, dass dies ein Mehr an Emanzipation und Autonomie mit sich bringt. Denn gingen mit dem Sozialstaat Einschränkungen individueller Lebensentwürfe durch Standardisierung und Normalisierung der Lebensformen einher, so leiden die Individuen heute vielleicht eher an den neuen »Freiheiten« und »Verantwortlichkeiten«: Zeitaufwendig müssen sie sich um Altersvorsorge oder Krankenversicherung kümmern, ohne doch die übergeordneten ökonomischen Prozesse beein-flussen zu können, die all ihre Bemühungen in kurzer Zeit zerstö-ren können. Sie müssen das eigene Leben entwerfen und können dabei kaum auf zeitaufwendige und teure professionelle Beratung und Unterstützung durch Therapie, Fitness oder Rhetorikschu-lung verzichten; dabei sollen sie das eigene Selbst als Kapital be-trachten, das sie als »Ich-AG« zu bewirtschaften und entspre-chend der Nachfrage am Markt optimal zu verwerten verstehen.

Ständige Veränderung ist ein Grundzug der modernen, kapita-listischen Gesellschaft, und die Liste der gegenwärtigen Verände-rungen ließe sich leicht verlängern. Die Wandlungsprozesse, die seit einigen Jahren stattfinden, zeichnen sich jedoch durch die Besonderheit der Intensität, der Tiefe der Veränderung aus. Viele sozialwissenschaftliche Diagnosen stimmen darin überein, dass nach Jahrzehnten eines keineswegs krisen- und konfliktfreien, aber doch relativ stabilen Musters der gesellschaftlichen Ent-wicklung nach dem Zweiten Weltkrieg die Gesellschaft wieder einmal einen Strukturwandel durchläuft - der dauert mittlerweile allerdings selbst schon wieder fast drei Jahrzehnte. Für diesen

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Wandel gibt es objektive Indikatoren wie die geringeren wirt-schaftlichen Wachstumsraten, anhaltende und tendenziell stei-gende Massenarbeitslosigkeit, technologisch-industrielle Verän-derungen, neue Konzepte von Arbeitseinsatz und Produktion, die Reorganisation der Unternehmen und öffentlichen Verwal-tungen. Als ein Indikator kann auch gelten, dass das gesellschaft-liche Selbstverständnis in Unruhe geraten ist und verschieden-artige Auffassungen von Gesellschaft im Umlauf sind: Arbeits-, Risiko-, Erlebnis-, Netzwerk-, Informations-, Wissensgesell-schaft, Postmoderne, Postfordismus oder Empire. Dabei handelt es sich um mal mehr, mal weniger anspruchsvolle theoretische Beiträge zum Verständnis gegenwärtiger Entwicklungstenden-zen. In allen solchen Analysen lassen sich interessante Thesen und fruchtbare Beschreibungen der gegenwärtigen Umbrüche finden. Doch nicht alle diese Ansätze sind kritisch und selbstkri-tisch. Häufig werden einzelne Aspekte und Merkmale der Ent-wicklung überzeichnet und tiefe Veränderungen dort festgestellt, wo keine sind. Ob und wie sehr sich der Charakter der Gesell-schaft verändert, wie das Verhältnis von Kontinuität und Bruch zu bestimmen sei, ist in der gesellschaftstheoretischen Diskus-sion strittig. Denn das Neue und Dynamische widerfährt dem Alten und Stabilen nicht von außen, taucht nicht plötzlich auf, während das Gestern im Schatten der Zeit verschwindet. Der Rhythmus der Änderungen ist unterschiedlich, manches - wie der Umbau der Sozialsysteme - geschieht allmählich und kaum merklich, anderes verläuft ruckartig und schubweise während ei-nes längeren Zeitraums, wieder anderes - wie der Terroranschlag vom 1 1 .9 . 2001 und seine unmittelbaren politischen Folgen - hat den Charakter des plötzlichen Ereignisses und katalysiert Pro-zesse, die sich unterschwellig schon länger angebahnt hatten. Obwohl sich alles ändern mag, kann sich in und durch die Verän-derung das Alte in neuem Gewand reproduzieren. Es ist gera-dezu als eine Existenzbedingung der modernen, kapitalistischen Gesellschaft zu verstehen, dass sie sich erhält, nicht indem sie sta-bil und unveränderlich bleibt, sondern indem sie ihre eigenen Verhältnisse, Institutionen, Lebensformen ständig verändert -nur in ihrer permanenten Selbstrevolutionierung kann sie als mit sich identische fortexistieren. Für die Erfahrung der Individuen wie für das theoretische Selbstverständnis resultiert daraus im-mer ein Spannungsverhältnis. Die Individuen versuchen, sich in

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einer Kontinuität ihrer Erfahrungen als mit sich identiiche Per-sonen zu begreifen; doch ihre Identität verschiebt sich - schlei-chend oder abrupt - und droht ihnen durch soziale Prozesse, de-nen sie mehr ausgesetzt sind, als dass sie sie kontrollieren, durch neue biographische Phasen, durch Brüche in und Entwertungen von Lebenszusammenhängen, ständig zu entgleiten. Die Über-macht der Gesellschaft und ihre Dynamik enteignet die Indivi-duen ihrer Geschichte; die Gesellschaft möchte sich selbst als reine Gegenwart setzen, und wer an die Geschichte der Alterna-tiven erinnert, stört.

Einige der Gesellschaftstheorien übertreiben - manchmal froh, manchmal besorgt - aufgeregt die Veränderung. Demgegen-über betonen andere - und dies klingt gelegentlich langweilig und steril - , dass man sich nicht täuschen lassen solle, weil in langer Sicht gesehen doch alles beim Alten bleibe. Kritische Gcsell-schaftstheorie hat dem Anspruch nach den Gesamtprozess der ganzen Gesellschaftsformation vor Augen. Dies schließt den his-torischen Wandel ein, durch den hindurch sie mit sich identisch bleibt; und ebenso die Eigenlogik wie den inneren Zusammen-hang der jeweils in Grenzen autonomen, eigensinnigen gesell-schaftlichen Handlungssphären. Doch soll das nicht bedeuten, dass - für das Begreifen wie für das Handeln - nur das große Ganze zähle. »Große Themen sagen nichts über die Größe der Erkenntnis. Wenn das Wahre, wie Hegel es will, das Ganze ist, so ist es doch das Wahre nur, wenn die Kraft des Ganzen völlig in die Erkenntnis des Besonderen eingeht.« (Adorno 1977, S. J9) Das Ziel des Erkennens besteht demnach darin, viele Veränderungen im Kleinen und Kleinsten und größere Tendenzen auf den ver-schiedenen Niveaus der Gesellschaft - von psychischen Vorgän-gen, Krankheitsbildern und Erfahrungen über Interaktionen und tägliche Gewohnheiten bis hin zum Verlauf öffentlicher Diskus-sionen, staatlichen Handelns und weltgesellschaftlicher Entwick-lung - wahrzunehmen und in einer Weise zusammenzuführen, dass ein Verständnis des gegenwärtigen Stands der Gesellschaft möglich wird - ein Verständnis des inneren und widersprüch-lichen Zusammenhangs der Phänomene, der Erfahrungen und der Entwicklungen.

In dem vorliegenden Buch haben wir versucht, diesem An-spruch ein wenig gerecht zu werden. Die hier versammelten Auf-sätze spannen einen weiten Bogen von der Globalisierung über

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Region und Nationalstaat, Arbeit und Gewerkschaften bis zu ju-gendlichen Subkulturen, Familie und neuen Formen des Sozial-charakters. Es war uns wichtig, viele Bereiche in den Blick zu neh-men, die Gegenstand kritischer Gesellschaftstheorie sind. Dabei wird selbstverständlich nicht unterstellt, dass damit schon ein Ge-samtüberblick erreicht wäre, noch soll suggeriert werden, die Bei-träge behandelten alles bereits erschöpfend. Es handelt sich um den Versuch, zu einer Einschätzung gegenwärtiger gesellschaftli-cher Strukturveränderungen zu gelangen und denkbare Eingriffs-möglichkeiten zu benennen.

Die Perspektive der Einzelanalysen ist bestimmt und geprägt durch die kritische Gesellschaftstheorie und die mit ihr verbun-denen Ansprüche. Es kann jedoch nicht unterstellt werden, dass die kritische Gesellschaftstheorie in fertiger Gestalt schon vor-liegt. Nach langen Diskussionen über ihren Charakter erscheint es heute nicht einmal als sinnvoll, kritische Theorie zwanghaft durch ein einheitliches Paradigma charakterisieren zu wollen. Auch die Beiträge zu diesem Band zeichnen sich durch verschie-dene theoretische Akzentsetzungen aus und weichen in ihren Einschätzungen, insbesondere was praktische Handlungsaus-sichten anbelangt, voneinander ab. Aber es gehört zum Selbstver-ständnis kritischer Gesellschaftstheorie, dass sie nicht in kanoni-sierter Form der gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenübertritt und sich zum unveränderlichen Maßstab aufwirft. Vielmehr ver-ändert sie sich und ihre Bedeutung mit den gesellschaftlichen Ver-hältnissen, weil auch die kritische Theoriebildung eine Form der gesellschaftlichen Praxis ist. Dabei gehört es zur Erfahrung kriti-scher Gesellschaftstheorie, dass auch viele gute Einzelanalysen keineswegs zwangsläufig zu einem kritisch-theoretischen Begriff des gesamtgesellschaftlichen Prozesses führen. Dies hängt nicht allein mit der Komplexität der Gesellschaft und der Autonomie ihrer einzelnen Bereiche zusammen, die sich nicht einem umfas-senden, einem einzigen Begriff oder einem einheitlichen Gesetz fügen, das alles zusammenhält. Ein zentraler Grund dafür, dass kritische Gesellschaftstheorie immer wieder von neuem ein Ver-such ist und mithin ein Projekt bleibt, ist der Umstand, dass die Gesellschaft selbst widersprüchlich ist und sich nicht vereinheit-lichen kann. Sie kann sich nicht abschließen und auf einen Begriff bringen, sondern bleibt ihrerseits das Ergebnis der Praktiken unterschiedlicher Akteure. Für das Praxisfeld Theorie ist charak-

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teristisch, dass die Naturwüchsigkeit der gesellschaftlichen Ent-wicklungen Gegenstand einer sachlich informierten und kon-kreten Kritik ist, die die Möglichkeiten der Freiheit auszuloten versucht. Es geht um Reflexion und Theorie in kritischer, eingrei-fender, verändernder Absicht.

Kritische Gesellschaftstheorie geht es aber nicht um Dynamik als solche. Im Gegenteil kritisiert sie diese selbst noch als eine Art Naturzwang, solange es nicht eben auch eine Veränderung ist, die am Maßstab reflektierter menschlicher Zwecke die gesellschaftli-che Gesamtverfassung selbst berührt. »Alles schreitet fort in dem Ganzen, nur bis heute das Ganze nicht.« (Adorno 1964, S.623) Die entscheidende Frage ist demnach, wohin der Fortschritt ten-diert, ob sich gesellschaftliche Lebensverhältnisse herausbilden, die die Differenziertheit der Individuen, ihrer Bedürfnisse, ihrer Sensibilität, ihrer Intellektualität, ihre Freiheit, Mündigkeit und Selbstbestimmung besser zur Entfaltung bringen, als dies heute geschieht - ob sich also eine Form der gesellschaftlichen Verhält-nisse bildet, »die in sich selbst kein begrenzendes Prinzip mehr« enthalten und keine Einheit nach solchem Prinzip erzwingen (ebd., S. 6i9f.). So prüft kritische Gesellschaftstheorie die un-gleichzeitigen und widersprüchlichen Entwicklungen darauf, ob, in welchem Maße und auf welche Weise sich universalisier-bare Lebensformen herausbilden, die Freiheit, Vernunft, Genuss, Glück und Muße für alle ermöglichen.

Anlass für diesen Band war eine von der Otto-Brenner-Stif-tung, der Bildungsabteilung der IG Metall und dem Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main durchgeführte Tagung zu den Aufgaben und Perspektiven der kritischen Theorie im gesell-schaftlichen Umbruch. Der größte Teil der Vorträge ist hier do-kumentiert; das Spektrum der Themen und der Autorinnen und Autoren wurde für diese Veröffentlichung aber wesentlich erwei-tert. Ein weitgehend geteiltes Motiv der Tagung war die Bestim-mung der Theorie als Beförderin gesellschaftspolitischer Urteils-kraft - diesem Zweck möge auch das vorliegende Buch dienen.

Für die große Hilfe bei den editorischen Arbeiten danken wir Peter Scheifele.

Frankfurt am Main/Berlin, Juni 2003

Alex Demirovic, Joachim Beerhorst, Michael Guggemos

Literatur

Adorno, Theodor W. (1950): »Spengler nach dem Untergang«, in: ders., Ges. Schriften, Bd. io.i, Frankfurt am Main 1977.

Adorno, Theodor W. (1964): »Fortschritt«, in: ders., Ges. Schriften, Bd. 10.2, Frankfurt am Main 1977.

Oskar Negt Kritische Gesellschaftstheorie und

emanzipatorische Gewerkschaftspoliti k

Wir befinden uns in der höchst merkwürdigen kulturellen Situa-tion, dass die Wiederholung alter Wahrheiten häufig besser ist als die Verkündung neuer, die man so noch nie gehört hat. Mit wach-sender Entwertungsgeschwindigkeit von Überzeugungen und wissenschaftlichen Aussagen werden die Bereiche liegen geblie-bener und ausgegrenzter Probleme immer zahlreicher und um-fangreicher. Es ist allerdings auch ein legitimes Interesse, mit dem Aufwand, sich auf den Weg zu einer Tagung zu begeben, die Er-wartung zu verknüpfen, etwas Preiswertes geboten zu bekom-men. Aber das kann auch darin bestehen, Vergessenes wieder ins öffentliche Bewusstsein zu rücken oder Ansprüche und Tatsa-chen, die Vergangenes bestimmten, auf die Ebene von Gegen-wartsforderungen zu heben. Ich kann über das Verhältnis zwi-schen Erinnerungsvermögen und Aktualität als eine politische Notwendigkeit deshalb so entschieden reden, weil mir mein Blick in die Runde der hier Anwesenden den unmittelbaren Eindruck vermittelt, verstanden zu werden. Denn schon die Anrede bringt mich in Verlegenheit; soll ich sagen: Liebe Kolleginnen, liebe Kol-legen, sehr geehrte Damen und Herren oder vielleicht nicht doch besser liebe Gemeindemitglieder? Es gibt hier kaum einen, den ich nicht mit Namen und persönlich kenne. Das hat für mich et-was Befriedigendes an sich, weil darin auch die große Bedeutung der Erneuerung alter politischer Traditionen und gemeinsamer Erfahrungen zum Ausdruck kommt, die selbst dann überliefe-rungswürdig sind, wenn, wie so häufig bei derartigen Veranstal-tungen, die jüngere Generation in der von uns gewünschten Zahl noch nicht auftritt. Sich über das Verhältnis zwischen Kritischer Theorie und emanzipatorischer Gewerkschaftspolitik neu zu verständigen, bedarf der Erinnerung und gleichzeitig der aktuel-len Erweiterung von Fragestellungen; denn jeder hier im Saal kann bestimmt seine eigene Leidensgeschichte aus den alltäg-lichen Spannungsbereichen von Theorie und Politik erzählen.

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I.

Dass die Beziehungen zwischen Theorie und Praxis prekär sind, ist eine uralte Erkenntnis. Kant hat das für die moderne Zeit noch einmal auf die leicht eingängige Formel gebracht: »Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.« Gemein-spruch nennt er das. Er selber widerlegt diesen Gemeinplatz (lo-cus communis, heute könnte man von Vorurteil sprechen) und wagt sogar die Behauptung, dass nichts praktischer sei als eine gute Theorie. Als eine gute Theorie kann im Kantischen Sinne jener Begründungszusammenhang verstanden werden, der das Herumtappen im Empirischen beendet und pragmatischem wie technisch-praktischem Handeln als Wegweiser und Orientie-rungsnormen dient. Was im Erkennen nicht nur die Realität ver-doppelt, sondern aus ihren eigenen Potentialen Veränderungen und bessere Möglichkeiten zu entwickeln hilft, ist auf überschrei-tende und eingreifende Theoriearbeit angewiesen.

Für gewerkschaftliche Handlungszusammenhänge, die ohne den emanzipatorischen Willen der Humanisierung menschlicher Existenzweise Zweck und Sinn verlieren würden, hat die Her-stellung von theoriegeleiteten Zusammenhängen eine zentrale Bedeutung. Das ist für solche mit Emanzipationsinteressen ver-setzte Handlungsfelder umso wichtiger, je unübersichtlicher und zerfaserter die gesellschaftliche Situation ist, auf die sich beste-hende Herrschaftsstrategien stützen können.

Nun muss das Thema »Kritische Theorie und emanzipatori-sche Gewerkschaftspolitik« keineswegs von Grund auf neu be-handelt werden. Gerade hier in Frankfurt am Main hat es in der Nachkriegszeit enge Berührungsflächen zwischen Gewerkschaf-ten und Theorie gegeben. Es ist gar keine Frage, dass gesellschafts-theoretische Überlegungen im Verlauf der Geschichte nicht nur in das gewerkschaftliche Selbstverständnis eingegangen sind, son-dern in vielfacher Hinsicht auch den Alltag der Bildungsarbeit be-stimmt haben. Große Gewerkschafter wie Otto Brenner sind ge-prägt gewesen durch eine theoretische Sozialisation, die in seinem Falle aus Traditionszusammenhängen der Kantischen Philoso-phie kommen. Leonhard Nelson war der Ziehvater vieler ethi-scher Sozialisten. Selbstverständlich galt dieses Theorieerbe auch für die Marxistischen Gewerkschaftspolitiker, die teilweise im Selbststudium ein faszinierendes Wissen erarbeitet haben. Es

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zeigt sich aber, dass in den letzten Jahren in dem Maße, wie die Ge-werkschaften selber institutionell und ihrem Selbstverständnis nach in kritische Zerreiß-Situationen geraten sind, die Abwehr gegen (scheinbar unpraktische) theoretische Spekulationen ge-wachsen ist.

Diese zunehmende Distanz ist weniger spürbar in dem nach-lassenden Bedürfnis, Gesellschaftstheoretiker, politische Ökono-men oder Sozialisationsforscher in der Gewerkschaftsöffentlich-keit auftreten zu lassen. Ich selbst habe nie so viele Einladungen zu Vorträgen auf Gewerkschaftsforen bekommen, die gesell-schaftliche Zusammenhänge zum Thema hatten, wie in den letz-ten zehn Jahren. Ich bin aber nie den Eindruck losgeworden, dass solche Präsentationen eher als Ersatz oder als Kompensation ei-nes tief empfundenen Orientierungsmangels dienen.

Wollte ich die Folgen meiner eigenen gesellschaftstheore-tischen Öffentlichkeitspräsenz in den Gewerkschaften einschät-zen, so käme eine pessimistische Bilanz heraus. Genau kann man das natürlich nicht einschätzen, aber es ist ein bestimmendes Ge-fühl. Ich meine, es ist eine Situation entstanden, die auf der einen Seite zusammenhängende Theoriebildung dringlicher macht als je zuvor, auf der anderen Seite aber einen durch Orientierungs-schwierigkeiten zusätzlich zementierten Pragmatismus in den Vordergrund treten lässt, der auch die gewerkschaftsfreundlichen Gesellschaftstheoretiker mutlos macht und in eine schwierige Zurückhaltung drängt.

Ich finde es deshalb höchst aktuell und im Grunde überfällig, dass aus dem Traditionsfundus des Frankfurter Instituts für Sozi-alforschung geschöpft wird, um abgerissene Fäden zur Gewerk-schaftspolitik wieder zu knüpfen. Der gemeinsame Workshop von Otto-Brenner-Stiftung und Frankfurter Institut ist ein wich-tiges, symbolisch kaum zu überschätzendes Signal, die Verbin-dungen von Kritischer Gesellschaftstheorie und gewerkschaft-licher Organisationspraxis nicht nur durch arbeiterfreundliche Gesinnungen zu dokumentieren. Ich wage zu behaupten, dass viele Gewerkschafter, nicht zuletzt Otto Brenner, von dieser Art Annäherung einer ursprünglich doch philosophisch geprägten Theorie (die freilich empirische Sozialforschung sehr bald als ein zentrales Element in die Philosophie einbezog) bei praktischen Entscheidungen profitiert haben. Es waren ja auch die personel-len Verbindungen zwischen dem Sozialistischen Deutschen Stu-

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dentenbund, dem Frankfurter Institut für Sozialforschung und der IG Metall über Jahrzehnte sehr intensiv. Es gehört zu den his-torischen Glücksmomenten der Begegnungen von Repräsentan-ten der Arbeiterbewegung und Philosophen, die sich ihrer gesell-schaftlichen Verantwortung bewusst sind, als Adorno in kleiner Begleitung auf dem Höhepunkt der Notstandsopposition ins Frankfurter Vorstandsgebäude marschierte und den IG-Metall-Vorstandsmitgliedern in seinen Worten erörterte, wie notwendig der gewerkschaftliche Massenwiderstand gegen die Notstandsge-setze ist. Ein glücklicher Moment der Verbindung von Theorie und Praxis, weil hier nichts an den spezifischen Logiken ver-wischt wurde; das Handlungsfeld des Philosophen und das des Gewerkschafters musste nicht im jeweiligen Eigengewicht redu-ziert werden, um Übersetzungen zugänglich zu sein. Adorno re-dete wahrscheinlich in demselben Argumentationsduktus wie in seiner Kant-Vorlesung. Alle verstanden die Ernsthaftigkeit seiner Begriffsarbeit zum Notstandsproblem.

Wenn wir heute an diese Traditionen anzuknüpfen versuchen, dann bedeutet das gleichzeitig, dass wir über ganz neue Krisenzu-sammenhänge nachdenken müssen. Gesellschaftspolitische Re-. flexion gewinnt dabei unmittelbar praktische Bedeutung. Den Gewerkschaften sind in dieser Gesellschaft kultureller Erosionen neue Funktionen in der Verteidigung unterdrückter und vielfach zerfaserter Interessen zugewachsen. Sie müssen sich, wie ich meine, mit der Umstrukturierung der betrieblichen Realität und der Vertretungsmacht in dieser Realitätsdimension gleichzeitig darauf einstellen, dass die Interessen der außerbetrieblichen Le-benszusammenhänge ihr gesellschaftlich politisches Mandat er-heblich erweitern werden. Auf keiner dieser Ebenen, ob es nun betriebsnahe Tarifpolitik ist oder politische Bildungsarbeit oder die Mitbestimmungsproblematik über wirtschaftliche Vorgänge, wird künftig eine strategische Lösung möglich sein, die den Blick vom gesellschaftlichen Ganzen abziehen und auf das isolierte Be-sondere konzentrieren kann. Damit meine ich auch: Gesell-schaftstheoretische Reflexionszusammenhänge berühren das ge-werkschaftliche Existenzinteresse. Die Annahme, dies wäre nur störend für eine rationale Praxis, führt in ruinöse Abwege. Kein Einzeltatbestand, kein pragmatischer Vorschlag, keine kurzfris-tige Lösung ist benennbar, die nicht bereits ausprobiert worden wäre, meistens mit dem Erfolg des Scheiterns.

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Es wäre gut, wenn das theoretische Reflexionsfeld möglichst weit geöffnet wird. Meine eigenen Erfahrungen mit gewerk-schaftlicher Bildungsarbeit zeigen, wie stark wir heute darauf an-gewiesen sind, wieder in Zusammenhängen zu denken, die auch kulturelle Dimensionen in die Interessenvertretungen mit ein-beziehen. Was die jüngere Generation betrifft, ist eine solche Feststellung ohnehin fast eine Plattheit. Die Erlebnisweisen der Jüngeren haben eigene Ausdrucksformen, welche die alten geglie-derten sozialen Milieus sprengen, in die man einfach hinein-wächst.

Ich bin aber der Auffassung, dass wir über ein weit gefächertes Reservoir von Untersuchungen und strategischen Experimenten verfügen, um die augenblicklich häufig beklagte Krise der Ge-werkschaften begreifbar zu machen und vielleicht auch sinnvolle Wege und Auswege zu finden. Dazu gehört auch der wissen-schaftliche Produktions-Zusammenhang, der sich mit sehr ver-schiedenen Schwerpunktbildungen in den vergangenen zwanzig Jahren wesentlich verbreitert hat. Von Bedeutung für diese theo-retische Neubestimmung der gesellschaftlichen Krisensituation sind die Arbeiten des Instituts für Sozialforschung, aber auch Un-tersuchungsansätze, die von der Kritischen Gesellschaftstheorie der Frankfurter ausgehen und andere Wege, im Blick auf andere Untersuchungsfelder und andere Methoden, beschreiben. Ich denke dabei an die arbeitssoziologische Forschung des Göttinger Sozialwissenschaftlichen Instituts unter Michael Schuman und Horst Kern, die Milieustudien über Angestellte und Arbeiter in Bremen von Rainer Zoll und Thomas Leithäuser, die aus dem Frankfurter Zusammenhang kommenden Untersuchungen zur Geschlechterproblematik von Regina Becker-Schmidt und Chris-tine Morgenroth, die über »Frauen und Interessenorganisatio-nen« geforscht und einen wichtigen Beitrag zur empirischen und theoretischen Klärung des Geschlechterverhältnisses geliefert ha-ben. Ich will aber ganz andere Arbeiten auch hier einbeziehen, die diese Fragestellungen über das Verhältnis von Theorie und Praxis fortführen und unter veränderten Bedingungen neu thematisie-ren. Axel Honneth bringt die Ethikdiskurse in den Zusammen-hang des Kampfes um Anerkennung zurück und fokussiert damit zentrale Themen der Sozialgeschichte, welche überwiegend diese ethischen Komponenten heute verloren haben.

Das alles wäre fortzusetzen und in die gewerkschaftliche Bil-

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dungsarbeit einzubeziehen, die ja heute von existentieller Bedeu-tung für die Stabilität unserer demokratischen Verhältnisse ist. Die Bekämpfung von Vorurteilen, sozialen und erkenntnismäßigen Verengungen ist eine Alltagsnotwendigkeit geworden; wissen-schaftliche Aufklärungshilfe dafür ist unerlässlich. Wahrschein-lich gewinnt Wissenschaft Attraktivität in dem Maße, wie wir die Reflexionsfähigkeit der Menschen höher einschätzen, aber sie nicht einfach mit Informationen abspeisen, die sie sowieso durch die Medien haufenweise bekommen.

Auch in der Bildungsarbeit ist Herstellung des Zusammen-hangs, und das geht nur mit einem bestimmten Theoriebestand-teil, oberstes Lernziel. Der kollektive Gedächtnisverlust ist dabei ruinös. Zur Erinnerungsfähigkeit beizutragen ist ein wichtiger Punkt in der Neukonstitution von Gesellschaftstheorie und Ge-werkschaftspolitik. Ich möchte ausdrücklich erwähnen, dass die intensive Forschungsarbeit von Alex Demirovic, die sich konzen-triert auf das Aufspüren der Berührungslinien von politischer Ar-beit (z. B. des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, der Gewerkschaften usw.) und der theoretischen Dimension der Frankfurter Schule, ein ganz wichtiger und unverzichtbarer Bei-trag ist für die unbefangene Verknüpfung neuer Beziehungen zwischen Intellektuellen und Gewerkschaften.

II .

Die Erinnerung an diese Traditionsbestände und konkreten Be-rührungsflächen, die es zwischen der Kritischen Theorie und den Gewerkschaften in empirischen Untersuchungsfeldern und in der Bildungsarbeit gegeben hat, ist notwendig, um Orientie-rungsmaßstäbe zu gewinnen, die sinnvolle Übersetzungstätigkeit ermöglichen. Ich habe bereits am Anfang betont, dass die Bezie-hungen zwischen Theorie und Praxis strukturell mit Spannungen aufgeladen sind; selten sind die Handelnden in den jeweiligen Fel-dern bereit, den anderen ohne Vorbehalte in ihrem eigensinnigen Tun anzuerkennen. Das wäre aber nötig, um auch den Blick auf den geschichtlichen Funktionswandel von Theorie und Praxis zu richten und in den Beziehungen zwischen beiden einen lebendi-gen Austausch organisieren zu können. Ich will im Folgenden versuchen, auf der Grundlage des erörterten Traditionsbestandes

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einige Akzente neu zu setzen und für die Theorie, die wesentlich auf Zusammenhang geht, einen erweiterten Arbeitshorizont zu eröffnen.

Einer der missverständlichsten und berühmtesten Sätze Ador-nos lautet: Das Ganze ist das Unwahre. Missverständlich ist er deshalb, weil sich dieser Satz ausdrücklich gegen Hegel richtet, in dessen idealistischer Systemkonstruktion am Ende das Prozess-denken zum Stillstand kommt und der absolute Geist seine fertige Gestalt angenommen hat. Was er nicht damit in Zweifel ziehen wollte, ist der Begriff eines dialektischen Ganzen, das in prozess-hafter Spannung zum Besonderen steht. Nimmt man diese Vor-stellung von einem Ganzen, wie es heute begreifbar wäre, dann wird man sofort auf das Globalisierungsgeschehen gelenkt. Von einer Weltgesellschaft, wie sie sein soll und wie sie auf empirischer Ebene gedacht werden kann, hat man seit dem Zeitalter der Ent-deckungen immer wieder gesprochen; aber dieser Weltbegriff un-terscheidet sich doch grundlegend von dem, was heute unter Glo-balisierung verstanden wird. Man kann davon sprechen, dass die Weltgesellschaft zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte zu einer Kategorie der Realität geworden ist. Eine Art Gleichzei-tigkeit von Ereignis und Übermittlung des Ereignisses auf dem ganzen Globus ist hergestellt. Auch sind die Gefährdungen durch ökologische Balancestörungen und andere Katastrophenherde weder in staatliche noch kulturelle Grenzen einzuschränken. All das erweckt den Eindruck, dass unsere Welt zu einer lebendigen, von gegenseitigem Austausch bestimmten Welt geworden ist.

Aber viele empirisch konstatierbare und für Menschen erfahr-bare Erscheinungen passen nur schlecht zu diesem Einheitsbild. Um die Brüche, Verwerfungen, täuschenden und betrügerischen Elemente in dieser Weltvorstellung erkennbar zu machen und auf Begriffe zu bringen, reicht Einzelforschüng nicht aus; um dieses Dickicht zu durchdringen, ist der Rückgriff auf Kritische Gesell-schaftstheorie unabdingbar. Wem Begriffe wie Realabstraktion, Ideologie, erkenntnisleitende Interessen und andere absolut nichts sagen, der wird mit seiner ökonomischen, politischen oder auch kulturellen Kompetenz wenig ausrichten.

Die Frankfurter Schule lebt von dieser lebendigen Spannung zwischen empirischer Sozialforschung und philosophischer The-oriebildung. Ideologiekritik ist ja ein wesentlicher Bestandteil Kritischer Theorie. Ihr bestimmendes Motiv ist die Aufdeckung

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des Verdrehten, der Unwahrheit in den Freiheitsillusionen, der Ungerechtigkeit im Äquivalententausch. Keineswegs ist Ideolo-giekritik nur darauf gerichtet, den Verschleierungsproduzenten auf die Schliche zu kommen. Es ist bemerkenswert, wie wenig diese im klassischen Ideologiebegriff enthaltene Verschränkung von Wahrem und Falschem das sozialwissenschaftliche Gesche-hen in der gegenwärtigen Gesellschaft bestimmt. Die Globalisie-rungspatrioten nehmen alles wörtlich, wenn über die eine Welt gesprochen wird und sie sich als eine Wirklichkeit darstellt. Es ist aber ein Reflexionsschritt notwendig, der aus der Kraft des Unterscheidungsvermögens schöpft. Was bedeutet im Globa-lisierungszusammenhang Wirklichkeit? Die ökonomischen An-triebskräfte dieser Wirklichkeit können wir ziemlich exakt be-nennen, es ist die kapitalistische Produktionsweise mit allen Wirkungen, die sich daraus ergeben. Aber eine solche Sichtweise reicht nicht aus, die ineinander verschachtelten Wirklichkeits-schichten der Globalisierung zu begreifen und in ihrer Bedeutung für den Weltbegriff einzuschätzen.1 Es ist notwendig den Sub-stanzbegriff Globalisierung in Relationsbegriffe aufzulösen. So gewinnen wir eine Sichtweise, die Wirklichkeitsschichten unter-scheidet. Wenn wir also Globalisierung entzerren, dann gewinnen wir ein ganz anderes Bild von der gegenwärtigen Verfassung der Weltgesellschaft.

Wirklich globalisiert sind nur die Finanz- und Devisenströme; in diesem Sinne repräsentieren die Börsen in New York, Tokio und Frankfurt das, was heute Weltgesellschaft genannt werden kann. Es ist der Geld-Fetisch, dessen Abstraktionsleistung in der Tat so etwas wie eine einheitliche Welt darstellt. Aber Alfred Sohn-Rethel hat mit Recht diese Wirklichkeitsschicht als eine der Realabstraktion bezeichnet, im Unterschied zu bloßen gedankli-chen Abstraktionen, die sich im Kopf abspielen und die Ohn-macht des Kopfes teilen, sind diese so genannten Realabstraktio-nen mächtige und häufig genug gewalttätige Eingriffe in die Wirklichkeit der Menschen. Aber es bleiben Abstraktionen vom wirklichen Arbeits- und Lebenszusammenhang der Menschen. Inzwischen kursieren ja spekulative Rechenkünste, wie weit der Geldfetisch in dieser Wirklichkeitsschicht der Realabstraktionen

i Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam machen, dass ich diese Frage der Realitätsdefinitionen in meinem Buch »Arbeit und mensch-liche Würde«, Steidl Verlag 2001, ausgiebig diskutiert habe.

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von den wirklichen Bewegungen des Warentauschs sich entfernt hat; kommen auf einen Dollar Waren-Wert 70,100,150 oder noch mehr Dollar, die in dieser Gespensterwelt der Börsentransaktio-nen den Globus umklammern? Kein Wunder, dass die Angst um-geht, diese krebsartige Wucherung in dieser Wirklichkeitsschicht könnte eines Tages die Volkswirtschaften auch der entwickelten Länder ruinieren.

Schon die zweite, darunter liegende Wirklichkeitsschicht, die des Welthandels, hat eine ganz andere Struktur. Bekanntlich stützt sich die Freihandelslehre auf ein Theorem von Ricardo, das komparative Kosten bzw. Kostenvorteile zum Inhalt hat. Man sagt, Freihandel komme allen Gesellschaftsordnungen zugute, selbst denjenigen, die Entwicklungsrückstände haben, wenn sie sich auf eine Produktionsspezialisierung einlassen. Dieses Theo-rem ist seit dem 19. Jahrhundert umstritten gewesen. Die im Frei-handel mitgesetzte Arbeitsteilung hat langfristig stets die mit Vorteilen ausgestattet, die über die größeren ökonomischen Res-sourcen verfügten; heute ist das mit Händen greifbar, Afrika südlich der Sahara, vor fünfzehn Jahren mit fast 10 Prozent am Welthandel beteiligt, ist heute auf 0,3 Prozent gelandet. Dieser Kontinent ist im Zuge der Globalisierung praktisch vom Welt-handel abgekoppelt worden.

Aber das ist nicht der einzige Punkt, der mich in diesem Zu-sammenhang interessiert. Wenn ich die Notwendigkeit einer Dif-ferenzierung der Wirklichkeitsschichten im Zuge der Globalisie-rung betone, dann mit dem Erkenntnisblick auf das Prinzip abnehmender Abstraktion. Je weiter wir in den Produktions- und Lebenszusammenhang der Menschen selber eindringen, desto weniger ist globalisiert. Schon die Wirklichkeitsschicht des Wa-renverkehrs enthält Momente von Gegenständlichkeit, die im Milieu der Börse natürlich überhaupt keine Rolle spielen. Ein Tanker, der an der bretonischen Küste zerbricht und Tausende von Litern Ol verliert, hat nichts Virtuelles oder Abstraktes an sich, sondern bedrückende Gegenständlichkeit. Die verspro-chene Weltoffenheit des Handels und die damit einhergehenden Freiheitsillusionen des Weltbürgers brechen sich an den wirkli-chen Verhältnissen; dass sich in Sao Paulo die Zahl der Favelas in den letzten zehn Jahren verdoppelt hat, ist auch Resultat einer Freihandelspolitik, die zur Ruinierung der dortigen Landwirt-schaft geführt hat. Die Landlosen suchen den Weg, brachliegen-

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den Boden zu besetzen und zu bearbeiten, oder sie gehen in die Städte und vergrößern die Elendsquartiere.

Es liegt auf der Hand, dass die Globalisierungspatrioten offen-bar nicht daran denken, die von ihrem Boden vertriebenen Men-schen Brasiliens oder Afrikas in die Europäische Union aufzu-nehmen. Wenn wir die Wirklichkeitsschicht des Arbeitsmarktes nehmen, dann ist hier nicht nur weniger globalisiert als im Handel und im Börsengeschehen, sondern die entwickelten Länder be-ginnen Mauern zu errichten gegen jene, die durch diese neolibe-rale Weltpolitik ihre Existenzgrundlage verloren haben und jetzt, nicht zuletzt vermittelt durch die weltweiten Medien, die gelob-ten Länder aufsuchen wollen.

Es ist doch eine gesellschaftstheoretische Dimension des Nachdenkens erforderlich, um sich dieser verschiedenen Wirk-lichkeitsschichten bewusst zu sein; ich zweifele nicht daran, dass mit dem Begriff der Globalisierung und der damit gesetzten Kon-kurrenznotwendigkeit auf dem Weltmarkt den wirtschaftlich Mächtigen ein Droh- und Erpressungsmittel an die Hand gege-ben ist. Was mit Disembedding (Entkleidung) gemeint ist, richtet sich auf Zerstörung aller die Lebensverhältnisse der Menschen schützenden sozialstaatlichen Einrichtungen, die als zu kostspie-lig empfunden werden. Den politisch Verantwortlichen wird ge-droht, die Unternehmungen in Billig-Lohn-Länder zu transpo-nieren, wenn nicht Steuergesetzgebung und andere Maßnahmen ergriffen werden, um Lohn- und Lohnnebenkosten zu senken. Das eigentlich Neue an dieser Form des Kapitalismus ist nicht die Veränderung seiner Bewegungsgesetze, sondern dass die durch die bürgerliche Gesellschaft und dann durch die Arbeiterbewe-gung als Schutzvorrichtungen der Existenzweise abhängiger Menschen geschaffenen Sicherungen zerbrechen. Bereits Karl Polanyi hat Anfang der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhun-derts gesagt, dass die Gefahr bestehe, Gesellschaft zum bloßen Anhängsel des Marktes zu machen. Das hat heute eine bedrohli-che Form angenommen.

Wo also Gesellschaft nicht mehr als ein Begriff konkreter Tota-lität im Blick der Erkenntnis ist, verschwindet allmählich auch das Interesse an Gesellschaftstheorie. Zwar gibt es heute das Prädikat Gesellschaft in vielfachen Merkmalsverbindungen. Man spricht von Risikogesellschaft, Kommunikationsgesellschaft, Protestge-sellschaft, Erlebnisgesellschaft - aber alle diese Gesellschaftskon-

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struktionen nehmen nur subjektive Verhaltenselemente auf und verallgemeinern sie. Kein vernünftiger Mensch glaubt im Ernst daran, dass der Gesamtzusammenhang Gesellschaft aus der Summe von Risiken, Erlebnissen oder Protesten besteht. Nach wie vor muss produziert werden, was verteilt werden kann. In diesen Gesellschaftskonstruktionen hat sich auch alles verflüch-tigt, was den Begriff der Ideologie ausmacht, als die Verbindung von Wahrem und Falschem. Oder was soziale Klassen konstitu-iert, gesellschaftliche Schichtungen bestimmt. Das ganze Symbol-spektrum von Begriffselementen, die Macht- und Herrschafts-strukturen kenntlich machen, hat sich in der soziologischen Werkstatt derart verdünnt, dass sich Vorurteile breit machen kön-nen: zum Beispiel die Auffassung, die Gesamtgesellschaft sei die Summe der Individuen und Volkswirtschaft die Summe der be-triebswirtschaftlichen Kalkulationen der Einzelunternehmen.

Wenn immer wieder beklagt wird, wie zufällig heute politische Vorschläge zur Lösung des Arbeitsmarktproblems gemacht wer-den, dann ist das auch verursacht durch die allgemein übliche, auch in den Gewerkschaften selbstverständliche Verachtung von Gesellschaftstheorie, deren praktische Bedeutung nur gering ein-geschätzt wird.

Ich habe an einer Kritik der Globalisierung angesetzt, um im Wege abnehmender Abstraktion zu zeigen, dass die keineswegs globalisierten Produktions- und Lebenszusammenhänge der ein-zelnen Gesellschaften Ausgangspunkt für strategische Überle-gungen auch einer emanzipatorischen Gewerkschaftspolitik sein müssen. Die Hilflosigkeit, mit der in gewerkschaftlichen Hand-lungszusammenhängen auf die veränderte Situation des Kapita-lismus reagiert wird, hat häufig auch damit zu tun, dass empirisch gesättigte Theorien als Orientierungsmedien nicht vorhanden sind. Gerade heute ist aber ein Begriff von dem, was sich in der Welt bewegt und eine Art Schein-Ganzes ausmacht, für jede emanzipatorische Praxis unbedingt erforderlich. Die Gewerk-schaften werden, wenn sie nicht erhebliche Kraft auf Krisendeu-tungen richten, auch in praktischen Zusammenhängen nicht aus der Defensive herauskommen. Orientierungslosigkeit ist heute das Zentralproblem jeder emanzipatorischen Praxis.

Es ist deshalb keine Frage von Beliebigkeit, ob eine auf eman-zipative Praxis eingestellte Strategie, also auf Mündigkeit, Auto-nomie, solidarische Hilfe der Menschen gehende Politik, einer

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Orientierung durch Kritische Gesellschaftstheorie bedarf; wo man von einer Wissensgesellschaft redet, als stünden aller Orten Wissenschaftsangebote zur Verfügung, kann eine auf Befreiung gehende Praxis ohne ein eigenes umfassendes Konzept wissen-schaftlicher Erkenntnis überhaupt nicht auskommen. Die Tragö-die der Linken besteht ja nicht zuletzt darin, dass sie sich ihrer Traditionsbestände an emanzipatorischem Wissen, ihrer Begriffe und überschreitenden Denkweisen hat enteignen lassen, ohne et-was Neues an deren Stelle zu setzen.

I I I .

Wer auf den Orientierungsrahmen einer Kritischen Gesellschafts-theorie verzichtet, wird heute freilich nicht allein gelassen; auf dem Wissenschaftsmarkt finden sich zahlreiche Angebote, welche die Wissenslücken füllen. In den Beziehungen zwischen Wissen-schaft und Gesellschaft hat sich in der Tat Entscheidendes ver-ändert. Das gilt insbesondere für die realitätsmächtigen Na-turwissenschaften, die in einer Weise in den gesellschaftlichen Praxiszusammenhang eindringen, dass jetzt selbst die so genann-ten Deutungswissenschaften sich an diesem Objektivitätsmodell messen. Das ist zwar auch früher schon so gewesen, aber die Rea-litätsmacht der Naturwissenschaften ist heute eine ganz andere. Zur Zeit Newtons verliefen mehr oder weniger parallele Entwick-lungslinien von naturwissenschaftlicher Gesetzeserkenntnis und technologischen Anwendungen. Es war die Zeit der Goldkocher, die zwar nicht Gold fanden, aber gelegentlich dieser Forschungs-intensität andere Stoffe, wie z. B. Phosphor. Naturwissenschaftli-che Erkenntnis war überhaupt nicht unmittelbar umsetzbar. Heute ist jedes Wissen technologisch verwertbar. Das ist ein neuer Tatbestand auch für die Theoriebildung, welche die Wissenspro-duzenten vor ganz neue Probleme gesellschaftlicher und ethischer Verantwortung stellt. Der Biogenetiker Erwin Chargaff, der be-teiligt war an der Entschlüsselung der Genome, hat deshalb davor gewarnt, alles wissen zu wollen, was wir wissen können.

Wer sich auf einen Wissenschaftsbegriff aus diesem naturwis-senschaftlich-technischen Zusammenhang einlässt, der wird sehr schnell erfahren, wie die mächtigsten Wirtschaftsinteressen sich am Ende durchsetzen, wenn er keinen Begriff von einer Gesell-

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Schaft hat, wie sie sein soll und aus ihren eigenen Potentialen ent-wickelt werden kann. Gerade die jüngsten Ethikdiskurse über die Stammzellenforschung zeigen, wie ohnmächtig und orientie-rungslos die Menschen sind, wenn sie mit der Bedeutung von Wirtschaftsstandorten und Forschungskonkurrenzen konfron-tiert werden.

Die kulturelle Erosionskrise, in der wir leben, erhöht das Ge-wicht der Deutungswissenschaften erheblich. Man müsste sehr viel mehr Geld in die Erweiterung all jener Bereiche stecken, die es mit politischer Bildung, mit Aufklärung über Krisensituatio-nen und den kulturellen Rang bestimmter Wissensformen zu tun haben. Das Gegenteil ist aber der Fall. Der betriebswirtschaftliche Imperialismus erfasst die Gesamtgesellschaft, und was dabei unter Rationalisierung verstanden wird, ist in der Regel auf Ausgren-zung, auf das Uberflüssigmachen lebendiger Arbeitskraft gerich-tet. So entsteht eine Art kollektive Bewusstlosigkeit im Umgang mit den Krisenherden dieser Welt. Was hat sich in den letzten an-derthalb Jahrzehnten nicht alles verändert? Ganze Imperien sind zusammengebrochen, die dualistische Aufteilung der Welt, in der wir uns gebildet haben, ist zerbrochen, die entwickelten Gesell-schaftsordnungen haben es mit dem chronischen Problem wach-sender Massenarbeitslosigkeit zu tun, im gleichen Zeitraum ist die kulturelle Dimension der Krisendeutungen und der Krisenbewäl-tigungen geschrumpft. In Gesellschaftsordnungen mit überquel-lendem Reichtum, dessen Verteilung zu einem zentralen Problem geworden ist, beschäftigt man sich Tag und Nacht mit betriebs-wirtschaftlichen Kalkulationen, so als würden wir immer noch in einer Mangelökonomie leben. Das erzeugt eine Art von Irrationa-lität in dieser Gesellschaft, die günstigen Nährboden für politisch Rechtsradikale und diffuse Gewaltformen schafft.

So viele Veränderungen und Umbrüche hat es in Friedenszei-ten in den Zentren der entwickelten Welt noch nie gegeben, es sind immer Nachkriegsereignisse gewesen, Kriegsfolgen, die das gesellschaftliche Gefüge zerrütteten. Ist das heute ins Bewusst-sein der Menschen eingedrungen? Ist das verarbeitet? Ist in Bil-dungsprozesse aufgenommen, was mit Identitätsbedrohungen und Entwurzelungen der Menschen passiert ist? Der Bedarf an Deutungen in dieser gebrochenen Situation, die Emile Dürkheim treffend als moralisches Vakuum bezeichnet hat, ist so groß, dass es in der Tat ein kultureller Skandal ist, in welcher Weise nur noch

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nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten der Umsetzbar-keit des Wissens gefragt wird. Wenn jetzt auch noch die Univer-sitäten und Schulen zu Unternehmen umfunktioniert werden, die es nicht mehr mit Lernenden und Sichbildenden zu tun haben, sondern mit Kunden, die man bedient, denen man etwas verkauft, dann ist in unserem Kulturverständnis etwas in Unordnung gera-ten. Denn selbst die Ökonomen, auf die sich der Neoliberalismus heute rückbezieht, auf die invisible hand von Adam Smith und die Theorie der Komparativen Kosten von Ricardo, hatten das Markt-geschehen und die ökonomische Rationalität in selbstverständli-che Traditionsbestände und ethische Normen eingebunden. Adam Smith hatte schließlich einen Lehrstuhl für Moralphiloso-phie, und seine frühe Schrift: »Moral Sentiments« ist jedem Neo-liberalen noch heute zur Lektüre zu empfehlen.

Es wäre jetzt ein Leichtes, in der Erörterung der Krisenherde unserer Gesellschaft fortzufahren. Ich will mich in meinem letzten Teil jedoch darauf beschränken, die Überlegungen und Krisenlö-sungsvorschläge um den zweiten Teil des Titels meines Vortrags zu orientieren, nämlich an Überlegungen zur emanzipatorischen Gewerkschaftspolitik. Wenn heute also so großes Gewicht auf die Markt-Nachfrage gelegt wird, um einem Produkt Bedeutung bei-zumessen oder Förderung zu beanspruchen, was ist heute dann die Nachfrage nach Gemeinwesen} Und wo findet man eine Nachfrage nach existentiellen Deutungen meiner eigenen Situa-tion in dieser Gesellschaft? Wenn beides nicht einfach über den Markt vermittelt werden kann, darf man dann diese Nachfrage-posten als irrelevant für unser gesellschaftliches Zusammenleben betrachten, oder gibt es Institutionen und Personen, die aufgrund ihrer Selbstdefinitionen solche Nachfragen formulieren müssten ?

IV.

Ich kann mir vorstellen, dass gewerkschaftliches Handeln künftig viel stärker als bisher Verantwortung für Angebote übernehmen muss, die auf das Gemeinwesen und den solidarischen Zusam-menhalt der Gesellschaft gerichtet sind. Denn in Zeiten der In-dividualisierungsschübe und einer Tendenz, die immer stärker darauf hinweist, dass der allseitig verfügbare, in ständiger Abruf-bereitschaft stehende und flexible Mensch das Bild von der mün-

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digen Persönlichkeit ersetzt, entstehen wachsende Leerstellen der gesellschaftlichen Bedürfnisse der Menschen, die unter bestehen-den Bedingungen nicht mehr erfüllt werden. Das betrifft auch die demokratische Partizipationsbereitschaft der Menschen, die schrumpft; es hat deshalb eine existentielle Bedeutung für unser demokratisches Gemeinwesen, dass es Instanzen und Organisati-onen in dieser Gesellschaft gibt, die diese unbefriedigten Bedürf-nisse des Menschen als eines gesellschaftlichen Lebewesens er-füllt. Diese nicht erfüllten Bedürfnisse betreffen nicht nur die Ängste um einen Arbeitsplatz oder die soziale Sicherung. Sie sind viel breiter zu fassen, als Interessen der sozialen Anerkennung, der Würde, des Gefühls, in einer Gesellschaft ausgleichender Gerechtigkeit zu leben. In der medialen Wirklichkeit ist von der Thematisierung solcher Fragestellungen wenig zu spüren; es scheint sich gegenwärtig ein kollektives Unbewusstes in unserer Gesellschaft festzusetzen, das die Menschen in den Alltagsprag-matismus einbindet und mit Zirkusvorstellungen beruhigt. Öf-fentlichkeit ist zu einem Zerstreuungsmedium geworden, mit Big Brother, aber auch mit besinnungslosen Talk-Runden, in denen selbst dann auf Entpolitisierung, Zerstreuung und Neutralisie-rung gesetzt wird, wenn es sich um explizit politische Gespräche handelt. Was diese Medienöffentlichkeit heute anbietet, erinnert mich stark an das Klima der Endphase des Römischen Imperi-ums, als der Circus Maximus in dem Maße Mittel verschlang, sich vergrößerte, wie der Römische Senat als Medium der beratschla-genden Rede an Bedeutung verlor. Man sprach in dieser Zeit von den Zirkusparteien, die Farben trugen, rot, blau, gelb, weiß. (Schwarz war, wie Historiker bezeugen, unter diesen Zirkusfar-ben nicht anzutreffen.)

Gewerkschaften als eine Organisationsmacht, die durch Eigen-interesse an die Entfaltung der Emanzipationsbedürfnisse der Menschen anknüpfen muss, kann nicht darauf verzichten, die Er-weiterung der Krisenfelder in unserer Gesellschaft zur Kenntnis zu nehmen und Lösungsantworten vorzuschlagen. Es geht eben nicht nur um eine Krise der Arbeits- und Erwerbsgesellschaft, und es ist nicht Arbeitslosigkeit das einzige Problem, das zu lösen wäre. Gerade in Zeiten, in denen die betriebsförmigen Produkti-onsstätten schrumpfen, muss gewerkschaftliches Handeln sich auch auf jene Bereiche beziehen, die außerhalb der Erwerbstätig-keit liegen; in der Erziehung, in der kulturellen Tätigkeit, in der

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politischen Bildung, in den Medien. Ich will damit nicht einem ge-werkschaftlichen Äbsolutheitsanspruch oder gar totalitären An-maßungen das Wort reden. Aber nehmen wir z. B. die Verschie-bung der Lern- und Erziehungsorte: die fragmentierten Familien sind nicht mehr imstande, Grundausstattungen zu vermitteln. Wo lernen Kinder heute die Tugend der Verlässlichkeit, des Kompro-misses, des Teilens, wenn sie in fragmentierten Familien aufwach-sen und eher das Zuteilen von getrennt lebenden Eltern erfahren als die Notwendigkeit, am Ende von Rangeleien mit Geschwis-tern Kompromisse zu schließen. Wenn die Herstellung solcher Tugenden nicht mehr gesichert in der Familie geschieht, dann übernehmen die Schulen eine Zusatzfunktion, weil ohne solche Eigenschaften und Fähigkeiten die Gewaltpotentiale in der Ge-sellschaft wachsen. Es gehört zu den authentischen Aufgaben der Gewerkschaften, den ganzen Menschen im Blick zu behalten und nicht auf eine Interessenebene zu reduzieren, welche nur die ma-teriellen Lebensbedingungen enthält. Demokratie ist die einzige politisch organisierte Lebensform, die gelernt werden muss; sie stellt sich nicht von alleine her, schon gar nicht unter Bedingungen eines sozial-darwinistisch freigegebenen und hochrangig festge-legten Überlebenskampfes der Menschen. Robert Musil hat in ei-ner sehr schönen kleinen Schrift mit dem Titel »Der deutsche Mensch als Symptom« einmal davon gesprochen, dass der Kapi-talismus so lebensfähig sei, weil er ä la baisse spekuliere, also mit den niedrigsten Eigenschaften der Menschen, die die zuverlässigs-ten sind. Ein Programm der Humanisierung der Lebensverhält-nisse ist der radikale Gegenpol dazu. Diesen Gegenpol aber mit einer Theorie zu besetzen, die als Folie für eingreifende und ver-ändernde Praxis betrachtet werden kann, bedarf heute der Um-wegproduktion; wir haben sie nicht mehr im direkten Zugriff, und auch die schlichte Rückkehr zu Marx'schen Erklärungsmus-tern reicht nicht aus. Denn wir haben es mit einer kulturellen Ero-sionskrise zu tun, in der, wie Dürkheim das bezeichnet hat, alte Werte und Normen nicht mehr unbesehen gelten und neue noch nicht da sind, aber intensiv gesucht werden. Auf diesen gesell-schaftlichen Feldern intensiver Suchbewegung müssen wir prak-tische Antworten finden, die insbesondere für die jüngere Gene-ration lebenswichtig sind. Hierbei verbinden sich dann Theorie und Praxis sehr eng; ich denke da z. B. an die Balance zwischen Nähe und Distanz, an die Schaffung »lebbarer Einheiten«. Das

klingt sehr geheimnisvoll, bezeichnet aber sehr einfache Erfah-rungstatbestände. Viele der politischen Organisationsgebilde er-scheinen den Menschen heute viel zu entfernt, als dass sie sich mit ihnen konkret verknüpfen könnten; andere dagegen sind zu nahe, haben den Status von Kleingruppen oder Zweierbeziehungen. Politische Urteilskraft und Willensbildungen, die dem Gemein-wesen zugute kommen, spielen sich aber in dieser ausgewogenen Dialektik von Nähe und Distanz ab. Es bedarf einer ausreichen-den Distanz zu den Individualproblemen, um sich im gesell-schaftlichen Kontext bewegen zu können, aber es sind auch identifikationsfähige Nähebeziehungen notwendig, welche die Bindungsbedürfnisse befriedigen. Ich behaupte, diese Balance zwischen Nähe und Distanz ist heute gestört. Die gewerkschaft-lichen Großorganisationen ebenso wie die Parteien sind dabei, ge-rade diese Zwischeneinheiten als zu kostspielig wegzurationali-sieren. Dadurch wird ihnen allerdings der lebendige Boden eines solidarischen Loyalitätszuwachses entzogen. Ich kann mich nicht mit der New Yorker Börse, mit Aktienkursen oder mit dem, was in Gewerkschaftsvorständen und in der Regierung passiert, so identifizieren, dass ich das als meine Angelegenheit betrachte, wenn ich nicht auf einer bestimmten Ebene an diesen Entschei-dungen konkret beteiligt bin. Die Orientierungsbedürfnisse vie-ler Menschen richten sich aber auf die Schaffung dieser lebbaren Einheiten, in denen noch mein eigener freier Wille spürbar ist, und die etwas von meiner Eigentätigkeit widerspiegeln.

Was ich unter Kritischer Theorie verstehe, das hat immer diese Doppelfunktion: Auf der einen Seite zu begreifen, was sich in den gesellschaftlichen Krisenzusammenhängen abspielt, worin die einzelnen Krisenfelder bestehen, gleichzeitig aber das begreifbar zu machen, was über das Gegebene hinausreicht, was auf ein Neues und Besseres hinwill. Der innere Wahrheitsgehalt der The-orie wird dabei nicht beschnitten, sondern erst dadurch konstitu-tiert, dass die konkrete Verneinung eines bestehenden schlechten Zustandes den Blick für die besseren Möglichkeiten öffnet.

Natürlich geht es nicht darum, ausschließlich gewerkschaft-liche Handlungsfelder zu benennen. Es gibt keine Universalver-antwortung der Gewerkschaften für die Uberwindung der gesell-schaftlichen Misere. Aber es ist schon die Frage, was z. B. in den Gesundheitsbereichen, in Krankenhäusern, also in den wachsen-den institutionellen Gebilden gemacht werden kann, in denen

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sich ein wilder Kampf höchst partikularer Interessen abspielt. Ich habe feststellen können, dass insbesondere in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Einladungen zugenommen hat, vor Ärz-ten, Psychiatern, also in vielfachen Heilberufen Tätigen, zu reden. Die Organisatoren solcher Kongresse wissen aber, dass ich kein Medizinsoziologe bin und auch sonst aus ihrem speziellen Be-reich nur geringes Wissen habe. Sie wissen im Allgemeinen auch, dass ich mich der Frankfurter Schule zugehörig fühle, meine in-tellektuelle Ausbildung hier erhalten habe. Aber sie wollen auch gar nichts spezifisch Medizinisches wissen, sondern der Orientie-rungsbedarf geht darauf hin, gesellschaftliche Problemlagen zu deuten und ihnen vielleicht zu verdeutlichen, dass individuelle Therapie, gleich ob sie sich auf den Körper oder die Seele bezieht, nicht alles heilen und bewältigen kann, was eine krank machende Gesellschaft, die Alltagsirrationalitäten bewirken.

Dafür ist es allerdings notwendig, einen Schritt weit aus der Selbstbezogenheit der Wahrheitslegitimationen der Kritischen Theorie herauszutreten. Es sind Vereinfachungen und Überset-zungen erforderlich. In einer hoch spezialisierten Wissenschafts-gesellschaft wie der unsrigen bekommt eine solche Überset-zungstätigkeit immer größere Bedeutung. Bloch hat einmal gesagt, wer ist eigentlich auf den absurden Gedanken gekommen, dass sich die Wahrheit immer von selbst durchsetzt. Unwahrhei-ten, Lüge und Betrug setzen sich wohl von alleine durch, aber nicht zusammenhängende Deutungen der Welt, die auf Befreiung der Menschen von selbstverschuldeter oder auch fremdverschul-deter Unmündigkeit gehen.

Ich will dieses Problem der Beziehung zwischen Theorie und gewerkschaftlichem Handeln in wenigen Sätzen zum Schluss mei-ner Rede in einer anderen Dimension noch einmal ansprechen. Es gibt Anfang der sechziger Jahre eine berühmte öffentliche Debatte über den radioaktiven Ausfall zwischen Edward Teller und Linus Pauling. Diese Debatte hat für mich paradigmatische Bedeutung. Teller, einer der Erfinder der Wasserstoffbombe, behauptete, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse würden immer komplexer, so dass am Ende nur noch ganz wenige deren Struktur und deren gesellschaftliche Wirkungen beurteilen könnten. Hinter diesem Argument haben sich in den Auseinandersetzungen über die Atomkraftwerke immer wieder die am Bestehenden orientierten Wissenschaftler und Politiker geschützt. Pauling dagegen sagt, ge-

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rade weil Naturwissenschaften in unserer Welt diese ungeheure Bedeutung für den Lebenszusammenhang der Menschen ange-nommen haben, muss es möglich sein, die Wirkungen naturwis-senschaftlicher Forschung auf politische Alternativen zu bringen, die den Menschen eine Entscheidung ermöglichen, welchen der Wege sie beschreiten wollen. Luhmann hat das als das Verfahren der Komplexreduktion beschrieben; sehr treffend. Wir leben heute unter Verhältnissen von Öffentlichkeit in der solche Kom-plexreduktionen fortlaufend notwendig sind, um aus dem läh-menden Zustand der Bestätigung der gegebenen Herrschaftsver-hältnisse herauszukommen.

Hierbei entsteht ein lebendiger Austausch von Allgemeinem und Besonderem, vom Besonderen ausgehend wird das Allge-meine mit Rückbindungsmöglichkeiten zum Lebenszusammen-hang der Menschen ausgestattet. In meinem Vortrag geht es um die gewiss konfliktreichen Beziehungen zwischen empirisch ge-sättigter Theorie, wie sie in der Frankfurter Schule ausgebildet wurde, und den Perspektiven emanzipatorischer Gewerkschafts-praxis. Ich habe mich auf Stichworte beschränken müssen, möchte aber an diesem Platz nicht versäumen, bestimmte aus der Kritischen Theorie mitentwickelte Ideen in Erinnerung zu rufen, die vergessen, verdrängt, manchmal auch verdreht worden sind, die ich aber für aktueller denn je halte. Ich meine die Entwicklung einer betriebsnahen Bildungsarbeit, die in den sechziger und An-fang der siebziger Jahre mit der Idee des exemplarischen Lernens verknüpft war; es war aber keine bloß theoretische Konzeption der Arbeiterbildung, sondern unsere Vorstellung war ja, in den einzelnen Betrieben Bildungsobleute in Stand zu setzen, Lern-prozesse weiterzutragen, d.h. die gewerkschaftlichen Ideen in den Betrieben zu verankern. Ihr wisst alle, dass schon Anfang der siebziger Jahre, als das Oppositionselement dieser Bildungs-obleutekonzeption erkennbar war, Gewerkschaftsvorstände dar-angingen, nicht nur dieses Bildungskonzept zu verdrängen, son-dern auch die organisatorischen Entwicklungsmöglichkeiten im Betrieb einzuschränken. Ich bin sicher, dass die gewerkschaftliche Gegenmacht in den Betrieben nur gefestigt werden kann, wenn diese Konzeptionen, die im Bloch'schen Sinne ja unabgegolten sind, wieder verlebendigt werden.

Das würde auch Lösungsmöglichkeiten für das Dilemma mit den Flächentarifverträgen ins Auge fassen. Die mit dieser Bil-

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dungskonzeption verknüpfte betriebsnahe Tarifpolitik zu inten-sivieren, würde der befürchteten Partikularisierung des tarifver-traglichen Geschehens entgegenwirken und in dieser Weise sogar den Flächentarifverträgen eine neue Basis schaffen. Politische Bil-dung, die sich stützt auf konkrete betriebliche Erfahrung, könnte heute den Gewerkschaften einen Rückhalt verschaffen, den sie unbedingt benötigen, um die Erweiterung ihres politischen und kulturellen Mandats zu begründen.

Das ist jetzt mein letzter Punkt. Die Verbindung von betriebli-chen und außerbetrieblichen Handlungsfeldern ist in meiner Sicht für die Zukunftsfähigkeit der Gewerkschaften lebenswich-tig. Wenn immer mehr mit immer weniger Anwendung lebendi-ger Arbeitskraft produziert wird, also eine Umverteilung der ge-sellschaftlich notwendigen Arbeit stattfinden muss, dann werden jene Bereiche anwachsen, in denen Gemeinwesenarbeit erforder-lich ist, die nicht überwiegend der normalen Warenproduktion dient, sondern der Bearbeitung der im Zuge des Fortschritts aus-gegrenzten und brachliegenden Problembereiche menschlichen Zusammenlebens. Es ist also eine vertikale und eine horizontale Erweiterung der gewerkschaftlichen Handlungsfelder notwen-dig. Das politische Mandat betrifft die Pflege des Gemeinwesens und den Zusammenhalt des Ganzen; das kulturelle Mandat be-trifft den Zusammenhang der außerbetrieblichen Existenzweise der Menschen, die immer stärker einer sekundären Ausbeutung ausgesetzt ist, wenn sich ihrer keine kollektive Interessenvertre-tung annimmt. Gerade in einer Zeit, in der die Schutzvorrichtun-gen sozialstaatlicher Systeme zerbrechen, haben Gewerkschaften den Auftrag, im Interesse der Sicherung von verbesserten Bedin-gungen für ein Leben in Würde zu sorgen und die sozialen Be-dürfnisse der Menschen ernst zu nehmen.

In dem Beziehungsgeflecht zwischen Kritischer Theorie und emanzipatorischer Gewerkschaftspraxis geht es also um Erweite-rungen auf beiden Seiten. Eine Gesellschaftstheorie, die sich an der Frankfurter Schule orientiert, muss den Weg in die Gesell-schaft wagen, um der erlahmten politischen Bildung wieder neue Impulse zu geben. Auf der anderen Seite können Gewerkschaften nicht mehr alleine den engen Horizont von Arbeitsplatzinteres-sen als einzig vertretbaren Handlungsraum behandeln, sondern werden, um ihrer eigenen Lebensfähigkeit willen, ein gesamtge-sellschaftliches Mandat stärker als bisher wahrnehmen müssen.

Young, Iris Marion (1994): »Geschlecht als serielle Kollektivität«, in: Pühl, Katharina/Institut für Sozialforschung Frankfurt am Main (Hg.), Ge-schlechterverhältnisse und Politik, Frankfurt am Main.

Nancy Fräser Feministische Politik im Zeitalter der

Anerkennung: Ein zweidimensionaler Ansatz für Geschlechtergerechtigkeit

Auch feministische Theorie neigt dazu, dem Zeitgeist zu folgen. In den 1970er Jahren waren die einflussreichsten Gender-Theo-rien der zweiten Welle des Feminismus, der aus der Neuen Linken hervorging, von dem immer noch wirksamen Marxismus geprägt. Ob sie nun der Klassenanalyse zustimmten oder sie ablehnten -diese Theorien haben das Geschlechterverhältnis im Rahmen der politischen Ökonomie zu bestimmen versucht, auch wenn sie be-strebt waren, diesen Rahmen erweitern, um Hausarbeit, Repro-duktion und Sexualität einbeziehen zu können. Die Grenzen des arbeitszentrierten Paradigmas veranlassten alsbald andere Strö-mungen der feministischen Theoriebildung, in den Dialog mit der Psychoanalyse einzutreten. In der angelsächsischen Welt began-nen Theoretikerinnen der Objektbeziehung, Geschlecht (gender) als »Identität« zu konzeptualisieren. Zur gleichen Zeit verwarfen auf dem europäischen Kontinent an Lacan orientierte Theoreti-kerinnen den Ausdruck »Geschlechterverhältnis« als zu soziolo-gisch und ersetzten ihn durch »sexuelle Differenz«. Diese wurde begrifflich im Verhältnis zu Subjektivität und symbolischer Ord-nung bestimmt. In keiner der beiden Strömungen bestand anfangs die Absicht, den Marxismus zu verdrängen. Beide wollten das materialistische Paradigma, das so häufig in einen vulgären Öko-nomismus überging, erweitern und vertiefen. In den 1990er Jah-ren jedoch war die Neue Linke nur noch eine Erinnerung, und der Marxismus erschien vielen als tot. In diesem Kontext nahm das, was nach Relevanzgesichtspunkten des Marxismus begonnen worden war, eine andere Wertigkeit an. Wie viele andere Intellek-tuelle, die vom Marxismus Abschied nahmen, folgten auch femi-nistische Theoretikerinnen der »kulturalistischen Wende«. Von einigen abgesehen, die so weitermachten wie bisher, verstanden selbst jene, die die Psychoanalyse ablehnten, nun Geschlecht als Identität oder »kulturelle Konstruktion«. Entsprechend ist heute Geschlechtertheorie ein Bereich der Cultural Studies. So wurden

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ihre historischen Verbindungen zum Marxismus, aber auch allge-meiner zur Gesellschaftstheorie und politischen Ökonomie schwächer.

Wie dies immer der Fall ist, folgen die Veränderungen der Theorie denen der Politik. Die während der vergangenen dreißig Jahre stattfindende Verschiebung von einem quasi-marxistischen, arbeitszentrierten Verständnis des Geschlechts zu einer auf Iden-tität und Kultur beruhenden Konzeption fiel mit einer parallelen Verschiebung in der feministischen Politik zusammen. Hatte die Generation der '68er neben anderen Erwartungen auch die, die politische Ökonomie zu restrukturieren, um die geschlechtsspe-zifische Arbeitsteilung zu überwinden, so formulierten spätere Feministinnen andere, weniger materielle Ziele. Manchen ging es zum Beispiel um die Anerkennung der sexuellen Differenz, an-dere befassten sich lieber mit der Dekonstruktion des kategoria-len Gegensatzpaares männlich/weiblich. So verschob sich das Gravitationszentrum der feministischen Politik. Stand früher Ar-beit und Gewalt im Mittelpunkt der Geschlechterkämpfe, so dre-hen sie sich seit einigen Jahren um Identität und Repräsentation. Die Folge war, dass die sozialen den kulturellen Kämpfen, die Po-litik der Umverteilung der Politik der Anerkennung untergeord-net wurden. Das war, um es noch einmal zu sagen, ursprünglich nicht beabsichtigt. Vielmehr war von kulturalistisch und dekons-truktivistisch orientierten Feministinnen angenommen worden, dass eine feministische Politik der Kultur und die Kämpfe um so-ziale Gleichheit sich wechselseitig verstärken würden. Aber diese Annahme fiel dem umfassenderen Zeitgeist zum Opfer. In der »Netzwerkgesellschaft« passte die feministische Wende hin zur Anerkennung auf engste mit einem hegemonialen Neoliberalis-mus zusammen, der nichts mehr wünscht als eine Unterdrückung der Erinnerung an den Sozialismus.

Selbstverständlich ist der Feminismus von dieser Entwicklung keineswegs allein betroffen. Im Gegenteil, die jüngste Geschichte der Geschlechtertheorie reflektiert eine grundlegendere Verschie-bung in der Grammatik politischer Geltungsansprüche. Auf der einen Seite haben Kämpfe um Anerkennung überall deutlich zu-genommen - man denke nur an die Auseinandersetzungen um Multikulturalismus, Menschenrechte oder nationale Autonomie. Auf der anderen Seite befinden sich Kämpfe um eine egalitäre Verteilung im Niedergang - man denke nur an die Schwächung

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der Gewerkschaften und die Eingliederung der Arbeiter- und so-zialistischen Parteien in die Strategie des »dritten Wegs«. Das Er-gebnis ist eine tragische historische Ironie. Die Verschiebung von der Verteilung zur Anerkennung fand gerade in dem Augenblick statt, in dem unter der Führung der USA der Kapitalismus be-gann, eine aggressive Globalisierungsstrategie zu verfolgen und die ökonomische Ungleichheit zu verschärfen (vgl. ausführlicher Fräser 2001; Fräser 2003).

Demgemäß hatte diese Verschiebung für den Feminismus zwei Seiten. Auf der einen Seite repräsentiert die Wende zur Anerken-nung eine Ausdehnung des Geschlechterkampfes und ein neues Verständnis von Geschlechtergerechtigkeit. Diese wird nicht län-ger auf Fragen der Verteilung beschränkt, sondern umfasst auch die Themenbereiche der Repräsentation, Identität und Differenz. Das Ergebnis ist ein großer Fortschritt über reduktionistische ökonomische Paradigmen hinaus, die Schwierigkeiten damit hat-ten, Leid, das nicht in der Arbeitsteilung, sondern in androzentri-schen Mustern kultureller Werte seine Wurzeln hatte, begrifflich zu fassen. Auf der anderen Seite versteht es sich jedoch nicht mehr von selbst, dass feministische Kämpfe um Anerkennung dazu bei-tragen, die Kämpfe um egalitäre Verteilung zu vertiefen und zu bereichern. Vielmehr können sie dazu beitragen, gerade die letz-tere Form der Kämpfe im Kontext eines vorherrschenden Neoli-beralismus zu verschieben. In diesem Fall sind die jüngsten Ge-winne der Geschlechtertheorie eng mit einem tragischen Verlust verflochten. Anstatt zu einem umfassenderen, reicheren Para-digma zu gelangen, das sowohl Verteilung als auch Anerkennung einschließt, hätten wir ein verkürztes Paradigma für ein anderes eingetauscht: für den Ökonomismus den Kulturalismus. Das Er-gebnis wäre ein klassischer Fall von kombinierter und ungleicher Entwicklung: die bemerkenswerten neueren Fortschritte des Fe-minismus auf der Achse der Anerkennung würden mit einem Stillstand, wenn nicht sogar mit großen Rückschritten auf der Achse der Verteilung zusammenfallen.

So sehe ich die gegenwärtigen Tendenzen. Im Folgenden werde ich einen Ansatz für Geschlechtertheorie und feministische Poli-tik skizzieren, der auf diese Diagnose antwortet und verhindern möchte, dass sie sich vollständig bewahrheitet. Im ersten Teil werde ich vorschlagen, die Geschlechteranalyse so breit anzule-gen, dass für das gesamte Spektrum feministischer Themen Platz

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ist, solche, die für den alten sozialistischen Feminismus, und sol-che, die für den kulturalistischen Feminismus zentral sind. U m diese Analyse zu vervollständigen, werde ich im zweiten Teil ei-nen entsprechend breiten Begriff von Gerechtigkeit entwickeln, der Verteilung und Anerkennung umfasst. Drittens werde ich ei-nen Begriff von Anerkennung vorstellen, der nicht identitär ist und sich synergetisch mit Verteilung verbinden kann. Viertens schließlich werde ich einige praktische Probleme behandeln, die sich stellen, wenn wir über institutionelle Reformen nachdenken, die gleichzeitig auf Ungleichverteilung und Missachtung reagie-ren. In allen vier Teilen werde ich mit solchen feministischen An-sätzen brechen, die sich ausschließlich auf Geschlecht (gender) konzentrieren. Ich betrachte Geschlechterkämpfe vielmehr als ei-nen Strang in einem breiteren politischen Projekt, das darauf zielt, demokratische Gerechtigkeit quer zu den vielfältigen Achsen der sozialen Differenzierung zu verwirklichen.

i. Zur Revision der Geschlechtertheorie: eine zweidimensionale Analyse

Soll vermieden werden, die feministische Problematik zu verkür-zen, so dass sie unbeabsichtigt mit dem Neoliberalismus zusam-menzustimmen scheint, müssen Feministinnen den Begriff des Geschlechts überprüfen. Gebraucht wird eine breite Konzeption, die in der Lage ist, wenigstens zwei Gesichtspunkte zusammen-zubringen. Auf der einen Seite muss eine solche Konzeption die arbeitszentrierte Problematik berücksichtigen können, die mit dem sozialistischen Feminismus, auf der anderen Seite muss sie der kulturzentrierten Problematik Raum gewähren, die mit den vermeintlich »postmarxistischen« Strängen der feministischen Theoriebildung verbunden ist. Wollen Feministinnen sektiereri-sche Formulierungen zurückweisen, die diese zwei Problemati-ken als antithetisch erscheinen lassen, müssen sie einen Ansatz entwickeln, in dem Geschlecht beide umfasst. Wie noch deutlich werden wird, bedeutet dies, den geschlechtlichen Charakter der politischen Ökonomie und den Androzentrismus der kulturellen Ordnung in einer Weise theoretisch zu fassen, dass jede Reduk-tion des einen Aspekts auf den anderen vermieden wird. Zur glei-chen Zeit müssen zwei analytisch unterscheidbare Dimensionen

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des Sexismus theoretisch bestimmt werden: die der Verteilung und die der Anerkennung. Das Ergebnis ist eine zweidimensio-nale Konzeption des Geschlechts. Nur eine solche Konzeption ist einer geeigneten feministischen Politik in der gegenwärtigen Pe-riode förderlich.

Ich möchte das erklären. Der Ansatz, den ich vorschlage, be-trachtet Geschlecht gleichzeitig in zwei Perspektiven. In der ei-nen Perspektive hat Geschlecht Affinitäten zu Klasse, in der an-deren zu Status. Jede der beiden Perspektiven richtet den Fokus auf einen wichtigen Aspekt der Unterdrückung von Frauen; keine von beiden wäre allein schon ausreichend. Ein vollständiges Verständnis ist nur möglich, wenn beide Perspektiven zusam-mengebracht werden. Nun erscheint Geschlecht als die kategori-ale Achse, die zwei Dimensionen der sozialen Ordnung, die Di-mensionen der Verteilung und der Anerkennung, verbindet.

Aus der Perspektive der Verteilung erscheint Geschlecht als Differenzierung, die, ähnlich wie dies bei Klassen der Fall ist, in der ökonomischen Struktur der Gesellschaft wurzelt. Geschlecht ist ein Organisationsprinzip der Arbeitsteilung und liegt der Tei-lung zwischen bezahlter »produktiver« und unbezahlter »unpro-duktiver« und Hausarbeit zu Grunde. Frauen wird die Verant-wortung für diese letztere Art von Arbeit zugeordnet. Geschlecht strukturiert auch die Teilung innerhalb der bezahlten Arbeit: Auf der einen Seite finden sich hoch bezahlte, männlich dominierte Industrie- und Facharbeiterbeschäftigungen, auf der anderen Seite Niedriglohnstellen vor allem für Frauen, die im haushaltsna-hen Dienstleistungsbereich beschäftigt sind. Das Ergebnis ist eine ökonomische Struktur, die geschlechtsspezifische Formen der Verteilungsungerechtigkeit erzeugt.

Demgegenüber erscheint aus der Perspektive der Anerken-nung Geschlecht als eine Differenzierung von Status, die ihre Grundlage in der Statusordnung der Gesellschaft hat. Gender co-diert die allgegenwärtigen kulturellen Muster der Interpretation und Bewertung, die für die Statusordnung als solche zentral sind. So ist eines der wesentlichen Merkmale der Geschlechterunge-rechtigkeit der Androzentrismus. Es handelt sich um ein institu-tionalisiertes Muster kultureller Werte, das Züge privilegiert, die mit Männlichkeit assoziiert werden, während alles entwertet wird, das als »weiblich« codiert ist: paradigmatisch - aber nicht ausschließlich - stehen dafür Frauen. Diese alles durchdringen-

den institutionalisierten androzentrischen Wertmuster struktu-rieren in breitem Umfang die sozialen Interaktionen. Ausdrück-lich sind sie auf vielen Gebieten der Gesetzgebung (wie Familien-oder Strafrecht) kodifiziert und bestimmen die rechtliche Kon-struktion von Privatheit, Autonomie, Notwehr und Gleichheit. Sie sind tief in viele Bereiche der Regierungspolitik (einschließlich der Politik im Bereich der Reproduktion, Immigration oder des Asyls) und maßgebenden Professionspraktiken (einschließlich Medizin oder Psychotherapie) eingeschrieben. Androzentrische Wertmuster durchdringen auch die Populärkultur und die All-tagsinteraktionen. Ein Ergebnis ist, dass Frauen geschlechtsspezi-fische Formen der Statusunterdrückung zu erleiden haben. Das schließt sexuelle Belästigung, Vergewaltigung und Gewalt in der Ehe ein; ebenso die trivialisierende, objektivierende und herab-würdigende Darstellung von Frauen in den Medien; die Gering-schätzung im Alltag; den Ausschluss aus und die Marginalisie-rung in der Öffentlichkeit und in diskutierenden und beratenden Körperschaften. Frauen werden staatsbürgerliche Rechte vorent-halten. Alle diese Verletzungen sind Ungerechtigkeiten im Sinne von Missachtung; sie sind relativ unabhängig von der politischen Ökonomie und sind nicht bloß Uberbauphänomene. Sie können folglich nicht allein durch Umverteilung überwunden werden, sondern bedürfen der zusätzlichen Abhilfe durch Anerkennung.

Werden beide Perspektiven kombiniert, dann wird Geschlecht als zweidimensionale Kategorie erkennbar. Sie hat einen poli-tisch-ökonomischen Aspekt, der sie in den Kontext der Ver-teilung rückt, und einen kulturell-diskursiven Aspekt, der sie gleichzeitig in den Zusammenhang der Anerkennung stellt. Keine der beiden Dimensionen ist bloß der indirekte Effekt der jeweils anderen, wenn sie selbstverständlich auch miteinander interagie-ren. Aber die geschlechtsspezifische Verteilungsungerechtigkeit ist nicht einfach ein Nebenprodukt der Statushierarchie; und ebenso wenig ist die geschlechtsspezifische Missachtung als ganze ein Nebenprodukt der ökonomischen Struktur. Jede der Dimen-sionen hat vielmehr eine gewisse Unabhängigkeit von der ande-ren. Deswegen wird auch keines der beiden Probleme indirekt durch Gegenmittel bewältigt, die sich jeweils auf die andere Di-mension beziehen. Es ist eine offene Frage, ob die Dimensionen Verteilung und Anerkennung die gleiche Bedeutung haben. Soll aber geschlechtsspezifische Ungerechtigkeit beseitigt werden,

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muss auf alle Fälle sowohl die ökonomische Struktur als auch die Statusordnung der gegenwärtigen Gesellschaft geändert werden. Veränderungen in einer Dimension allein wären nicht ausrei-chend.

Der zweidimensionale Charakter des Geschlechts zerstört die Idee eines Entweder-Oder zwischen einer Politik der Verteilung und einer Politik der Anerkennung. Diese Konstruktion unter-stellt, dass Frauen zu einer Klasse gehören oder eine Statusgruppe sind, aber nicht beides; dass das Hilfsmittel entweder Umvertei-lung oder Anerkennung ist, aber nicht beides. Geschlecht löst, wie deutlich wird, diese ganze Serie von falschen Antithesen auf. Es ist eine Kategorie, die Status und Klasse verbindet. Die Ge-schlechter«differenz« wird gleichzeitig durch ökonomische Un-terschiede und durch institutionalisierte Muster kultureller Werte konstruiert; ungleiche Verteilung und Missachtung sind grundle-gend für Sexismus. Die Implikation für feministische Politik ist klar. Um die Unterdrückung der Frauen zu bekämpfen, ist ein Ansatz nötig, der die Politik der Verteilung mit der Politik der Anerkennung verbindet.1

2. Die Gleichstellung der Geschlechter -eine zweidimensionale Konzeption von Gerechtigkeit

Um einen solchen Ansatz zu entwickeln, bedarf es einer Konzep-tion von Gerechtigkeit, die so breit und umfassend angelegt ist wie die des Geschlechts. Eine solche Konzeption muss auch we-nigstens zwei Mengen von Interessen entsprechen. Auf der einen

1 Geschlecht ist in dieser Hinsicht nicht ungewöhnlich. Auch »Rasse« ist eine zweidimensionale Kategorie, eine Zusammensetzung von Status und Klasse. Gegenüber orthodoxen ökonomistischen Theorien sollte auch Klasse am besten als zweidimensional verstanden werden. Selbst Sexualität, die auf den ersten Blick als der paradigmatische Fall einer reinen Anerken-nung erscheint, hat eine unbestreitbare ökonomische Dimension. So wird deutlich, dass möglicherweise alle Achsen der Ungerechtigkeit in der wirk-lichen Welt zweidimensional sind. Möglicherweise findet sich bei ihnen al-len Ungleichverteilung und Missachtung derartig, dass keine dieser Unge-rechtigkeiten indirekt beseitigt werden kann, sondern jede eine besondere Aufmerksamkeit verlangt. Es ist deswegen eine ganz praktische Frage, dass möglicherweise jeder einzelne Fall Umverteilung und Anerkennung erfor-derlich macht, um Ungerechtigkeit zu überwinden (vgl. dazu ausführlicher Fräser 2003).

Seite muss sie die traditionellen Themen der Theorien distributi-ver Gerechtigkeit berücksichtigen können, also Armut, Ausbeu-tung, Ungleichheit und Klassenunterschiede. Auf der anderen Seite muss sie auch Themen umfassen, die neuerdings von Philo-sophien der Anerkennung herausgearbeitet werden, vor allem Geringschätzung, kultureller Imperialismus und Statushierar-chie. Da eine solche Konzeption sektiererische Formulierungen ablehnt, in denen Verteilung und Anerkennung als miteinander unvereinbare Gerechtigkeitsauffassungen erscheinen, muss sie beide zusammenführen. Dies bedeutet, wie wir noch sehen wer-den, dass Verteilungsungleichheit und Missachtung theoretisch durch den Bezug auf einen gemeinsamen normativen Standard bestimmt werden, ohne die eine auf die andere zu reduzieren. Das Ergebnis ist, um es noch einmal zu sagen, eine zweidimensionale Konzeption von Gerechtigkeit. Nur eine solche Konzeption kann das ganze Ausmaß sexistischer Ungerechtigkeit erfassen.

Die Konzeption der Gerechtigkeit, die ich vorschlage, ist um das Prinzip der partizipatorischen Gleichstellung zentriert. Soll sie diesem Prinzip gerecht werden, sind soziale Arrangements nö-tig, die allen (erwachsenen) Gesellschaftsmitgliedern erlauben, als Ebenbürtige zu interagieren. Damit partizipatorische Gleichstel-lung möglich ist, müssen wenigstens zwei Bedingungen erfüllt sein. Zunächst muss die Verteilung materieller Ressourcen ge-währleisten, dass alle, die partizipieren, unabhängig sind und eine »Stimme« haben. Diese »objektive« Bedingung schließt Formen und Stufen der ökonomischen Abhängigkeit und Ungleichheit aus, die die partizipatorische Gleichstellung verhindern. Es sind also soziale Arrangements ausgeschlossen, die Deprivation, Aus-beutung und deutliche Disparitäten hinsichtlich Vermögen, Ein-kommen und Freizeit institutionalisieren und damit einigen Indi-viduen die Mittel und Gelegenheiten verweigern, mit anderen als Ebenbürtigen zu interagieren. Im Unterschied dazu ist die zweite Bedingung partizipatorischer Gleichstellung »intersubjektiv«. Sie verlangt, dass institutionalisierte Muster kultureller Werte den gleichen Respekt für alle Teilnehmerinnen ausdrücken. Diese Be-dingung schließt institutionalisierte Wertmuster aus, die systema-tisch einige Kategorien von Individuen und Merkmale, die mit ih-nen verbunden werden, herabsetzen. Ausgeschlossen sind also institutionalisierte Wertmuster, die einigen Individuen den Status eines vollwertigen Interaktionspartners vorenthalten - sei es, in-

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dem sie ihnen im Übermaß »Differenz« zuschreiben, sei es, dass sie ihre Besonderheit nicht anerkennen.

Beide Bedingungen sind für partizipatorische Gleichstellung notwendig, keine von beiden allein reicht aus. Die erste lenkt die Aufmerksamkeit auf Belange, die traditionell mit der Theorie dis-tributiver Gerechtigkeit verbunden sind, insbesondere solche, die die ökonomische Struktur der Gesellschaft und die ökonomisch definierte Klassenungleichheit betreffen. Die zweite richtet den Fokus auf Interessen, die in jüngster Zeit von der Philosophie der Anerkennung betont werden, also insbesondere solche, die die Statusordnung der Gesellschaft und die kulturell definierten Sta-tushierarchien betreffen. Doch keine der beiden Bedingungen ist bloß ein abgeleiteter Effekt der jeweils anderen; vielmehr hat jede ihre relative Unabhängigkeit. Und folglich kann keine dieser Be-dingungen indirekt erfüllt werden in dem Sinne, dass Reformen ausschließlich nur einer von beiden gelten sollten. Das Ergebnis ist eine zweidimensionale Konzeption der Gerechtigkeit, die bei-des, sowohl Umverteilung als auch Anerkennung, umfasst, ohne die eine auf die andere zu reduzieren (vgl. ausführlich Fräser 2003).

Dieser Ansatz ist der Konzeption von Geschlecht angemessen, die oben vorgeschlagen wurde. Werden Umverteilung und Aner-kennung als zwei nicht aufeinander reduzierbare Dimensionen der Gerechtigkeit konstruiert, erweitert dies das gewöhnliche Verständnis von Gerechtigkeit derart, dass Klassen- und Status-aspekte geschlechtsspezifischer Unterordnung einbezogen wer-den. Werden zudem beide Dimensionen der übergreifenden Norm partizipatorischer Gleichstellung unterstellt, so stellt diese einen Maßstab zur Verfügung, der den Grad der Gerechtigkeit der Geschlechterordnung einzuschätzen erlaubt. Soweit die öko-nomische Struktur der Gesellschaft Frauen die Ressourcen ver-weigert, die sie für die vollständige Teilnahme am sozialen Leben benötigen, institutionalisiert sie eine sexistische Ungleichvertei-lung. Desgleichen institutionalisiert die Statusordnung eine sexis-tische Missachtung, soweit sie Frauen als anders als vollständige Interaktionsteilnehmerinnen konstituiert. In beiden Fällen ist das Resultat eine moralisch nicht zu verteidigende Geschlechterord-nung.

Die Norm partizipatorischer Gleichstellung dient also dazu, Geschlechterungerechtigkeit in zwei Dimensionen zu identifizie-

ren und zu verurteilen. Dieser Maßstab ist aber auch auf andere Achsen sozialer Differenzierung wie Klasse, »Rasse«, Sexualität, Ethnizität, Nationalität oder Religion anwendbar. Denn insoweit soziale Arrangements auf diesen Achsen die partizipatorische Gleichstellung durch Ungleichverteilung oder Missachtung be-hindern, verletzen sie die Erfordernisse der Gerechtigkeit. Das Ergebnis meiner Überlegung ist also - wie noch deutlich werden wird - ein normativer Maßstab, der ermöglicht, einige der schwie-rigsten politischen Dilemmata zu lösen, mit denen Feministinnen sich heute konfrontiert sehen. Diese Dilemmata entstehen dort, wo sich die zahlreichen Achsen der Unterwerfung kreuzen, so wenn zum Beispiel Bemühungen darum, der ungerechten Be-handlung religiöser Minderheiten abzuhelfen, mit Bemühungen zusammenprallen, Sexismus zu beseitigen.

Im folgenden Abschnitt will ich zeigen, wie das Prinzip der par-tizipatorischen Gleichstellung solche Dilemmata auflöst. Doch möchte ich zunächst meinen Gebrauch des B egriffs der Gleichstel-lung erläutern, der sich von dem neuerdings in Frankreich übli-chen unterscheidet. Auf vier Aspekte des Unterschieds möchte ich hinweisen. In Frankreich bezeichnet Gleichstellung (parite) das Gesetz, das Frauen das Recht gibt, die Hälfte aller Plätze auf den Wahllisten bei Wahlen zu gesetzgebenden Versammlungen einzu-nehmen. Dies bedeutet, dass die Geschlechter bei Wahlen zahlen-mäßig gleich repräsentiert sind. Für mich hingegen ist Gleichstel-lung keine Frage der Zahl; sie ist eher eine qualitative Bedingung, die der Gleichrangigkeit, der Ebenbürtigkeit, die Voraussetzung, miteinander auf gleichem Niveau zu interagieren. Diese Bedin-gung wird keineswegs durch die bloße Zahl gewährleistet, wie wir aus früheren kommunistischen Ländern wissen. Denn einige ka-men einer Gleichstellung im französischen Sinn durchaus nahe, während sie noch weit entfernt davon waren, wenn die Bedeutung zugrunde gelegt wird, die ich dem Begriff der Gleichstellung gebe. Selbstverständlich weist die Unterrepräsentation von Frauen in Gesetzgebungsorganen und anderen formalen politischen Institu-tionen auf qualitative Disparitäten in der Teilnahme am sozialen Leben hin. Aber Quoten sind nicht immer die beste Lösung. Meine Konzeption überlässt folglich die Entscheidung über die Frage, welcher Grad an Repräsentation oder welches Niveau der Gleichheit notwendig sind, um partizipatorische Gleichstellung zu gewährleisten, der demokratischen Diskussion.

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Der Grund dafür hat mit dem zweiten Unterschied meiner Sicht der Gleichstellung von der französischen Auffassung zu tun. Es handelt sich um den Unterschied der Reichweite, denn in Frankreich liegt der Parität nur eine Dimension der Gerechtigkeit zugrunde, die Dimension der Anerkennung. Entsprechend wird offenkundig angenommen, dass das Haupthindernis für die voll-ständige Partizipation der Frauen am politischen Leben eine an-drozentrische Wertehierarchie in der Struktur der Parteien sei und die entscheidende Abhilfe durch das Verfassungsgebot komme, die Hälfte aller Plätze auf den Wahllisten Frauen vorzu-behalten. Im Gegensatz dazu muss aus meiner Sicht das Gebot partizipatorischer Gleichstellung für beide Dimensionen sozialer Gerechtigkeit, also Verteilung ebenso wie Anerkennung, Anwen-dung finden. Ich nehme an, dass sowohl Ungleichverteilung als auch Missachtung der Gleichstellung hinderlich sein können (und oft sind). Im Fall der ungleichen politischen Repräsentation der Geschlechter nehme ich deswegen weiter an, dass nicht nur eine Abbau androzentrischer Wertehierarchien nötig ist, sondern auch eine Restrukturierung der Arbeitsteilung. Allein dadurch lässt sich die »doppelte Verschiebung« der Frauen beseitigen, die das beachtliche Verteilungshindernis konstituiert, das ihrer voll-ständigen Teilnahme am politischen Leben entgegensteht.

Der dritte Unterschied betrifft ebenfalls den Umfang der Pari-tät, jedoch in einem anderen Sinn. In Frankreich bezieht sich Gleichstellung nur auf eine Arena der Interaktion, nämlich Wahl-kämpfe um Parlamentssitze. Im Gegensatz dazu soll aus meiner Sicht Gleichstellung für die Gesamtheit des sozialen Lebens gel-ten. Demnach verlangt Gerechtigkeit partizipatorische Gleich-stellung in einer Vielzahl von Interaktionsarenen wie Arbeits-markt, sexuelle Beziehungen, Familienleben, Öffentlichkeit und ehrenamtliche Organisationen der Zivilgesellschaft. Allerdings bedeutet Partizipation in jeder dieser Arenen etwas anderes. So bedeutet Partizipation auf dem Arbeitsmarkt etwas qualitativ an-deres als die Partizipation in sexuellen Beziehungen oder in der Zivilgesellschaft. Darum muss die Bedeutung der Gleichstellung auf die spezifische Art der Partizipation der jeweiligen Arena zu-geschnitten werden. Eine einzige Formel wäre dafür nicht ausrei-chend. Was genau erforderlich ist, um partizipatorische Gleich-stellung zu erlangen, hängt teilweise vom Charakter der in Frage stehenden sozialen Interaktion ab.

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Die vierte Differenz betrifft die Reichweite in einem nochmals anderen Sinn. In Frankreich wird Gleichstellung nur auf eine Achse der sozialen Differenzierung angewandt, die des Ge-schlechts. Entsprechend gibt das Gesetz anderen Kategorien un-tergeordneter Menschen, solchen wie rassisch-ethnischen oder religiösen Minderheiten, nicht das Recht auf angemessene Reprä-sentation. Augenscheinlich interessiert diejenigen, die das Gesetz unterstützen, auch nicht dessen Wirkung auf eine solche Reprä-sentation. Im Gegensatz dazu meine ich, dass Gerechtigkeit par-tizipatorische Gleichstellung auf allen Hauptachsen der sozialen Differenzierung erfordert, also nicht nur auf der des Geschlechts, sondern auch auf denen der »Rasse«, der Ethnizität, Sexualität, Religion und Nationalität.2 Wie ich im folgenden Abschnitt zei-gen will, hat dies zur Folge, dass geplante Reformen aus vielfälti-gen Perspektiven bewertet werden müssen. Diejenigen, die Re-formen vorschlagen, müssen also mitbedenken, ob Maßnahmen, die das Ziel haben, eine Art der Ungleichheit abzustellen, mögli-cherweise zur Verschärfung einer anderen beitragen.3

Ganz allgemein gesagt, ist meine Vorstellung von Gerechtig-keit als partizipatorische Gleichstellung viel breiter angelegt als die französische Auffassung von Gleichstellung (parite). Anders als diese stellt jene einen normativen Maßstab zur Verfügung, um die Gerechtigkeit aller sozialen Arrangements in zwei Dimensio-nen und quer zu vielfältigen Achsen der sozialen Differenzierung zu beurteilen. In diesem Sinn ergänzt sie eine Konzeption des Ge-schlechts, die nicht nur die statusorientierte Dimension der Aner-

z Ich lehne also die essentialistischen Ansätze ab, auf die sich manche franzö-sischen feministischen Philosophinnen berufen, um Gleichberechtigung (parite) zu rechtfertigen.

3 Es gibt noch eine fünfte Differenz, die die Modalität betrifft. Das französi-sche Gesetz ermöglicht Gleichberechtigung der aktuellen Partizipation. Im Unterschied dazu ist es moralisch erforderlich, dass für die Mitglieder die Möglichkeit der Gleichberechtigung besteht, wenn und sofern sie sich ent-scheiden, an einer gegebenen Aktivität oder Interaktion teilzunehmen. Es gibt jedoch keine Notwendigkeit, dass jede Person aktuell an solchen Akti-vitäten teilnimmt. U m ein Beispiel aus den U S A anzuführen: Separatisti-sche Gruppen wie die Amish haben das Recht, sich der Partizipation an der Gesellschaft im Allgemeinen zu entziehen. Es steht ihnen jedoch nicht zu, ihren Kindern die Chance vorzuenthalten, die sozialen Kompetenzen zu er-werben, die sie benötigen, um als Ebenbürtige an der Gesellschaft teilzu-nehmen, wenn sie sich entschließen sollten, die Amishgemeinschaft zu ver-lassen.

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kennung, sondern auch die der Klassenbildung vergleichbare Di-mension der Verteilung umfasst.

3. Die Anerkennung neu denken: eine nicht-identitäre feministische Politik

Betrachten wir die Implikationen dieser Begriffe für die feminis-tische Politik, zunächst für die Politik der Anerkennung. Übli-cherweise wird sie als Identitätspolitik verstanden. Aus dieser Perspektive ist für Anerkennung eine weibliche Geschlechtsiden-tität erforderlich. Missachtung besteht aus der Geringschätzung einer solchen Identität durch die patriarchale Kultur und der dar-aus folgenden Beschädigung des Gefühls der Frauen für ihr Selbst. Um eine solche Verletzung abzustellen, ist es nötig, sich für eine feministische Politik der Anerkennung zu engagieren. Eine solche Politik zielt darauf, die innere Verwerfung des Selbst dadurch zu überwinden, dass die erniedrigenden androzentri-schen Bilder von Frauen bekämpft werden. Frauen müssen solche Bilder zurückweisen zugunsten neuer Selbstrepräsentationen ih-res eigenen Tuns. Haben sie dann ihre kollektive Identität umge-staltet, müssen sie diese auch öffentlich zeigen, um den Respekt und die Wertschätzung der gesamten Gesellschaft zu erhalten. Wenn dies gelingt, so wird das Ergebnis »Anerkennung« sein, ein positives Verhältnis zu sich selbst. Nach dem Identitätsmodell meint eine feministische Politik der Anerkennung also Identitäts-politik.

Ohne Zweifel trägt dieses Identitätsmodell zu wichtigen Ein-sichten in die psychologischen Wirkungen des Sexismus bei. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, hat es aber wenigstens zwei ent-scheidende Mängel. Erstens tendiert es dazu, Weiblichkeit zu ver-dinglichen und die Überschneidungen der verschiedenen Achsen der Unterwerfung auszublenden. Ein Ergebnis davon ist, dass es oft die dominanten Geschlechterstereotype wiederholt, während es gleichzeitig Separatismus und politische Korrektheit befördert. Zweitens erscheint im Identitätsmodell sexistische Missachtung als eine kulturelle Verletzung außerhalb jedes Zusammenhangs. Dies blendet jedoch die Verbindung zu sexistisch bedingter Un-gleichverteilung aus und verhindert so, beide Aspekte des Sexis-mus gleichzeitig zu bekämpfen (vgl. die ausführliche Kritik in

Fräser 2000). Aus diesen Gründen brauchen Feministinnen einen alternativen Ansatz.

Die hier vorgeschlagene Konzeption von Geschlecht und Ge-rechtigkeit impliziert eine alternative feministische Politik der Anerkennung. Aus dieser Perspektive ist Anerkennung eine Frage des sozialen Status. Anerkannt werden muss nicht die weib-liche Identität, sondern der Status der Frauen als gleichwertige Partner in der gesellschaftlichen Interaktion. Entsprechend meint Missachtung nicht Geringschätzung und Entstellung von Weib-lichkeit, sondern soziale Unterwerfung im Sinne einer Behinde-rung der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben als Ebenbürtige. Um diese Ungerechtigkeit zu beseitigen, ist selbstverständlich eine feministische Politik der Anerkennung notwendig - aber nicht im Sinne einer Identitätspolitik. Nach dem Statusmodell be-deutet dies eine Politik, die darauf zielt, die Unterwerfung da-durch zu überwinden, dass Frauen vollwertige Mitglieder der Ge-sellschaft werden und an ihr genau wie die Männer teilnehmen.

Ich will das erklären. Der Status-Ansatz verlangt, die instituti-onalisierten Muster kultureller Werte daraufhin zu prüfen, welche Wirkung sie auf das relative Ansehen von Frauen haben. Wenn und insofern solche Muster Frauen als Ebenbürtige konstituieren, die genau wie Männer am sozialen Leben teilnehmen, können wir von wechselseitiger Anerkennung und Statusgleichheit sprechen. Sofern jedoch institutionalisierte Muster kultureller Werte Frauen als minderwertig, ausgeschlossen, gänzlich anders oder einfach nur unsichtbar und daher weniger als vollwertige Partner der sozialen Interaktion konstituieren, müssen wir von sexisti-scher Missachtung und Statusunterwerfung sprechen. Nach dem Statusmodell ist sexistische Missachtung ein gesellschaftliches Verhältnis der Unterwerfung, das durch institutionalisierte Mus-ter kultureller Werte vermittelt wird. Es liegt dann vor, wenn soziale Institutionen die Interaktion entsprechend androzentri-schen Normen regulieren, die Gleichstellung verhindern. Bei-spiele sind ein Strafrecht, das Vergewaltigung in der Ehe ausblen-det, sozialstaatliche Wohlfahrtsprogramme, die allein erziehende Mütter als sexuell unverantwortliche Schmarotzer stigmatisieren oder Asylpolitik, die Genitalverstümmelung als eine »kulturelle Praxis« wie jede andere ansieht. In allen diesen Fällen wird die In-teraktion durch ein androzentrisches Muster kultureller Werte re-guliert. Im Ergebnis wird den Frauen der Status verweigert, als

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vollwertige und den Männern ebenbürtige Partnerinnen an der Interaktion teilzunehmen.

Wird Missachtung in Begriffen des Status gedacht, dann stellt sie eine ernste Verletzung der Gerechtigkeit dar. Wo und wie auch immer sie vorkommt, ist der Anspruch auf Anerkennung ange-bracht. Doch ist genau darauf zu achten, was dies bedeutet. An-sprüche auf Anerkennung zielen nicht darauf, Weiblichkeit auf-zuwerten, sondern Unterwerfung aufzuheben; sie zielen darauf, Frauen als vollwertigen Partnerinnen im sozialen Leben Geltung zu verschaffen, die ebenbürtig mit Männern interagieren. Das Ziel ist also, androzentrische Wertmuster zu deinstitutionalisie-ren, die Gleichstellung behindern, und sie durch Muster zu erset-zen, die diese ermöglichen (vgl. die ausführlichere Darstellung des Statusmodells in Fräser 2003).

Ganz allgemein ermöglicht das Statusmodell eine nichtidenti-täre Politik der Anerkennung. Eine solche Politik ist auf Ge-schlecht anwendbar, aber auch auf andere Achsen der Unterwer-fung, wie »Rasse«, Sexualität, Ethnizität, Nationalität und Religion. Sie befähigt Feministinnen, Fälle zu entscheiden, in de-nen Ansprüche auf Anerkennung, die auf einer Achse der Unter-werfung erhoben werden, in Widerspruch zu Ansprüchen gera-ten, die auf einer anderen erhoben werden.

Für Feministinnen sind Fälle von besonderem Interesse, in de-nen Ansprüche auf Anerkennung kultureller Praktiken von Min-derheiten mit denen der Geschlechtergerechtigkeit konfligieren. In solchen Fällen muss das Prinzip der partizipatorischen Gleich-stellung zweifach Anwendung finden. Zunächst muss es auf der Ebene des Verhältnisses zwischen Gruppen angewendet werden, um die Wirkungen institutionalisierter Muster kultureller Werte auf das relative Ansehen von Minderheiten gegenüber Mehrhei-ten einzuschätzen. Zweitens muss es auf das Verhältnis innerhalb der Gruppe angewendet werden, um die internen Wirkungen der Praktiken der Minderheit einzuschätzen, für die Anerkennung beansprucht wird. Zusammen machen beide Ebenen zweierlei er-forderlich: Anspruch Erhebende müssen erstens zeigen, dass die Institutionalisierung der kulturellen Normen der Mehrheit ihnen die partizipatorische Gleichstellung vorenthält; zweitens, dass die Praktiken, deren Anerkennung sie anstreben, nicht ihrerseits die partizipatorische Gleichstellung anderer verhindern, darunter auch mancher, die ihrer Minderheitengruppe angehören.

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Betrachten wir die Kontroverse über das Kopftuch in Frank-reich. Hier geht es um die Frage, ob eine Politik, die islamischen

. Mädchen verbietet, in öffentlichen Schulen ein Kopftuch zu tra-gen, eine ungerechte Behandlung einer religiösen Minderheit dar-stellt. Damit dies der Fall ist, müssen diejenigen, die den An-spruch auf Anerkennung für das Kopftuch erheben, zwei Dinge klären. Sie müssen erstens zeigen, dass das Verbot des Kopftuchs eine ungerechte Mehrheitsgemeinschaft schafft, die dem islami-schen Mädchen die gleichberechtigte Teilnahme an der Ausbil-dung verweigert; zweitens, dass eine alternative Politik, die das Tragen des Kopftuches erlaubte, nicht die weibliche Unterord-nung verschlimmern würde - sei es innerhalb der islamischen Ge-meinschaft, sei es in der Gesellschaft insgesamt. Im Fall des ersten Punkts, der die Mehrheitsgemeinschaft der Franzosen betrifft, wäre der Nachweis leicht zu erbringen, denn es gibt kein analoges Verbot, das das Tragen des Kruzifixes in öffentlichen Schulen ver-bietet. Folglich verweigert die gegenwärtige Politik moslemi-schen Staatsbürgern das gleiche Ansehen. Der zweite Punkt, der die Verschärfung weiblicher Unterdrückung betrifft, ist hingegen kontrovers. Einige Republikaner haben argumentiert, dass das Kopftuch ein Symbol weiblicher Unterdrückung sei und ihm deswegen staatliche Anerkennung vorenthalten werden müsse. Dieser Interpretation haben Vertreter des Multikulturalismus entgegengehalten, dass das Kopftuch in den moslemischen Ge-meinschaften heute sehr umstritten sei - wie auch noch allgemei-ner die Geschlechterverhältnisse. Anstatt es also als eindeutig patriarchalisch zu betrachten und damit der männlichen Vorherr-schaft die Autorität über die Interpretation des Islam zu überlas-sen, sollte der Staat das Kopftuch als ein Symbol der moslemi-schen Identität im Übergang behandeln. Die Bedeutung dieses Symbols ist ebenso umkämpft wie die französische Identität. Das ist das Ergebnis transkultureller Interaktionen in einer multikul-turellen Gesellschaft. Aus dieser Sicht wäre die Erlaubnis, das Kopftuch in öffentlichen Schulen zu tragen, ein Schritt nicht weg von, sondern hin zu Geschlechtergleichstellung.

Ich meine, dass die Vertreter des Multikulturalismus in diesem Fall das stärkere Argument haben. (Nebenbei gesagt, gilt dies nicht für diejenigen, die Anerkennung für das suchen, was sie »weibliche Beschneidung« nennen - also Genitalverstümmelung, die ganz offenkundig Frauen und Mädchen die Gleichstellung

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hinsichtlich sexueller Lust und Gesundheit verweigert.) Aber da-rum geht es mir hier nicht. Es geht mir eher darum, dass das Ar-gument auf richtige Weise in Begriffen der partizipatorischen Gleichstellung vorgebracht wird. Dies ist gerade der Punkt, an dem die Kontroverse geführt werden sollte. Partizipatorische Gleichstellung ist der geeignete Standard, um Ansprüche auf An-erkennung (und Umverteilung) zu begründen. Er befähigt eine nichtidentitäre feministische Politik dazu, Konflikte zu entschei-den, die sich zwischen Ansprüchen, die um Geschlecht zentriert sind, und solchen ergeben, die sich auf dazu quer liegenden Ach-sen der Unterwerfung ergeben.4

4. Die Integration von Umverteilung und Anerkennung in der feministischen Politik

Wir wollen nun im umfassenderen Sinn die Implikationen für fe-ministische Politik betrachten. Wie wir gesehen haben, muss fe-ministische Politik heute zweidimensional sein und die Politik der Anerkennung mit einer Politik der Umverteilung kombinie-ren. Nur eine solche Politik kann vermeiden, die feministische Agenda zu verkürzen und in die Nähe des Neoliberalismus zu rü-cken.

Doch eine solche feministische Politik auszudenken ist keines-wegs einfach. Es reicht nicht aus, bloß additiv vorzugehen, so als ob eine Politik der Umverteilung einer Politik der Anerkennung einfach hinzugefügt werden könnte. Damit würden die beiden Dimensionen so behandelt, als ob sie zwei getrennte Sphären wä-ren. Tatsächlich sind jedoch Verteilung und Anerkennung völlig

4 Dieser Standard kann nicht monologisch, also nicht in der Art eines Ent-scheidungsverfahrens, angewendet werden. Er muss dialogisch, also durch demokratische Prozesse der öffentlichen Debatte zur Anwendung kom-men. In solchen Debatten diskutieren die Teilnehmerinnen darüber, ob die bestehenden institutionalisierten kulturellen Wertmuster die gleichberech-tigte Partizipation verhindern und ob die vorgeschlagenen Alternativen sie begünstigen würden. So dient partizipatorische Gleichstellung als ein Idiom des öffentlichen Zweifels und der Beratung über Fragen der Gerech-tigkeit. Genauer gesagt, partizipatorische Gleichstellung repräsentiert das grundlegende Idiom öffentlicher Vernunft, die bevorzugte Sprache der de-mokratischen politischen Argumentation über Fragen der Verteilung und der Anerkennung (vgl. auch Fräser 2003).

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miteinander verzahnt; die Ansprüche auf Umverteilung und die Ansprüche auf Anerkennung können nicht voneinander isoliert werden. Im Gegenteil wirken sie aufeinander derart ein, dass dies nicht intendierte und nicht erwünschte Folgen hat.

Betrachten wir zunächst, wie der feministische Anspruch auf Umverteilung mit dem auf Anerkennung in Konflikt gerät. Um-verteilungspolitik, die darauf zielt, die Armut von Frauen zu mil-dern, hat zum Beispiel Implikationen für den Status, die die Un-terstützungsempfänger verletzen können. So legen öffentliche Wohlfahrtsprogramme, die insbesondere auf weibliche Familien-vorstände zielen, häufig nahe, dass Lohnerwerbstätige im Unter-schied zu denjenigen, die Kinder großziehen, oder Steuerzahler gegenüber wohlfahrtsabhängigen Müttern einen größeren Wert haben (vgl. Fräser 1993). Im schlimmsten Fall können sie allein er-ziehende Frauen als sexuell unverantwortliche Schmarotzer mar-kieren, um damit zur verletzenden Not noch die Kränkung der Missachtung hinzuzufügen. Ganz allgemein berühren Vertei-lungspolitiken den Status und die Identitäten von Frauen eben-so wie ihre ökonomische Position. Diese Auswirkungen müs-sen thematisiert und genau untersucht werden, damit es nicht bei dem Versuch, sexistische Ungleichverteilung abzustellen, dazu kommt, sexistische Missachtung zu fördern. Verteilungspolitiken haben sexistische Missachtung zur Folge, wenn eine kulturell ver-breitete androzentrische Entwertung von Fürsorglichkeit der Unterstützung für allein erziehende Mütter eine Bedeutung der-art verleiht, dass es nun so erscheint, als würden sie etwas fürs Nichtstun bekommen.5 In diesem Kontext können feministische Kämpfe für Umverteilung nicht erfolgreich sein, wenn sie nicht mit Kämpfen für kulturellen Wandel verbunden sind, die darauf zielen, die Fürsorglichkeit und die sie codierenden Vorstellungen von Weiblichkeit wieder aufzuwerten. Kurz gesagt: keine Um-verteilung ohne Anerkennung.

Das Umgekehrte trifft jedoch genauso zu, da feministische An-

5 Das ist der Fall bei »Aid to Families with Dependent Children« (AFDC) , das wichtigste bedürftigkeitsabhängige Sozialfürsorgeprogramm in den Vereinigten Staaten. A F C D , das zum überwiegenden Teil von allein erzie-henden Müttern in Anspruch genommen wurde, die unterhalb der Armuts-grenze leben, wurde in den 1990er Jahren zum Blitzableiter für rassistische und sexistische Antiwohlfahrtsressentiments. 1996 wurde A F C D derart »reformiert«, dass der bundesstaatlich geregelte Anspruch auf ein garan-tiertes (inadäquates) Einkommen für Arme beseitigt wurde.

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spräche auf Anerkennung auch auf Verteilung einwirken. Vor-schläge, androzentrische Bewertungsmuster zu beseitigen, haben ökonomische Implikationen, die sich zum Schaden von Frauen auswirken können. So können zum Beispiel von oben gelenkte Kampagnen zur Unterdrückung von weiblicher Genitalverstüm-melung negative Wirkungen auf die ökonomische Position der betroffenen Frauen haben. Sie gelten nun als »nicht verheiratbar«, gleichzeitig jedoch mangelt es ihnen an alternativen Mitteln des Lebensunterhalts. In gleicher Weise können auch Kampagnen ge-gen Prostitution und Pornographie negative Folgen für die öko-nomische Position der Sexarbeiterinnen haben. Schließlich hat auch die Reform des Scheidungsrechts in den USA mit der Ab-schaffung des Schuldprinzips einigen geschiedenen Frauen öko-nomisch geschadet, auch wenn der rechtliche Status von Frauen verbessert wurde.6 In solchen Fällen endeten Reformen, die dar-auf zielten, sexistische Missachtung abzustellen, damit, sexisti-sche Ungleichverteilung zu verstärken. Mehr noch, Anerken-nungsansprüche sind dem Vorwurf ausgesetzt, »nur symbolisch« zu sein. Werden Reformen, die auf eine Stärkung der Unter-schiedlichkeit zielen, in Kontexten verfolgt, in denen große Un-gleichheiten in den ökonomischen Positionen herrschen, gehen sie in eine leere Geste über - wie diese Art von Anerkennungen, die Frauen auf einen Sockel stellen, ernstes Leid nicht abstellen, sondern nur verstärken. In solchen Kontexten können Reformen der Anerkennung nur erfolgreich sein, wenn sie mit Kämpfen um Umverteilung verbunden sind. Kurz gesagt: keine Anerkennung ohne Umverteilung.

Die Moral ist hier: die feministische Politik bedarf einer bifo-kalen Perspektive. Dies bedeutet, dass sie gleichzeitig durch die beiden analytisch unterschiedlichen Linsen der Verteilung und der Anerkennung sehen muss. Gelingt dies nicht, führt dies zu ei-ner Verzerrung dessen, was jeweils nur durch eine Linse gesehen wird. Allein eine Perspektive, die beides in den Blick zu nehmen erlaubt, kann es vermeiden, eine Dimension des Sexismus zu ver-schärfen, wenn sie ihn in der anderen beseitigen will.

Es ist in allen Fällen notwendig, integrativ zu denken - wie in den Kampagnen für »gleichen Lohn«. Hier war der Anspruch,

6 Vgl. Weitzman 1985; das von Weitzman behauptete Ausmaß der Einkom-mensverluste wurde bestritten. Aber es besteht kein Zweifel , dass es solche gab.

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das Einkommen zwischen Männern und Frauen umzuverteilen, ausdrücklich mit dem Anspruch verbunden, den Geschlechter-code der Muster kultureller Werte zu ändern. Die zugrunde lie-gende Prämisse war, dass geschlechtsspezifische Ungerechtigkei-ten der Verteilung und Anerkennung auf so komplexe Weise miteinander verknüpft sind, dass keine von ihnen unabhängig von der anderen beseitigt werden kann. Folglich können Anstrengun-gen, geschlechtlich bedingte Einkommensungleichheiten zu ver-ringern, nicht erfolgreich sein, wenn es ihnen nicht gelingt - um hier ganz »ökonomisch« zu sprechen - , die Geschlechtsbedeu-tungen herauszufordern, die Dienstleistungstätigkeiten im Nied-riglohnbereich als unqualifizierte »Frauenarbeit« codieren. In ähnlicher Weise werden Anstrengungen keinen Erfolg haben, als weiblich codierte Merkmale wie intersubjektive Sensibilität und Fürsorglichkeit aufzuwerten, solange sie kulturalistisch bleiben und die strukturellen ökonomischen Voraussetzungen unbefragt lassen, die jene Merkmale mit Abhängigkeit und Machtlosigkeit verknüpfen. Allein ein Ansatz, der die kulturelle Abwertung des »Weiblichen« gerade in der Ökonomie (und in anderen Berei-chen) beseitigt, kann ernst zu nehmende Umverteilung und wirk-liche Anerkennung schaffen.

Zusammenfassung

Ich habe an anderer Stelle Strategien diskutiert, wie Politiken der Verteilung und der Anerkennung zu integrieren sind (vgl. Fräser 2003). Hier will ich damit schließen, dass ich mein zentrales Ar-gument noch einmal wiederhole.

Ich habe argumentiert, dass Geschlechtergerechtigkeit sowohl Umverteilung als auch Anerkennung notwendig macht, weder jene noch diese allein reicht aus. Deswegen habe ich Argumente widerlegt, die nahe legen, dass der sozialistische Feminismus mit neueren Paradigmen unvereinbar sein soll, die auf Diskurs und Kultur konzentriert sind. Die üblichen sektiererischen Beschrän-kungen zur Seite schiebend, habe ich Begriffe von Geschlecht, Gerechtigkeit und Anerkennung vorgeschlagen, die breit genug sind, die Themen beider Bereiche zu umfassen. Diese Begriffe sind zweidimensional. Werden in dieser Weise Verteilung und Anerkennung überbrückt, so ist es möglich, sowohl die klassen-

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ähnlichen Aspekte als auch die Statusaspekte weiblicher Unter-drückung zu begreifen.

Die hier vorgeschlagenen Begriffe sind auch durch eine breitere Zeitdiagnose geprägt. Auf der einen Seite habe ich angenommen, dass Geschlecht sich mit anderen Achsen der Unterwerfung auf eine Weise kreuzt, die das feministische Projekt kompliziert. Und ich habe Vorschläge zur Lösung der daraus resultierenden Dilem-mata gemacht - besonders für Fälle, in welchen die Ansprüche, kulturelle oder religiöse Missachtung zu beseitigen, drohen, den Sexismus zu verschärfen. Auf der anderen Seite habe ich meinen Ansatz feministischer Politik in ein Verhältnis zu der umfassen-deren Bewegung gesetzt, die die Grammatik, nach der Ansprüche erhoben werden, von Umverteilung auf Anerkennung verschiebt. Wo diese Verschiebung droht, den Neoliberalismus dadurch zu begünstigen, dass die Problematik der Verteilungsgerechtigkeit unterdrückt wird, habe ich eine zweidimensionale politische Ori-entierung vorgeschlagen. Dieser Ansatz hält an den Einsichten des Marxismus fest, lernt aber vom cultural turn.

Ganz allgemein stellt der hier vorgeschlagene Ansatz begriffli-che Grundlagen zur Verfügung, mit denen Antworten auf das ge-geben werden können, was ich für die politische Schlüsselfrage der Gegenwart halte: Wie können Feministinnen eine kohärente programmatische Perspektive entwickeln, die Umverteilung und Anerkennung integriert? Wie können wir einen Rahmen entwi-ckeln, der integriert, was an der sozialistischen Vision überzeu-gend und unübertroffen bleibt und was an der offensichtlich »postsozialistischen« Vision des Multikulturalismus verteidi-genswert und zwingend ist? Wenn es uns nicht gelingt, diese Fra-gen zu stellen, wenn wir uns stattdessen an falsche Antithesen und in die Irre führende Entweder-Oder-Dichotomien klammern, werden wir die Gelegenheit verfehlen, soziale Konstellationen ins Auge zu fassen, die den klassenähnlichen und Statusaspekt weib-licher Unterwerfung beseitigen. Nur mit integrativen Ansätzen, die Umverteilung und Anerkennung vereinigen, können wir er-reichen, was eine Gerechtigkeit verlangt, die alle berücksichtigt.

Aus dem Englischen von Alex Demirovic

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Literatur

Fräser, Nancy (1993): »Clintonism, Welfare, and the Antisocial Wage: The Emergence of a Neoliberal Political Imaginary«, in: Rethinking Marx-ism, Jg. 6, H. 1.

Fraser, Nancy (2000): »Rethinking Recognition: Overcoming Displace-ment and Reification in Cultural Politics«, in: New Left Review 3/2000.

Fraser, Nancy (2001): »Von der Umverteilung zur Anerkennung? Dilem-mata der Gerechtigkeit in >postsozialistischer< Zeit«, in: dies., Die hal-bierte Gerechtigkeit, Frankfurt am Main.

Fraser, Nancy (2003): »Soziale Gerechtigkeit im Zeitalter der Identitätspo-litik: Umverteilung, Anerkennung und Partizipation«, in: Fraser, Nancy/Honneth, Axel, Umverteilung oder Anerkennung? Eine poli-tisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt am Main.

Weitzman, Lenore (1985): The Divorce Revolution: The Unexpected Social Consequences for Women, New York.

Alex Demirovic Der Zeitkern der Wahrheit. Zur Forschungslogik

kritischer Gesellschaftstheorie

I

Kritische Gesellschaftstheorie begreift sich selbst als geschicht-lich. Geschichte ist dabei nicht im Sinn eines objektiven Zeitab-laufs gemeint. Das Denken über die Gesellschaft ist eine theoreti-sche Praxis in der Gesellschaft (vgl. Adorno 1969, S. 761). Als zu dem von der Theorie analysierten Gegenstand gehörig, ist sie selbstbezüglich, weil sie in sich als Gegenstand vorkommt. Über Gesellschaftstheorie kann deswegen auch nicht allein nach dem Gesichtspunkt der Unterscheidung von wahr oder falsch ent-schieden werden. So als könnte eine Theorie der Gesellschaft auf-gestellt und gleichsam noch einmal neutral mit dem Gegenstand verglichen werden. Die Theorie konstruiert ihren Gegenstand. Wenn diese theoretische Konstruktionsarbeit und -weise zur theoretischen Praxis eines größeren Kollektivs wird und seine Le-bensweise bestimmt, so ist diese Theorie in einem spezifisch his-torischen Sinn rational. Für eine gesellschaftliche Gruppe mag die Theorie vollständig wahr, für eine andere hingegen ebenso sehr falsch sein. Üblicherweise ist die Abwehr gegenüber solchen Überlegungen groß. Denn sie führen zu Relativismus, nichts scheint sich mehr als wahr und damit als allgemein verbindlich charakterisieren zu lassen. Tatsächlich hat das Allgemeinverbind-liche nur bei spezifischen Gruppen Geltung; und umgekehrt lässt sich die Relativität von theoretischen Positionen nicht willkürlich und beliebig vermehren, denn es gibt ja keinen Standpunkt außer-halb. Zwischen den sozialen Gruppen kommt es deswegen zu konkreten Deutungskonflikten und im weiteren zu komplizier-ten, vermittelnden Kompromissen, die etwas Verbindendes her-ausstellen oder konstruieren. Allgemeine Geltung von Ansichten findet sich eher auf Gebieten, »die nicht unmittelbar mit den ge-sellschaftlichen Kämpfen zusammenhängen« (Horkheimer 1937, S. 176). Das allgemein Gültige ist demnach nicht als solches schon das Wahre, sondern das Gleichgültige, noch nicht oder nicht mehr

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Gegenstand der Kämpfe. Es ist ein Fehler zu denken, Wahrheit hinge von einem quasi überparteilichen Standpunkt ab, so als seien diejenigen mit den geringsten Leidenschaften und Interes-sen, die Lauen, für die alles gleich-interessant ist und die immer schon pluralistisch Verständnis für alle Standpunkte haben, dieje-nigen mit der größten Disposition zur Wahrheit, als gäbe es Wahrheit »nur in einer die Beschränkungen jeder Gruppenper-spektive transzendierenden Totalisierung« (Eagleton 1993, S. 55, vgl. auch S. 63). Da Theorie selbst eine Tätigkeit in dieser Wirk-lichkeit ist, steht sie immer vor der Alternative, zur Reproduktion der bestehenden Verhältnisse oder zur Veränderung beizutragen. Theorie im anspruchsvollen Sinn ist eine »verändernde, prakti-sche Produktivkraft. Betrifft Denken irgendetwas, worauf es an-kommt, so setzt es allemal einen, wie sehr auch dem Denken ver-borgenen praktischen Impuls. Der allein denkt, welcher das je Gegebene nicht passiv hinnehmen will.« (Adorno 1969, S. 765) Aus solchen Überlegungen folgt weder, dass Wahrheitsfragen keine Rolle mehr spielten, noch, dass Wahrheit einer Standpunkt-logik folgt. Wahrheit wurde seit dem 16. Jahrhundert, wie Michel Foucault zeigt, das Feld einer autonomen Praxis, die Druck auf eine Vielzahl gesellschaftlicher Diskurse ausübt, die nun zuneh-mend ihre Wahrheitsfähigkeit erweisen müssen. Es ist konstitutiv für Theorien, dass sie sich »im Wahren« bewegen müssen (vgl. Foucault 1974, S. 24). Konstituiert wird dieses Feld durch Theo-rien und durch ein für Theorien spezifisches Muster der Ausein-andersetzung: Grundbegriffe der Theorie, Gegenstandsbereiche, Argumentationsstil, Fragestellung und Themen, diagnostische Aussagen, Prognosen - das alles erzeugt einen spezifischen Theo-rie- und Wahrheitseffekt, der soziale Akteure zu organisieren und zu mobilisieren vermag, sie mehr oder eben auch weniger über-zeugen kann oder ihre Ablehnung provoziert. Thesen einer Theo-rie werden von anderen Theorien aufgenommen oder widerlegt, die Theorie zieht mit ihrer Reputation Intellektuelle an oder stößt sie ab, findet in der öffentlichen Diskussion Aufmerksamkeit und Resonanz oder wird ignoriert, kann bei Wissenschaftlern die Er-wartung ausbilden, hier auf die Investition lohnende, fruchtbare Forschungsfragen zu stoßen, oder wird in der Lehre zu einer Ori-entierung für Studierende. Versteht man Theorie als eine systema-tische Verbindung von Einsichten, die aus einem Grundbegriff, einer Idee, einer Intuition oder einer ersten Beobachtung abgelei-

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tet werden, dann scheinen jene Prozesse im intellektuellen Feld zwar wissenschaftssoziologisch interessant, der Theorie aber doch bloß äußerlich zu sein. In diesem Fall können die Theoreti-ker ignorieren, dass sich die Theorie allein in immer neuen diskur-siven Äußerungen und damit immer in spezifischen Kontexten entfaltet. Sie können glauben, dass ihr Anspruch auf Universa-lismus nicht selbst eine konkrete, kontextuell eingebettete These ist, die sie in langwährenden Auseinandersetzungen zuallererst durchsetzen müssen. Um Kontinuität zu gewinnen, muss dieser Anspruch selbst immer wieder von neuem reproduziert werden. Diesen Auseinandersetzungen und der Reproduktionstätigkeit kann Rechnung getragen werden, wenn die Theorie als eine sozi-ale Praxis begriffen wird, eine Praxis, die von Menschen unter konkreten Verhältnissen ausgeübt wird und mit einer eigenen Form des Konflikts einhergeht: Theorie ist eine wichtige Form der symbolischen Welterschließung; vielleicht ist sie sogar die wichtigste Form. Theoretiker reproduzieren und reformulieren nicht nur die expliziten Begriffe einer von der Wissenschaftler-Innengemeinschaft kollektiv geführten Diskussion, sondern auch die impliziten Begriffe in den anderen Formen der Welterschlie-ßung und zielen auf zeitliche, räumliche und soziale Allgemein-heit. Wird eine Theorie marginalisiert, dann werden die mit ihr verbundenen Erfahrungen, Personenkreise und der spezifische Wille zur Erschließung und Gestaltung der Wirklichkeit beiseite gedrängt. Dies verhindert, dass sie zur Allgemeinheit eines umfas-senden Verständnisses gesamtgesellschaftlicher Prozesse ausgear-beitet wird. Das spielt sich ganz konkret ab: Für Erfahrungen oder Überlegungen gibt es keinen Diskussionsraum, oder wenn es ihn doch gibt, ist die Zahl der Teilnehmer an den Diskussionen klein, und diese sind vielleicht ganz ungeübt in systematischen und allgemeinen Betrachtungen; es gibt nur geringe sachliche und me-thodische Kenntnisse, wie Erfahrungen empirisch und theore-tisch verallgemeinert werden können; das, was von den gesell-schaftlichen Gegenspielern gedacht und gewusst wird, ist nicht gut bekannt und intellektuell nicht richtig durchdrungen, son-dern wird eher mit affektiver Skepsis bedacht oder vermischt sich auf unbedachte Weise sogar mit den eigenen Überlegungen; die Möglichkeiten zur Veröffentlichung sind gering, oder ihr sym-bolischer Stellenwert im intellektuellen Feld ist gering; einmal er-arbeitete Ergebnisse finden keinen institutionellen Rückhalt in

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einer stetigen und systematischen Arbeit, also in Forschungsein-richtungen mit geregelter, gleichförmiger Finanzierung und Per-sonalrekrutierung; die Forschung ist nur in kleinen Portionen und in einem zeitlich eng befristeten Rahmen möglich; eine Vermitt-lung der Erkenntnisse an Jüngere findet nicht oder nur einge-schränkt statt - viele der gewonnenen Einsichten gehen verloren; Jüngere werden systematisch entmutigt und von spezifischen Fragestellungen abgebracht, sei es durch Repression, sei es durch formspezifische Filter: Veröffentlichungs- und Vortragschancen, finanzielle Förderung, Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten, öf-fentliche Reputation. Aufgrund dieser Verwobenheit in den his-torischen Prozess und in die Auseinandersetzungen und Kontro-versen ihrer Zeit ist die Theorie von den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bis in den Kern ihrer Begriffe hinein be-rührt: Gesellschaft, Ökonomie, Staat oder Demokratie sind erst seit dem 16. und 17. Jahrhundert als Gegenstände des theoreti-schen Denkens konstituiert worden - und dies nicht allein auf-grund einer zunehmenden Einsichtsfähigkeit und Rationalität, sondern aufgrund von harten sozialen Auseinandersetzungen, die zur Bildung dieser Verhältnisse, zu einer entsprechenden theore-tischen Praxis und Gegenstandskonstitution geführt haben.

Die Auseinandersetzung um die theoretische Welterschließung wird in verschiedenen Phasen der bürgerlichen Gesellschaft in je-weils anderen Formen geführt. In der Frühphase der bürgerlichen Klasse wurde gegen eine religiöse Weltdeutung Aufklärung, Ra-tionalität und wissenschaftliche Theorie als eine gesellschaftliche Praxisform durchgesetzt. Das rückte zunächst physikalistisch-mechanistische Erklärungen gesellschaftlicher Prozesse in den Vordergrund. Auch die Gesellschaft wurde noch als ein naturge-setzlich bestimmter Zusammenhang begriffen, der durch die Feu-dalen und die Kirche immer wieder nur gestört worden war und deswegen zu Bürgerkriegen und dem Zerfall der Regierungsfor-men hatte führen müssen. Im 19. Jahrhundert setzten die Theore-tiker der Arbeiterbewegung zunehmend die Einsicht durch, dass die Menschen ihre Gesellschaft selbst konstituieren. Das sagten auch schon die bürgerlichen Vertragstheoretiker des 17. Jahrhun-derts. Doch neu war die Einsicht, dass dies nicht nur für die Be-sitzindividualisten des Bürgertums, sondern auch für die Ange-hörigen der unteren Klassen gilt; und neu war die gegen den Kon-traktualismus gerichtete Einsicht, dass die Gesellschaft sich nicht

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allein deswegen transparent ist, weil nutzenorientierte Bürger miteinander einen interessengeleiteten Vertrag zur Bildung eines Gemeinwesens schließen. Die rationale Gestaltungsfähigkeit führt nicht nur zu nichtintendierten Nebenfolgen als Ergebnis der partikularistischen Nutzenmaximierung; vielmehr konstitu-iert sich die Gesellschaft unter von den meisten ihrer Mitglieder nicht selbst gewählten Verhältnissen, diese Verhältnisse erweitern systematisch die Lebensweise einer kleinen Gruppe und wirken zu ihren Gunsten. Die Gesellschaft ist die Bewegungsform des komplexen, weitgehend zufälligen Zusammenwirkens des egois-tischen Handelns vieler Einzelner, Familien und Gruppen, der politisch-rechtlichen Versuche, einen langfristige Ziele verfolgen-den homogenen Willen der nationalstaatlichen Gesellschaft her-zustellen, und der kulturell-ideologischen Strategien, bürgerliche Codes wie männlich/weiblich, weißer Abendländer/barbarischer Fremder, guter Staatsbürger/Pöbel, normal/abweichend, sicher/ gefährlich in der Form alltäglicher Gewohnheiten zu routinisie-ren und zu normalisieren sowie einen heterogen-ungleichzeitigen Alltagsverstand aufrechtzuerhalten. Als entscheidende Aufgabe des wissenschaftlichen Verständnisses verfolgte die kritische Theorie der Gesellschaft die Frage, wie und in welchem Maße das Privateigentum an den Produktionsmitteln die Gesellschafts-struktur konstituierte und durch welche Mechanismen es derart naturwüchsig aufrechterhalten wurde, dass sich der Eindruck einstellen musste, es handelte sich um ein Naturgesetz anstatt um gesellschaftlich herbeigeführte Regelmäßigkeiten des sozialen Zusammenlebens. Fragen der Ökonomie und Eigentumsbildung standen vielfach im Zentrum, weil sich in dieser Phase die Grund-lagen der modernen bürgerlichen Gesellschaft vollständig ausbil-deten: großindustrielle Produktion mit globaler Reichweite, Ver-allgemeinerung der Produktion für den Markt, Entstehung und Ausbreitung der modernen Form von Lohnarbeit.

Schon Marx war klar, dass eine kritische Theorie der Gesell-schaft nicht bei der Kritik der politischen Ökonomie stehen blei-ben konnte. Er plädierte für eine Theorie, die die Totalität der ge-sellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Wechselwirkung erklären und darstellen sollte: der Prozess der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens und die damit verbundenen Verkehrsfor-men sollten als Grundlage aufgefasst werden; der Staat wurde von ihm als die Einheit verstanden, durch die es der bürgerlichen Ge-

sellschaft gelingt, zu einem Akteur mit einem kohärenten Willen zu werden - die Logik seines Handelns, nämlich Politik, muss als autonome Sphäre verstanden werden; schließlich sollen die theo-retischen Erzeugnisse und Formen des Bewusstseins aus dieser Grundlage erklärt werden - nicht jedoch, um sie darauf zu redu-zieren, sondern umgekehrt, um die besonderen gesellschaftlichen Kämpfe zu begreifen. Denn hier, in diesen ideologischen Formen, würden sich die Menschen des Konflikts zwischen einerseits dem Stand ihrer gemeinsamen Kooperation und andererseits der pri-vaten Aneignung der Produkte ihrer gemeinsamen Anstrengung bewusst und würden ihn ausfechten (vgl. Marx/Engels 1845, S. 37f.; Marx 1859, S. 9). Lange Zeit wurde Marx so missinterpre-tiert, dass die eigentliche Leistung kritischer Theoriebildung da-rin bestünde, alle diese politischen und ideologischen Formen auf ökonomische Prozesse zurückzuführen, indem sie als eine Funk-tion des ökonomischen Prozesses zu entschlüsseln seien. Das Problematische an diesem Verständnis ist, dass die verschiedenen intellektuellen Aneignungsweisen der Gesellschaft gar nicht Ge-genstand kritischer Analyse werden. Die Ökonomie im Sinne ei-nes metaphysischen Prinzips zu verwenden, das wie ein Gene-ralschlüssel zu jeder Frage die Antwort immer schon parat hat, verkennt, dass Marx' Konzeption darauf zielt, die kapitalistische Gesellschaft systematisch einer Befragung zugänglich zu machen. Demnach geht es also darum, die bürgerliche Gesellschaftsforma-tion als ein in besonderer Form gegliedertes Ganzes zu begreifen, das sich aus autonomen Gesellschaftsbereichen zusammensetzt, die in einer Wechselwirkung zueinander stehen und sich erst in dieser Wechselwirkung und im Gesamtprozess als autonome Be-reiche ausbilden. Diese autonomen Bereiche bilden sich als spezi-fische Formen der Austragung gesellschaftlicher Konflikte, in und durch Konflikte reproduzieren sie sich. Darin haben sie ihre notwendige materielle Grundlage: Wissenschaftler, die über die Formen, Mechanismen und Regeln des Zusammenlebens der Menschen nachdenken, lesen, Thesen entwickeln, Bücher schrei-ben und sich über Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung streiten, können dies nur tun, weil ihre theoretische Praxis in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung einen spezifischen Platz hat, un-ter gewissen Vorbehalten, die sich als antiintellektuelle Affekte äußern, als gesellschaftlich nützliche Arbeit anerkannt und des-wegen von anderen materiell getragen wird. In ähnlicher Weise

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gilt das für eine Vielzahl von Intellektuellen, sofern ihre Tätigkei-ten nicht schon längst Teil der Verwertung von Kapital unterwor-fen sind und sie dann tatsächlich auch im formellen ökonomi-schen Sinn gesellschaftlich nützliche Arbeit leisten. Anders als im Fall der vom Hof oder der Kirche persönlich abhängigen und häufig natural entgoltenen Intellektuellen wird die gesellschaftli-che Zeit, die der Funktion des Intellektuellen heute vorbehalten wird, in der abstrakteren Form markt- oder staatlich vermittelter Geldleistungen gewonnen. Das von Intellektuellen professionali-sierte Denken hat demnach, allerdings in unterschiedlichem Aus-maß, eine repräsentative Bedeutung, denn Menschen opfern ihre Lebenszeit dafür, dass einige von ihnen stellvertretend für alle an-deren über die gemeinsamen Fragen und Probleme nachdenken. Dies geschieht, weil sie für kompetent und ihre Tätigkeiten für wichtig gehalten werden. Das verbindet sich mit einem spezifi-schen Prozess der Herrschaft, denn was als kompetent gilt, ergibt sich selbst erst aus der Logik dieser gesellschaftlichen Arbeitstei-lung. Mit der Spezialisierung auf bestimmte Aufgaben ergibt sich auch für die intellektuellen Funktionen ein Surplus. Denn das Pri-vileg, über kollektive gesellschaftliche Zeit zu verfügen und sich auf die Entfaltung und Verfeinerung von bestimmten Kompeten-zen, Kenntnissen, Gefühlsweisen konzentrieren zu können, führt bei einigen zu einem immer höheren Niveau nach einmal etablier-ten Relevanzkriterien. Es kommt zu einer enormen Rationalisie-rung und zur Bildung von Expertenwelten, die kaum Übergänge zu den Alltagspraktiken kennen und gerade mit dieser Trennung zur Heterogenität und Fragmentiertheit des Alltagsverstands bei-tragen (vgl. Habermas 1981, Bd. 2, S. 482L und 521). Werden hin-gegen die besondere Gliederung der Gesellschaft, ihr Aufbau, da-mit auch die Rekrutierungsmuster, die Kompetenzkriterien und Relevanzgesichtspunkte in Frage gestellt oder real verändert (wie im Fall der Transformation in den staatssozialistischen Ländern, in denen gleichsam über Nacht ganze Forschungslinien unter den Verdacht gerieten, bloße Ideologie und wissenschaftlich irrele-vant zu sein), dann erweisen sich selbst komplexe Kenntnisse, Fragestellungen, Institutionen und Intellektuellennetzwerke als hinfällig.

Für das Verständnis der Gesellschaft ist also nicht allein ent-scheidend, dass die Menschen ihr materielles Leben reproduzie-ren. Für die kritische Theorie der Gesellschaft ist vor allem das

Wie von Bedeutung, die Art und Weise der materiellen Repro-duktion, der gesellschaftlichen Gliederung, in der sie sich voll-zieht, der sozialen Widersprüche und der die Reproduktion durchziehenden Kämpfe. Marx selbst hat sich bei seiner Analyse der Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft besonders auf eine der Formen konzentriert, auf die Ökonomie, also die Vielzahl der ideologischen und wissenschaftlichen Versuche, vom Standpunkt der Kapitalverwertung aus die kapitalistischen Produktionsver-hältnisse begreiflich zu machen. In einer ausführlichen kritischen Analyse der bürgerlichen Ökonomie und der hier stattfindenden Konflikte gelangte Marx zu Einsichten in die Reproduktionspro-zesse des Kapitals als vorherrschender Form, in der sich die mate-rielle Reproduktion des Lebens abspielt - aber nicht das Leben selbst (vgl. Marx 1894, S. 885). Marx geht in seiner Analyse viel-fach immanent vor. Er analysiert die verschiedenen Beiträge bür-gerlicher Ökonomen als Widersprüche in einem spezifischen Feld des Wissens, das die objektiven Gedankenformen des öko-nomischen Prozesses, den Alltagsverstand, mal mehr, mal weni-ger wissenschaftlich ausarbeitet. Bemerkenswert ist, dass er die Widersprüche der bürgerlichen Ökonomie nicht nur herausar-beitet, sondern auch erklärt. Er stellt sich dabei Bemühungen ent-gegen, reine ökonomische Abläufe zu stilisieren und dabei alles Unerwünschte außer Acht zu lassen; vielmehr bezieht er syste-matisch ökonomische Krisen wie Formen ökonomisch-politi-scher Gewalt und des Widerstands gegen Prozesse ökonomischer Ent- und Aneignung mit ein. Die Perspektive ist kritisch, weil be-stritten wird, dass die Ökonomie ein gleichsam reiner, naturge-setzlicher Prozess ist, sondern als ein allein durch Macht und Ge-genmacht vermittelter gesehen wird.

Aus dem Blickwinkel des historischen Charakters der kriti-schen Gesellschaftstheorie ist es keineswegs selbstverständlich, der Analyse der ökonomischen Formen immer eine derartige Priorität beizumessen. Genauer betrachtet wird man das vernei-nen. Ohnehin ist es eine theoretische Abstraktion, die materielle Produktion des unmittelbaren Lebens ins Zentrum der Analyse zu stellen, denn schon in diesen Prozess gehen implizit viele As-pekte des sozialen Lebens ein: Diskurse, Familienformen, Ratio-nalitätsmuster, staatliche Herrschaft. Der Raum der Ökonomie ist selbst ein durch Herrschaftspraktiken hergestellter Raum. In einem gegliederten Ganzen kommt es in den gesellschaftlichen

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Kämpfen zu charakteristischen Verschiebungen, die andere Be-reiche der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Kooperation zu einer grundlegenden Wichtigkeit gelangen lassen. Die Überle-gung geht also dahin, dass die kritische Gesellschaftstheorie von einem dynamischen Ganzen ausgehen muss, in dem für den Ge-samtprozess je nach Phase der kapitalistischen Vergesellschaftung sich die Gliederung ändert, weitere autonome Formen des gesell-schaftlichen Konflikts entstehen und schließlich auch andere Be-reiche zu einer für die Reproduktion grundlegenden Bedeutung gelangen.

Dies war eine der zentralen Überlegungen von Max Horkhei-mer in seinen Schriften während der 1930er Jahre. Er skizziert ein Verständnis von Marx' Beitrag zur kritischen Gesellschaftstheo-rie, die bemerkenswert ist, weil sie dessen historischen Charakter hervorhebt. Danach hat Marx mit seiner Theoriebildung mehrere Dinge gleichzeitig getan. Einmal hat er grundlegende Begriffe des kapitalistischen Reproduktionsprozesses, seiner Widersprüche und Krisen entwickelt und in einem entscheidenden Sinn zum Verständnis der kapitalistischen Produktionsweise, ihrer Ent-wicklung und ihren Stadien beigetragen. Damit hat er die über-lieferte kritische Theorie der Gesellschaft auf ein neues Niveau gehoben, weil sie über religions- und ideologiekritische, moral-philosophische oder utopistische Fragestellungen hinausging und Kritik und wissenschaftliche Theoriebildung zu einem neuarti-gen Theorietyp miteinander verband.

Aus dem Blickwinkel der Kritischen Theorie sollte die Schwer-punktsetzung der Marx'schen Theoriebildung auf den Bereich der Ökonomiekritik nicht verallgemeinert werden, sondern sich die Aufmerksamkeit auf die Gesamtdynamik der kapitalistischen Gesellschaftsformation richten, die auch andere Schwerpunkte in den Vordergrund schieben konnte. In ihren Arbeiten der 1930er und 1940er Jahre weisen die Vertreter der Kritischen Theorie auf drei wesentliche Veränderungen hin, die die Gliederung der Ge-sellschaft selbst betrafen. Das ist erstens die Verlagerung des ge-sellschaftlichen dominanten Bereichs hin zu politischer Herr-schaft durch eine Gruppe von Mächtigen, zu der die Spitzen von Unternehmen, Staat und Verbänden gehören. Die Arbeiterbewe-gung wird Teil der kapitalistischen Wachstums- und Herrschafts-logik. Alle tragen zur Aufrechterhaltung von Arbeit bei, wo es aufgrund der enormen Produktivkraftentfaltung schon längst

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möglich wäre, die Notwendigkeit der Arbeit auf ein Minimum zu reduzieren. Das ist zweitens die Erweiterung des Kapitalkreis-laufs, der nun mittels der industriellen Kulturproduktion auch kulturelle Prozesse der Logik der Verwertung unterwirft. Damit ändert sich die Gliederung der Gesellschaft deswegen, weil die Sphäre kultureller Bedeutungen ihre Distanz zur Wirklichkeit materieller Notwendigkeit verliert. Drittens schließlich verändert sich die Stellung des Subjekts. Dem Subjekt geht die Möglichkeit verloren, im Konflikt mit dem Vater ein autonomes Ich auszubil-den, die Ich-Instanz wird geschwächt und ist damit relativ hilflos Uber-Ich-Instanzen ausgeliefert, die, wie Kulturindustrie, kon-sumistische Lebensgewohnheiten vorgeben oder, wie die Politik, die Subjekte immer wieder in rassistische Kampagnen hinein-zwingen. Die freie Zeit ist keine Zeit der Muße mehr, sondern ist als Freizeit in den Verwertungskreislauf des Kapitals eingebaut, ist mithin die Fortsetzung der Arbeit. Angesichts dieser angedeu-teten Strukturveränderungen der kapitalistischen Gesellschafts-formation veränderte sich - aus der Sicht der älteren Kritischen Theorie - das Gewicht der Themen, Forschungs- und Theo-rieschwerpunkte: die Ökonomie tritt in den Hintergrund, Kul-turtheorie und Psychoanalyse treten in den Vordergrund. Da ökonomische Knappheit und staatliche Gewalt historisch nicht mehr rational sind, weil sie zur Erhaltung der Menschen nichts mehr beitragen, und das Reich der Notwendigkeit schon längst durch das Reich der Freiheit abgelöst werden könnte, muss sozi-alpsychologisch erklärt werden, wie es dazu kommt, dass die In-dividuen mitmachen. Es muss auf einen vierten Aspekt hingewie-sen werden.

Auch philosophische, rationalitätstheoretische Fragen gewan-nen aus der Sicht der älteren Kritischen Theorie wieder neues Ge-wicht. Marx hatte Rationalität an die Entfaltung der gesellschaft-lichen Kooperation gebunden. Kooperation bewirkt im Prinzip ein Positivsummenspiel, denn durch das Zusammenhandeln wachsen die produktiven Fähigkeiten eines Kollektivs weit über die Summe aller Einzelaktivitäten hinaus. Die unmittelbare Ar-beit, so Marx, wird zu einem subalternen Moment gegenüber der »aus der gesellschaftlichen Gliederung in der Gesamtproduk-tion hervorgehenden allgemeinen Produktivkraft« (Marx 1857, S. 596). Das Kapital setzt die Tradition von Herrschaft fort, sich diese Produktivkraft anzueignen, lässt sie aber nun nicht nur als

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eine personale Eigenschaft der Herrschenden, sondern vor allem als eine Natureigenschaft des Kapitals selbst erscheinen. Die Vor-teile, die aus der Kooperation aller gezogen werden, werden nicht an alle Einzelnen zurückverteilt, sondern von wenigen angeeig-net, die sich als privilegierte, begabte, leistungsfähige, verantwor-tungsbereite Subjekte setzen, denen alles auf natürliche Weise zu-kommt und die deswegen in der sozialen Position sind, in der sie sind. Das blockiert jedoch diese produktive Form der Vergesell-schaftung, weil damit die weitere Entfaltung und Steigerung aller Einzelnen in und durch die Kooperation verunmöglicht wird. Wissen und Wissenschaft sind Formen der bewussten Steigerung des angesprochenen produktiven Effekts der gesellschaftlichen Kooperation. »Die Entwicklung des capital fixe zeigt an, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen, know-ledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellects gekommen und ihm ge-mäß umgeschaffen sind.« (Marx 1857, S.602) Durch bewusste Kooperation könnten die Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftli-chen Zusammenlebens rational bestimmt werden - was die Prü-fung einschließt, ob bestimmte soziale Reproduktionsmuster zu erhalten sinnvoll ist. Für das Verständnis von Wissenschaft und Rationalität ist das bedeutsam. Denn im materialistischen Ver-ständnis ist gerade diese Form bewusster Kooperation die Gestalt von Wissen und Rationalität. »Das Zusammenwirken der Men-schen in der Gesellschaft ist die Existenzweise ihrer Vernunft, so wenden sie ihre Kräfte an und bestätigen ihr Wesen.« (Horkhei-mer 1937, S. 177) Da nun die bürgerliche Klasse ihre Existenz-grundlage darin hat, fremde Arbeitszeit anzueignen, hat sie kein Interesse an einer Verringerung der notwendigen Arbeit der Ge-sellschaft auf ein Minimum und an der Entfaltung aller Indivi-duen. Dies bedeutet, dass Wissen, Wissenschaft und Rationalität immer wieder begrenzt oder derart geformt und ausgerichtet oder entfaltet werden müssen, dass sie die Kontinuität der kapita-listischen Produktionsverhältnisse und von Herrschaft nicht be-drohen. Daraus resultiert Theoriefeindschaft. Was Horkheimer 1937 beobachtete, erschien Adorno noch Ende der 1960er Jahre unvermindert aktuell, und es gibt zahlreiche Anhaltspunkte da-für, dass Ablehnung von Theorie auch heute eine verbreitete Hal-tung ist. »Die Feindschaft gegen das Theoretische überhaupt, die

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heute im öffentlichen Leben grassiert, richtet sich in Wahrheit ge-gen die verändernde Aktivität, die mit dem kritischen Denken verbunden ist. Wo es nicht beim Feststellen und Ordnen in mög-lichst neutralen, das heißt für die Lebenspraxis in den gegebenen Formen unerlässlichen Kategorien bleibt, regt sich sogleich ein Widerstand. Bei der überwiegenden Mehrheit der Beherrschten steht die unbewusste Furcht im Weg, theoretisches Denken könnte die mühsam vollzogene Anpassung an die Realität als ver-kehrt und überflüssig erscheinen lassen; bei den Nutznießern er-hebt sich der allgemeine Verdacht gegen jede intellektuelle Selb-ständigkeit. [.. .] Weil die fortgeschrittenste Gestalt des Denkens in der Gegenwart die kritische Theorie der Gesellschaft ist und jede konsequente intellektuelle Anstrengung, die sich um den Menschen kümmert, sinngemäß in sie einmündet, gerät Theorie überhaupt in Verruf.« (Horkheimer 1937, S. 206) In ihrer Selbst-führungspraxis verbieten sich die Individuen die theoretische Einsicht, weil sie dann in einer Weise handeln müssten, vor der sie selbst erschrecken. Theoretische Erkenntnis wäre das Leichte, alle könnten verstehen. Die Anstrengung, die die Individuen auf-bringen, besteht demnach weniger darin, zu begreifen, als viel-mehr, Erkenntnisbarrieren und Widerstände psychisch zu beset-zen, die die Einsicht verhindern. Dies führt zu Ressentiments.

Die Erfahrung, dass Theorie als Haltung, als Wille zur bewuss-ten und rationalen Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammen-lebens derart, dass notwendige Arbeit immer weiter reduziert und die Lebensverhältnisse für die Einzelnen leichter und freier wür-den, auf zunehmende Ablehnung stieß - diese Erfahrung wurde konstitutiv für die Praxis der Vertreter der älteren Kritischen Theorie. Sie beobachteten eine Schwächung der Rationalität der Individuen und die starke Verbreitung von irrationalistischen, so-gar wahnhaften Tendenzen in allen von der entwickelten kapita-listischen Produktionsweise bestimmten Gesellschaften - also so-wohl in den westlichen Demokratien als auch in den autoritären Staaten des Ostens. In den leichteren Formen ist das der Glaube an das Horoskop oder an religiöse Sektenlehren; in den stärkeren Formen ist das Antisemitismus oder Nationalismus. In allen die-sen Fällen glauben die Individuen daran, dass ihr Leben durch na-türliche Kräfte - die Stellung der Sterne und kosmische Energien oder übermächtige Gruppen, die Juden, die Nation als überindi-vidueller Organismus - bestimmt wird. Auch in den Wissenschaf -

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ten selbst werden die Rationalitätsansprüche weitgehend redu-ziert. Die Gesellschaft wird nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer Veränderbarkeit und mithin unter dem Gesichtspunkt von Aus-einandersetzungen um alternative Entwicklungspfade begriffen; vielmehr wird die Gesellschaft, so wie sie ist, selbst zur Ideologie. Sie habe sich evolutionär als moderne, ausdifferenzierte Gesell-schaft herausgebildet und sei als solche alternativlos. Sie gilt als eine Form von Gesellschaft, die im Wesentlichen gut funktioniert, und die Probleme, die sich hier oder dort einstellten, werden als bloß kontingent angesehen; sie könnten durch gezielte Eingriffe und durch Modernisierung in Bälde beseitigt werden: Arbeitslo-sigkeit, Hunger und Armut, Zivilisationskrankheiten, Verkehrs-tote, Zerstörung der Umwelt und der menschlichen Lebens-grundlagen, Krieg, so das Versprechen, würden verringert oder beseitigt. Aber man sollte das System auch nicht normativ über-fordern und lernen, mit solchen Bedingungen der Moderne zu leben.

Horkheimer und Adorno sahen in der angesprochenen Schwä-chung des Verhältnisses des Subjekts zur Theorie seine ab-nehmende Fähigkeit, an Rationalität als Handlungsmaßstab im Entwicklungsprozess der bürgerlichen Gesellschaftsformation festzuhalten. Sie befürchteten, dass die Bereitschaft, theoretisch zu denken, weiter abnehmen könnte. Dies meint in der Tradition kritischer Gesellschaftstheorie seit der frühen Aufklärung: dass Theorie als Begriff und Kritik von Herrschaft, als Denken des Ganzen, seiner Veränderung und seiner Gestaltung im Lichte der Interessen und Erfahrungen aller Einzelnen in immer gerin-gerem Maße als sinnhaft-bedeutungsvolle Haltung die kulturelle Orientierung und das Handeln der Einzelnen prägt. Theorie und Wahrheit selbst werden zunehmend marginalisiert und in der ge-sellschaftlichen Arbeitsteilung zur Spezialität einiger weniger Philosophen oder Soziologen. Gleichwohl sehen Horkheimer und Adorno die historische Möglichkeit, den Trend, wenn nicht vollständig umzukehren, so doch wenigstens zu verlangsamen. Ihre eigene praktische Anstrengung galt dem Versuch, durch ihre Lehre an der Universität, durch Vorträge und Publikationen die Disposition zur Theorie unter Jüngeren zu stärken. Theorie, ver-standen als Haltung, die auf eine rationale Gestaltung des gesell-schaftlichen Zusammenhangs zielt, sollte selbst zu einer verbind-lichen Selbsttechnik und Praxis werden. Sie bemühten sich, durch

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eine ganze Reihe wahrheitspolitischer Initiativen ein Feld herzu-stellen, auf dem die Orientierung an Wahrheit, Rationalität und Theorie eine handlungsverpflichtende Bedeutung bekam. Anders als häufig vermutet, waren Horkheimer und Adorno also nicht resignativ, sondern entwickelten eine besondere Form der Praxis, die ich hier, im Anschluss an Foucault, als Politik der Wahrheit bezeichne (vgl. ausführlich dazu Demirovic 1999). Es ging ihnen darum, ein neues Verhältnis zur Wahrheit zu finden und herzu-stellen, ein solches Verhältnis, in dem Wahrheit selbst einen neuen Status bekommen sollte. Dieser Status sollte emanzipatorisch sein, das Universelle der Theorie sollte tatsächlich auch universell zugänglich sein und sich durch Kooperation, durch die Erfahrung der Vielen, entfalten.

Problematisch an den Überlegungen Horkheimers und Ador-nos ist allerdings, dass sie von der Annahme einer linearen nega-tiven Entwicklung ausgingen, in der Theorie immer weiter abge-wertet werden würde. Wohl sahen sie die positive öffentliche Resonanz auf die Kritische Theorie; und sie reagierten derart dar-auf, dass sie es für notwendig hielten, Annahmen und Überlegun-gen zu ändern. »Nicht an allem, was in dem Buch [Dialektik der Aufklärung] gesagt ist, halten wir unverändert fest. Das wäre un-vereinbar mit einer Theorie, welche der Wahrheit einen Zeitkern zuspricht, anstatt sie als Unveränderliches der geschichtlichen Bewegung entgegenzusetzen.« (Horkheimer/Adorno 1969, S. 13) Dennoch hielten sie an der These der linearen Schwächung der Theorie fest. Die Prognose, so schreiben sie 1969, des Umschlags von Aufklärung in Positivismus, die Identität von Intelligenz und Geistfeindschaft habe überwältigend sich bestätigt (vgl. ebd., S. 14). Horkheimer und Adorno konnten in gewisser Weise dem Erfolg ihrer eigenen Praxis, der prognostizierten Entwicklung et-was entgegenzusetzen, nicht ausreichend Rechnung tragen, ihr Widerstand bleibt der historischen Tendenz selbst gleichsam äu-ßerlich und wirkt aus ihrer Sicht nur wie ein Aufhalter, eine Be-grenzung. Im Rückblick jedoch stellt sich die Frage, wie beides zusammen zu denken sei: die Erfahrung einer schwächer werden-den Bedeutung eingreifender Theorie und einer theoretischen Praxis, durch die Theorie immer wieder ein enormes Gewicht und soziale Wirkmächtigkeit erlangen kann, weil Theorie ein Mo-ment des historischen Prozesses und der Kämpfe ist. Es macht mit Blick darauf Sinn, nicht von einer linearen Entwicklung zu spre-

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chen, sondern eher von konjunkturellen Krisenprozessen der Wahrheit und der Rationalität. Horkheimers und Adornos Über-legungen können deswegen als ein wichtiger Beitrag zu einer Kri-sentheorie der Wahrheit begriffen werden, in dem jedoch die Erfolge und konjunkturellen Überwindungen der Krise der Wahrheit, der Theorie, der Rationalität nicht ausreichend mitbe-dacht wurden.

I I

Es ist also ein Moment in der Logik kritischer Gesellschaftstheo-rie, ihren eigenen Status als Theorie im gesellschaftlichen Prozess selbst zu bestimmen. Das ist in dem Sinn gemeint, dass es den As-pekt der rationalen Gestaltung der sozialen Verhältnisse und den Aspekt der Disposition der Individuen zur Rationalität umfasst. Die kritische Gesellschaftstheorie beschränkt sich demnach nicht auf die wissenschaftsdisziplinär-akademische Diskussion und Fortentwicklung, denn diese ist keineswegs immer wissenschaft-lich, sondern kann von Ansprüchen auf rationale Gestaltung der kollektiven Lebenszusammenhänge wegführen und fließend in Herrschaftsideologie übergehen; vielmehr steht sie in einem -durchaus kritischen - Zusammenhang mit Tendenzen zu Ratio-nalität im gesellschaftlichen Gesamtprozess. Anders gesagt, die Gesellschaftstheorie ermächtigt nicht den Sozialwissenschaftler zu der symbolischen Gewalthandlung, von einem an sich für wis-senschaftlich gehaltenen Standort aus gesellschaftliche Akteure zu objektivieren, zu passivieren und unter dem Gesichtspunkt zu interpretieren, ob sie emanzipationsgeleitet handeln. Diese Ak-teure können hohe Rationalität haben, aber auch die Theorie be-greift sich selbst als ein aktives Moment der emanzipatorischen Rationalität und kann deswegen versuchen, mit entsprechenden emanzipatorischen Akteuren eine Einheit zu bilden. Entspre-chend den Veränderungen der gesellschaftlichen Kooperation und der konkreten Form von Rationalität verändern sich auch die Fragestellungen und Rationalitätsgesichtspunkte kritischer Ge-sellschaftstheorie.

Betrachten wir die Theorieentwicklung nach Horkheimer und Adorno, so lässt sich erkennen, dass der Gegenstand sich erneut verschiebt, und dieses Mal richtet sich die Aufmerksamkeit auf

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die Politik und den Wohlfahrtsstaat als Feld entscheidender Kon-flikte, die nach jahrzehntelangen Kämpfen um Demokratie nun weitgehend in den Verfahren der parlamentarischen Demokra-tie und in korporatistischen Aushandlungsmechanismen die dau-erhafte Verlaufsform einer kontrollierten Veränderungs- und Modernisierungsdynamik angenommen haben. Mit der gesell-schaftlichen und theoretischen Konstitution der Politik und des nationalen Wohlfahrtsstaates als Ort gesellschaftlicher Entschei-dung wird auch die Theorie umgestellt. Dies lässt sich, wie im Folgenden nur angedeutet werden kann, vor allem am Werk von Jürgen Habermas beobachten.

Habermas' seit Anfang der 1960er Jahre ausgearbeitete Theorie lässt sich als ein bestimmter Theorietyp begreifen, der sich aus dem Versuch ergibt, das Problem der Demokratie systematisch zum Bezugspunkt kritischer Gesellschaftstheorie zu machen. Die Autonomie dieses Bereichs gewinnt Habermas durch eine strikte Trennung der Koordination sozialen Handelns durch Kommuni-kation von der Handlungskoordination, die durch die Medien, Geld und Macht gesteuert wird. Als besonderen Gewinn dieser Unterscheidung betrachtet er, dass das Gesellschaftsmodell zwei-stufig ist und sich aus den beiden Subsystemen Wirtschaft und Politik einerseits und der Lebenswelt andererseits zusammen-setzt; also hier ein Handlungsbereich, in dem moralentlastet und nach Gesichtspunkten des Erfolgs gehandelt wird, dort ein Handlungsbereich, in dem die Individuen sinnhaft nach solchen Gesichtspunkten handeln, die sie in der lebensweltlichen Kom-munikation gemeinsam miteinander erzeugen. Zwischen Subsys-temen und Lebenswelt befindet sich - gleichsam im Zentrum der Theorie - die politische Öffentlichkeit, die zwischen diesen bei-den Sphären der Gesellschaft, zwischen Faktizität und Geltung vermittelt. In der Lebenswelt handeln die sozialen Akteure kom-munikativ aus, in welcher gemeinsamen objektiven und intersub-jektiven Welt sie leben. Hier, in alltäglichen Gesprächen, reflek-tieren die Individuen ihre Erfahrungen mit den normfreien Folgen der objektiven Welt der Subsysteme ebenso wie die un-terschiedlichen Vorstellungen vom guten Leben. Sie prüfen ihre Erfahrungen und Handlungsnormen im Lichte moralischer Ar-gumente. Erscheinen ihnen diese nicht mehr einsichtig und verall-gemeinerbar, gehen sie an die Öffentlichkeit und versuchen, mit vernünftigen, verallgemeinerungsfähigen Argumenten öffentlich

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Resonanz zu erzeugen und die eingeschliffenen Normen, an de-nen sich das Alltagsleben bislang ausgerichtet hat, in Frage zu stellen, so dass kulturelle Selbstverständlichkeiten und rechtliche Normen, die ökonomische oder politische Entscheidungen ko-dieren, unter Rechtfertigungsdruck gesetzt und so vielleicht auch aufgebrochen werden und Raum für neue Lebensformen ent-steht. Soweit dies nötig ist, kann dies auch zu einer kommunika-tiven Belagerung des gesellschaftlichen Entscheidungszentrums führen: des Parlaments, das gesellschaftliche Normen in Gesetze übersetzt und damit systemisch integriertes Handeln - also die Subsysteme Politik und Wirtschaft - steuert.

Die folgenreichste Entscheidung in der Theorie von Habermas ist die Trennung von materieller Reproduktion und Lebenswelt (vgl. Honneth 1985). In der letztgenannten Sphäre wird Handeln durch moralische Normen bestimmt. Diese Normen gehen in die alltäglich in Anspruch genommenen Hintergrundüberzeugungen ein, die stillschweigend den Handlungsroutinen zugrunde liegen sollen. Mit dieser Überlegung verlagert sich der Schwerpunkt der Gesellschaftstheorie auf die Moralphilosophie. In den moralphi-losophischen Auseinandersetzungen, die kommunikativ im All-tag ausgetragen werden, wird über die Reproduktion und Per-spektive der Gesellschaft entschieden. Die Bereiche Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit werden allein aus dem moralphiloso-phischen Blickwinkel erschlossen. Dass die Form der Moral der-art ins Zentrum rückt, weil in diesem Feld relevante Auseinander-setzungen stattfinden, kann unter Umständen sehr plausibel sein, doch gibt es die historische Perspektive nicht mehr, die eine sol-che Aufwertung dieses besonderen Bereichs innerhalb der kapi-talistischen Gesellschaftsformation erklären könnte. Auch wird die Moral ihrerseits nicht einer materialistischen Analyse ihrer spezifischen Argumentationsweise, ihrer immer wiederkehren-den Problemlagen, der mit ihr verbundenen Institutionen und ge-sellschaftlichen Folgen unterzogen.

Haberrrjps argumentiert in diesem Zusammenhang mit Rück-griff auf eine außerhistorische anthropologische Eigenschaft, um plausibel zu machen, dass Menschen ihre Normen immer in der Lebenswelt durch sprachliche Verständigung erzeugen. Sprache ist demnach der primäre Vergesellschaftungsmechanismus. Denn mit dem Erwerb der Sprache und dem Sprechen gehen die Spre-cher bestimmte, für alle geltende Bedingungen ein: Sie erheben die

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Geltungsansprüche, dass die objektive Welt dort draußen und die intersubjektive Welt eine gemeinsam geteilte Welt seien. Vom ers-ten Augenblick des Sprechens an interpretieren die Menschen ihre Wirklichkeit und handeln in Verständigungsprozessen ihr gemeinsames Weltverständnis aus. Kommunikative Rationalität besteht darin, dass die Menschen sich wechselseitig als gleichbe-rechtigte Sprecher anerkennen, die ihrerseits mit ihren Erfahrun-gen und ihren diskursiven Beiträgen zur gemeinsamen Interpre-tation der Welt beitragen. Diese Überlegung unterscheidet sich nicht so sehr von der Marxens. Auch er nimmt an, dass allein das Zusammenwirken der Gesellschaftsmitglieder eine besondere Produktivität möglich macht - und die Rationalität der Gesell-schaft bemisst sich daran, dass diese Kooperation gelingt. Diese Rationalität ist - anders als Habermas vermutet - nicht zu verkür-zen auf monologische Rationalität bloß technisch-instrumentel-ler Naturaneignung, sondern ist Arbeit als Lebensbedürfnis, Ko-operation, Wissen, Sprache und Praxis in einem breiten Sinn des gesellschaftlichen Verkehrs. Die Vereinseitigung der Gesell-schaftlichkeit auf Sprache schafft Habermas aber besondere Mög-lichkeiten. Ein naturalistisches Verständnis von Arbeit legt nahe, es handele sich um eine der Natur des Menschen gemäße, mono-logische Tätigkeit, während nach Marx Arbeit immer sogleich mit historischen und soziologischen Fragen danach verbunden ist, wer wie viel arbeiten muss, wer die Früchte der Arbeit genießt, wer das Kommando hat und über die Arbeitsmittel verfügt. Sol-che unbequemen Fragen können im Fall der Sprache außer Be-tracht bleiben. Sprache erlaubt von innen her, Natur und Gesell-schaft zu verbinden, denn niemand kann eine natürliche Sprache für sich allein sprechen. Dies scheint von vornherein eine univer-salistische Ebene egalitärer und autonomer Subjektposition zu konstituieren: Alle sind Sprecher, alle sind gleichberechtigt, alle sind spontan und schöpferisch, für alle gilt die Unterstellung, sich dann rational zu verhalten, wenn sie sich dem zwanglosen Zwang der sprachlich hergestellten Intersubjektivität überlassen. An die-ser in die natürliche Sprache eingelassenen Norm lässt sich mes-sen, wieweit die Individuen daran gehindert sind, intersubjektiv Verständigungsverhältnisse zu konstituieren, in denen sie sich wechselseitig als gleich, frei und autonom anerkennen können. Gesellschaft müsste, normativ gesprochen, dieser Natur entspre-chen. Kritische Vorbehalte gegenüber Rationalität muss es - an-

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ders als bei Horkheimer und Adorno - nicht geben, da diese in den sprachlichen Prozess alltäglicher Verständigung eingelagert ist. Diese kommunikative Vernunft muss gegen diejenigen vertei-digt werden, die sie beschränken oder aushöhlen wollen.

Habermas' Argumentation hat das Verdienst, die Bedeutung der Sprache, des Sprechens und vor allem der sprachlich vermit-telten Interaktion für die kritische Gesellschaftstheorie herauszu-arbeiten. Trotz ihrer Breite entgehen Habermas' Theorie viele Themenbereiche. So kommt es aufgrund der moralphilosophi-schen Ausrichtung der Theorie zu keinen konkreten Analysen von Interaktionen, von Öffentlichkeiten und von Sprechen - für alle diese Bereiche lässt sich zeigen, dass Diskurse dem Prinzip nach ebenso sehr Formen symbolischer Gewalt wie Dissidenz, Widerstand und Rationalität praktizieren; außer Betracht bleiben auch die Konflikte in den Produktionsverhältnissen und die mit der gesellschaftlichen Kooperation verbundenen Rationalitäts-prozesse. Vor allem stellt sich als Problem, dass seine Art der Ana-lyse Rationalität als anthropologisch-omnihistorisch begreift. Der sprachliche Prozess soll als solcher schon rational und uni-versalistisch sein. Die Geschichte kann in einem langen Evoluti-onsprozess sich dorthin entfalten, wo sich die Logik kommunika-tiven Handelns endgültig behauptet. Das ist schließlich die moderne Form der politischen Öffentlichkeit. Aufgrund dieser Überlegung setzt sich auch die Theorie selbst als universalistisch und dem Prinzip nach als überhistorisch. Denn stimmt ihre An-nahme, dann hat sie etwas nachgewiesen, das sie über jeden Streit erhebt. Gleichzeitig widerspricht sich die Theorie gleich auf zweierlei Weise. Erstens gehört zum Selbstverständnis von Theo-rie, dass sie kritisierbare Geltungsansprüche erhebt, die kommu-nikativ eingelöst werden müssen. Die Theorie muss also dem Prinzip nach annehmen, dass sie widerlegbar ist. Die Theorie von Habermas wird jedoch durch jeden Einwand nur bestätigt, weil jeder Einwand ein Argument ist und mithin selbst genau das tut, was seine Theorie behauptet: nämlich im Sprechen Geltungsan-sprüche zu erheben. Zweitens kann die Theorie ihre eigene Ge-schichtlichkeit nicht denken. Das ist ein wichtiger Unterschied zur älteren Kritischen Theorie, die annimmt, dass das Verhältnis der Theorie zu dem von ihr analysierten Gegenstand sich ändert und damit der Gesellschaft selbst eine bestimmte historische Sig-natur verleiht. Kritische Gesellschaftstheorie entsteht mit der

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modernen, bürgerlichen Form des Sozialen, will sich aber ebenso wie ihren Gegenstand aufheben. Habermas' Theorie würde, wenn sie zutrifft, so lange gelten, wie Menschen miteinander spre-chen. Die Theorie behauptet allerdings auch, dass die Menschen erst durch kommunikative Verständigung und die aushandelnde Interpretation zu von ihnen gemeinsam geteilten Rationalitäts-maßstäben gelangen. In diesem Fall wird j eder Anspruch auf Uni-versalität immer in einer konkreten Sprache und in einem konkre-ten Kontext erhoben (vgl. Butler 2000). Auch Habermas muss den Universalismus, den er in seiner Theorie proklamiert, mit ei-ner spezifischen Argumentationsweise und in einem konkreten Kontext entfalten. Da dies auch für andere Teilnehmer und Teil-nehmerinnen an den gesellschaftlichen Diskussionen und Aus-einandersetzungen gilt, bedeutet dies, dass es viele Universalis-men gibt, die ihrerseits in einem manchmal harten Konflikt darum kämpfen, welcher von ihnen als allgemeinverbindlicher Horizont der sozialen Akteure gilt, in dem sie sich, ihr Handeln, ihre Welt begreifen. Universalismus ist jeweils nicht mehr als eine von vielen Subjekten geteilte Objektivität - eine These, die den Universalismus überhaupt nicht mindert, sondern im Gegenteil ihn in seiner geschichtsmächtigen Bedeutung erst hervortreten lässt. Habermas' Theorie erlaubt es nicht, diese Art der Auseinan-dersetzung zwischen Universalismen zu denken. Gerade an einer der problematischen Annahmen der älteren Kritischen Theorie, nämlich der linearen Konzeption von Wahrheit, hält er fest, aller-dings kehrt er sie um: Während der älteren Theorie zufolge die Theorie in ihrer Substanz gefährdet wird, sind bei Habermas alle Subjekte schon immer im Wahren des Sprechens. Sind sie sich nur der universalpragmatischen Bedingungen ihrer Rede bewusst, dann werden sie im Sinne diskursiver Verständigungsorientie-rung auch rational handeln. In einer objektivistischen Haltung legt die Theorie diese Grundlagen der Rationalität frei. Dies ge-schieht innerhalb eines innerwissenschaftlichen Fortschrittspro-zesses, der allenfalls durch die aufgehalten werden kann, die die kommunikativen Aspekte der Rationalität verkennen und diese einseitig auf eine instrumentalistische und funktionalistische Di-mension festlegen.

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III

Die im Sommer 1999 von Peter Sloterdijk geäußerte Behauptung, die Kritische Theorie sei tot, kann mehr oder weniger harmlos als Teil eines der gängigen Hin und Hers im Feuilleton gelesen wer-den; sie kann jedoch auch als Hinweis auf eine theoriepolitische Situation begriffen werden. In symptomaler Hinsicht markiert dieser Satz eine tief gehende Verschiebung im Verhältnis der Kri-tischen Theorie zu ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit. Es han-delt sich um die Bemühung, die Theorie zu historisieren, sie gilt nicht mehr, im Sinne Horkheimers, als die Gestalt emanzipatori-scher Bemühungen, sondern nur noch als ein historisches Muster intellektueller Selbstverständigung jener Periode, die durch Exil, Krieg, durch die Vernichtung der Juden und den Wiederaufbau der Demokratie gekennzeichnet war. Diese Zeit sei nun vorbei. Mit der objektivierenden konstativen Aussage wird der Wille be-kundet, sie möge tot sein; es ist der Versuch, sie totzusprechen (vgl. Demirovic 2000). Sieht man davon ab, dass der Autor damit seinem performativen Sprechakt selbst eine magische Kraft zu-spricht, so trifft er einen ernsten Sachverhalt kritischer Gesell-schaftstheorie. Eine wichtige Bedeutung von Horkheimers Bei-trägen der 1930er und 1940er Jahren lag darin, dass sie - im Übrigen darin Antonio Gramscis Gefängnisheften ähnlich - für die Tradition der kritischen Gesellschaftstheorie die internen Transformationen der kapitalistischen Reproduktion auch for-schungslogisch registrierten: also neue Begriffe, neue Gegen-stände, neue Außerungsmodalitäten, neue Strategien (vgl. dazu Foucault 1973). Wie oben gezeigt wurde, war Horkheimer und Adorno Ende der 1960er Jahre bewusst, dass die kritische Gesell-schaftstheorie erneut vor die Notwendigkeit gestellt werden konnte, sich zu transformieren, sie sprachen deswegen vom Zeit-kern der Theorie. Auch im Sinn einer solchen forschungslogi-schen Umstellung macht es jedoch keinen Sinn, die Theorieent-wicklung auf eine Genealogie festzulegen, wie dies Sloterdijk tut, indem er eine der akademischen oder aristokratischen Tradition verpflichtete Perspektive der Geschichtsschreibung wählt. Schon die Begrenzung der kritischen Gesellschaftstheorie auf eine Linie, die mit Horkheimer beginnt und dann über Adorno zu Habermas weiterführt, ist wenig plausibel. Horkheimers eigene Überlegun-gen standen in einem breiteren Diskussionszusammenhang, der

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allerdings durch die Verfolgung der kritischen Intellektuellen in Ost und West, die ihre Unabhängigkeit bedrohte, zunehmend kleiner wurde. Lange Zeit konnte kaum damit gerechnet werden, dass die Tradition kritischer Gesellschaftstheorie überhaupt eine Fortsetzung finden würde. Dies zu ermöglichen war eine der we-sentlichen institutionellen Bemühungen Horkheimers und Ador-nos. Spätestens mit den verschiedenen Protestbewegungen seit »1968« wurde die kritische Gesellschaftstheorie von einer neuen Dynamik erfasst, sie erfuhr zahlreiche neue Anregungen, neue Begriffe und Fragestellungen wurden erarbeitet (vgl. dazu die Bei-träge in Demirovic 2003). Habermas' Theorie fasst ein bestimmtes historisches Stadium der bürgerlichen Gesellschaftsformation be-grifflich zusammen, in dem die gegensätzlichen Klasseninteressen tatsächlich zu einem wohlfahrtsstaatlichen Kompromiss zusam-mengebracht wurden, der für die abhängigen Teile der Bevölke-rung über lange Zeit Teilhabe am Wirtschaftswachstum und hoch-formalisierte Teilnahme an der öffentlichen Willensbildung mit sich brachte. Die wesentlichen Überlegungen zu dieser Theorie wurden zu einer Zeit formuliert, in der die Bestandsbedingungen des auf einem fordistischen Akkumulationsregime beruhenden Wohlfahrtskompromisses schon in die Krise geraten waren (vgl. Sablowski 2003). Langfristige Senkung der Reallöhne, struktu-relle Arbeitslosigkeit, zunehmende Polarisierung von Arm und Reich, durch die Globalisierung und europäische Integration her-beigeführte Konkurrenz der Lohnabhängigen, Schwächung der Gewerkschaften als Gegenmacht, Erosion des Flächentarifver-tragssystem, zunehmende Verschuldung der öffentlichen Haus-halte und steuerliche Belastung der unteren Einkommensgrup-pen, Stagnation oder gar Verschlechterung im Ausbildungs- und Bildungsbereich, Belastung und Zerstörung der Umwelt sind nur einige der Tendenzen, die zu ergänzen sind durch gegenläufige Tendenzen wie das Aufkommen und die Zunahme sozialer Bewe-gungen, die Reorganisation der Arbeits- und Betriebsweise, die Bildung von globalen Netzwerken auf der technologischen, öko-nomischen oder politischen Ebene, die Immaterialisierung der Arbeit, die Inwertsetzung von Wissen und Gemeingütern (vgl. Jessop 2003). Diese Tendenzen weisen darauf hin, dass sich ein neues Muster der Reproduktion der kapitalistischen Vergesell-schaftung entwickelt. Unklarheiten in der gegenwärtigen Diskus-sion bestehen darin, ob das alte, fordistisch-wohlfahrtsstaatliche

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Muster sich noch reproduzieren kann oder ob sich ein neues schon ausgebildet hat (vgl. die Beiträge in Dörre/Röttger 2003). Es finden sich Analysen zu weltwirtschaftlichen Entwicklungen, zu neuen Produktionsmodellen und neuen Akkumulationsmus-tern, zum Verhältnis von Finanz- und produktivem Kapital, zu staatlichen Strategien, zur Aushöhlung und Transformation des Wohlfahrtsstaats und, im Zuge der Globalisierung, der Schwä-chung national verfasster Muster demokratischer Beteiligung. Die fordistischen Subjekt- und Identitätsformen, die Norma-litätsstandards von Heterosexualität, ethnischer Selbstidentifi-zierung als Weiße oder als Arbeiter werden Gegenstand der kritischen Analyse. Die Selbstverhältnisse und Selbstführungs-praktiken der Individuen rücken in den Blick. Schließlich wird auch die Entwicklung einer neuen Rationalität aufgrund einer neuen Stufe der Kooperation gesehen, die resultiert aus der Imma-terialisierung und Wissensbasierung der Arbeit, durch die das im-plizite Wissen der Individuen, die Selbstführung und ihre Subjek-tivität in die produktiven und politischen Prozesse stärkeren Eingang findet. Es kommt zu einer erneuten Verlagerung, der ge-sellschaftliche Charakter der Ökonomie rückt in den Mittelpunkt der Analyse. Denn es finden Kämpfe um eine neue Enteignung des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters und der gesellschaftlichen Kooperation statt. Das Wissen, das ein Gemeingut sein könnte, und die Kooperation, die auf wissensbasierter Arbeit beruht, wird durch die Schaffung neuer Eigentumstitel auf biologische Res-sourcen oder geistiges Eigentum im Bereich von Musik, Film oder Software privat anzueignen versucht. Erneut wird auch versucht, die Möglichkeit von Freiheit durch Reduktion des gesellschaftli-chen Arbeitsvolumens gegen die Lohnabhängigen zu wenden durch Ausdehnung der Lebensarbeitszeit oder durch die staatli-che Sanktionierung der Arbeitslosen. Solche Versuche richten sich gegen die emanzipatorischen Tendenzen, wie sie sich gegen-wärtig mit neuen Formen der Produktivkraft entwickeln, sie sind aber auch irrational, weil heute gerade so häufig diejenigen gegen die Einhegung und Aneignung von Kollektiveigentum an Pro-duktionsmitteln kämpfen, die das Wissen und die Fähigkeiten ha-ben, es produktiv weiterzuentwickeln (vgl. Moulier Boutang 2003; Gorz 2002; Gröndahl 2002).

Auch wenn dies verschiedentlich angemahnt wird (vgl. Görg 2003; Candeias 2003), bleibt für alle diese kritischen Bemühungen

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festzuhalten, dass sie noch weit entfernt sind von einer Gesell-schaftstheorie, die schon dem Anspruch genügen würde, den inneren Zusammenhang des komplexen Ganzen der sich gegen-wärtig abzeichnenden neuen Phase der bürgerlichen Gesell-schaftsformation, ihre Neugliederung und die besonders domi-nanten Bereiche darin zu bestimmen.

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