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“Grundlagen der europäischen Friedensordnung seit 1945 - Europarat, NATO, EU, OSZE“ Ringvorlesung “Friedensbildung – Grundlagen und Fallbeispiele” 9. Januar 2014 Prof. Dr. Cord Jakobeit

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Page 1: “Grundlagen der europäischen...1) Einleitung These: Der „Frieden von unten“ in Europa nach 1945 war immer auch eine Reaktion auf die (z.T. unbefriedigen-den) Versuche des „Friedens

“Grundlagen der europäischen

Friedensordnung seit 1945 -

Europarat, NATO, EU, OSZE“

Ringvorlesung

“Friedensbildung – Grundlagen und Fallbeispiele”

9. Januar 2014

Prof. Dr. Cord Jakobeit

Page 2: “Grundlagen der europäischen...1) Einleitung These: Der „Frieden von unten“ in Europa nach 1945 war immer auch eine Reaktion auf die (z.T. unbefriedigen-den) Versuche des „Friedens

Gliederung:

1) Einleitung

2) Was sind und was leisten internationale

Regierungsorganisationen?

3) Frieden durch militärische Stärke: NATO

4) Frieden durch wirtschaftlichen Erfolg: EU

5) Frieden durch Vertrauensbildung: KSZE/OSZE

6) Frieden durch die Durchsetzung von

(Menschenrechts-)Normen: Europarat 7) Frieden nach 1989/91: Interlocking institutions oder

variable Geometrie?

8) Fazit

Europäische Friedensordnung: 1

Page 3: “Grundlagen der europäischen...1) Einleitung These: Der „Frieden von unten“ in Europa nach 1945 war immer auch eine Reaktion auf die (z.T. unbefriedigen-den) Versuche des „Friedens

1) Einleitung

These: Der „Frieden von unten“ in Europa nach 1945 war

immer auch eine Reaktion auf die (z.T. unbefriedigen-

den) Versuche des „Friedens von oben“.

• Seit 1945: Wandel in Europa vom historischen Brandherd

der internationalen Politik zu einer Insel des Friedens,

gewürdigt mit der Verleihung des Friedensnobelpreises

an die EU 2012

• Der wahrscheinlich spektakulärste Wandel in der

Geschichte der internationalen Beziehungen

• Aber: Kriege im ehemaligen Yugoslawien (1991-1995), in

Tschetschenien (1994-1996, 1999-2009), in

Serbien/Kosovo (1998-1999) und in Georgien (2008)

Europäische Friedensordnung: 2

Page 4: “Grundlagen der europäischen...1) Einleitung These: Der „Frieden von unten“ in Europa nach 1945 war immer auch eine Reaktion auf die (z.T. unbefriedigen-den) Versuche des „Friedens

1) Was sind und was leisten internationale Regie-

rungsorganisationen?

IGOs (governance by governments) werden definiert durch:

• Völkerrechtliche Verträge (Prinzipien, Normen, Regeln,

Verfahrensweisen)

• Ein ständiges Sekretariat bzw. eine Bürokratie

• Eine Form der Finanzierung durch Beiträge der Staaten

Im Bereich der Wahrung der Sicherheitsinteressen und der

Wahrung des Friedens werden IGOs gesehen als

• Instrumente der Staaten zur Hegemonie, Koordination

oder zum Schutz im Selbsthilfesystem (Realismus)

• Funktionale Notwendigkeiten zur Kooperation und zur

Sicherung von Gewinnen durch Informationsgewinnung

und zur Reduktion von Transaktionskosten

(Institutionalismus)

Europäische Friedensordnung: 3

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1) Was sind und was leisten internationale Regie-

rungsorganisationen?

Im Bereich der Wahrung der Sicherheitsinteressen und der

Wahrung des Friedens werden IGOs gesehen als

• Formulierer eigenständiger Interessen, Normen und

Werte zur Wahrung des Friedens (Konstruktivismus)

• Der Logik von Interdependenz und Integration folgend als

„Sicherheitsgemeinschaften“ (Karl W. Deutsch), in denen

Staaten sich zusammentun und auf das souveräne Recht

zur militärischen Gewaltanwendung verzichten

(Liberalismus)

IGOs sollten als beides gesehen werden, Akteure und

Instrumente.

Europäische Friedensordnung: 4

Page 6: “Grundlagen der europäischen...1) Einleitung These: Der „Frieden von unten“ in Europa nach 1945 war immer auch eine Reaktion auf die (z.T. unbefriedigen-den) Versuche des „Friedens

3) Frieden durch militärische Stärke (NATO)

• Gründungsjahr: 1949

• Historischer Hintergrund: 2. Weltkrieg,

Ost-West-Konfrontation (Kalter Krieg)

• Erklärungen: Realismus, Machttheorie,

Militärallianz, kollektive Verteidigung

• Ziele: „to keep the Americans in, keep

the Russians out and keep the Germans

down“ (Lord Ismay, Erster Nato-Gene-

ralsekretär)

• Mitgliedschaft: Gründung: USA, Kana-

da, Benelux, DK, F, Island, Italien, Nor-

wegen, Portugal, UK, D (1955)

2014: 28 Staaten (26 in Europa)

Europäische Friedensordnung: 5

Page 7: “Grundlagen der europäischen...1) Einleitung These: Der „Frieden von unten“ in Europa nach 1945 war immer auch eine Reaktion auf die (z.T. unbefriedigen-den) Versuche des „Friedens

3) Frieden durch militärische Stärke (NATO)

• Instrumente: Beistandsklausel, Streitkräfte, militärische

Kooperation, politische Kooperation (US-Dominanz)

• Friedenswirkungen: Abschreckung (?), Kohäsion der

Mitglieder (aber: Griechenland/Türkei), Ermöglichung der

westeuropäischen Konzentration auf ökonomischen

Wiederaufbau und Erfolg aufgrund der kollektiven

Verteidigung

• „Unfriedens“wirkungen: Ost-West-Konfrontation, (Auf-

)Rüstungswettlauf, US-Dominanz, „Weltpolizist“,

Militärische Interventionen ohne UN-Mandat (Kosovo

1999), Streit zwischen „Atlantizisten“ und „Europäisten“

Europäische Friedensordnung: 6

Page 8: “Grundlagen der europäischen...1) Einleitung These: Der „Frieden von unten“ in Europa nach 1945 war immer auch eine Reaktion auf die (z.T. unbefriedigen-den) Versuche des „Friedens

3) Frieden durch militärische Stärke (NATO)

• Instrumente

Europäische Friedensordnung: 7

Strategisches Konzept von 2010: • Bündnisfall (Art. 5) bleibt Haupt- aufgabe • Abrüstung, aber solange Nuklear- waffen existieren, wird die nukleare Abschreckung weiter praktiziert • Intensivere Kooperation mit Russ- land • Ausbau eines gemeinsamen Raketenabwehrschildes • Cyber-Angriffe lösen nicht den Bündnisfall aus, aber Konsultationen nach Art. 4 • Vernetzter Sicherheitsansatz (comprehensive approach) durch enge Zusammenarbeit mit EU, UN und NGOs

Page 9: “Grundlagen der europäischen...1) Einleitung These: Der „Frieden von unten“ in Europa nach 1945 war immer auch eine Reaktion auf die (z.T. unbefriedigen-den) Versuche des „Friedens

4) Frieden durch wirtschaftlichen Erfolg (EU)

• Gründungsjahr: EGKS (1951), Römische

Verträge-EWG (1957), EG (1993), 2009 (EU)

• Historischer Hintergrund: 2. Welt-

krieg, Bedeutungsverlust (West-)

Europas, Beziehungen D-F,

Friedensnobelpreis 2012

• Erklärungen: Föderalismus-Funk-

tionalismus, Frieden durch Frei-

handel und Integration

• Zielsetzungen: Kontrolle der

deutschen Rüstungsindustrie (EGKS),

Freihandel-Zollunion-Gemeinsamer

Markt-Währungsunion, EPZ, GASP,

ESVP, Beistandsklausel (Lissabon)

Europäische Friedensordnung: 8

Page 10: “Grundlagen der europäischen...1) Einleitung These: Der „Frieden von unten“ in Europa nach 1945 war immer auch eine Reaktion auf die (z.T. unbefriedigen-den) Versuche des „Friedens

4) Frieden durch wirtschaftlichen Erfolg (EU)

• Mitgliedschaft: Erweiterungen von 6 auf 9 (DK, UK,

Irland – 1973), 12 (Griechenland, Portugal, Spanien –

1981 und 1986),15 (Schweden, Finnland, Österreich –

1995), 25 (acht mittelosteuropäische plus Malta und

Zypern – 2004), 27 (Bulgarien und Rumänien – 2007),

28 (Kroatien am 1. Juli 2013)

• Friedenswirkungen: Wirtschaftliche Integration und

Erfolg (bis zur Krise ab 2008), gradueller Souveräni-

tätsverzicht, Koordination fast aller Politikbereiche,

regionale Integration als Modell für die Welt?, Friedens-

und Zivilmacht?

• „Unfriedens“wirkungen: Abschottung nach außen

(Nachbarschaftspolitik und „Festung Europa“), Doppel-

moral in der Entwicklungspolitik, „schwaches“

Krisenmanagement in der Gegenwart („EURO-Krise“)

Europäische Friedensordnung: 9

Page 11: “Grundlagen der europäischen...1) Einleitung These: Der „Frieden von unten“ in Europa nach 1945 war immer auch eine Reaktion auf die (z.T. unbefriedigen-den) Versuche des „Friedens

5) Frieden durch Vertrauensbildung (KSZE/OSZE)

• Gründungsjahr: 1975 (KSZE) – 1995

OSZE, 2014: 57 Staaten

• Historischer Hintergrund: Entspannungs-

politik, Ostpolitik (BRD), „Wandel durch

Annäherung“

• Erklärungen: Liberalismus, Interdepen-

denz, Institutionalimus (Rüstungskon-

trolle)

• Zielsetzungen: Anerkennung der

Grenzen von 1945, menschliche Er-

leichterungen (de facto Anerkennung

der DDR, Nichteinmischung, Fried-

liche Regelung von Konflikten, 3 „Körbe“, regionale

Abmachung nach Kap. VIII der UN-Charta, konventio-

nelle Rüstungskontrolle

Europäische Friedensordnung: 10

Page 12: “Grundlagen der europäischen...1) Einleitung These: Der „Frieden von unten“ in Europa nach 1945 war immer auch eine Reaktion auf die (z.T. unbefriedigen-den) Versuche des „Friedens

5) Frieden durch Vertrauensbildung (KSZE/OSZE)

• Mitgliedschaft: 35 (1975), 57 (2014) = USA, Kanada,

aller Staaten Europas, Türkei, Zypern, alle

Nachfolgestaaten der Sowjetunion

• Instrumente: Schlussakte von Helsinki (1975), Vertrag

über konventionelle Streitkräfte (1990), OSZE (1995) =

Beratungsforum für Sicherheitsfragen (Terrorismus),

Inspektionen, Wahlbeobachtung, Menschenrechte

• Friedenswirkungen: Zentraler Rahmen für friedliche

Transformation in Europa (1975-1992), Forum für alle

(einschl. Russland und alle östl. Staaten) in Europa

• „Unfriedens“wirkungen: Marginalisierung durch NATO

und EU, Machtlosigkeit in den Kriegen der 1990er Jahre

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Page 13: “Grundlagen der europäischen...1) Einleitung These: Der „Frieden von unten“ in Europa nach 1945 war immer auch eine Reaktion auf die (z.T. unbefriedigen-den) Versuche des „Friedens

6) Frieden durch (Menschenrechts-) Normen:

Europarat

• Gründungsjahr: 1949

• Historischer Hintergrund: 2. Weltkrieg

(Initiative der USA)

• Erklärungen: Wertegemeinschaft,

Liberalismus, Konstruktivismus

• Zielsetzungen: Stärkung von Men-

schenrechten, Demokratie und

Rechtsstaatlichkeit

• Mitgliedschaft: 10 Nord- und West-

europäische Staaten (1949),

Deutschland (1950), Osteuropäische

Staaten (ab 1990), 2011: 47 Mitglie-

der und Weißrussland als Beitrittskandidat

Europäische Friedensordnung: 12

Page 14: “Grundlagen der europäischen...1) Einleitung These: Der „Frieden von unten“ in Europa nach 1945 war immer auch eine Reaktion auf die (z.T. unbefriedigen-den) Versuche des „Friedens

6) Frieden durch (Menschenrechts-) Normen:

Europarat

• Instrumente: Europäische Menschenrechtskonvention

(Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) – Norm-

bildung und –kontrolle im Bereich der Menschenrechte

• Friedenswirkungen: Durchsetzung von Menschen-

rechten durch gerichtliche Kontrolle, Stärkung von

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit

• „Unfriedens“wirkungen: Machtlos während der Ost-

West-Konfrontation, zur Durchsetzung auf die

Kooperation von Staaten angewiesen, Budgetprobleme,

im Schatten von EU und NATO, regionale Reduktion auf

den östlichen Rand Europas

Europäische Friedensordnung: 13

Page 15: “Grundlagen der europäischen...1) Einleitung These: Der „Frieden von unten“ in Europa nach 1945 war immer auch eine Reaktion auf die (z.T. unbefriedigen-den) Versuche des „Friedens

7) Frieden nach 1989/91: Interlocking institutions

oder variable Geometrie?

• Konzept der „interlocking institutions“ (James Baker

1989) – Zusammenarbeit und gegenseitige Ergänzung

von UNO, NATO, EU, OSZE, WEU und Europarat –

Anfang der 1990er Jahre gescheitert

• Konzept der „variablen Geometrie“ - flexible

interinstitutionelle Kooperationsmuster in der Sicherheits-

politik (mit Dominanz durch NATO und EU)

Europäische Friedensordnung: 14

Page 16: “Grundlagen der europäischen...1) Einleitung These: Der „Frieden von unten“ in Europa nach 1945 war immer auch eine Reaktion auf die (z.T. unbefriedigen-den) Versuche des „Friedens

8) Fazit

• Die „pluralistische Sicherheitsgemeinschaft“ in Europa

nach 1989/91 wird durch den Bedeutungsverlust von

Europarat und OSZE (der beiden gesamteuropäischen

Institutionen) geschwächt

Viele Fragen bleiben offen:

• Abgrenzung: Wer gehört zu Europa?

• Wem gehört Europa: Wollen wir ein Europa der

Regierungen, der Multis und Banken oder eines der

Europäerinnen und Europäer?

• Ausgrenzung: Soll (kann) es bei Europa als der „Insel der

Seeligen“ bleiben? Muss das als „Festung Europa“

verteidigt werden?

• Außenwirkung und Vorbildfunktion: (Wie) will sich Europa

weltweit als Zivil- und Friedensmacht einbringen?

• Ausprägung variabler Geometrie: Wer hat das Sagen,

wer wann das Recht zum ‚opting out‘?

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