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49 Freitag, 23. September 2016 WOCHENENDE Neuö Zürcör Zäitung BIBLISCHES FRAGMENT Zerbröselnde Schriftrolle wird von Software entrollt und lesbar gemacht SEITE 58 CARURU Gefällt den Göttern die letzte Zwiebel nicht, muss neu gekocht werden SEITE 60 LUTHER-JUBELJAHR Ostdeutschland kratzt alle Spuren des Reformators zusammen SEITE 64, 65 13 Kilometer muss der 25-jährige Michael Wampankito, ein Mitglied des Wampis-Kongresses, auf der Pipeline zurücklegen, bis er von seinem Wohnort Mayuriaga zum Ölleck gelangt ist. JACOB BALZANI LÖÖV Auf dem Kriegspfad für die Umwelt

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  • 49Freitag, 23. September 2016 WOCHENENDENeuö Zürcör Zäitung

    BIBLISCHES FRAGMENT

    Zerbröselnde Schriftrollewird von Software entrolltund lesbar gemacht SEITE 58

    CARURU

    Gefällt den Göttern dieletzte Zwiebel nicht, mussneu gekocht werden SEITE 60

    LUTHER-JUBELJAHR

    Ostdeutschland kratzt alleSpuren des Reformatorszusammen SEITE 64, 65

    13 Kilometer muss der 25-jährige Michael Wampankito, ein Mitglied des Wampis-Kongresses, auf der Pipeline zurücklegen, bis er von seinem Wohnort Mayuriaga zum Ölleck gelangt ist. JACOB BALZANI LÖÖV

    Auf dem Kriegspfadfür die Umwelt

  • Gualaquiza

    Cuenca

    ECUADOR

    PERU

    WAM

    PIS-TERRITO

    RIUM

    NZZ-Infografik/efl.

    San Juan

    Soledad

    Puerto Galilea

    Mayuriaga

    Rio Santiago

    RioMorona

    RioMarañon

    Ölpipeline

    50 Kilometer

    b-nzz -we-50-kHBild 2

    301.7*183.9 mm

    50 WOCHENENDE Freitag, 23. September 2016 WOCHENENDE 51Freitag, 23. September 2016

    Aufruhr im Wampis-LandAllen Schutzbemühungen zum Trotz schrumpft der Amazonasurwald weiter. In Nordperuhaben nun die indigenen Wampis erstmals eine autonome Regierung gebildet, um ihrTerritorium zu schützen. Wir haben die «Staatsgründer» über zwei Monate begleitet.VON THOMAS NIEDERBERGER (TEXT) und JACOB BALZANI LÖÖV (BILDER)

    Auf dem Satellitenbild sieht man vorallem sattes Dunkelgrün, durchzogenvon vereinzelten Flussläufen, Strassengibt es keine. Die Kontaktaufnahme perE-Mail jedoch gestaltet sich problem-los, die Antwort kommt drei Wochenspäter, knapp und positiv: Wir sind will-kommen. Die Anreise ab Lima dauertzwei Tage. Anfang Juni treffen wir amKai von Puerto Galilea schliesslichGeronimo Petsain. Der 40-jährige Kar-tograf und Wampis-Indigene ist unserKontaktmann zur Regierung seinesVolkes. Kurzer Austausch von Formali-täten, dann grinst er breit unter seinerBaseballmütze hervor: «Keine Angst,wir schneiden niemandem mehr denKopf ab!»

    Als einige spanische Abenteurer im16. Jahrhundert vom Andenhochlandins Amazonasbecken vordrangen, ent-deckten sie zwei Arten «Wilde»: Die«zahmen» liessen sich mit Zuckerbrotund Peitsche zu nützlichen Arbeitern er-ziehen. Die «tapferen» schossen mit gif-tigen Pfeilen und verschwanden imWald, bevor man sie mit den Vorzügender Zivilisation bekannt machen konn-te. Die sogenannten Jı́varo gehörten zuden Letzteren, nicht zuletzt dank ihremBrauch, die Köpfe der getöteten Feindezu Miniaturen zu schrumpfen.

    In den Wochen nach dem 5. Juni2009 flimmerten die «tapferen Jı́varo»nochmals durch die Fernsehkanäle: Diepolizeiliche Räumung einer Strassen-blockade nahe der nordperuanischenKleinstadt Bagua war ausser Kontrollegeraten – offizielle Bilanz: 34 Tote,unter ihnen 24 Polizisten, und zahl-reiche Verwundete. Wer waren dieseKrieger, die mit ihren Holzspeeren denOrdnungskräften widerstanden? Primi-tive Fortschrittsverweigerer oder edleUmweltschützer? Was trieb sie an? Dieindigenen Demonstranten hatten gegenein Gesetzespaket protestiert, das Öl-und Bergbaukonzernen den Zugang zuihren Territorien erleichtern sollte. Diemeisten gehörten zu den Awajún undden Wampis, zwei eng verwandten Eth-nien, die früher Jı́varo genannt wurden.Nach dem «Massaker von Bagua» be-erdigte der peruanische Kongress dasGesetz, die Justiz verklagte Dutzende

    indigene Anführer, Aktivisten sammel-ten Geld, um die Verteidiger des Ur-walds zu verteidigen. Sechs Jahre spä-ter, im November 2015, vermeldete dieAgentur Servindi die Geburt einer«autonomen Territorialregierung derWampis-Nation»: Die Gründungsver-sammlung in der Ortschaft Soledadhabe eine vierzigseitige Magna Chartaverabschiedet sowie einen Präsidentenund einen Kongress mit 96 Gemeinde-vertretern gewählt. Der Schritt gilt alspionierhaft für Peru und das gesamteAmazonasbecken.

    Das von der frisch proklamiertenWampis-Nation beanspruchte Territo-rium umfasst nicht weniger als 1,3 Mil-lionen Hektaren Regenwald, annäherndein Drittel der Fläche der Schweiz.Knapp 20 000 Menschen leben hier überrund 60 Siedlungen verstreut, entlangder Flüsse Santiago und Morona. DieMehrheit der Bevölkerung sind Wam-pis, eine Minderheit Awajún-Indigeneund Mestizen. Am Rio Santiago gibt esseit der Kolonisation bekannte Gold-vorkommen, bis anhin aber keinenindustriellen Abbau. Stattdessen drän-gen illegal Goldschürfer ins Gebiet.Dazu kommt eine grosse Erdölkonzes-sion. Im südlichen Teil durchkreuzt eineÖlpipeline das Territorium, wo es An-fang Jahr zu einem Leck kam. Gold undÖl – das sind die Themen, die die neueWampis-Regierung beschäftigen. Damiteinher geht die Suche nach einer ge-meinsamen Vision.

    Krieger gegen Goldschürfer

    An die 150 junge Männer mit roter Ge-sichtsbemalung, drohend in die Luft ge-streckte Lanzen. Mit einem Kakaofrach-ter haben die Wampis-Krieger den RioSantiago überquert. Nach einem kurzenFussmarsch durch dichte Vegetation öff-net sich der Blick auf eine kahle Fläche.Betroffene Gesichter. «Hier ist alles mitQuecksilber verschmutzt!», ruft jemand,andere versuchen gestikulierend denehemaligen Verlauf des Pastacillo-Ba-ches zu rekonstruieren. Die meistensehen zum ersten Mal, was der illegaleAbbau hinterlässt: ein toxisches Wüst-land. Die Goldschürfer sind kurz vorher

    mit ihrem sämtlichen Gerät abgezogen.Der Pamuk – so bezeichnen die Wampisihren Präsidenten Wrays Pérez Ramirez– verkündet: «Die erste Aktion unsererRegierung ist ein Erfolg. Jetzt müssenwir dafür sorgen, dass sie nicht zurück-kommen!»

    Die aus dem fernen Bagua angereis-ten Polizisten entspannen sich, machenSelfies mit den Journalisten aus Europa,posieren stolz mit den Lanzen, die ihnendie Krieger geschenkt haben, und lassensich von einer Wampis-Frau Kriegs-bemalung auftragen. Wenig später wirddie Mittagssonne von dunklen Wolkenabgelöst, und alle eilen zum Schiff, dassie zur Aktionsbasis im Gemeindesaalvon Puerto Galilea zurückbringt. DieStaatsanwältin verpasst derweil den An-schluss und nimmt die falsche Abzwei-gung, ihr Schuh geht im Schlamm ver-loren. Hier, weit weg von Limas glän-zenden Bürotürmen, hinkt das Gesetzdes peruanischen Staates hinterher.

    «Das Volk der Wampis ist wie einAmeisenhaufen – friedliebend. Aberwenn jemand hineintritt, beissen wirzu!», ruft der Häuptling von Puerto

    Galilea. Die Stimmung im Gemeinde-saal ist geladen. Es geht um die Todes-drohungen, die in den Tagen vor derAktion von den Goldschürfern amPastacillo-Bach an einige der Wampis-Anführer gerichtet wurden – auch anunseren Kontaktmann, Geronimo Pet-sain. «Wenn jemandem etwas passiert,werden wir es den Leuten in La Pozaheimzahlen!», schreit einer im Saal. LaPoza, die Siedlung der Mestizen, liegtnur einen Kilometer flussabwärts undgilt als Umschlagplatz der Goldgräberund ihrer Hintermänner. Manche wol-len sofort losziehen, doch der Pamuk be-endet den Ruf nach einer Demonstra-tion mit einem Machtwort. Kurzes Mur-ren, dann reihen sich die strammenKrieger auf, um eine Erklärung zuunterschreiben: Die zuständigen Behör-den werden aufgefordert, den illegalenGoldabbau am gesamten Rio Santiagozu unterbinden. Ein letzter Schluck Ma-sato aus einer der Kürbisschalen, dievon den Frauen herumgereicht werden,und die Versammlung löst sich auf.

    In La Poza bieten die Händler der-weil ungestört ihre Waren feil, am Hafen

    werden Holzbalken ausgeladen undBoote betankt, die Mototaxi-Fahrerkurven um die Schlaglöcher in der einzi-gen Strasse im Wampis-Land. Nur dieDiskotheken, wo sonst die Goldschürferihren Tageslohn in Bier umsetzen undvor den jungen Serviererinnen mit ihrerfinanziellen Potenz angeben, sind heuteleer. Der Pamuk, den wir nach derAktion am Pastacillo-Bach im bestenHotel von La Poza treffen, hat seineFederkrone wieder im Tupperware ver-sorgt und mit Naphthalin gegen Insek-tenfrass geschützt. «In Lima», erzählt er,«wollten sie uns mit der Ausrede ver-trösten, sie seien mit dem Regierungs-wechsel beschäftigt, und der Komman-dant der Nationalpolizei sagte, wir müss-ten ihnen das Schiff bezahlen, damit siekommen könnten.» Eine Kommissionder Wampis-Regierung habe daraufhinDruck bei allen zuständigen Stellen ge-macht. «Im letzten Moment sind sie ein-geknickt und haben doch noch Polizis-ten geschickt, aus Angst, es könnte einMassaker geben.»

    Über die Goldproduktion am Sant-iago erfahren wir nur Gerüchte, da dieSchürfer abgetaucht sind. Eine vorsich-tige Schätzung geht von durchschnittlich20 Gramm pro Tag und Maschine aus,während andere die vier- bis sechsfacheMenge nennen – bei bis zu zwei DutzendMaschinen. Im Vergleich zur südperua-nischen Region Madre de Dios, wo derillegale Abbau Tausende beschäftigt undganze Landstriche zerstört, ist das Pro-blem zwar noch überschaubar, aber dieSpannungen sind beträchtlich. Im Hin-tergrund schwelt ein ethnischer Konflikt,denn die Goldgräber operieren auf demGemeindegebiet von Awajún-Indigenen– gegen Jobs und Gewinnbeteiligung,versteht sich. Die neue Wampis-Regie-rung, und damit ihr Verbot des Gold-abbaus, wird von diesen nicht anerkannt.

    Später finden wir doch noch eine klei-nere Goldwaschmaschine. Ihr Besitzer,Mitte vierzig, ist aus dem Hochland zuge-wandert. Er mache nur gerade 6 Grammpro Tag, behauptet er. Pro Waschungbrauche er 100 Gramm Quecksilber. Einschlechtes Gewissen ob seinem illegalenGeschäft hat er nicht: Es gebe sonst

    Fortsetzung auf Seite 52

    Rechts: Ein Klub in La Poza,das als Umschlagplatzder Goldgräber gilt.

    Unten: Die Beseitigung der Folgendes Öllecks gibt fast 500Personen Arbeit für ein Jahr.

    Ganz links: Der Pamuk – WraysPérez Ramirez – ist der Präsidentder Wampis.

    Oben: Wampi-Kinder schlafenauf Bananenblättern.

    Links: Ein Graffito wirbt für die 169.Konvention der InternationalenArbeitsorganisation (ILO) zumSchutz der indigenen Bevölkerung.

    50 WOCHENENDE Freitag, 23. September 2016DIE WAMPIS WOCHENENDE 51Freitag, 23. September 2016 DIE WAMPIS

  • 52 WOCHENENDE Freitag, 23. September 2016 WOCHENENDE 53Freitag, 23. September 2016

    Fortsetzung von Seite 51

    Aufruhrim Wampis-Land

    keine Jobs, «meine einzige Alternativewäre der Drogenhandel».

    Die Wüste im Dschungel

    Mit dem Express-Motorboot brauchtman von La Poza bis nach Mayuriaga imsüdöstlichen Teil des Wampis-Landeszehn Stunden und zwei Fässer Benzin. Inder Nähe des Dorfes waren AnfangFebruar 1000 Barrel Öl ausgelaufen –der zweitgrösste einer Serie von Rohr-brüchen an der bald 40-jährigen, von derStaatsfirma PetroPeru betriebenen Pipe-line. Die einzige Verbindung zwischenden Ölfeldern im Nordosten des peruani-schen Amazonasbeckens und der Raffi-nerie an der Pazifikküste ist seitherunterbrochen.

    Vom Dorf Mayuriaga bis zur Unfall-stelle beim Kilometer 206 der Pipelinesind es nochmals 13 Kilometer Fuss-marsch, über die Röhre selbst. Der mod-rige Duft des Waldes wird zunehmendvom Ölgeruch überlagert. Unterwegsfallen Dellen im Stahlrohr auf, umkreistund nummeriert. Wir begleiten Gero-nimo Petsain, unseren Kontaktmann undTüröffner im Wampis-Land. «Es ist nureine Frage der Zeit, bis der nächste Un-fall passiert», meint er mit besorgtemBlick auf die schadhaften Stellen entlangder Röhre. Für die Wampis-Regierungreist Petsain regelmässig zu Brennpunk-ten wie diesem, «damit wir die Vorfälleanzeigen und die Behörden zum Han-deln auffordern können». Der Spezialistfür Umweltmonitoring war mit seinem

    Holzspeer beim «Massaker von Bagua»dabei, «in den vorderen Reihen», wie erbetont. Unterdessen hat er seine archai-sche Waffe gegen ein Smartphone einge-tauscht. Die Fotos der Umweltschädenlädt er später auf eine Website, inklusiveGPS-Koordinaten – unterstützt voneinem kleinen Hilfswerk mit Sitz in Genf,dem Mouvement pour la CoopérationInternationale.

    Das PetroPeru-Camp bei Kilometer206 wird per Helikopter beliefert undbeeindruckt mit Annehmlichkeiten wieKeramiktoiletten, Seifenspendern undSatelliten-TV. Im Morgengrauen wirktes wie ein Raumschiff, das auf einemDschungelplaneten gestrandet ist. Män-ner in weissen Schutzanzügen schwär-men aus, mit Gesichtsmasken und ölver-klebten Gummistiefeln. Die Reinigungim sumpfigen Urwaldgebiet brauchtZeit und ist beschwerlich: Zuerst wirdgerodet, dann die oberste Erdschichtabgetragen. Mit Macheten schälen dieArbeiter verschmutzte Bäume. Dieklebrige Schlacke wird in Säcke gepacktund gelagert, bevor sie – irgendwann –abtransportiert werden soll. Zurückbleibt eine gespenstisch kahle Fläche.«Die Arbeit ist nicht besonders streng,aber manchmal wird jemand ohnmäch-tig von den Dämpfen», kommentierteiner der Arbeiter. Auch Kopfschmer-zen und Hautausschläge kämen vor.«Am Anfang fehlte es an Schutz-anzügen, und die Firma verhielt sich wieeine Besatzungsmacht», erzählt einanderer. Seit die Bevölkerung vonMayuriaga Anfang März einen Armee-helikopter mit PetroPeru-Personal fest-gehalten habe, gebe sich die Firma mehrMühe. Die Aktion schaffte es in dieMedien, der PetroPeru-Präsident reistepersönlich an, um ein Abkommen zuunterzeichnen, und der Tageslohn wur-de auf 50 Dollar verdoppelt.

    Seit dem Unfall habe sich ihr Lebenstark verändert, erzählt Elena Sumpa,eine 35-jährige Mutter, die im Dorf lebt:«Die Wildtiere und Fische sind vergiftet,ihr Fleisch schmeckt nach Öl.» In ihrerKüche zeigt sie die wöchentliche Liefe-rung von PetroPeru: Reis, Bohnen,Nudeln, Zucker, Pflanzenöl, vier DosenFisch, zwei Dosen Milch – ungewohnteNahrung, «die Kinder mögen es nicht».Dazu gibt es Trinkwasser in 20-Liter-Dis-pensern. Die andere grosse Änderungsteht unübersehbar im Raum: Ein Bier-kistenturm neben einer generatorbetrie-benen Kühltruhe, dazu eine Stereo-anlage. Wie viele Einheimische arbeitetauch Sumpas Mann in der Reinigung undbringt viel Geld nach Hause. Das Bierverkaufe sie manchmal an Arbeiter aufder Durchreise, sagt sie. Die Marge istwinzig. «Wir wissen nicht gut, wie wir mitGeld umgehen sollen», sagt die Wampis-Frau mit unsicherem Lächeln.

    Die Wampis-Regierung versucht,Entschädigungszahlungen von Petro-Peru einzufordern. Die Umweltkata-strophe ist schon jetzt zum Wirtschafts-motor für die abgelegene Region ge-worden. In der Bezirkshauptstadt Puer-

    to Alegrı́a etwa hat sich die Bevölke-rung seit dem Ölunfall im Februar bei-nahe verdoppelt. Auch hier verteiltPetroPeru Trinkwasser und Lebensmit-tel. Auf dem Hauptplatz haben ambu-lante Händler ihre Marktstände aufge-baut, Disco-Schuppen und Essbudenwurden eröffnet, die Gästehäuser sindständig ausgebucht, während sich Ein-heimische über Kriminalität, Prostitu-tion und fremde Leute beklagen. DiePipeline indes bleibt vorderhand ausserBetrieb, die volkswirtschaftlichen Aus-fälle sind beträchtlich. Im Nationalkon-gress in Lima wird über eine Umstruk-turierung der Staatsfirma PetroPerudebattiert, eine der dringlichsten Bau-stellen der neugewählten Regierungvon Pedro Pablo Kuczynski.

    Eine Nation im Werden

    Das dritte Gipfeltreffen der Wampis-Nation findet in San Juan statt, einemDorf mit 450 Einwohnern am Rio Mo-rona, nahe der Grenze zu Ecuador. Zweigrosse Boote hatten über die letzten dreiTage die Delegierten aller Dörfer abge-holt. Auf sie warten neun Stunden Ses-sion, dazwischen Verpflegung aus derSuppenküche, über drei Tage. Wer zuspät kommt, muss ein Lied singen. 132Teilnehmer – Kongressabgeordnete undlokale Würdenträger – haben sich einge-schrieben, hauptsächlich Männer.

    Und wo bleiben die Frauen? «Wirsind unterdrückt,» stellt Lola Tuwiranfest. «Es braucht nur jemand zu behaup-ten, du habest auf der Konferenz mit je-mandem angebändelt, und schon ris-kierst du bei der Rückkehr Schläge vondeinem Mann.» Die 42-Jährige ist Koor-dinatorin für Frauenangelegenheitenund betreibt einen Imbissstand beim Be-zirksgebäude von Puerto Galilea – eineSchlüsselposition im Fluss der Gerüchte.

    Tuwiran hört viel, und sie ist eine derwenigen Frauen, die sich an der Ver-sammlung Gehör verschaffen. «DieFrauen machen 80 Prozent der Arbeit»,ergänzt ihre 36-jährige Freundin Geor-gina Hinojosa, «wenn wir weg sind, gehtgar nichts mehr, Mann und Kinder hun-gern. Doch dann riskiert die Frau, dassihr Mann sich eine zweite sucht.»

    «Es stimmt, wir sind Machos», bestä-tigt auch der Pamuk, Wampis-PräsidentWrays Pérez Ramirez. Die 20-Prozent-Frauenquote werde noch nicht erfüllt,weil die Frauen bei den Wahlen verges-sen würden. Die Polygamie sei tatsäch-lich keine gute Sache, fügt er etwas ver-legen hinzu. «Ich habe es selbst damitversucht, mit dem Resultat, dass mir alledavongelaufen sind.»Die Verfassung derWampis-Nation lässt keinen Raum fürZweifel: Die Rechte der Frau sind zurespektieren, Polygamie wird explizitverurteilt.

    Der Gemeindesaal von San Juan isteine offene Halle mit Wellblechdach. ImHintergrund surrt der Generator, derden Strom für die Lautsprecheranlageliefert. Die Delegierten sitzen geduldigauf weissen Plasticstühlen aufgereiht,der Pamuk und seine Direktoren rap-portieren über die ersten Monate derRegierung, die Aktion gegen die Gold-schürfer, die Situation in Mayuriaga.Später werden die Statuten durch-geackert, Abschnitt für Abschnitt. DerPamuk betont noch einmal, es gehelediglich um Selbstverwaltung innerhalbdes Staates, nicht um Sezession. Für denEid des neu gewählten «Rats der Wei-sen» wird demonstrativ die peruanischeFlagge ausgerollt. Dann wird über kon-krete Nutzungskonflikte debattiert:Holz- und Fischplünderungen im Nord-westen, ecuadorianische Rinderzüchterim Nordosten. Eine Gemeindepräsiden-tin berichtet, Awajún-Siedler seien ins

    traditionelle Territorium eingedrungenund bedrohten die Bevölkerung. DieLösung ist pragmatisch: Es wird einBrief aufgesetzt, welcher die zuständi-gen Behörden zum Handeln auffordertund zu einer öffentlichen Versammlungvor Ort einlädt.

    Nicht alles läuft reibungslos. Die Ver-treter einer ganzen Reihe von Gemein-den fehlen –die Erklärungen reichen vonFaulheit und Desinteresse bis zu offenerOpposition. Es zirkulieren Gerüchte, derPamuk habe Geld veruntreut. «UnsereGegner merken langsam, dass wir esernst meinen, darum streuen sie solcheGerüchte», entgegnet dieser unbeein-druckt. Seinen Lebensunterhalt verdieneer mit seiner Consulting-Firma. Dannzählt er die Feinde auf, von illegalenGoldschürfern und Holzfällern über dieÖl- und Bergbau-Lobby, bis zur Natio-nalparkbehörde. Letztere sehe ihrenPlan gefährdet, im Kampankis-Gebirgeein neues Naturschutzgebiet zu gründen.Die Wampis-Regierung lehnt dies ent-schieden ab.

    Was sind die Alternativmöglichkeitenzum Ressourcenabbau? Eine kleine Um-frage unter den Kongressteilnehmernbringt nichts Bahnbrechendes hervor:mehr Kakao-Pflanzungen, Bienen-,Fisch- und Geflügelzucht, vielleicht auchÖkotourismus. Keine Frage, die Leutewollen Geld verdienen, aber nicht umjeden Preis. Juan Noningo (58), Direktorfür Territorium und Umwelt, legt denStandpunkt der Wampis-Regierung dar:Der Schutz des Territoriums sei dieGrundlage für ein gutes Leben, auch fürkommende Generationen. Dazu gehör-ten Untergrund und Luftraum, denn «imBoden wohnt Nunkui, die uns allenEssen gibt, und im Himmel wohnen dieGeister unserer Ahnen».

    Noningo, einer der Architekten derWampis-Regierung, erklärt, diese müs-

    se nun für Grossprojekte konsultiertwerden – und nicht wie bisher die ein-zelnen Gemeinden, deren Präsidentensich allzu leicht bestechen liessen. «Mitdem Schutz unseres Waldes leisten wireinen Beitrag an die Weltgemeinschaft,zur Bekämpfung des Klimawandels.»Angefangen habe der langwierigeGründungsprozess nach dem «Massa-ker von Bagua» 2009, als die indigenenOrganisationen eine neue Strategie fin-den mussten. «Mit der Wampis-Regie-rung haben wir einen grossen Traumverwirklicht», sagt Noningo undschweift ab zu seiner Visionssuche alsJugendlicher, als er sah, wie er dereinstviele Leute führen würde, «wie einFussballtrainer».

    Auch der Pamuk, Wrays Pérez, sprichtoft von Träumen und Visionen, die in derWampis-Nation zusammenfliessen. Sei-ne eigene: «Ein Kolibri, der in die Ferneflog, zurückkam und mit seinem Flügel-schlag die Erde zum Erzittern brachte.»Er bezieht es auf sein Nachdiplom-studium über Indigene Rechte in Ma-drid. Noch dieses Jahr wolle er vor demNationalkongress in Lima sprechen. Alli-ierte Parlamentarier sollen einen Geset-zesentwurf einreichen, um die Wampis-Regierung offiziell anzuerkennen. Damitwäre ein Präzedenzfall für alle indigenenVölker Perus geschaffen. «Wir sind nichtgegen den Staat – wir wollen nur, dass erseine Pflichten erfüllt und sich an die Ge-setze und internationalen Abkommenhält.» Das Selbstbestimmungsrecht überihr traditionelles Territorium sei von derUno-Deklaration über die Rechte derindigenen Völker geschützt, «wenn derKongress uns nicht anerkennen will, wirduns spätestens der InteramerikanischeMenschenrechtshof recht geben», meinter zuversichtlich. «Wir werden insistie-ren, immer wieder, bis unser Traum er-füllt ist.»

    Die Fahrt auf dem Rio Santiago vonPuerto Galilea flussaufwärts bis nachSoledad dauert mit dem Motorkanu übersechs Stunden. Am Ufer wechseln sichBananen- und Yucca-Gärten mit Wald-passagen ab, dazwischen Hütten mitPalmblattdächern. Soledad zählt rund400 Einwohner und ist provisorischerHauptort der Wampis-Regierung, dievon hier aus bald eine eigene Radio-station betreiben will. Bald, das heisst,

    wenn der defekte Generator des Klein-wasserkraftwerks ersetzt ist – der Antragist bei der Provinzregierung pendent.Bald soll es auch Mobiltelefon und Inter-net geben. Bald, das heisst, so bald wiemöglich.

    Visionen gehen durch den Magen

    Frühstück bei Kefren Graña. Eine Salat-schüssel voll Masato wird herumgereicht,schaumig-warm. «Masato gibt uns Kraftund hält unsere Gesellschaft zusam-men», sagt der 45-jährige Bildungsdirek-tor der Wampis-Nation. Das fermen-tierte Gebräu aus Yucca-Wurzelnschmeckt wie ein Zungenkuss mit Nun-kui, Mutter Erde. «Wenn die Leute denMasato verweigern», so Graña, «könnenwir keine Gemeinschaftsarbeiten undkeine politischen Versammlungen mehr

    machen» – eine Anspielung auf evangeli-kale Puritaner, die den Masato verteu-feln, und stadtgeschädigte Jugendliche,die nur Bier trinken wollen. Eine Flascheder Marke Brahma, aus Ecuador impor-tiert, kostet 1 Dollar 50, gleich viel wieein halbes Kilo Buschfleisch.

    Kefren Graña ist einer der Promoto-ren der neuen Regierung. Der Identi-tätsverlust sei genauso gefährlich wieexterne Feinde, erklärt der ehemaligeLehrer. In den 1960er Jahren, als derKampf mit Speer und Schrotflinte nichtmehr zu gewinnen war, habe die Gene-ration seines Vaters mithilfe von Missio-naren Schulen gegründet. Unterdessensei das Bildungswesen zu einer Gefahrgeworden: «Die Jugend verliert ihreIdentität, ist orientierungslos – je mehrsie lernen, umso weniger wissen sie da-mit anzufangen.» Graña propagiert da-gegen die Dreifaltigkeit der halluzino-genen Meisterpflanzen aus dem Ama-zonasurwald: «Tabak, Ayahuasca undToé sind unsere Universität!» Er er-kenne den Unterschied zwischen denen,die es getrunken hätten – «heute leiderdie Minderheit» –, und den anderen,denn «wer seinen Weg schon im Traumgesehen hat, wird ihn danach mit Selbst-vertrauen gehen». Das Praktizieren derVisionssuche hat sogar Eingang in dieStatuten der Wampis-Nation gefunden,im Kapitel «Pflichten».

    Zwei Wochen später, kurz nach Son-nenaufgang. Jorge Zukanká, heute imblütenweissen Sonntagshemd, reisst eineLiane von einem Baum und schneidet siein Stücke. «Heute muss ich starken Ma-sato trinken, damit das Ayahuasca starkwird!», sagt er erwartungsvoll. Mit einerMachete schält er die Liane und wirftalles in zwei grosse Töpfe, die auf offe-nem Feuer köcheln. Der 47-Jährige istkein Schamane, sondern ein gewöhn-licher Familienvater, zwei Frauen, 17

    Kinder. Er wurde zum Pamuk der heuteanstehenden Zeremonie bestimmt.

    Vier Knaben und zwei Mädchen zwi-schen 15 und 18 Jahren waren zuvor los-gezogen, um fastend im Wald zu campie-ren und Tabaksaft zu schnupfen. Beiihrer Rückkehr am Abend des drittenTages sind sie nur noch zu zweit, dieanderen vier hatten den Hunger nichtausgehalten und das Ritual abgebrochen.«Das sind die Schwachen, die es nie zuetwas bringen werden», kommentiertZukanká, der Zeremonienmeister, ab-schätzig. Auf einer Wiese oberhalb vonSoledad haben sich die Verwandten derbeiden standhaften Jugendlichen ver-sammelt. Der Pamuk spricht letzte Er-mahnungen: «Wimmert nicht wie einBaby beim Erbrechen, das gibt schlechteTräume!» Das heisst: ein mieses, kurzesLeben. Die Schalen werden mit dem bit-teren Tee gefüllt, die beiden Knaben trin-ken sie in einem Zug leer, dann wirdnachgefüllt. Ab der dritten Schale alter-niert das Trinken mit Erbrechen. DasPublikum treibt die beiden an wie beieinem Sportanlass, am schrillsten dieMütter: «Trinkt! Trinkt! Mehr!» DieEruptionen werden grösser, die Rufe be-stimmter: «Seid Krieger! Krieger!»Schwankend, auf einen Stock gestützt,trinken und brechen sie weiter. «Wiewollt ihr eure Feinde besiegen, wenn ihrAngst habt vor einer Flüssigkeit?»

    Nach ungefähr zehn Litern fällt zuerstder eine, dann der andere zu Boden. DieReise ins Innere beginnt. Im besten Fallwird sich ihnen ein Arutam zeigen, einAhnengeist, vielleicht in Gestalt einesJaguars, einer Boa oder eines Kolibris,und ihnen ein Geheimnis offenbaren.Die Vision wird ihnen Kraft, Mut undOrientierung geben.

    Die Reportage wurde vom Real-21-Medien-fonds unterstützt.

    Die Wampis amZurich Film FestivalDie Aufarbeitung des «Massakers vonBagua» von 2009 beschäftigt die perua-nische Öffentlichkeit weiter. Das erst-instanzliche Urteil gegen 53 angeklagteIndigene erfolgte erst diesen Donners-tag. Die historische Konfrontation wirdim Dokumentarfilm «When Two WorldsCollide» nachgezeichnet, der ab dem28. September am Zurich Film Festivalgezeigt wird.

    Es geht umSelbstverwaltung,nicht um Sezession.

    Oben: Wampis-Krieger setzen überden Fluss, um illegale Goldschürferaus ihrem Gebiet zu vertreiben.

    Rechts: Kreuze an der nordperuani-schen Pipeline erinnern an die 2009 inBagua getöteten Polizisten.

    Ganz rechts: Lola Tuwiran Juhuo istbei den Wampis Koordinatorin fürFrauenangelegenheiten.

    Unten: Der Pamuk nimmt neuen Mitglie-dern des Wampis-Staats den Eid ab.

    Ganz unten: Zur Arbeitspause gehört dastraditionelle Getränk Masato.

    Rechts: Elena und Rebolio Garcia sindVorsitzende des OSHDEM, der Indigenen-Organisation Shuar de Morona.

    Oben: Illegale Goldschürfer schädigenmit dem Einsatz von Quecksilber dieUmwelt.

    52 WOCHENENDE Freitag, 23. September 2016DIE WAMPIS WOCHENENDE 53Freitag, 23. September 2016 DIE WAMPIS

    049 Wochenende 5. BuLuther-JubeljahrCaruruBiblisches Fragment050 Wochenende 5. BuAufruhr im Wampis-Land052 Wochenende Die Wampis am Zurich Film FestivalDie Wüste im DschungelAufruhr im Wampis-Land