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Stochastische Vorstellungen im Alltag Jan, Kathrin und Tom sind beim „Mensch-Ärgere-Dich-Nicht“ in der heis- sen Phase: Tom steht direkt vor dem Ziel, Jan und Kathrin dagegen müssen ihre ge- rade geschlagenen letzten Figuren erst wieder ins Spiel und dann noch ins Ziel bringen, dann haben sie gewonnen. Jan wirft dreimal: Keine Sechs! Er muss weiter darauf warten, dass er seine letzte Figur ins Spiel bringen darf. „Das ist ja ty- pisch – wieder mal keine Sechs! Sechsen kommen einfach nicht so oft.“ Tom benötigt nur noch eine Eins, dann könnte er seine letzte Figur ins Ziel setzen und hätte gewonnen. Stattdessen wirft er eine Sechs – immerhin darf er noch ein- PM Heft 4 | August 2005 | 47. Jg. 1 Thema Den Zufall im Griff? – Stochastische Vorstellungen fördern von Andreas Büchter, Stephan Hußmann, Timo Leuders und Susanne Prediger Jeder kennt Alltagssituationen, in denen der Zufall eine Rolle spielt und in denen al- le Beteiligten ihre eigenen Vorstellungen vom Wirken des Zufalls haben. Der Stochas- tikunterricht scheint auf diese Alltagsvorstellungen nur begrenzt Einfluss nehmen zu können – woran liegt das eigentlich? In dem Artikel werden Erklärungen angeboten und Hintergründe beschrieben. Anhand konkreter Beispiele werden Hinweise gege- ben, wie der Aufbau tragfähiger stochastischer Vorstellungen konsequenter gelingen kann. Dabei wird vor Allem für einen experimentier- und reflektionsintensiven Unter- richt plädiert. mal würfeln. Aber er bekommt eine Drei und darf immer noch nicht ins Ziel ziehen. „Sechsen kann ich super, aber ich kriege nie eine Eins, wenn ich sie brauche.“ Kathrin resigniert schon vor ihren drei Versuchen, eine Sechs zu werfen: „Sonst kann ich Sechsen immer gut, aber heute habe ich kein Glück!“ Jeder kennt Alltagssituationen wie diese, in denen der Zufall eine Rolle spielt und in denen alle Beteiligten ihre eigenen Vor- stellungen vom Wirken des Zufalls haben. Dieses Phänomen ist keinesfalls auf Kin- der beschränkt: Viele Erwachsene studieren Woche für Woche Lottostatistiken (z. B. unter http:// www.dielottozahlen.de/statistiksa.html) und leiten daraus ihre nächsten Tipps ab. Dass die „Vierzig“ im Jahr 2004 schon 13- mal gezogen wurde, die „Acht“dagegen nur 3-mal, ist für einige Anlass, die be- währte „Vierzig“ zu bevorzugen. Andere tippen nun eher die „Acht“, denn die ist ja mal wieder an der Reihe. Für solche Über- legungen erscheint es irrelevant, dass die Lottokugeln dies alles nur wenig interes-

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Page 1: Den Zufall im Griff? - uni-dortmund.deprediger/veroeff/... · im Alltag Jan, Kathrin und Tom sind beim „Mensch-Ärgere-Dich-Nicht“ in der heis- ... gen nutzen, um außerschulische

Stochastische Vorstellungenim AlltagJan, Kathrin und Tom sind beim

„Mensch-Ärgere-Dich-Nicht“ in der heis-sen Phase: Tom steht direkt vor dem Ziel,Jan und Kathrin dagegen müssen ihre ge-rade geschlagenen letzten Figuren erstwieder ins Spiel und dann noch ins Zielbringen, dann haben sie gewonnen.

Jan wirft dreimal: Keine Sechs! Er mussweiter darauf warten, dass er seine letzteFigur ins Spiel bringen darf. „Das ist ja ty-pisch – wieder mal keine Sechs! Sechsenkommen einfach nicht so oft.“ Tom benötigt nur noch eine Eins, dannkönnte er seine letzte Figur ins Ziel setzenund hätte gewonnen. Stattdessen wirft ereine Sechs – immerhin darf er noch ein-

PM Heft 4 | August 2005 | 47. Jg. 1

Thema

Den Zufall im Griff?– Stochastische Vorstellungen fördern

von Andreas Büchter, Stephan Hußmann, Timo Leuders und Susanne Prediger

Jeder kennt Alltagssituationen, in denen der Zufall eine Rolle spielt und in denen al-le Beteiligten ihre eigenen Vorstellungen vom Wirken des Zufalls haben. Der Stochas-tikunterricht scheint auf diese Alltagsvorstellungen nur begrenzt Einfluss nehmen zukönnen – woran liegt das eigentlich? In dem Artikel werden Erklärungen angebotenund Hintergründe beschrieben. Anhand konkreter Beispiele werden Hinweise gege-ben, wie der Aufbau tragfähiger stochastischer Vorstellungen konsequenter gelingenkann. Dabei wird vor Allem für einen experimentier- und reflektionsintensiven Unter-richt plädiert.

mal würfeln. Aber er bekommt eine Dreiund darf immer noch nicht ins Ziel ziehen.„Sechsen kann ich super, aber ich kriegenie eine Eins, wenn ich sie brauche.“Kathrin resigniert schon vor ihren dreiVersuchen, eine Sechs zu werfen: „Sonstkann ich Sechsen immer gut, aber heutehabe ich kein Glück!“Jeder kennt Alltagssituationen wie diese,in denen der Zufall eine Rolle spielt undin denen alle Beteiligten ihre eigenen Vor-stellungen vom Wirken des Zufalls haben.Dieses Phänomen ist keinesfalls auf Kin-der beschränkt:Viele Erwachsene studieren Woche fürWoche Lottostatistiken (z. B. unter http://www.dielottozahlen.de/statistiksa.html)und leiten daraus ihre nächsten Tipps ab.Dass die „Vierzig“ im Jahr 2004 schon 13-mal gezogen wurde, die „Acht“dagegennur 3-mal, ist für einige Anlass, die be-währte „Vierzig“ zu bevorzugen. Anderetippen nun eher die „Acht“, denn die ist jamal wieder an der Reihe. Für solche Über-legungen erscheint es irrelevant, dass dieLottokugeln dies alles nur wenig interes-

Prediger
Vorabdruck aus Praxis der Mathematik in der Schule Heft 4, 2005.
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siert. Das Mysterium um die Möglichkeit,beim Lotto den Zufall vorherzusagen, hatwieder Nahrung erhalten, seit professio-nelle Tippgemeinschaften höhere Gewinneversprechen. Dass sie nur häufig getippteZahlenkombinationen vermeiden und sozwar nicht die Gewinnwahrscheinlichkeit,dafür aber die zu erwartende Gewinnhöheverändern, hat sich noch nicht bei allenSpielern herumgesprochen. Wer mit seiner stochastischen Bildunggegen all diese Lottospielenden einwen-det, dass jede Strategie auf lange Sicht ge-gen Vater Staat nur verlieren kann, ver-kennt, dass der stochastisch zu erwarten-de „mittlere“ Gewinn offensichtlich garnicht ausschlaggebend ist für die Ent-scheidung, Lotto zu spielen.

Stochastische Vorstellungenweiter entwickelnTrotzdem fragt man sich, wieso

Erwachsene wie Kinder solche Vorstel-lungen über das Wirken des Zufalls habenund diese auch tagtäglich anwenden. Ha-

z. B. indem als Ausgangssituation für dieEntwicklung fachlicher Begriffe nichtvertraute Spiele genommen werden, son-dern „unbelastete“ Situationen, wie dasdidaktisch auf wenige Aspekte reduzierte,aber in der Realität so kaum auftretendeUrnenmodell. Sollen die Schülerinnenund Schüler mithilfe ihres in der Schuleerworbenen Wissens jedoch auch alltägli-che Zufallssituationen besser bewältigenkönnen, darf man den Alltag nicht aus-sperren (vgl. Borovcnik 1992, für anderemathematische Themengebiete vgl. Leng-nink/Peschek 2001). Man muss vielmehrdafür sorgen, dass die im Unterricht ent-wickelten Vorstellungen auch im Alltagaktivierbar sind: In der Tageszeitung steht am Montag-morgen: „Festzelt vom Blitz getroffen.Besucher kamen mit dem Schreckendavon.“Mark meint: „Da gehe ich heute Abendnicht mehr hin. Das ist mir zu gefähr-lich!“Verena ist überzeugt: „Da bist du dochjetzt ganz sicher! Dass es an derselbenStelle noch mal passiert, ist doch extremunwahrscheinlich“ Peter erinnert sich an die Stochastikstun-de: „Das ist doch unabhängig! Der Blitzschlägt genauso unwahrscheinlich ein,wie vorher!“ Während Peter auf das fachliche Konzept„stochastische Unabhängigkeit“ zurück-greift, scheinen Marks und Verenas Äuße-rungen Beispiele für das Phänomen zusein, dass die im Unterricht entwickeltenVorstellungen häufig nur im Unterrichtgut funktionieren, während die im Alltagentwickelten Vorstellungen weiterhin imAlltag angewendet werden - beide beste-hen nebeneinander, ohne dass man bei ih-rer Verwendung den Eindruck hat, wider-sprüchlich zu handeln. Will man im Unterricht beide Vorstel-lungswelten konsequenter aufeinanderbeziehen, so sollte man typische Vorstel-lungen kennen, die Lernende mitbringen.

Welche Vorstellungen bringendie Lernenden mit? Typische stochastische Vorstel-

lungen, die die Schüler und Schülerinnenaus ihrer Alltagswelt mitbringen, basierenauf einem reichhaltigen Schatz an Erfah-rungen. Die nachfolgende Beschreibung(vgl. zusammenfassend auch Kasten 1) ist

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Thema

Guter Tipp? Schlechter Tipp? Egal?

Stochastische Vorstellungen entwickelnsich beim Mensch-Ärgere-Dich-Nicht

ben sie im Stochastikunterricht etwanichts gelernt? Haben sie zu wenig oderzu schlechten Stochastikunterricht genos-sen? Oder betrachten sie die Situationenvielleicht durch eine ganz andere Brille,durch die ihre Überlegungen so falschdoch nicht sind? Stochastische Prozesse sind ein typischerBereich, in dem Menschen vorrangig ihrevorunterrichtlichen intuitiven Vorstellun-gen nutzen, um außerschulische Situatio-nen zu beurteilen, während die im Mathe-matikunterricht angestrebten Vorstellun-gen wenig aktiviert werden (vgl. Fisch-bein 1987). Dabei verstehen wir hier unterVorstellungen individuelle Gedanken,„Bilder“, Meinungen oder Verständnisseüber mathematische Inhalte oder be-stimmte mathematisierbare Situationen.Solche Vorstellungen können nicht ein-fach weitergegeben werden und sind auchnicht etwas, das man besitzt wie man z. B.eine Stereoanlage besitzt. Vielmehr wer-den sie schrittweise in einem langwieri-gen Prozess aufgebaut und permanentmodifiziert.In der Stochastik scheint die Bedeutungder vorunterrichtlichen Vorstellungen be-sonders ausgeprägt zu sein, weil die sub-jektiven Erfahrungen beim Spielen („Ichbekomme nie eine Sechs.“) sehr prägendsein können, lange bevor im Unterrichtsystematisch über die Gesetzmäßigkeitendes Zufalls reflektiert wird. Dabei könnensich Vorstellungen und Strategien ent-wickeln, die sich aus fachlicher Sicht nurpartiell als tragfähig erweisen (vgl. Fisch-bein 1975, Wolpers/Götz 2002, S. 137 ff).Natürlich könnte der Stochastikunterrichtdiese Vorerfahrungen ausklammern und„einfach noch mal von vorne anfangen“,

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nicht ansatzweise vollständig (vgl. dazuDöhrmann 2005), sie zeigt aber häufig be-obachtbare Aspekte auf.Im Alltag wird ein Ereignis auch als zu-fällig bezeichnet, wenn es sehr selten auf-tritt oder das Auftreten als außergewöhn-lich erlebt wird. Wir greifen auf den Zu-fall als Erklärung zurück, wenn wir einEreignis nicht voraussagen bzw. sein Ein-treten nicht erklären können. In vielen Be-reichen des täglichen Lebens ist es nütz-lich, in Ursachen und Wirkungen zu den-ken. Dadurch hat sich das Bild einer kau-salen Ordnung der Welt sozusagen in dasDenken eingebrannt. Dieses wird sogarzur Erklärung herangezogen, wenn alltäg-liche Situationen beurteilt werden sollen,die eigentlich stochastisches Denken ver-langen, wie z. B. zur Einschätzung vonWählerbefragungen oder Spielverläufen(vgl. Borovcnik 1992). Fallen bei einemWürfelspiel beispielsweise hintereinanderimmer wieder Sechsen, so vermuten vie-le, dass mit jeder weiteren Sechs auch dieWahrscheinlichkeit wächst, dass im näch-sten Zug eine andere Zahl fällt. Mit dieserEinschätzung wird unterstellt, dass es ei-ne Gesetzmäßigkeit zwischen den einzel-nen Würfelereignissen gibt, die dafürsorgt, dass alle Ergebnis „letztendlich“gleich häufig auftreten. Noch offensicht-licher findet man kausale Erklärungsmu-ster, wenn stochastische Abhängigkeitund bedingte Wahrscheinlichkeiten pro-blematisiert werden. Neben diesem Bedürfnis, in Ursache undWirkung zu denken, hat der Mensch eben-falls eine besondere Vorliebe für regel-mäßige Strukturen. Demgemäß werdenunregelmäßige Muster eher dem Zufallzugeschrieben als dies bei solchen Mu-stern geschieht, bei denen eine gewisseStruktur erkannt wird. Dass die Wurffolge23412314 für wahrscheinlicher gehaltenwird als beispielsweise die Folge 11223344, ist nur ein Beispiel unter vielen. Um-gekehrt wird man aber auch miss-trauisch,wenn man bei vorgeblich zufälligen Pro-zessen auf Muster trifft. Wie viel Regel-mäßigkeit kann der Zufall überhaupt „zu-fällig“ erzeugen? Intuitiv neigen wir dazu,zufällige Muster eher als gleichmäßig(wenn auch nicht regelmäßig) verteilt vor-zustellen. Das Beispiel in Kasten 2 und 3zeigt: Der Mensch hat keinen Zufallssinn.Wie man dennoch eine rationale Einschät-zung von solchen zufälligen Verteilungen

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Thema

Einige Vorstellungen, die Lernende mitbringen

– Zufällige Ereignisse sind selten oder außergewöhnlich.– Zufällige Situationen und Konstellationen sind unstrukturiert.– Zufällige Ereignisse müssen gleichmäßig verteilt sein.– Zufällige Ereignisse treten unerwartet auf, sind unvorhersehbar.– Für zufällige Ereignisse gibt es keine Ursache.– Der Zufall lässt sich nicht beeinflussen, nicht verhindern, aber

auch nicht erzwingen.

Kasten 1: Stochastische Vorstellungen, die Lernende mitbringen

Kasten 2: Wie gut ist Ihr Zufallssinn? (nach Leuders 2004)

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Wie gut ist Ihr Zufallssinn?Können Sie Mustern auf Anhieb ansehen, obsie durch einen Zufall zustande gekommensind, oder ob ein irgendwie geplantes Mustervorliegt? Im Selbsttest können Sie einmalselbst die Rolle des Zufalls einnehmen. FüllenSie im abgebildeten 7 × 7 Raster auf möglichstzufällige Weise 6 Kästchen aus. Lesen Siedann weiter in Kasten 3.

gewinnen kann, zeigt Strick in seinem Bei-trag in diesem Heft am Beispiel von Er-eigniswiederholungen.Wenn man Lottoscheine ausfüllt oder en-gagiert ein Spiel spielt, möchte man gernden Zufall in den Griff bekommen. Dazuversucht man den Zufall zu beeinflussen.Entweder füllt man den Lottoschein nuran Tagen aus, an denen man schon in an-deren Situationen ein glückliches Händ-chen hatte oder man denkt einfach nurstark genug daran, dass eine Sechs fällt.Ein zentraler Aspekt beim alltäglichenUmgang mit Zufall ist die Bedeutung, diebestimmte Ausgänge in einer stochasti-schen Situation für das Individuum besit-zen, was schon in den ersten Beispielen indiesem Beitrag sichtbar wurde. Die Über-schätzung von Ereignissen wie Flugzeug-abstürzen oder terroristischen Anschlägenist hier zu nennen. Je bedeutungsvoller,desto präsenter ist ein Ereignis im Denkendes Individuums. Aber auch Ereignisse,die häufig erlebt wurden, können sehrpräsent sein. Dies kann dazu führen, dassdie Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens zuhoch eingeschätzt wird, weil Erlebnisseaus speziellen Situationen auf andereSituationen übertragen werden. Die Er-fahrung, dass man auf einer bestimmten

Strecke mehrmals in einem unpünktlichenZug saß, kann dazu führen, dass man derBahn generell Unpünktlichkeit zuschreibt.

Ansatz für den Unterricht:Erfahrung durch reflektierteExperimente

Die angeführten Aspekte lassen sich nichtsinnvoll isoliert betrachten, sie zeigenzum Teil sogar enorme Wechselwirkun-gen. Da viele von ihnen auf unreflektierteAlltagserfahrungen zurückgehen, mussdies im Unterricht berücksichtigt werden.Eine Konsequenz für die unterrichtlichenZielsetzungen hat Herget (1997) plastischbeschrieben: „Wenn ich erfolgreich unterrichten will,muss ich diese Vor-Einstellungen meinerSchülerinnen und Schüler ernst nehmen.… Da greifen die üblichen geometrischenSymmetrie-Argumente allein viel zu kurz.… Das ist so, als würde man einen alten,verwitterten, von Wind und Wetter ge-zeichneten Fensterrahmen einfach nuroberflächlich mit Farbe überstreichen:Schnell ist der Lack ab. Es gilt hier wiedort, zunächst eine tragfähige, dauerhafteUnterlage zu sorgen. Eine solide Grundlage sind eigene, sorg-fältig und bewusst registrierte, ausgewer-

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tete und reflektierte Untersuchungen (Ex-perimente). ... Ich muss ... den Schülerin-nen und Schülern Zeit lassen, neue, ande-re, bewusste Erfahrungen mit dem Zufallzu machen. Nur so sind die emotional ge-prägten und damit tief verwurzelten, un-bewussten Vor-Einstellungen aufzuwei-chen“ (Herget 1997, S. 4f)Ziel des Stochastikunterrichts muss es al-so sein, die vielfältigen Alltagserfahrun-gen im Unterricht durch kontrollierte Er-fahrungen zu ergänzen und dadurch eini-ge vorunterrichtliche Vorstellungen inFrage zu stellen: Wer nach (natürlich ar-beitsteiligem) 10.000-maligem Würfelndarüber nachdenkt, ob die Sechs vielleichtdoch keine Sonderolle spielt, lässt sichleichter von dem Symmetrieargumentüberzeugen. Deswegen gelten breite ex-perimentelle Erfahrungen als zentraleForderung an den frühen Stochastikunter-richt (am besten bereits in der Grund-schule, vgl. Winter 1976). Dies ist einWeg, wie fachlich nicht tragfähige„primäre Intuitionen“ durch fachlich trag-fähigere „sekundäre Intuitionen“ über-formt werden können (vgl. z. B. Fischbein

zweier Würfel in sehr anschaulicher Wei-se, was für ein langer Prozess des Ringensdies sein kann, und wie erst durch dieseintensive Beschäftigung tatsächlich Ver-ständnis für die fachlich adäquate Sichtaufgebaut wird.

Ansatz für den Unterrricht:Vorstellungen gegenüberstellen

Die Stochastik steht den empirisch ausge-richteten Naturwissenschaften sehr nahe.Bei beiden geht es vornehmlich darum,reale Situationen zu modellieren, und Ex-perimente, Simulationen und Stichprobenzu nutzen, um Modellierungen und Hypo-thesen auf die Probe zu stellen. Insofernkönnen wir aus den naturwissenschafts-didaktischen Ansätzen zur tragfähigenVerknüpfung von Alltagsvorstellungenund fachlichen Vorstellungen Einiges ler-nen (vgl. z. B. Duit 1993). Es tut dem Mathematikunterricht – insbe-sondere im Bereich der Stochastik – gut,der naturwissenschaftlichen Experimen-tierfreude maßvoll nachzueifern, dochzeigt uns die Naturwissenschaftsdidaktik

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Thema

1975, Borovcnik 1992). Dabei sollte aberberücksichtigt werden, dass solche Expe-rimente die Lernenden zwar davon über-zeugen können, dass es lohnenswert ist,sich mit einer anderen Sichtweise ausein-ander zu setzen, sie können die erzeugtenPhänomene aber nicht erklären.Gerade in dem Vergleich von hochsym-metrischen Zufallgeräten (z. B. Würfel)und weniger symmetrischen Zufallsgerä-ten (z. B. Reißzwecken oder Riemerqua-der) liegt eine viel versprechende Mög-lichkeit, die individuellen Vorstellungenzu hinterfragen. Wenn die Schülerinnenund Schüler in einer Spielsituation zwi-schen verschiedenen Zufallsgeräten dasBeste für ihren nächsten Wurf auswählensollen, dann müssen sie die mit dem je-weiligen Zufallsgerät verbundenen Ge-winnchancen einschätzen. Stehen ver-schiedene Zufallsgeräte zur Auswahl,dann sind längere Versuchsreihen not-wendig, die den Erfahrungsraum hin-sichtlich der ‚Sechs’vergrößern (vgl. z. B.das Cubus-Spiel in Hußmann 2003 oderRiemer 1991). In diesem Heft zeigt JanMüller am Beispiel der Augensumme

Wie gut ist Ihr Zufallssinn? (Fortsetzung)

Wahrscheinlich haben Sie eineKonfiguration, wie diese erzeugt.Dabei haben Sie darauf geachtet,möglichst keine Regelmäßigkeitenzu erzeugen und die Kreuze gut überdas Feld zu verteilen.

Tatsächlich gezogene „zufällige“ Lottozahlen sehen in der Regel anders aus. Dies sind die Lottozahlen der Samstage zwischendem 14.05.2005 und 18.06.2005

Sie sehen: Bei zufälligen Anordnungen sind Häufungen eher die Regel als die Ausnahme! Diese Selbsterfahrung kann zumAusgangspunkt für eine unterrichtliche Erkundung werden.

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„Fehl“-Vorstellungen oderberechtigte Perspektiven?– Ein Beispiel

Wer dieses Gegenüberstellen von fachli-chen und individuellen Vorstellungen unddie Suche nach Ursachen für Diskrepanzenwirklich ernst nimmt, wird oft bemerken,dass hinter den vermeintlichen „Fehl“-Vor-stellungen der Lernenden durchaus plausi-ble Perspektiven stehen können. Betrach-ten wir das folgende Beispiel aus einemForschungsprojekt zu Argumentationsstra-tegien beim Spiel „Die Siedler von Catan“,bei dem die Augensumme von zwei Wür-feln gesetzt werden muss (vgl. Prediger2005): „Auch wenn die 8 wahrscheinlicher ist,sie kommt ja trotzdem nicht, guck! Dann nehme ich lieber gleich meineGlückszahl 12.“Wieso ist es im Stochastikunterricht so we-nig gelungen, das Konzept der Wahr-scheinlichkeit als strategische Hilfe fürAuswahlentscheidungen in außerschuli-schen Zufallssituationen zu vermitteln? Ineinem dazu untersuchten Unterricht konn-ten diese grundsätzlichen Zweifel an derSinnhaftigkeit von Wahrscheinlichkeits-Aussagen sehr leicht beiseite geräumt wer-den und alle Lernenden schienen zu wissen,dass hier Wahrscheinlichkeitsüberlegungenanzustellen sind. Woher also kommt dieseDiskrepanz zwischen der Selbstverständ-lichkeit, mit der Wahrschein-lichkeitskon-zepte im Stochastikunterricht nach nur we-

ebenfalls, dass es mit dem Experimentie-ren allein oft nicht getan ist. Zwar reichtin einigen Fällen das Herbeiführen eineskognitiven Konflikts aus, um vertrauteVorstellungen abzulösen, in vielen ande-ren Fällen bleiben diese aber trotz der Ein-sicht in ihre Begrenztheit neben den fach-lichen Vorstellungen bestehen. Es ist da-her kein realistisches Ziel des Unterrichts,die im Alltag durchaus bewährten vorun-terrichtlichen Vorstellungen vollständig„ausmerzen“ zu wollen. Stattdessen soll-ten beide in einer nützlichen Koexistenzmiteinander verknüpft werden. Ziel ist es,die tragfähigen intuitiven Argumentedurch schlüssige fachliche Sichtweisen zubereichern.Um dies zu erreichen, müssen fachlicheund alltägliche Vorstellungen explizit ge-genübergestellt und die Ursachen derDiskrepanzen thematisiert werden. Be-trachten wir dazu ein Beispiel:Selbst am Ende einer Stochastikvorlesungargumentieren Studierende häufig wieAnja:„Ich weiß ja, dass es beim Roulette nachzehnmal Rot gleich wahrscheinlich ist,dass danach rot oder schwarz fällt - das istja stochastisch unabhängig. Aber trotz-dem würde ich auf schwarz setzen, dasscheint mir einfach sicherer, schließlichmuss ja langfristig rot und schwarz gleichhäufig sein.“Anja befindet sich in der durchaus typi-schen Situation, dass alltägliche Intuitionund erworbenes Fachwissen auseinanderklaffen. Selbst routinierten Stochastike-rinnen und Stochastikern legt die Intuiti-on zuweilen wider besseres Wissen nahe,beim zehnmaligen Werfen einer Münzeden konkreten Ausgang KZZKKKZKKZzunächst für wahrscheinlicher zu haltenals KKKKKKKKKK. Sie wissen, wennsie den Vorgang fachlich reflektieren, dassalle Ausgänge gleich wahrscheinlich sind.Dennoch neigen auch sie dazu, den erstenAusgang als typischer und damit als häu-figer anzusehen, also prototypisch zu den-ken, wie es im Alltag häufig und nützlichist.Auch bei gut ausgebildeten fachlichenVorstellungen existieren Alltagsvorstel-lungen weiter, wie eine Schicht unter ih-nen. Sie können auch nach langjährigerund eingehender Auseinandersetzung mitdem Fach hervorschimmern und uns ver-unsichern, vielleicht sogar aufs Glatteis

führen. Eine explizite Gegenüberstellungwird fruchtbar, wenn sie die Reflexion derDiskrepanzen ins Zentrum rückt und kannbeim obigen Beispiel so aussehen:„Nun ja, natürlich haben beide konkretenAusgänge die gleiche Wahrscheinlichkeit.Jeder konkrete Ausgang hat ja die Wahr-scheinlichkeit 2–10.Warum glaube ich trotzdem, dass der ers-te dargestellte Ausgang wahrscheinlicherist? Er sieht einfach „zufälliger“ aus.Wenn man fragt, ob zehnmal Kopf odersechsmal Kopf wahrscheinlicher ist, sowäre sechsmal Kopf die richtige Antwort.Vielleicht habe ich gar nicht den konkre-ten Ausgang angeschaut, sondern nur ge-sehen, dass sechsmal Zahl gefallen ist.Es gibt ja noch viel mehr Ausgänge mitsechsmal Zahl. Und an all diese habe ichgedacht statt nur an den einzelnen.

Auf diese Weise entsteht ein Wechselspielzwischen vorunterrichtlichen Alltagsvor-stellungen und fachwissenschaftlich an-gemessenen Vorstellungen. Sicherlichwird es nicht gelingen, Alltagsvorstellun-gen generell durch fachlich haltbare Vor-stellungen zu modifizieren. Die kritischeAuseinandersetzung mit verschiedenenVorstellungen und ihren Widersprüchenkann aber dazu beitragen, dass Vorstel-lungen auf jedem Niveau weiter ent-wickelt werden.

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Thema

Möglichkeiten zählen: „Ich hab michfür die 7 entschieden, weil da sindsechs Möglichkeiten, und bei den an-deren sind es immer nur fünf oder dreiMöglichkeiten. Und die 7, die kann mangut würfeln.“

Auf „Erfahrungen“ berufen: „Wenn wir ein Spiel oder so was spie-len, hab ich mit der 5 immer schon sehrviel Glück gehabt.“

Mit Erreichbarkeit begründen: „Für 6 kann man ne Fünf und ne Einskriegen’. Und ne Eins ist schwerer […],wenn man Schwein gehabt hat, dannkann man zwei Dreien kriegen.“

Beeinflussen: „Manchmal, hab ichganz doll gedacht, oh man, jetzt brauchich unbedingt ne 6, und es war ne 6.“

Individuelle Bedeutsamkeit anführen:„Dann hab ich ja hier mehrmals imzweiten Spiel die 8 geworfen. Und ichweiß auch schon warum. […] Weil ichbin am 16. 8. geboren.“

Abb. 1: Verschiedene Erklärungsansätze für Setzentscheidungen und Würfelergebnisse

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ihre Kraft, und nur wer den Unterschiedzwischen kurzfristiger und langfristigerPerspektive explizit begreift und die Gren-zen der rein mathematischen Sicht im Blickhat, wird verständig mit Wahrscheinlich-keitskonzepten, z. B. in Spielsituationen,umgehen können. Hefendehl-Hebeker hatdieses wesentliche Charakteristikum derStochastik so auf den Punkt gebracht:„Der Zufall ist im Einzelfall nicht kalku-lierbar. Auf lange Sicht hat er jedoch ingewissem Sinn Methode. Diese Einschät-zung zu präzisieren gehört zu den Aufga-ben einer Einführung in die Stochastik.“(Hefendehl-Hebeker 2003, S. 13)Es ist letztlich das empirische Gesetz dergroßen Zahlen, das erklärt, wieso wirüberhaupt sinnvoll stochastische Betrach-tungen anstellen können in Situationen,die im Einzelfall nicht kalkulierbar sind.Es beschreibt den Sinn und die Vorausset-zung, aber auch die Grenzen stochasti-scher Betrachtungsweisen. Dieses kann inreflektierten Experimenten erfahrbar ge-macht werden (s. o.), doch muss darüberhinaus der Perspektivwechsel auch expli-zit thematisiert werden.

Perspektivwechsel im Lern-prozess explizierenWas lernen wir aus diesem Bei-

spiel? Eine Kernbedingung für die Akti-vierung stochastischer Überlegungen inaußerschulischen Kontexten scheint alsozu sein, den Perspektivwechsel von der

nig Vorlauf aktiviert werden und der Ent-schiedenheit, mit denen sie z. T. außerhalbdes Unterrichts abgelehnt werden? Um dieser Frage näher zu kommen, wur-den Spielinterviews mit Kindern ausKlasse 5 geführt mit dem Ziel herauszu-finden, wie die Kinder wohl ihre Würfel-ergebnisse und ihre Setzentscheidungenin Spielsituationen außerhalb des Mathe-matikunterrichts erklären würden.Die Kinder äußerten innerhalb eines In-terviews sehr unterschiedliche Erklärungs-ansätze für die Würfelergebnisse und ihreSetzentscheidungen (vgl. Abb. 1), in de-nen sich die oben genannten Alltagsvor-stellungen wieder finden. InsbesondereErklärungen, nach denen die Situation be-einflusst werden kann und einzelne Zah-len besondere Bedeutung besitzen, wur-den immer wieder angebracht (ähnlich beiMalle/Malle 2003, Wollring 1994).Häufig werden einige dieser Ansätze alsschnell zu überwindende Fehlvorstellun-gen betrachtet. Nimmt man sie jedoch alsTeil des individuellen Erfahrungsfeldesder Schülerinnen und Schüler ernst, somuss man wenigstens nach der Berechti-gung dieser Perspektiven fragen.Betrachtet man die Aussagen derjenigenKinder genauer, für die die individuelle Be-deutsamkeit des Würfelergebnisses imVordergrund steht, so fällt auf, dass dieseKinder ihre Aufmerksamkeit auf die Prog-nose des Einzelergebnisses richten. Zwargibt auch hier der von der Laplace-Wahr-scheinlichkeit geleitete Ansatz des Mög-lichkeiten-Zählens das rein mathematischbesser begründbare Maß der Erwartung an,doch erhält dieser Ansatz seine eigentliche

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ThemaFachlichePerspektive:

Lerner-perspektive:

Aufmerksamkeitauf lange Sicht

Aufmerksamkeitauf Einzel-Ergebnis

Bspl. Möglichkeitenzählen

Bspl. Bedeutsamkeitsansatz

Abb. 2: Fehlvorstellung oder berechtigte Perspektiven? Wie fachliche Sicht und Ler-nersicht auseinandergehen können.

Abb. 3: Aufgabe zur Thematisierung des notwendigen Perspektivwechsels und ihreBearbeitung durch eine Siebtklässlerin

Ich hab mich für die 7 entschieden, weilda sind sechs Möglichkeiten, und beiden anderensind es immer nur fünf oderdrei Möglichkeiten … (Je mehr Mög-lichkeiten, desto größer die Wahr-scheinlichkeit)

Dann hab ich ja hier mehrmals im zwei-ten Spiel die 8 geworfen. Und ich weißauch schon warum. […] Weil ich bin am16. 8. geboren

4) Wieso machen Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit überhaupt Sinn?

Katharina: „Jetzt habe ich das ganze Spiel auf die wahrscheinlichste Zahl gesetzt, und habe dochverloren! Irgendwas muss ich falsch gemacht haben.“

Thomas: „Was nutzt mir die ganze Rechnerei mit der Wahrscheinlichkeit. Davon kann ich auchnicht sagen, auf was ich in der nächsten Runde setzen soll, denn dann entscheidet ja dochder Zufall.“

Hanna: „Aber langfristig hilft das ja schon, wenn man sich mit Wahrscheinlichkeiten auskennt,denn auf lange Sicht hat der Zufall eben doch Methode.

Was meinst Du zu dem, was Katharina und Thomas sagen? Was meint wohl Hanna mit ihrem Satz?Nimm Stellung!

prognostische Kraft mit größerer Sicher-heit erst auf längere Sicht. Der Bedeutsam-keitsansatz dagegen liefert für das Einzel-ergebnis einen geeigneteren subjektivenErwartungswert, wenn man die unter-schiedliche lebensweltliche Bedeutung dereinzelnen Ausfälle mit einbezieht. In dieserbreiteren Perspektive ist der Bedeutsam-keitsansatz nicht weniger angemessen alsder Ansatz des Möglichkeiten-Zählens.Auch die zu Beginn des Abschnitts zitierteEinschätzung zur Bedeutung der Glücks-zahl 12 ist durchaus schlüssig, wenn Kin-der ihre Aufmerksamkeit auf die Prognosedes Einzelergebnisses richten. Eine stochastische Betrachtung der Situati-on gewinnt also vor allem auf lange Sicht

Page 7: Den Zufall im Griff? - uni-dortmund.deprediger/veroeff/... · im Alltag Jan, Kathrin und Tom sind beim „Mensch-Ärgere-Dich-Nicht“ in der heis- ... gen nutzen, um außerschulische

Prognose des Einzel-Ergebnisses zur lan-gen Sicht zu vollziehen. Das ist notwen-dig, wenn Schülerinnen und Schüler trag-fähige Vorstellungen aufbauen sollen. Zu erleben und zu verstehen, dass undwie der Zufall auf lange Sicht Methodehat (s. o.), ist also ein wichtiger Lernge-genstand für eine Einführung in die Sto-chastik. Dies erscheint auf der einen Sei-te selbstverständlich, andererseits zeigtein Blick in die gängigen Schulbücher,dass er an vielen Stellen keine hinrei-chend explizite Rolle zu spielen scheint. Als konkreten Vorschlag für die Initiierungvon Reflexion über den notwendigen Pers-pektivwechsel in der Unterrichtspraxisist eine mögliche Aufgabe (und die Ant-wort einer Siebtklässlerin) in Abb. 3 ab-gedruckt (vgl. Prediger 2005). Im An-schluss an eine Unterrichtsphase mit vie-len Experimenten, Spielen und Reflexionvon Strategieentscheidungen wurden hierdie gegensätzlichen Perspektiven als Po-sitionen unterschiedlicher Kinder greifbargemacht und somit kommunizierbar, oh-ne auf einer Meta-Ebene abstrakt darübersprechen zu müssen. Die in drei Etappen geschriebene Antworteiner Siebtklässlerin zeigt, dass solcheAufgaben (Abb. 3) einen guten Anlass lie-fern können, über diese Aspekte nachzu-denken. Zunächst hat sie ähnlich wie vie-le ihrer Klassenkameraden der kurzfristi-gen Perspektive recht gegeben, doch dannim Bearbeitungsprozess selbst ihre Ge-danken weiter entwickeln können, die er-ste Antwort durchgestrichen und weitergeschrieben. Im dritten Zugriff ist derletzte Satz entstanden, der eine gewisseBewusstheit für die Widersprüchlichkeitder Problematik dokumentiert. Somit hatdie Schülerin im Zuge der Auseinander-setzung mit dieser Aufgabe situationsbe-zogen den gesamten Perspektivwechselsamt der Reflexion seiner Ambivalenzeinmal durchlaufen.

Fazit Was bedeutet all dies für die Un-terrichts-praxis? Wie sollten

Lernarrangements gestaltet sein, die denAufbau stochastischer Vorstellungen un-terstützen? Darauf lassen sich natürlichkeine rezeptartigen Antworten geben,denn ebenso vielschichtig wie das Feldder Vorstellungen sind die Strategien zuihrer Weiterentwicklung, Lernarrange-

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Andreas Büchter,Universität [email protected] Hußmann,Pädagogische Hochschule [email protected] Leuders,Pädagogische Hochschule [email protected] Prediger,Universität [email protected]

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Thema

ments sollten aber in jedem Fall die in Ka-sten 4 zusammengefassten folgen.

Kasten 4

Als Beispiele für solche Lernarrange-ments enthält dieses Heft zum einen ex-perimentierintensiven Unterricht. Dazuzählen auch Spiele mit stochastischemGehalt, wie z. B. das Spiel, das als Beila-ge in der Heftmitte abgedruckt ist. Zumanderen braucht es einen reflektionsinten-siven Unterricht, in dem Schülerinnenund Schüler ihre Vorstellungen aktiv ein-bringen und miteinander darüber ins Ge-spräch kommen können. Alle Beiträge imThementeil dieses Heftes weisen diesebeiden Merkmale auf, jeweils mit unter-schiedlicher Schwerpunktsetzung.In diesen Beispielen stehen Phänomeneim Vordergrund, die zunächst keine großelebensweltliche Bedeutsamkeit haben,sondern mit klassischen Objekten derWahrscheinlichkeitsrechnung, wie Wür-feln oder Münzen, auskommen. Dies warjeweils eine bewusste Wahl, da so direktdie Wahrscheinlichkeitsphänomene inden Blick genommen werden können undkeine Aufmerksamkeit auf Fragen desKontextes verwendet wird.

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Didaktische Leitideen für einen vorstel-lungsorientierten Stochastikunterricht

• Alltagsvorstellungen ernst nehmen undzum Ausgangspunkt des Lernens machen(erfordert Situationen, die diese Anknüp-fung ermöglichen),

• breite Erfahrungsmöglichkeiten durch Experimente schaffen,

• Erlebnisse durch Experimente systema-tisch reflektieren, um mitgebrachte Vor-stellungen zu überdenken,

• individuelle und fachliche Vorstellungengezielt gegenüberstellen und Ursachen fürDiskrepanzen finden und

• notwendige Perspektivwechsel explizitmachen.

Prediger