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SCHWEIZ 17Samstag, 26. Februar 2011 ! Nr. 48 Neuö Zürcör Zäitung

Schnell, schneller, StenoDie Kurzschrift hat ihre besten Zeiten hinter sich – und erfreut sich trotzdem jugendlichen Zuspruchs

Computer und Diktiergerätvermögen ihr nicht den Garauszu machen: Die Stenografiefindet immer wieder Anhänger.Zu Besuch am Stenostammin St. Gallen, Hochburg derschönen Schnellschrift.

Flavian Cajacob

Generationen kaufmännischer Ange-stellter läuft es kalt den Rücken herun-ter, allein schon wenn sie das Worthören: Stenografie! Noch vor 25 Jahrenstand die Kurzschrift auf dem Lehrplanfast eines jeden Gymnasiums, einerjeden Handelsschule. Und das meistzum Leidwesen der jeweiligen Absol-venten und Absolventinnen. Denn Ste-no, das war und ist für den gemeinenHomo practicus etwa das, was für denFussballprofi ein gerader Satz ist: eineQual – und unnütz obendrein.

Gepflegte RationalitätDoch es gibt sie noch, die Verfechterdes schnellen Schönschreibens bzw. desschönen Schnellschreibens. Gallier un-ter lauter Römern, die sich dem Diktatvon Laptop und Diktafon partout nichtbeugen mögen. 700 an der Zahl seien eshierzulande, die mit dem Attribut «an-gefressen» bedacht werden könnten,schätzt Rosmarie Koller. Wenn es eineso genau weiss, dann sie. Denn die Ost-schweizerin ist so etwas wie die GrandeDame der hiesigen Stenografen-Szene.In ihrem Palmares führt die 57-Jährigezahlreiche internationale Auszeichnun-gen sowie 18 Schweizer-Meister-Titel,die sie allesamt zwischen 1991 und 2008in Folge erschrieben hat.

An ihren 200 Silben pro Minutebeisst sich die Konkurrenz nach wie vordie Zähne aus. Für Rosmarie Koller istklar: «Wer stenografieren kann, ver-passt weniger, gerade in der heutigenZeit.» Stenografie sei eben die ratio-nellste Methode, das Gesprocheneschriftlich festzuhalten. Eine geübteStenografin bringt es im Durchschnittauf 120 Silben in der Minute. Zum Ver-gleich: Bei der üblichen Handschrift,der sogenannten Langschrift, liegt dieseQuote bei 30 Silben. Rosmarie Kollerspitzt den Bleistift und meint: «Ver-suchen Sie einmal, in diesem Tempoeine Ausführung mitzunotieren – Siewerden scheitern, garantiert.»

Genau diese Überlegung hat die16-jährige Gymnasiastin Jvana Manserangestellt, als sie den für ihr Alter docheher unüblichen Entschluss fasste, diehohe Schule der Stenografie zu erler-nen. Spätestens mit dem Übertritt aneine Universität in ein paar Jahren willsie die Kurzschrift beherrschen. Für einStück Papier und einen Stift finde sichimmer irgendwo ein Platz, selbst imnoch so überfüllten Auditorium, ist sichdie Appenzellerin sicher. «Für einenLaptop gilt das nicht, zumal deren Ein-satz nicht überall erlaubt ist.» Der Vor-teil also liege klar auf ihrer Seite.

Das sieht Micha Wagner genauso.Auch er hat sich aus praktischen Grün-den für die Stenografie entschieden –um beim Repetieren von wichtigemStoff kein Detail zu verpassen. Ande-rerseits hätten es ihm Schriften undSchriftbilder ganz allgemein angetan.«Aber mit Kalligrafie allein komme ichnicht wahnsinnig weit. Stenografiebringt mir auch im Beruf etwas.» Der21-jährige Plattenleger will bald die Be-rufsmatura ablegen. «Kommt hinzu,dass Steno heutzutage etwas Exotischesist. Da staunen die Kollegen nichtschlecht», sagt er und lacht.

Dörrfrüchte als Hirn-DopingWagner und Manser sitzen an diesemAbend zusammen mit einem DutzendGleichgesinnter in einem St. GallerSchulzimmer und üben Schön- und Kor-rektschreiben. Danach stehen Diktateauf dem Programm. Diktate! Währendandere in ihrem Alter zur gleichen ZeitSport treiben, sich mit Freunden treffenoder zu Hause abhängen, bringen die

beiden Nachwuchs-Stenografen Hiero-glyphenähnliches zu Papier. Dies unterdem Diktat einer Dame, die ihre Gross-mutter sein könnte und die Strengeeiner Studienrätin im Timbre führt. DieStoppuhr um denHals gehängt, rezitiertdie Vorleserin im präzisen Takt einesMetronoms Texte, welche die Klasse inSteno niederzuschreiben und anschlies-send vorzutragen hat. Frontalunterrichtnach Feierabend. – Jvana Manser, zweiverschiedenfarbige Schnürsenkel an

den Turnschuhen, stört sich darob nicht.«Ist doch cool, etwas zu beherrschen,was andere nicht können.» Sie erinnertsich genau an den Auslöser ihres ausser-gewöhnlichen Hobbys. In einem altenFernsehfilm sei eine Sekretärin vorge-kommen, die in einem Affentempo einDiktat aufgenommen habe. «Da habeich meine Eltern gefragt, was die Frauda genau macht. Sie haben mir erklärt,dass das eine Stenografin ist.» Fortan seisie von der Vorstellung fasziniert ge-

wesen, alles lückenlos festhalten zu kön-nen, was andere von sich geben. Unddas eben nicht mit dem Computer oderdem Diktiergerät, sondern von Hand.

Wodurch zeichnet sich der typischeStenograf aus? Rosmarie Koller mussnicht lange überlegen. Die Liebe zuSprache und Schrift sei eine grund-legendeVoraussetzung, um Spass an derSache entwickeln zu können. Hinzukämen geistige Flexibilität, Disziplinund die Lust am sportlichen Vergleich.Jährlich finden in der Schweiz verschie-dene Wettbewerbe statt, auf die harttrainiert wird und die mit dem gebote-nen Ernst bestritten sein wollen. «DasPeinlichste für einen Stenografen ist,wenn er seine eigenen Texte nicht mehrlesen kann», schmunzelt Rosmarie Kol-ler und verrät ihr persönliches Erfolgs-rezept: «Üben, üben, üben. Immerschön locker bleiben im Handgelenkund ja nicht versteifen.» Doping? Kollerschüttelt den Kopf. «Höchstens Wasser,Schokolade und ein paar Dörrfrüchte.Die bringen die Konzentration zurück.»

Wurzeln in der AntikeBereits Griechen und Römer kanntenKurzschriften, die einem klaren Systemfolgen. Eine wahre Blütezeit erlebte dieStenografie ab dem 16. Jahrhundert, alsKolonialisierung und Industrialisierungden Austausch von Informationen unddas Festhalten von Vereinbarungen zwi-schen Kontinenten und Partnern unab-dingbar machten. Die Stenografie seischon damals vor allem bei politischenund kirchlichen Reden angewendetworden, genauso wie bei Gerichtsver-handlungen und Lehrveranstaltungen,erklärt Patrick Koller. Für seine Ma-turaarbeit hat er sich vor Jahren ein-gehend mit der Lieblingsmaterie seinerMutter befasst. «Im deutschsprachigenRaum fand die Kurzschrift ab Ende des19. Jahrhunderts zunehmend Verbrei-tung», führt der junge Lehrer aus.

Verantwortlich hierfür zeichnetendie beiden System-Theoretiker Wilhelm

Stolze und Ferdinand Schrey ausDeutschland, die sich nach einigem Hinund Her dazu durchringen konnten,ihre beiden Systeme zu vereinen. Stolze-Schrey ist in der Deutschschweiz nachwie vor das gängige System, nach demsich die Stenografen richten. Und Leh-rer Koller seine Gedanken zu Papierbringt. «Bei Sitzungen, Referaten undElterngesprächen bin ich froh, steno-grafieren zu können. Schliesslich müs-sen ja nicht immer alle gleich wissen,was ich mir da aufgeschrieben habe.»

Mit dem sinkenden Stellenwert istdie Stenografie zu einer Art Geheim-schrift geworden. Eine Geheimschrift,auf die Anwälte genauso gerne zurück-greifen wie Büroangestellte und Stu-dentinnen ebenso wie Journalisten, Po-litiker und Übersetzer. Beim Schweize-rischen Stenografenverband (SSV)schätzt man, dass neben den 700 organi-sierten Kurzschreibern hierzulandenoch etwa 5000 Männer und Frauenregelmässig zum Stenoblock greifen.

In zehn Monaten erlernbarAm Stenostamm des StenovereinsSt. Gallen wird das Tempo allmählicherhöht. 80 Silben sollen in einer Minuteniedergeschrieben und anschliessendentziffert werden. Wer in der Lang-schrift eine «Klaue» habe, für den sei esschwierig, im Steno absolute Spitzen-resultate zu erzielen, sagt RosmarieKoller. Dasselbe gelte im Übrigen auchfür Linkshänder. «Meines Wissens gibtes an der Weltspitze ausnahmslosRechtshänder.» Das liegt daran, dassdie auf ein Minimum reduzierten Buch-staben und Verbindungen von linksnach rechts gesetzt werden und gescho-bene Buchstaben langsamer geschrie-ben werden als gezogene. «Die Gefahr,ob der Anstrengung zu verkrampfen, istaber für Links- wie Rechtshänder gleichgross. Und wer verkrampft ist, hat be-reits verloren.»

Ein halbes Dutzend Sektionennimmt sich in der Deutschschweiz derAus- undWeiterbildung der Kurzschrei-ber an, veranstaltet Wettschreiben undgibt zeitgemässe Lehrmittel heraus.Compact Discs für das Heimstudiumbeispielsweise oder das «Sammelsu-rium», ein Heft aus der Reihe «Steno-schriften in Stolze-Schrey», das aktuelleTexte als Stenogramme abbildet. «Es istwie bei den Fremdsprachen: Wer vielSteno liest, dem fällt es leichter, selberin Steno zu schreiben», sagt die «Sam-melsurium»-Herausgeberin Sylvia See-holzer aus Küssnacht. «Innerhalb vonacht bis zehnMonaten kannman Steno-grafie grundlegend erlernen.» Grund-legend wohlgemerkt! Denn bis man soweit ist wie die weltbesten Stenografen,dürften noch ein paar Jahre harten Trai-nings hinzukommen. Die absolutenCracks der Szene bringen es nicht seltenauf über 400 Silben in der Minute.

Deutlicher AufwärtstrendBis dorthin ist es für die Schnellschrei-ber vom St. Galler Stenostamm nochein weiter Weg. Den meisten reicht esvöllig, ihre Kunst für den Alltag nutzenzu können. Der Sportreporter BernardThurnheer, will man hier wissen, macheseine Notizen in Steno. Ebenso sei dieRadiolegende Elisabeth Schnell eineStenografin, hinzu kämen längst ver-storbene Grössen wie der SchriftstellerCharles Dickens oder der ehemaligeUS-Präsident Woodrow Wilson. Auchwenn die Stenografie ihre beste Zeitlängst hinter sich hat und die gestande-nen Stenografen an diesem Abend inder Mehrzahl sind, will Rosmarie Kollernichts von einer Überalterung in ihrenReihen wissen. Ganz im Gegenteil:«Der jüngste unserer Stenografen ist 11Jahre alt, das Durchschnittsalter liegtbei 30. Da kann man kaum von einemangestaubten Image sprechen.»

Sie will sogar einen deutlichen Auf-wärtstrend ausgemacht haben. Dennalleine seit Januar hätten 5 neue Schülerdamit begonnen, bei ihr das Stenogra-fieren zu erlernen. Für Rosmarie Kollerist klar: «Stenografie, das ist eine schnel-le Schrift für eine schnelle Zeit.»

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ENGSCHRIFT FÜR EILIGE

fwc. ! Das Wort Stenografie entstammt dem Griechischen und bedeutet übersetztso viel wie Engschrift. Mit ihr lassen sich Texte vonHandmindestens viermal schnel-ler verfassen als mit der herkömmlichen Langschrift. Die Zeitersparnis wird durcheine vereinfachte Rechtschreibung und durch die Reduktion der Buchstaben aufeine Minimalform erzielt. Häufige Wörter und Silben werden zudem gekürzt. Wei-tere Charakteristika sind höher und tiefer gestellte Konsonanten sowie mit mehroder weniger Druck niedergeschriebene Buchstaben.www.steno.ch

Streng überwachte Präzisionsarbeit der angehenden Schnellschreiberinnen.

Programmatische Ansage an der Wandtafel: «Stenografie, die schnelle Schrift». BILDER CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ

Die Erklärung «Engschrift für Eilige», stenografisch verkürzt.

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