stenografie

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SCHWEIZ 17 Samstag, 26. Februar 2011 Nr. 48 Neuö Zürcör Zäitung Schnell, schneller, Steno Die Kurzschrift hat ihre besten Zeiten hinter sich – und erfreut sich trotzdem jugendlichen Zuspruchs Computer und Diktiergerät vermögen ihr nicht den Garaus zu machen: Die Stenografie findet immer wieder Anhänger. Zu Besuch am Stenostamm in St. Gallen, Hochburg der schönen Schnellschrift. Flavian Cajacob Generationen kaufmännischer Ange- stellter läuft es kalt den Rücken herun- ter, allein schon wenn sie das Wort hören: Stenografie! Noch vor 25 Jahren stand die Kurzschrift auf dem Lehrplan fast eines jeden Gymnasiums, einer jeden Handelsschule. Und das meist zum Leidwesen der jeweiligen Absol- venten und Absolventinnen. Denn Ste- no, das war und ist für den gemeinen Homo practicus etwa das, was für den Fussballprofi ein gerader Satz ist: eine Qual – und unnütz obendrein. Gepflegte Rationalität Doch es gibt sie noch, die Verfechter des schnellen Schönschreibens bzw. des schönen Schnellschreibens. Gallier un- ter lauter Römern, die sich dem Diktat von Laptop und Diktafon partout nicht beugen mögen. 700 an der Zahl seien es hierzulande, die mit dem Attribut «an- gefressen» bedacht werden könnten, schätzt Rosmarie Koller. Wenn es eine so genau weiss, dann sie. Denn die Ost- schweizerin ist so etwas wie die Grande Dame der hiesigen Stenografen-Szene. In ihrem Palmar` es führt die 57-Jährige zahlreiche internationale Auszeichnun- gen sowie 18 Schweizer-Meister-Titel, die sie allesamt zwischen 1991 und 2008 in Folge erschrieben hat. An ihren 200 Silben pro Minute beisst sich die Konkurrenz nach wie vor die Zähne aus. Für Rosmarie Koller ist klar: «Wer stenografieren kann, ver- passt weniger, gerade in der heutigen Zeit.» Stenografie sei eben die ratio- nellste Methode, das Gesprochene schriftlich festzuhalten. Eine geübte Stenografin bringt es im Durchschnitt auf 120 Silben in der Minute. Zum Ver- gleich: Bei der üblichen Handschrift, der sogenannten Langschrift, liegt diese Quote bei 30 Silben. Rosmarie Koller spitzt den Bleistift und meint: «Ver- suchen Sie einmal, in diesem Tempo eine Ausführung mitzunotieren – Sie werden scheitern, garantiert.» Genau diese Überlegung hat die 16-jährige Gymnasiastin Jvana Manser angestellt, als sie den für ihr Alter doch eher unüblichen Entschluss fasste, die hohe Schule der Stenografie zu erler- nen. Spätestens mit dem Übertritt an eine Universität in ein paar Jahren will sie die Kurzschrift beherrschen. Für ein Stück Papier und einen Stift finde sich immer irgendwo ein Platz, selbst im noch so überfüllten Auditorium, ist sich die Appenzellerin sicher. «Für einen Laptop gilt das nicht, zumal deren Ein- satz nicht überall erlaubt ist.» Der Vor- teil also liege klar auf ihrer Seite. Das sieht Micha Wagner genauso. Auch er hat sich aus praktischen Grün- den für die Stenografie entschieden – um beim Repetieren von wichtigem Stoff kein Detail zu verpassen. Ande- rerseits hätten es ihm Schriften und Schriftbilder ganz allgemein angetan. «Aber mit Kalligrafie allein komme ich nicht wahnsinnig weit. Stenografie bringt mir auch im Beruf etwas.» Der 21-jährige Plattenleger will bald die Be- rufsmatura ablegen. «Kommt hinzu, dass Steno heutzutage etwas Exotisches ist. Da staunen die Kollegen nicht schlecht», sagt er und lacht. Dörrfrüchte als Hirn-Doping Wagner und Manser sitzen an diesem Abend zusammen mit einem Dutzend Gleichgesinnter in einem St. Galler Schulzimmer und üben Schön- und Kor- rektschreiben. Danach stehen Diktate auf dem Programm. Diktate! Während andere in ihrem Alter zur gleichen Zeit Sport treiben, sich mit Freunden treffen oder zu Hause abhängen, bringen die beiden Nachwuchs-Stenografen Hiero- glyphenähnliches zu Papier. Dies unter dem Diktat einer Dame, die ihre Gross- mutter sein könnte und die Strenge einer Studienrätin im Timbre führt. Die Stoppuhr um den Hals gehängt, rezitiert die Vorleserin im präzisen Takt eines Metronoms Texte, welche die Klasse in Steno niederzuschreiben und anschlies- send vorzutragen hat. Frontalunterricht nach Feierabend. – Jvana Manser, zwei verschiedenfarbige Schnürsenkel an den Turnschuhen, stört sich darob nicht. «Ist doch cool, etwas zu beherrschen, was andere nicht können.» Sie erinnert sich genau an den Auslöser ihres ausser- gewöhnlichen Hobbys. In einem alten Fernsehfilm sei eine Sekretärin vorge- kommen, die in einem Affentempo ein Diktat aufgenommen habe. «Da habe ich meine Eltern gefragt, was die Frau da genau macht. Sie haben mir erklärt, dass das eine Stenografin ist.» Fortan sei sie von der Vorstellung fasziniert ge- wesen, alles lückenlos festhalten zu kön- nen, was andere von sich geben. Und das eben nicht mit dem Computer oder dem Diktiergerät, sondern von Hand. Wodurch zeichnet sich der typische Stenograf aus? Rosmarie Koller muss nicht lange überlegen. Die Liebe zu Sprache und Schrift sei eine grund- legende Voraussetzung, um Spass an der Sache entwickeln zu können. Hinzu kämen geistige Flexibilität, Disziplin und die Lust am sportlichen Vergleich. Jährlich finden in der Schweiz verschie- dene Wettbewerbe statt, auf die hart trainiert wird und die mit dem gebote- nen Ernst bestritten sein wollen. «Das Peinlichste für einen Stenografen ist, wenn er seine eigenen Texte nicht mehr lesen kann», schmunzelt Rosmarie Kol- ler und verrät ihr persönliches Erfolgs- rezept: «Üben, üben, üben. Immer schön locker bleiben im Handgelenk und ja nicht versteifen.» Doping? Koller schüttelt den Kopf. «Höchstens Wasser, Schokolade und ein paar Dörrfrüchte. Die bringen die Konzentration zurück.» Wurzeln in der Antike Bereits Griechen und Römer kannten Kurzschriften, die einem klaren System folgen. Eine wahre Blütezeit erlebte die Stenografie ab dem 16. Jahrhundert, als Kolonialisierung und Industrialisierung den Austausch von Informationen und das Festhalten von Vereinbarungen zwi- schen Kontinenten und Partnern unab- dingbar machten. Die Stenografie sei schon damals vor allem bei politischen und kirchlichen Reden angewendet worden, genauso wie bei Gerichtsver- handlungen und Lehrveranstaltungen, erklärt Patrick Koller. Für seine Ma- turaarbeit hat er sich vor Jahren ein- gehend mit der Lieblingsmaterie seiner Mutter befasst. «Im deutschsprachigen Raum fand die Kurzschrift ab Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend Verbrei- tung», führt der junge Lehrer aus. Verantwortlich hierfür zeichneten die beiden System-Theoretiker Wilhelm Stolze und Ferdinand Schrey aus Deutschland, die sich nach einigem Hin und Her dazu durchringen konnten, ihre beiden Systeme zu vereinen. Stolze- Schrey ist in der Deutschschweiz nach wie vor das gängige System, nach dem sich die Stenografen richten. Und Leh- rer Koller seine Gedanken zu Papier bringt. «Bei Sitzungen, Referaten und Elterngesprächen bin ich froh, steno- grafieren zu können. Schliesslich müs- sen ja nicht immer alle gleich wissen, was ich mir da aufgeschrieben habe.» Mit dem sinkenden Stellenwert ist die Stenografie zu einer Art Geheim- schrift geworden. Eine Geheimschrift, auf die Anwälte genauso gerne zurück- greifen wie Büroangestellte und Stu- dentinnen ebenso wie Journalisten, Po- litiker und Übersetzer. Beim Schweize- rischen Stenografenverband (SSV) schätzt man, dass neben den 700 organi- sierten Kurzschreibern hierzulande noch etwa 5000 Männer und Frauen regelmässig zum Stenoblock greifen. In zehn Monaten erlernbar Am Stenostamm des Stenovereins St. Gallen wird das Tempo allmählich erhöht. 80 Silben sollen in einer Minute niedergeschrieben und anschliessend entziffert werden. Wer in der Lang- schrift eine «Klaue» habe, für den sei es schwierig, im Steno absolute Spitzen- resultate zu erzielen, sagt Rosmarie Koller. Dasselbe gelte im Übrigen auch für Linkshänder. «Meines Wissens gibt es an der Weltspitze ausnahmslos Rechtshänder.» Das liegt daran, dass die auf ein Minimum reduzierten Buch- staben und Verbindungen von links nach rechts gesetzt werden und gescho- bene Buchstaben langsamer geschrie- ben werden als gezogene. «Die Gefahr, ob der Anstrengung zu verkrampfen, ist aber für Links- wie Rechtshänder gleich gross. Und wer verkrampft ist, hat be- reits verloren.» Ein halbes Dutzend Sektionen nimmt sich in der Deutschschweiz der Aus- und Weiterbildung der Kurzschrei- ber an, veranstaltet Wettschreiben und gibt zeitgemässe Lehrmittel heraus. Compact Discs für das Heimstudium beispielsweise oder das «Sammelsu- rium», ein Heft aus der Reihe «Steno- schriften in Stolze-Schrey», das aktuelle Texte als Stenogramme abbildet. «Es ist wie bei den Fremdsprachen: Wer viel Steno liest, dem fällt es leichter, selber in Steno zu schreiben», sagt die «Sam- melsurium»-Herausgeberin Sylvia See- holzer aus Küssnacht. «Innerhalb von acht bis zehn Monaten kann man Steno- grafie grundlegend erlernen.» Grund- legend wohlgemerkt! Denn bis man so weit ist wie die weltbesten Stenografen, dürften noch ein paar Jahre harten Trai- nings hinzukommen. Die absoluten Cracks der Szene bringen es nicht selten auf über 400 Silben in der Minute. Deutlicher Aufwärtstrend Bis dorthin ist es für die Schnellschrei- ber vom St. Galler Stenostamm noch ein weiter Weg. Den meisten reicht es völlig, ihre Kunst für den Alltag nutzen zu können. Der Sportreporter Bernard Thurnheer, will man hier wissen, mache seine Notizen in Steno. Ebenso sei die Radiolegende Elisabeth Schnell eine Stenografin, hinzu kämen längst ver- storbene Grössen wie der Schriftsteller Charles Dickens oder der ehemalige US-Präsident Woodrow Wilson. Auch wenn die Stenografie ihre beste Zeit längst hinter sich hat und die gestande- nen Stenografen an diesem Abend in der Mehrzahl sind, will Rosmarie Koller nichts von einer Überalterung in ihren Reihen wissen. Ganz im Gegenteil: «Der jüngste unserer Stenografen ist 11 Jahre alt, das Durchschnittsalter liegt bei 30. Da kann man kaum von einem angestaubten Image sprechen.» Sie will sogar einen deutlichen Auf- wärtstrend ausgemacht haben. Denn alleine seit Januar hätten 5 neue Schüler damit begonnen, bei ihr das Stenogra- fieren zu erlernen. Für Rosmarie Koller ist klar: «Stenografie, das ist eine schnel- le Schrift für eine schnelle Zeit.» ......................................................................................................................................................................... ENGSCHRIFT FÜR EILIGE fwc. Das Wort Stenografie entstammt dem Griechischen und bedeutet übersetzt so viel wie Engschrift. Mit ihr lassen sich Texte von Hand mindestens viermal schnel- ler verfassen als mit der herkömmlichen Langschrift. Die Zeitersparnis wird durch eine vereinfachte Rechtschreibung und durch die Reduktion der Buchstaben auf eine Minimalform erzielt. Häufige Wörter und Silben werden zudem gekürzt. Wei- tere Charakteristika sind höher und tiefer gestellte Konsonanten sowie mit mehr oder weniger Druck niedergeschriebene Buchstaben. www.steno.ch Streng überwachte Präzisionsarbeit der angehenden Schnellschreiberinnen. Programmatische Ansage an der Wandtafel: «Stenografie, die schnelle Schrift». BILDER CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ Die Erklärung «Engschrift für Eilige», stenografisch verkürzt.

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Reportage zur Schweizer Stenografenszene. Erschienen in NZZ.

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SCHWEIZ 17Samstag, 26. Februar 2011 ! Nr. 48 Neuö Zürcör Zäitung

Schnell, schneller, StenoDie Kurzschrift hat ihre besten Zeiten hinter sich – und erfreut sich trotzdem jugendlichen Zuspruchs

Computer und Diktiergerätvermögen ihr nicht den Garauszu machen: Die Stenografiefindet immer wieder Anhänger.Zu Besuch am Stenostammin St. Gallen, Hochburg derschönen Schnellschrift.

Flavian Cajacob

Generationen kaufmännischer Ange-stellter läuft es kalt den Rücken herun-ter, allein schon wenn sie das Worthören: Stenografie! Noch vor 25 Jahrenstand die Kurzschrift auf dem Lehrplanfast eines jeden Gymnasiums, einerjeden Handelsschule. Und das meistzum Leidwesen der jeweiligen Absol-venten und Absolventinnen. Denn Ste-no, das war und ist für den gemeinenHomo practicus etwa das, was für denFussballprofi ein gerader Satz ist: eineQual – und unnütz obendrein.

Gepflegte RationalitätDoch es gibt sie noch, die Verfechterdes schnellen Schönschreibens bzw. desschönen Schnellschreibens. Gallier un-ter lauter Römern, die sich dem Diktatvon Laptop und Diktafon partout nichtbeugen mögen. 700 an der Zahl seien eshierzulande, die mit dem Attribut «an-gefressen» bedacht werden könnten,schätzt Rosmarie Koller. Wenn es eineso genau weiss, dann sie. Denn die Ost-schweizerin ist so etwas wie die GrandeDame der hiesigen Stenografen-Szene.In ihrem Palmares führt die 57-Jährigezahlreiche internationale Auszeichnun-gen sowie 18 Schweizer-Meister-Titel,die sie allesamt zwischen 1991 und 2008in Folge erschrieben hat.

An ihren 200 Silben pro Minutebeisst sich die Konkurrenz nach wie vordie Zähne aus. Für Rosmarie Koller istklar: «Wer stenografieren kann, ver-passt weniger, gerade in der heutigenZeit.» Stenografie sei eben die ratio-nellste Methode, das Gesprocheneschriftlich festzuhalten. Eine geübteStenografin bringt es im Durchschnittauf 120 Silben in der Minute. Zum Ver-gleich: Bei der üblichen Handschrift,der sogenannten Langschrift, liegt dieseQuote bei 30 Silben. Rosmarie Kollerspitzt den Bleistift und meint: «Ver-suchen Sie einmal, in diesem Tempoeine Ausführung mitzunotieren – Siewerden scheitern, garantiert.»

Genau diese Überlegung hat die16-jährige Gymnasiastin Jvana Manserangestellt, als sie den für ihr Alter docheher unüblichen Entschluss fasste, diehohe Schule der Stenografie zu erler-nen. Spätestens mit dem Übertritt aneine Universität in ein paar Jahren willsie die Kurzschrift beherrschen. Für einStück Papier und einen Stift finde sichimmer irgendwo ein Platz, selbst imnoch so überfüllten Auditorium, ist sichdie Appenzellerin sicher. «Für einenLaptop gilt das nicht, zumal deren Ein-satz nicht überall erlaubt ist.» Der Vor-teil also liege klar auf ihrer Seite.

Das sieht Micha Wagner genauso.Auch er hat sich aus praktischen Grün-den für die Stenografie entschieden –um beim Repetieren von wichtigemStoff kein Detail zu verpassen. Ande-rerseits hätten es ihm Schriften undSchriftbilder ganz allgemein angetan.«Aber mit Kalligrafie allein komme ichnicht wahnsinnig weit. Stenografiebringt mir auch im Beruf etwas.» Der21-jährige Plattenleger will bald die Be-rufsmatura ablegen. «Kommt hinzu,dass Steno heutzutage etwas Exotischesist. Da staunen die Kollegen nichtschlecht», sagt er und lacht.

Dörrfrüchte als Hirn-DopingWagner und Manser sitzen an diesemAbend zusammen mit einem DutzendGleichgesinnter in einem St. GallerSchulzimmer und üben Schön- und Kor-rektschreiben. Danach stehen Diktateauf dem Programm. Diktate! Währendandere in ihrem Alter zur gleichen ZeitSport treiben, sich mit Freunden treffenoder zu Hause abhängen, bringen die

beiden Nachwuchs-Stenografen Hiero-glyphenähnliches zu Papier. Dies unterdem Diktat einer Dame, die ihre Gross-mutter sein könnte und die Strengeeiner Studienrätin im Timbre führt. DieStoppuhr um denHals gehängt, rezitiertdie Vorleserin im präzisen Takt einesMetronoms Texte, welche die Klasse inSteno niederzuschreiben und anschlies-send vorzutragen hat. Frontalunterrichtnach Feierabend. – Jvana Manser, zweiverschiedenfarbige Schnürsenkel an

den Turnschuhen, stört sich darob nicht.«Ist doch cool, etwas zu beherrschen,was andere nicht können.» Sie erinnertsich genau an den Auslöser ihres ausser-gewöhnlichen Hobbys. In einem altenFernsehfilm sei eine Sekretärin vorge-kommen, die in einem Affentempo einDiktat aufgenommen habe. «Da habeich meine Eltern gefragt, was die Frauda genau macht. Sie haben mir erklärt,dass das eine Stenografin ist.» Fortan seisie von der Vorstellung fasziniert ge-

wesen, alles lückenlos festhalten zu kön-nen, was andere von sich geben. Unddas eben nicht mit dem Computer oderdem Diktiergerät, sondern von Hand.

Wodurch zeichnet sich der typischeStenograf aus? Rosmarie Koller mussnicht lange überlegen. Die Liebe zuSprache und Schrift sei eine grund-legendeVoraussetzung, um Spass an derSache entwickeln zu können. Hinzukämen geistige Flexibilität, Disziplinund die Lust am sportlichen Vergleich.Jährlich finden in der Schweiz verschie-dene Wettbewerbe statt, auf die harttrainiert wird und die mit dem gebote-nen Ernst bestritten sein wollen. «DasPeinlichste für einen Stenografen ist,wenn er seine eigenen Texte nicht mehrlesen kann», schmunzelt Rosmarie Kol-ler und verrät ihr persönliches Erfolgs-rezept: «Üben, üben, üben. Immerschön locker bleiben im Handgelenkund ja nicht versteifen.» Doping? Kollerschüttelt den Kopf. «Höchstens Wasser,Schokolade und ein paar Dörrfrüchte.Die bringen die Konzentration zurück.»

Wurzeln in der AntikeBereits Griechen und Römer kanntenKurzschriften, die einem klaren Systemfolgen. Eine wahre Blütezeit erlebte dieStenografie ab dem 16. Jahrhundert, alsKolonialisierung und Industrialisierungden Austausch von Informationen unddas Festhalten von Vereinbarungen zwi-schen Kontinenten und Partnern unab-dingbar machten. Die Stenografie seischon damals vor allem bei politischenund kirchlichen Reden angewendetworden, genauso wie bei Gerichtsver-handlungen und Lehrveranstaltungen,erklärt Patrick Koller. Für seine Ma-turaarbeit hat er sich vor Jahren ein-gehend mit der Lieblingsmaterie seinerMutter befasst. «Im deutschsprachigenRaum fand die Kurzschrift ab Ende des19. Jahrhunderts zunehmend Verbrei-tung», führt der junge Lehrer aus.

Verantwortlich hierfür zeichnetendie beiden System-Theoretiker Wilhelm

Stolze und Ferdinand Schrey ausDeutschland, die sich nach einigem Hinund Her dazu durchringen konnten,ihre beiden Systeme zu vereinen. Stolze-Schrey ist in der Deutschschweiz nachwie vor das gängige System, nach demsich die Stenografen richten. Und Leh-rer Koller seine Gedanken zu Papierbringt. «Bei Sitzungen, Referaten undElterngesprächen bin ich froh, steno-grafieren zu können. Schliesslich müs-sen ja nicht immer alle gleich wissen,was ich mir da aufgeschrieben habe.»

Mit dem sinkenden Stellenwert istdie Stenografie zu einer Art Geheim-schrift geworden. Eine Geheimschrift,auf die Anwälte genauso gerne zurück-greifen wie Büroangestellte und Stu-dentinnen ebenso wie Journalisten, Po-litiker und Übersetzer. Beim Schweize-rischen Stenografenverband (SSV)schätzt man, dass neben den 700 organi-sierten Kurzschreibern hierzulandenoch etwa 5000 Männer und Frauenregelmässig zum Stenoblock greifen.

In zehn Monaten erlernbarAm Stenostamm des StenovereinsSt. Gallen wird das Tempo allmählicherhöht. 80 Silben sollen in einer Minuteniedergeschrieben und anschliessendentziffert werden. Wer in der Lang-schrift eine «Klaue» habe, für den sei esschwierig, im Steno absolute Spitzen-resultate zu erzielen, sagt RosmarieKoller. Dasselbe gelte im Übrigen auchfür Linkshänder. «Meines Wissens gibtes an der Weltspitze ausnahmslosRechtshänder.» Das liegt daran, dassdie auf ein Minimum reduzierten Buch-staben und Verbindungen von linksnach rechts gesetzt werden und gescho-bene Buchstaben langsamer geschrie-ben werden als gezogene. «Die Gefahr,ob der Anstrengung zu verkrampfen, istaber für Links- wie Rechtshänder gleichgross. Und wer verkrampft ist, hat be-reits verloren.»

Ein halbes Dutzend Sektionennimmt sich in der Deutschschweiz derAus- undWeiterbildung der Kurzschrei-ber an, veranstaltet Wettschreiben undgibt zeitgemässe Lehrmittel heraus.Compact Discs für das Heimstudiumbeispielsweise oder das «Sammelsu-rium», ein Heft aus der Reihe «Steno-schriften in Stolze-Schrey», das aktuelleTexte als Stenogramme abbildet. «Es istwie bei den Fremdsprachen: Wer vielSteno liest, dem fällt es leichter, selberin Steno zu schreiben», sagt die «Sam-melsurium»-Herausgeberin Sylvia See-holzer aus Küssnacht. «Innerhalb vonacht bis zehnMonaten kannman Steno-grafie grundlegend erlernen.» Grund-legend wohlgemerkt! Denn bis man soweit ist wie die weltbesten Stenografen,dürften noch ein paar Jahre harten Trai-nings hinzukommen. Die absolutenCracks der Szene bringen es nicht seltenauf über 400 Silben in der Minute.

Deutlicher AufwärtstrendBis dorthin ist es für die Schnellschrei-ber vom St. Galler Stenostamm nochein weiter Weg. Den meisten reicht esvöllig, ihre Kunst für den Alltag nutzenzu können. Der Sportreporter BernardThurnheer, will man hier wissen, macheseine Notizen in Steno. Ebenso sei dieRadiolegende Elisabeth Schnell eineStenografin, hinzu kämen längst ver-storbene Grössen wie der SchriftstellerCharles Dickens oder der ehemaligeUS-Präsident Woodrow Wilson. Auchwenn die Stenografie ihre beste Zeitlängst hinter sich hat und die gestande-nen Stenografen an diesem Abend inder Mehrzahl sind, will Rosmarie Kollernichts von einer Überalterung in ihrenReihen wissen. Ganz im Gegenteil:«Der jüngste unserer Stenografen ist 11Jahre alt, das Durchschnittsalter liegtbei 30. Da kann man kaum von einemangestaubten Image sprechen.»

Sie will sogar einen deutlichen Auf-wärtstrend ausgemacht haben. Dennalleine seit Januar hätten 5 neue Schülerdamit begonnen, bei ihr das Stenogra-fieren zu erlernen. Für Rosmarie Kollerist klar: «Stenografie, das ist eine schnel-le Schrift für eine schnelle Zeit.»

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ENGSCHRIFT FÜR EILIGE

fwc. ! Das Wort Stenografie entstammt dem Griechischen und bedeutet übersetztso viel wie Engschrift. Mit ihr lassen sich Texte vonHandmindestens viermal schnel-ler verfassen als mit der herkömmlichen Langschrift. Die Zeitersparnis wird durcheine vereinfachte Rechtschreibung und durch die Reduktion der Buchstaben aufeine Minimalform erzielt. Häufige Wörter und Silben werden zudem gekürzt. Wei-tere Charakteristika sind höher und tiefer gestellte Konsonanten sowie mit mehroder weniger Druck niedergeschriebene Buchstaben.www.steno.ch

Streng überwachte Präzisionsarbeit der angehenden Schnellschreiberinnen.

Programmatische Ansage an der Wandtafel: «Stenografie, die schnelle Schrift». BILDER CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ

Die Erklärung «Engschrift für Eilige», stenografisch verkürzt.