ein neues bild der sprache - Εθνικόν και Καποδιστριακόν ... · 2020. 6....

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Page 1: Ein neues Bild der Sprache - Εθνικόν και Καποδιστριακόν ... · 2020. 6. 3. · Wesen der Sprache verstehen. Die erste Version von Chomskys Theorie, die er

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ebook.ref.zeitde.redpost_zon.link.sf

Hintergrund

23.02.2017

Linguistik

Ein neues Bild der Sprache

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts revolutionierte der amerikanische Linguist Noam

Chomsky unsere Vorstellung davon, wie Kleinkinder ihre Muttersprache lernen. Doch jetzt

erweisen sich seine Ideen als überholt.

Paul Ibbotson und Michael Tomasello

© iStock / quintanilla (Ausschnitt)

Verbirgt sich im menschlichen Gehirn tatsächlich eine vorprogrammierte mentale Schablone

zum Erlernen von Grammatik? Mit dieser Idee prägte der amerikanische Linguist Noam

Chomsky vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge fast ein halbes Jahrhundert

lang die gesamte Sprachwissenschaft. Nun aber verwerfen viele Kognitionswissenschaftler und

Linguisten Chomskys Theorie der Universalgrammatik, denn neue Untersuchungen der

verschiedensten Sprachen sowie der Art und Weise, wie Kleinkinder in Gemeinschaft

kommunizieren, schüren starke Zweifel an Chomskys Behauptungen.

Auf einen Blick

Paradigmenwechsel in der Linguistik

1. Der amerikanische Forscher Noam Chomsky hat viele Jahrzehnte lang die gesamte

Sprachwissenschaft geprägt. Berühmt machte ihn seine Theorie der Universalgrammatik.

Page 2: Ein neues Bild der Sprache - Εθνικόν και Καποδιστριακόν ... · 2020. 6. 3. · Wesen der Sprache verstehen. Die erste Version von Chomskys Theorie, die er

2. Chomskys Idee, das Gehirn sei mit einer mentalen Schablone für Grammatik ausgerüstet,

wird jedoch zunehmend durch linguistische Feldstudien in Frage gestellt.

3. So postuliert die "gebrauchsbasierte Linguistik", dass Kinder beim Spracherwerb

allgemeine kognitive Fähigkeiten nutzen – und keine Universalgrammatik. Insbesondere

können sie erraten, was andere Menschen ihnen mitteilen möchten.

Vielmehr setzt sich eine radikal neue Sichtweise durch, der zufolge das Erlernen der

Muttersprache kein angeborenes Grammatikmodul voraussetzt. Offenbar nutzen Kleinkinder

mehrere verschiedene Denkweisen, die gar nicht sprachspezifisch sein müssen – etwa die

Fähigkeit, die Welt in Kategorien (wie Mensch oder Sache) einzuteilen oder Beziehungen

zwischen Dingen zu begreifen. Hinzu kommt die einzigartige Gabe, intuitiv zu erfassen, was uns

andere mitteilen möchten; erst so kann Sprache entstehen. Somit reicht Chomskys Theorie längst

nicht aus, um den menschlichen Spracherwerb zu erklären.

Diese Schlussfolgerung wirkt sich nicht bloß auf die Linguistik aus, sondern auf ganz

unterschiedliche Bereiche, in denen Sprache eine zentrale Rolle spielt, von der Poesie bis zur

künstlichen Intelligenz. Da außerdem Menschen Sprache auf eine Weise gebrauchen, wie es kein

Tier vermag, dürften wir auch die menschliche Natur ein wenig besser begreifen, wenn wir das

Wesen der Sprache verstehen.

Die erste Version von Chomskys Theorie, die er Mitte des 20. Jahrhunderts formulierte, passte

gut zu zwei damals aufkommenden Trends des westlichen Denkens. Zum einen behauptete

Chomsky, die Alltagssprache verhalte sich wie die mathematischen Algorithmen der Informatik.

Er suchte nach der grundlegenden Sprachstruktur, als wäre sie ein Computerprogramm, und

formulierte eine Reihe von Verarbeitungsschritten, aus denen "wohlgeformte" Sätzen

hervorgehen. Sein damals revolutionärer Ansatz besagte: Ein computerähnliches Programm kann

Sätze hervorbringen, die den Menschen als grammatisch korrekt erscheinen – und dieses

Programm erklärt angeblich auch, wie Menschen tatsächlich Sätze bilden. So ein Sprachmodell

gefiel jenen zahlreichen Forschern, die im Computer ein Paradigma für alles und jedes sahen.

Außerdem behauptete Chomsky, seine vom Computer inspirierte Theorie sei biologisch fundiert.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde immer deutlicher, dass die menschliche

Evolutionsgeschichte viele Aspekte unserer einzigartigen Psychologie erklärt; Chomskys

Theorie stand damit in Einklang. Er präsentierte seine Universalgrammatik als angeborene

Komponente des menschlichen Geistes – als die biologische Grundlage der mehr als

6000 Sprachen auf der Welt. Da die mächtigsten und oft zugleich schönsten wissenschaftlichen

Theorien eine unter oberflächlicher Vielfalt verborgene Einheit enthüllen, verlieh dieses

Versprechen Chomskys Ansatz großen Charme.

Doch unter dem Eindruck neuer Erkenntnisse stirbt die Universalgrammatik seit Jahren einen

langsamen Tod. Sie verabschiedet sich allerdings nur schleppend, denn wie der Physiker Max

Planck einst bemerkte: "Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise

durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern

vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben."

Die Anfänge von Chomskys Universalgrammatik

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In den 1960er Jahren beruhten die ersten Formulierungen der Universalgrammatik auf der

Struktur des "Standard-Durchschnittseuropäisch" (Standard Average European), das heißt auf

den von den meisten Linguisten gesprochenen Sprachen. Deshalb operierte das Programm der

Universalgrammatik mit Satzpartikeln wie Nominalphrase ("Der niedliche Hund") oder

Verbalphrase ("mag Katzen").

Recht bald tauchten aber linguistische Befunde auf, die nicht ins hübsche Schema passten. In

einigen australischen Sprachen, zum Beispiel Warlpiri, sind die grammatischen Elemente über

den gesamten Satz verstreut; Nominal- und Verbalphrase liegen nicht sauber getrennt vor, und in

manchen Sätzen gibt es letztere überhaupt nicht.

Diese so genannten Sonderfälle ließen sich nur schwer mit der europäisch geprägten

Universalgrammatik in Einklang bringen. Andere Ausnahmen lieferte die Untersuchung von

Ergativsprachen wie Baskisch oder Urdu, bei denen sich die Verwendung des Satzsubjekts stark

von der in vielen europäischen Sprachen unterscheidet.

Diese Entdeckungen sowie theoretische Überlegungen veranlassten Chomsky und seine

Anhänger, im Lauf der 1980er Jahre den Begriff der Universalgrammatik zu revidieren. Die neue

so genannte Prinzipien-und-Parameter-Theorie postulierte nicht mehr eine einzige

Universalgrammatik für alle Sprachen der Welt, sondern eine Reihe universeller

Strukturprinzipien, die sich in jeder Sprache auf andere Weise manifestieren können. Als

Vergleich ließe sich anführen, dass wir alle mit einem Grundbestand an Geschmäcken (süß,

sauer, bitter, salzig und umami) geboren werden, aus dem durch die Wechselwirkung mit Kultur,

Geschichte und Geografie die weltweite Vielfalt der Kochkunst entsteht. Prinzipien und

Parameter sind linguistische Gegenstücke zu Geschmäcken. Sie interagieren mit der jeweiligen

Kultur – das Kind lernt Englisch oder Japanisch – und bringen dadurch die heutige

Sprachenvielfalt hervor, definieren aber zugleich die Gesamtheit aller möglichen Sprachen.

Spanier beispielsweise bilden vollständige Sätze, ohne ein separates Subjekt zu benötigen, etwa

"Tengo zapatos" ("Ich habe Schuhe"). Das Ich, das die Schuhe besitzt, wird nicht durch ein

eigenes Wort benannt, sondern durch das "o" am Ende des Verbs. Chomsky behauptete: Sobald

Kindern mehrere Sätze dieses Typs begegnen, legt ihr Gehirn quasi einen Schalter um, der

anzeigt, dass das Satzsubjekt nicht gebraucht wird. Danach wüssten sie, dass sie das Subjekt in

allen ihren Sätzen weglassen könnten.

Der Parameter "Subjekt weglassen" bestimmt angeblich auch andere Strukturmerkmale der

Sprache. Die Idee universeller Prinzipien passt zwar recht gut zu vielen europäischen Sprachen,

doch für nichteuropäische erwies sich die revidierte Version von Chomskys Theorie als

ungeeignet. Schließlich musste die zweite Version der Universalgrammatik ebenfalls aufgegeben

werden, weil sie der faktischen Überprüfung nicht standhielt.

© Spektrum der Wissenschaft

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Wie lernt der Mensch zu sprechen?

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Obwohl Verfechter der Universalgrammatik weiter glauben, es gebe viele universelle Prinzipien

und Parameter, beschrieb Chomsky zusammen mit einigen Koautoren in einem berühmten, 2002

im Wissenschaftsmagazin "Science" veröffentlichten Artikel schließlich eine Form der

Universalgrammatik, die nur noch ein einziges Merkmal aufweist: die so genannte rechnerische

Rekursion (computational recursion). Diese soll erklären, wie das Kombinieren einer begrenzten

Anzahl von Wörtern und Regeln eine unbegrenzte Menge von Sätzen erzeugen kann. Die schier

endlose Anzahl möglicher Sätze beruht demnach auf dem Einbetten einer Phrase in eine andere

Phrase desselben Typs – der Rekursion. Man kann dabei Phrasen aneinanderhängen ("John hofft,

dass Mary weiß, dass Peter lügt") oder verschachteln ("Der Hund, der die Katze, die der Junge

sah, jagte, bellte"). Theoretisch lässt sich das unendlich oft fortsetzen, doch in der Praxis

scheitert das Satzverständnis, wenn allzu viele Phrasen aufeinandergestapelt werden. Nach

Chomskys Meinung liegt das aber nicht an der Sprache an sich, sondern am begrenzten

menschlichen Gedächtnis. Insbesondere behauptete er, die Gabe der Rekursion unterscheide die

Sprache von allen anderen Typen des Denkens wie dem Bilden von Kategorien oder dem

Wahrnehmen von Beziehungen zwischen Dingen. Er spekulierte sogar, die Rekursionsfähigkeit

sei durch eine einzige genetische Mutation vor etwa 50 000 bis 100 000 Jahren entstanden.

Wiederum fanden Feldforscher Gegenbeispiele. Einige Sprachen, beispielsweise das Pirahã in

Amazonien, kommen anscheinend ohne die Rekursion aus.

Wie jede linguistische Theorie versucht auch die Universalgrammatik einen Balanceakt. Sie

muss einerseits einfach genug sein, um etwas zu taugen. Das heißt, die Theorie soll Voraussagen

treffen, die sie nicht selbst von vornherein enthält; sonst wäre sie nur eine lange Liste von

Fakten. Sie darf aber andererseits auch nicht so simpel sein, dass sie zu wenig erklärt. Nehmen

wir etwa Chomskys Vorstellung, in jeder Sprache auf der Welt hätten Sätze ein Subjekt. Das

Problem ist, dass der Begriff Subjekt eher eine Familienähnlichkeit von Merkmalen beschreibt

als eine klare Kategorie. Rund 30 grammatische Kennzeichen charakterisieren, was ein Subjekt

ist. Auf jede einzelne Sprache trifft nur eine gewisse Teilmenge zu, und die Kennzeichenmenge

in einer Sprache hat oft nichts mit der in einer anderen gemeinsam.

Chomsky versuchte zu definieren, wie sich der Baukasten der Sprache zusammensetzt – welche

mentalen Mechanismen Menschen befähigen, Sätze zu bilden. Sobald Gegenbeispiele gefunden

wurden, meinten Chomskys Verteidiger: Auch wenn in einer Sprache eine Komponente fehlt,

etwa die Rekursion, bedeutet das noch lange nicht, dass die Komponente nicht in den Baukasten

gehört. Das wäre ja so, als ob salzig nicht zu den Grundgeschmäcken gehörte, bloß weil eine

bestimmte Kultur die Speisen nicht salzt. Leider erschwert diese Argumentation den Praxistest

von Chomskys Annahmen so sehr, dass sie sich kaum mehr falsifizieren lassen.

Todesglocken für die Theorie

Ein entscheidender Schwachpunkt von Chomskys Theorien betrifft den Spracherwerb:

Angeblich kommen Kinder bereits mit der Fähigkeit auf die Welt, Sätze nach abstrakten

grammatischen Regeln zu formen, wobei deren präzise Form übrigens je nach Theorieversion

schwankt. Viele neue Untersuchungen zeigen aber, dass der Spracherwerb nicht so funktioniert.

Kinder erlernen vielmehr zunächst einfachste grammatische Muster; später erraten sie Stück für

Stück die dahinterliegenden Regeln.

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Anfangs bilden Kleinkinder nur konkrete und simple grammatische Konstruktionen, die auf

bestimmten Wortmustern beruhen: "Wo ist das X?"; "Ich will X"; "Mehr X"; "Das ist ein X";

"Ich Xe das"; "Gib X her"; "Mama Xt das"; "Xen wir"; "Wirf X"; "X ist weg"; "Mami X"; "Ich

habe das geXt"; "Setz dich auf X"; "Mach X auf"; "X ist hier"; "Da ist ein X"; "X kaputt". Später

verbinden sie diese frühen Muster zu komplexeren Sätzen wie "Wo ist das X, das Mami

geYt hat?".

Viele Verfechter der Universalgrammatik akzeptieren durchaus diese Charakterisierung der

frühkindlichen Grammatikentwicklung. Sie behaupten aber: Die komplexeren Konstruktionen

setzen eine kognitive Fähigkeit voraus, welche die abstrakten Kategorien und Prinzipien der

Universalgrammatik nutzt.

Der Universalgrammatik zufolge bildet das Kind jede Frage nach festen Regeln, die auf

grammatischen Kategorien beruhen: "Was (Objekt) hast (Hilfsverb) du (Subjekt) verloren

(Verb)?" Antwort: "Ich (Subjekt) habe (Hilfsverb) etwas (Objekt) verloren (Verb)." Wenn das

zuträfe, müssten Kinder in einer bestimmten Entwicklungsphase bei allen Fragesätzen ähnliche

Fehler machen. Das ist jedoch nicht der Fall. Kleinkinder sagen oft etwas wie "Warum er kann

nicht kommen?" – vertauschen also "er" und "kann". Gleichzeitig formulieren sie andere Fragen

völlig korrekt, zum Beispiel: "Wann kann er kommen?"

Experimentelle Studien bestätigen, dass Kinder korrekte Fragesätze meist mit bestimmten

Fragewörtern und Hilfsverben bilden, die sie schon gut kennen, etwa "Was hat er?", während sie

bei weniger vertrauten Kombinationen von Fragewort und Hilfsverb weiterhin Fehler machen.

Zwei Sprachtheorien

Vor mehr als 50 Jahren eroberte Noam Chomsky die Linguistik im Sturm. Seine Idee war

einfach: Jedes Kind verfügt von Geburt an über fundamentale Regeln zur Erzeugung

grammatisch wohlgeformter Sätze. Chomsky versuchte diese Regeln und ihre Funktionsweise zu

definieren. Er meinte, ohne die Universalgrammatik wären Kinder unfähig, Sprache zu

erwerben. Seit einigen Jahren bekommt Chomskys Ansatz durch neue Theorien ernste

Konkurrenz. Ihnen zufolge erkennen Kinder beim Spracherwerb gewisse Muster in den Sätzen,

die sie hören.

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© Lucy Reading-Ikkanda / Scientific American November 2016 (Ausschnitt)

Die Universalgrammatik | Gemäß Chomsky umfasst die Universalgrammatik Regeln für Phrasen

("die braven Hunde") sowie Regeln für die Transformation der Phrasen, zum Beispiel

Passivierung ("Katzen werden von braven Hunden gemocht"). In den vergangenen Jahren hat

sich die Theorie weiterentwickelt, beharrt aber auf der Grundidee, dass Kinder mit der Fähigkeit

geboren werden, Worte nach einem grammatischen Schema anzuordnen.

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© Lucy Reading-Ikkanda / Scientific American November 2016 (Ausschnitt)

Gebrauchsbasierte Linguistik | Ein neuer linguistischer Ansatz verwirft die Idee der

Universalgrammatik und betont die kindliche Fähigkeit, intuitiv zu erkennen, was andere

denken. Durch Zuhören erlernt das Kind Gebrauchsmuster, die auf unterschiedliche Sätze

zutreffen. Zum Beispiel kann nach der Phrase "Der Hund möchte" das Wort "Ball" durch

"Futter" ersetzt werden. Diese Theorie beschreibt recht gut, wie zwei- bis dreijährige Kinder

tatsächlich sprechen lernen, indem sie Wissen über Wortbedeutung und Grammatik sammeln.

Darauf erwidern die Universalgrammatiker: Kinder besitzen von Haus aus die erforderliche

Sprachkompetenz, doch andere Faktoren wie unvollkommene Reife von Gedächtnis,

Aufmerksamkeit und sozialer Kompetenz beeinträchtigen die Sprachperformanz: die tatsächliche

individuelle Leistungsfähigkeit. Dies verschleiert angeblich die wahre Natur der "reinen"

Grammatik und erschwert deren Nachweis.

Aber vielleicht spielen ja Fertigkeiten wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit, mentale

Analogiebildung und Begreifen sozialer Situationen umgekehrt sogar die entscheidende Rolle

bei der Entwicklung einer Sprache? Laut einer aktuellen Studie, an der einer von uns (Ibbotson)

beteiligt war, hängt die Fähigkeit von Kindern, Vergangenheitsformen unregelmäßiger Verben

zu bilden – etwa "Ich flog", nicht "fliegte" – mit der Fähigkeit zusammen, einer spontanen

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Versuchung zu widerstehen: jener, die erste naheliegende Antwort zu wählen, in dem Fall also

"fliegte".

Ebenso wie das Baukastenargument der Universalgrammatik ist auch ihre Unterscheidung

zwischen Kompetenz und Performanz kaum empirisch falsifizierbar. Diesen grundlegenden

Mangel teilt Chomskys Theorie mit anderen wissenschaftlichen Paradigmen, deren empirische

Basis Ansichtssache ist; man denke an die Psychologie Freuds oder die marxsche

Geschichtsdeutung.

Abgesehen von den empirischen Problemen der Universalgrammatik können Psycholinguisten,

die mit Kindern arbeiten, nur schwer eine Theorie akzeptieren, der zufolge Kinder von Anfang

an dieselben algebraischen Grammatikregeln für alle Sprachen besitzen und erst herausfinden

müssen, wie eine spezielle Sprache, ob Englisch oder Suaheli, mit diesem Schema

zusammenhängt. Linguisten sprechen vom Verbindungsproblem (linking problem). Einen der

seltenen Versuche, dieses im Rahmen der Universalgrammatik systematisch zu lösen, unternahm

der Psychologe Steven Pinker von der Harvard University in Cambridge anhand von

Satzsubjekten. Pinkers Darstellung stimmte jedoch nicht mit Studien kindlicher Entwicklung

überein und ließ sich auch nicht auf andere grammatische Kategorien übertragen. Das für jede

Anwendung der Universalgrammatik auf den Spracherwerb zentrale Verbindungsproblem wurde

nie gelöst, ja nicht einmal ernsthaft angegangen.

All das führt unweigerlich zu der Schlussfolgerung, dass die Idee einer Universalgrammatik

schlicht falsch ist. Natürlich geben Wissenschaftler ihre Lieblingstheorie selbst angesichts

schlagender Gegenargumente nicht gern auf, solange keine vernünftige Alternative auftaucht.

Eine solche Alternative gibt es jetzt aber: die gebrauchsbasierte (usage-based) Linguistik. Die

verschiedenen Fassungen dieser Theorie gehen davon aus, grammatische Strukturen seien nicht

angeboren. Grammatik ist vielmehr das Ergebnis von Geschichte und Psychologie: Einerseits

werden Sprachen von einer Generation zur nächsten tradiert, andererseits besitzt jede Generation

soziale und kognitive Fähigkeiten, die ihr den Spracherwerb ermöglichen. Vor allem betont die

neue Theorie, dass die Sprache Gehirnsysteme nutzt, die im Lauf der Evolution nicht unbedingt

speziell für diesen Zweck entstanden sind. Damit unterscheidet sie sich grundlegend von

Chomskys Idee, es gebe ein für die Rekursion verantwortliches Gen.

Eine Alternative zu Chomskys Bild der Sprache

Gemäß dem gebrauchsbasierten Ansatz werden Kinder nicht mit einem Spezialwerkzeug zum

universellen Grammatiklernen geboren, sondern mit einer Reihe von mentalen

Mehrzweckmodulen für Kategorienbildung, Deutung kommunikativer Absichten und Erfassen

von Analogien. Damit bilden die Kinder aus der Sprache, die sie um sich herum hören,

grammatische Kategorien und Regeln.

Zum Beispiel verstehen deutsch sprechende Kinder den Satz "Die Katze fraß den Hasen" und

durch Analogie dann auch "Die Ziege kitzelte die Elfe". Durch Verallgemeinerung gelangen sie

von einem gehörten Beispiel zum nächsten. Nach ausreichend vielen Beispielen können sie sogar

erraten, wer wem was in dem Satz "Der Goser mibbelte die Tamo" antat, obwohl in dem Fall die

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meisten Wörter keinen Sinn haben. Die Grammatik muss etwas sein, was Kinder jenseits der

Wörter erkennen, weil die Sätze auf der Wortebene wenig gemeinsam haben.

Die sprachliche Bedeutung entsteht durch eine Wechselwirkung zwischen der möglichen

Bedeutung der Wörter selbst und der Bedeutung der grammatischen Konstruktion, in der sie

stehen. Zum Beispiel ist "niesen" laut Wörterbuch ein intransitives Verb, das nur einen einzigen

Akteur hat: den, der niest. Wird es jedoch in eine ditransitive Konstruktion gezwungen, die

sowohl ein direktes als auch ein indirektes Objekt haben kann, könnte ein Satz lauten: "Sie niest

ihm die Serviette." Dabei wird "niesen" als ein Akt des Übertragens konstruiert. Sie veranlasst

die Serviette, zu ihm zu gelangen. Wie das Beispiel zeigt, prägt die grammatische Struktur die

Bedeutung des Satzes ebenso stark wie die Wörter. Das steht in deutlichem Widerspruch zu

Chomskys Idee, es gebe völlig bedeutungsfreie Ebenen der Grammatik.

Der gebrauchsbasierte Ansatz unterscheidet sich grundsätzlich von der Idee der

Universalgrammatik

Die Idee gebrauchsbasierter Mehrzweckmodule erklärt den Spracherwerb, ohne dazu zwei

Hilfskonstruktionen der Universalgrammatik zu benötigen: erstens algebraische Regeln für die

Kombination von Symbolen – eine so genannte Kerngrammatik, die im Gehirn fest verdrahtet

ist – und zweitens ein Lexikon von Ausnahmen, das alle übrigen Eigenheiten natürlicher

Sprachen umfasst.

Das Problem bei diesem Ansatz ist, dass einige grammatische Konstruktionen zum Teil auf

Regeln beruhen und zum Teil nicht. Im englischen umgangssprachlichen Beispiel "Him a

presidential candidate?!" (sinngemäß "Das soll ein Präsidentschaftskandidat sein?!") behält das

Subjekt "him" die Form eines direkten Objekts, aber die Satzelemente stehen nicht in der

richtigen Reihenfolge. Ein englischer Muttersprachler kann nach diesem Schema eine unendliche

Vielfalt von Sätzen bilden: "Her go to ballet?!" oder "That guy a doctor?!". Gehören diese

Äußerungen nun zur Kerngrammatik oder in die Liste der Ausnahmen? Falls sie nicht Teil der

Kerngrammatik sind, müssen sie separat gelernt werden. Doch wenn Kinder solche teils

regelhaften, teils irregulären Äußerungen lernen können, warum soll das nicht auch für die

übrige Sprache ebenfalls gelten? Wozu brauchen wir dann überhaupt eine Kerngrammatik?

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Die Idee der Universalgrammatik widerspricht der Erfahrung, dass Kinder Sprache durch soziale

Interaktion erwerben und dabei Satzkonstruktionen üben, die von Sprachgemeinschaften im Lauf

der Zeit geschaffen wurden. In manchen Fällen lässt sich zeigen, wie dieses Lernen genau

funktioniert. Zum Beispiel sind in den meisten Sprachen Relativklauseln üblich; oft entstehen sie

durch Verkettung separater Sätze. Wir könnten sagen: "Mein Bruder … Er lebt in Arkansas …

Er spielt gern Klavier." Auf Grund verschiedener kognitiver Prozesse – Schematisierung,

Habituation, Dekontextualisierung und Automatisierung – entwickeln sich diese Phrasen über

lange Zeiträume hinweg zu einer komplexeren Konstruktion: "Mein Bruder, der in Arkansas

lebt, spielt gern Klavier." Ähnlich kann sich ein Satz wie "Ich zog an der Tür, und sie ging zu"

allmählich in "Ich zog die Tür zu" verwandeln.

Anscheinend verfügen Menschen über die spezielle Fähigkeit, Kommunikationsabsichten

anderer zu entschlüsseln, das heißt, zu erkennen, was ein Sprecher sagen will. Ich kann zum

Beispiel wahlweise sagen: "Sie gab/vererbte/sandte/lieh/verkaufte der Bibliothek einige Bücher",

aber nicht: "Sie verschenkte der Bibliothek einige Bücher." Wie neue Forschungen zeigen, gibt

es verschiedene Mechanismen, mit denen Kinder solche unpassenden Analogien eingrenzen.

Zum Beispiel meiden sie solche, die überhaupt keinen Sinn ergeben. So würden Kinder niemals

versucht sein zu sagen: "Sie aß der Bibliothek einige Bücher." Hören sie außerdem sehr oft "Sie

verschenkte einige Bücher an die Bibliothek", dann hemmt dies den Impuls zu sagen: "Sie

verschenkte der Bibliothek einige Bücher."

Solche Eingrenzungsmechanismen reduzieren die möglichen Analogien, die ein Kind bilden

könnte, während es die Kommunikationsabsichten des Gesprächspartners zu verstehen versucht.

Wir alle verwenden diese Fähigkeit, Absichten zu erraten, wenn wir "Können Sie mir die Tür

öffnen?" als Bitte verstehen und nicht als Frage nach unserer Fähigkeit, Türen zu öffnen.

Gebrauchsbasierte Theorien sind weit davon entfernt, ein komplettes Modell für das

Funktionieren von Sprache anzubieten. Dass Kinder aus dem Hören gesprochener Phrasen

sinnvolle Verallgemeinerungen herleiten, erklärt noch nicht vollständig, wie sie Sätze

konstruieren. Es gibt unzählige mögliche Übertragungen, die zugleich verständlich und nicht

grammatisch korrekt sind – zum Beispiel "Er verschwand den Hasen" –, doch Kinder bilden nur

erstaunlich wenige davon. Anscheinend sind Heranwachsende für die Tatsache empfänglich,

dass die Sprachgemeinschaft, zu der sie gehören, eine Norm befolgt und eine Idee nur so und

nicht anders mitteilt. Dabei hält die Kindersprache ein delikates Gleichgewicht zwischen

eigenwilliger Kreativität ("Ich gehte einkaufen") und grammatischer Norm ("Ich ging

einkaufen"). Für die Vertreter der gebrauchsbasierten Linguistik bleibt noch viel zu tun, bis sie

erklären können, wie diese Kräfte im Verlauf der kindlichen Sprachentwicklung genau

zusammenwirken.

Frischer Wind für Sprachforscher

Chomskys Paradigma brach radikal mit den seinerzeit herrschenden informellen Methoden der

Sprachwissenschaft; es verdeutlichte den komplizierten kognitiven Aufwand, den der

Spracherwerb erfordert. Aber dieselbe Theorie, die den Linguisten die Augen öffnete, blendete

sie auch. Heute geben sich viele Forscher nicht mehr mit rein formalen Modellen wie der

Universalgrammatik zufrieden, ganz abgesehen von deren empirischen Schwächen. Außerdem

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sind viele moderne Linguisten unglücklich über abstrakte Modelle, die am Schreibtisch

ausgedacht werden, während unzählige linguistische Daten – oft online zugänglich -darauf

warten, analysiert zu werden.

Der aktuelle Paradigmenwechsel ist gewiss nicht abgeschlossen, aber es weht ein frischer Wind

durch die Linguistik. Die Universalgrammatik scheint endgültig in der Sackgasse zu stecken. An

ihrer Stelle verspricht die gebrauchsbasierte Linguistik einen aussichtsreichen Zugang zu den

6000 Sprachen, die auf der Welt genutzt werden.

Paul Ibbotson und Michael Tomasello

Paul Ibbotson hält an der Open University in England Vorlesungen über Sprachentwicklung.

Michael Tomasello ist Kodirektor des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in

Leipzig

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Dieser Artikel ist enthalten in Spektrum der Wissenschaft März 2017