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Die soziale Relevanz von Materialität. Neue Konzepte in der Soziologie. Hausarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Bachelor of Arts in Soziologie vorgelegt dem Fachbereich 02 – Sozialwissenschaften, Medien und Sport der Johannes Gutenberg-Universität Mainz von Martin Kutter aus Siegburg Mainz 2015

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Die soziale Relevanz von Materialität.

Neue Konzepte in der Soziologie.

Hausarbeit zur Erlangung des

akademischen Grades

Bachelor of Arts in Soziologie

vorgelegt dem Fachbereich 02 – Sozialwissenschaften, Medien und Sport

der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

von

Martin Kutter

aus Siegburg

Mainz

2015

Erstgutachter: Univ.-Prof. Dr. Herbert Kalthoff

Zweitgutachter: Torsten Cress, M.A.

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung: Materialität soziologisch betrachten......................................... ...........

1.1 Ansatzrelative Grundannahmen, Begriffe und Relevanzfeststellung...........................

1.2 Materialität in der soziologischen Diskussion...............................................................

Die klassische Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours..................................

2. Karl H. Hörning: Dinge und Technik unter der praxistheoretischen Perspektive

2.1 Praktizierte Kultur und performatives Wissen...............................................................

2.2 Die Rolle der Materialität bei Hörning...........................................................................

2.3 Wissensbestände als Wesen von Technik...................................................................

2.4 Einordnung, Leistung und Kritik des Ansatzes.............................................................

3. Werner Rammert: eine pragmatische Theorie gradualisierten und verteilten

Handelns.....................................................................................................................

3.1 Methodologisches Vorgehen und theoretische Annahmen der Perspektive der

Technographie..............................................................................................................

Empirisches Vorgehen.....................................................................................

Methodologische Regeln..................................................................................

3.2 Technikbegriff, Technikverständnis und Materialität.....................................................

3.3 Relationierung und Handlungsgrade in sozio-technischen Konstellationen.................

3.4 Einordnung, Leistung und Kritik des Ansatzes.............................................................

4. Gesa Lindemann: empirische Theorieentwicklung und die

Mehrdimensionalität der Ordnung des Sozialen.....................................................

4.1 Die Forderung nach empirisch fundierter Theoriekonstruktion und die

Perspektivierung der modernen sozialtheoretischen Perspektive................................

Empirischer Bezug von Theorietypen und Erkenntniskritik..............................

Die Perspektivierung der modernen sozialtheoretischen Perspektive.............

Die Beobachterposition und die Weltdistanz....................................................

Das modern-rationale Ordnungsprinzip in der Akteur-Netzwerk-

Theorie und der Theorie verteilten Handelns...................................................

4.2 Die Positionalitätstheorie Plessners und die reflexive Anthropologie Gesa

Lindemanns: Verhandlung über die Inhalte sozialtheoretischer Annahmen.................

Positionalität und Leib-Umwelt-Beziehung.............................................…......

Reflexive Anthropologie als sozialtheoretische Annahme und Weltoffenheit...

4.3 Erweiterte Weltoffenheit und Weltzugänge als kommunikativ institutionalisierte,

pluridimensionale Ordnungsmatrix...............................................................................

4.4 Materialität in der Theorie der Weltzugänge.................................................................

Zentrische Positionalitätsebene.......................................................................

Exzentrische Positionalitätsebene....................................................................

4.5 Einordnung, Leistung und Kritik des Ansatzes.............................................................

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5. Karen Barad: Agentieller Realismus........................................................................

5.1 Die Kritik am Repräsentationalismus und die Frage der Objektivität...........................

Objektivitätsverständnis und der Prozess einer sich materialisierenden Welt.

5.2 Materialisierung als Ausdruck und Bestandteil materiell-diskursiver Praktiken............

Diskurspraktiken...............................................................................................

Verstehen, Erkennen und der Mensch als Phänomen.....................................

Materie ist nicht die Materie des Atomismus....................................................

5.3 Intraaktivität als Vollzug einer Raum-Zeit-Materie-Topologie.......................................

5.4 Einordnung, Leistung und Kritik des Ansatzes.............................................................

6. Resümee: Die soziale Relevanz von Materialität oder besser „Sozio-

Materialität“?...............................................................................................................

Literatur

Erklärung für schriftliche Prüfungsleistungen

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1. Einleitung: Materialität soziologisch betrachten

Wie ist Materialität zu begreifen? Wie ist ihr Bezug zum Sozialen zu verstehen? Kann

Materialität sozial relevant werden und sollte Materialität von einer Soziologin oder einem

Soziologen betrachtet werden? Die vorliegende Bachelorarbeit unternimmt den Versuch

Klärungen dieser Fragen vorzunehmen. Die Fragestellung ergab sich aus meinem

Interesse die Entwicklungen, Positionen und Ansätze der Soziologie zu Materialität zu

betrachten und zu verstehen. Es soll ein Überblick über neuere Konzepte ermöglicht

werden. Zum Gegenstand mache ich die Ansätze von Hörning, Rammert, Lindemann und

Barad. Diese wurden und werden im deutschsprachigen Wissenschaftsraum rezipiert und

diskutiert, was ihre Betrachtung legitimiert. Eine Ausnahme stellt hier Karen Barad und der

Agentielle Realismus dar. Sie bedeutet insoweit eine Erweiterung des Kreises der hier

diskutierten Autorinnen und Autoren, als dass ihre Perspektive bisher mehrheitlich im

nordamerikanischen Raum rezipiert wurde.

1.1 Ansatzbedingte Grundannahmen, Begriffe und Relevanzfeststellung

Die zu betrachtenden Positionen arbeiten mit unterschiedlichen (philosophischen)

Grundannahmen, welche sie andere Perspektiven einnehmen und verschiedene

Problemstellungen entwickeln lassen, bezüglich derer sie spezifische Lösungsvorschläge

erarbeiten und ihre Überlegungen Gültigkeit erfahren können. Dabei unterscheiden die

Ansätze sich in ihrer theoretischen Reichweite und, ob beziehungsweise welche

Bedeutung sie Begriffen wie Mensch, Subjekt, Objekt, Ding und Artefakt, Körper und

Umwelt, Raum und Zeit, Vergesellschaftung und Gesellschaft, Natur und Kultur, Handlung

und Handlungsträgerschaft, Tätigsein, Technik und Technisierung und anderen

zuschreiben.

Die Relevanz von Materialität für die Sozialität verorten die Autoren in der Konsequenz

auf unterschiedliche Weisen: Hörning räumt Objekten und Technik Teilnehmerschaft in der

grundlegend menschlichen sozialen Praxis ein, Rammert erfasst technische Artefakte als

in Handlung involviert im Rahmen der Theorie verteilten Handelns, Lindemann differenziert

die Wahrnehmung von materiellen Begebenheiten und Objekten und deren Bedeutung vor

dem Hintergrund von Reflexivitätsniveaus sozialer Instanzen, während Barad den

Performativitätsbegriff in einer relationistischen Perspektive stark macht und materiellen

Konfigurationen zuschreibt. Das ansatzspezifische Materialitätsverständnis und die

allgemeinere Auffassung von Materialität in der aktuellen soziologischen Diskussion

vertiefend zu erörtern ist Aufgabe dieser Arbeit. So soll die Leistung der einzelnen Ansätze

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aufgezeigt, ihre Theoriegebäude nachgezeichnet, Kritik an diesen Raum gegeben und

eine Einordnung vorgenommen werden.

Die Reihenfolge der Abhandlung der Ansätze trifft keine Aussage über die Qualität der

Ansätze. Sie hätte auch anders vorgenommen werden können. Es lässt sich keine

zwingende argumentative Entwicklung zwischen den Ansätzen feststellen. Jeder Ansatz

sollte für sich stehend betrachtet werden. Im Resümee wird von den einzelnen Ansätzen

abstrahiert geschlussfolgert.

1.2 Materialität in der soziologischen Diskussion

Bevor ich auf die einzelnen Ansätze eingehen möchte, erscheint es mir für das spätere

Verständnis als hilfreich an die Materialitätsdiskussion der Soziologie kurz zu historisieren.

Genannt werden hier immer wieder die folgenden Autoren: Karl Marx mit einem Konzept

materiellen Austauschs, Emile Durkheim mit der Forderung soziale Tatsachen wie Dinge

zu begreifen, Georg Simmel mit seinen Überlegung raumstrukturierender Wirkung von

Objekten und Arnold von Gehlen, der Dinge stabilisierend für menschliches Handeln

ansieht (Lindemann 2015: 1; Rammert 2007: 11; Röhl 2013: 7) . Die in den 1970er Jahren

einsetzenden Wissenschafts- und Laborstudien der Wissenspraktiken

(natur-)wissenschaftlichen Arbeitens entdeckten die Laboraustattung und -geräte und ihre

Rolle in der Laborpraxis (vgl. bspw. Latour/Woolgar 1979). Aus diesen Studien entwickelte

sich nach und nach die Akteur-Netzwerk-Theorie. Besondere Leistung kommt diesem

Ansatz Bruno Latours, Michel Callons und Madelaine Akrichs zu, da es ihm gelang

Objekte und Artefakte und damit Materialität erstmalig nachhaltig in der Soziologie

wahrgenommen werden zu lassen. Aus diesem Grund möchte ich die Theorie nachfolgend

kurz darstellen.

Die klassische Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours

1979 veröffentliche Bruno Latour zusammen mit Steve Woolgar sein Werk Laboratory Life.

The Construction of Scientific Facts, es folgte 1987 Science in Action. How to follow

Scientists and Engineers through Society und in den 1990er Jahren eine systematische

Ausarbeitung der vorangegangenen Beobachtungen in Technik- und Naturwissenschaft

zum Ansatz der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Das völlig Neue dieser Theorie war, dass

die Frage diskutiert wurde, ob Dinge, Artefakte und Objekte handeln und wie unter solch

einer Prämisse Sozialität zu verstehen sei (Latour 2005: 1f). Der Ansatz brach mit der

Perspektive des Objekts als einfaches Werkzeug und dem Verständnis alleiniger

menschlicher Handlungsinitiative. Auch Dinge und Artefakte erführen agency,

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Handlungsträgerschaft, und seien Urheber von Wirkungen, die sie an sozialer Handlung

beteiligt werden lassen (Latour 2005: 63f). Dabei operieren sie mittels ihnen bei Design

und Herstellung eingeschriebener Skripte. Handelnde Entitäten, ob menschlich oder nicht-

menschlich gelte es radikal symmetrisch zu betrachten (Callon 2006: 142; Latour 2005:

71). Alle Unterschiede werden negiert. Die ANT führt an, dass soziales Handeln und der

mit ihm verbundene Sinn dann nachzuvollziehen sei, wenn die Verbindungen und

Zuschreibungen zwischen allen an einer Handlung beteiligten Akteuren analysiert würden

(Latour 2005: 30ff.). So ist die Beschaffenheit von Akteuren für die ANT irrelevant (Callon

2006: 142). Von Interesse sind die Aussagen und Verweisungen, die jene über jeweils

andere Akteure treffen und stabilisieren können (Callon 2006: 143, 159). Diese

konstituieren ein Netzwerk und in der Folge auch dessen Akteure (Callon 2006: 151, 156).

So kann zum Beispiel auch etwas non-figuratives wie das „Schicksal“ als Akteur in einem

Netzwerk auftreten, wenn sie als autonome Figur beschrieben wird (Schmidgen 2011:

104). Akteure setzen sich im Prozess der Übersetzung (Callon 2006: 146) dabei immer

wieder neu in Beziehung zu anderen Akteuren und erfahren Verschiebungen (Callon 2006:

169), was Rückwirkung auf das Netzwerk mit sich bringt:

„Ihr soziales Handeln ist auf die Einbeziehung anderer Akteure angewiesen, die sie damit zugleichbewegen und wie bei einer Übersetzung verändern. Letztlich ist das der Grundgedanke des Akteur-Netzwerks“ (Schmidgen 2011: 103).

Die ANT operiert mit einem flachen Handlungsbegriff. Alles, was Wirkung entfalten kann,

wird als Akteur angesehen (Latour 2005: 65). Diese theoretische Setzung bricht mit der

klassischen Subjekt-Objekt-Ontologie und markiert das Neue an diesem Ansatz.

Die Akteur-Netzwerk-Theorie wurde stark rezipiert und stoß die Diskussion um die

soziale Relevanz von Materialität an. Durch diese Dynamik entwickelte sich nicht nur die

ANT selbst weiter, sondern es entwickelten sich auch verschiedene Lesarten dieses

Ansatzes. Dies zeigt sich beispielhaft an der Akteur-Medien-Theorie um Erhard Schüttpelz

(vgl. Thielmann/Schüttpelz 2013) oder an der an dieser Stelle in Abschnitt drei

vorzustellenden Theorie Verteilten Handelns (TVH) von Werner Rammert (2007). Es

wurden auch ganz neue Konzepte entworfen, die Materialität nicht zwingend selbst

handlungstheoretisch erfassen und verorten. Beispiele hierfür sind praxistheoretische und

relationistische Ansätze.

2. Karl H. Hörning: Dinge und Technik unter der praxistheoretischen

Perspektive

Dem praxistheoretischen Ansatz Karl H. Hörnings und Praxistheorien im Allgemeinen liegt

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das Konzept einer Vollzugswirklichkeit zu Grunde (Hörning 2001: 113). Wirklichkeit ist

Produkt eines sozialen Prozesses, der niemals abgeschlossen sein kann. Handlung steht

hier im Kontext von überindividuellen - also sozialen - Praktiken, um die sich das weitere

theoretische Gebäude konstruiert.

2.1 Praktizierte Kultur und performatives Wissen

Soziale Praktiken, so die Annahme bei Hörning, rekurrieren auf Gepflogenheiten,

Wissensbestände und Kompetenzen, welche sich einerseits in routinierten

Handlungsmustern verdichten und andererseits bei der aktiven Teilnahme am

Sozialgeschehen unbewusst angeeignet oder erlernt werden. In der Konsequenz können

sie kollektiv erwartbar werden. Hörning verortet soziale Praktiken als zentralen Bestandteil

der Wirklichkeits(re)produktion und -transformation (2001: 157) im Spannungsfeld von

menschlicher Routine und der Neuerschließung von Handlungsweisen (2001: 163). Damit

ist bereits klar: Der Autor denkt poststrukturalistisch, d.h. begreift Kultur als Prozess, nicht

eindimensional und weist das ausschließliche Fragen nach Bedeutung, Symbolik und

Interpretation in der Geertz'schen Kulturanalyse als zu kurz greifend und zu statisch

zurück (Hörning 2001: 158f.). Kontingenzen, Unbestimmtheiten und Widersprüche treten

im Handeln der Menschen auf. Eine Erklärung für diese Umstände wird gefordert. Hier

kann die praxistheoretische Perspektive ansetzen, denn in ihrem Verständnis seien

Bedeutungen nicht festgeschrieben, sondern unterlägen einem pragmatischen Umgang

bei Deutung und Ausführung durch die Menschen. Bei Hörning ist Kultur ein

bedeutungsgenerierender und -aktualisierender Prozess, eine praktizierte Kultur, das

Doing Culture (Hörning/Reuter 2008: 112). Sie ist Prozess des Verwirklichens, also zum

einen der „Genese, Verfestigung und Reproduktion praktischen Wissens“ (Hörning/Reuter

2008: 112) von der Welt im Tun, der Teilhabe an der Welt, und zum anderen ist sie eine

interaktiv zu hervorbringende, sinnhafte Ordnung (Hörning/Reuter 2008: 110). Die

symbolische Struktur der Kultur ist stets zu reproduzieren, also in routinierter

Wiederholung zu aktualisieren. Dies erfolgt weder kulturalistisch in einem starren, selbst-

referentiellen, unveränderlichen System noch völlig unstrukturiert oder beliebig, sondern

praktisch über Wissen vermittelt.

Dabei erfahren bereits inkorporierte, also vorgängig unbewusst erlernte, soziale

Praktiken Relevanz, weil sie den praktischen Deutungsspielraum in einer Situation oder

beim Umgang mit einem Ding einschränken, wenn sie nicht hinterfragt und folglich

verändert werden (Hörning 2001: 234). Die Reflexion des Praktizierenden wird dabei

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durch Krisenmomente, in denen die Praktiken nicht mehr funktionieren und bewusst

werden, ausgelöst. Ist das Handlungsschema einmal zum Objekt des Bewusstseins

geworden, kann es verändert werden. So können in der Konsequenz verschiedene

kulturelle Realitäten und Kontingenzen entstehen, und die Kultur verliert ihre eindeutige

und unmittelbar handlungsdeterminierende Qualität. Kultur ist in diesem Ansatz kein

geschlossenes System, sondern dynamisch, pluralistisch und unterliegt fortlaufender

Aktualisierung. Diese Umstände lassen Hörning folgern, dass in Praktiken Macht

eingelassen ist. Die praktische Einschränkung von Handlungsoptionen bedeutet Macht.

Der Autor argumentiert, dass Praktiken deshalb im Allgemeinen diese Eigenschaft in sich

trügen, und wendet sich gegen eine Identifizierung von speziellen Machtpraktiken (Hörning

2001: 183).

Die vorangehend erläuterten Annahmen implizieren bereits Aussagen über Hörnings

Menschen- und Gesellschaftsbild: Es gibt handelnde Subjekte, die eine gemeinsam

geteilte Kultur hervorbringen, die ordnend und sinnstiftend auf individuelle Handlung

(zurück-)wirkt (Hörning/Reuter 2008: 112). Implizite Wissensbestände sozialer Praktiken

sind erst durch die Teilhabe an der Welt erfahren und unbewusst angeeignet oder erlernt

worden. Sie sind im menschlichen Körper verortet und konstituieren

Bewältigungskompetenz (Hörning 2001: 163). Durch diese Lokalisierung kann praktisches

Wissen über Raum- und Zeitgrenzen hinweg eine regulierende Funktion entfalten

(Hörning/Reuter 2008: 116). Wissen ist performativ (Hörning 2001: 223). Praktisches

Wissen ist zwar im sozialen Tun erlangt, aber in der Regel stumm und unreflektiert. Eine

Verbalisierung ist schwierig, aber möglich (Hörning 2001: 163). Soziale Praktiken lassen

sich in einem Spannungsfeld verorten. Sie sind weder subjektiv, noch über-subjektiv:

Praktisches Denken und Wissen Einzelner ist vor dem Hintergrund kollektiver

Zusammenhänge als sich wiederholende Handlungsweisen zu begreifen (Hörning/Reuter

2008: 113). Sie stellen Relevanz-, Bedeutungs- und Angemessenheitskriterien dar, die in

Wissens- und Interpretationsschemata eingehen. Die Schemata sind routiniert angeeignet

worden, erfahren als Gebrauchswissen im Tun Relevanz und evozieren vor dem

Hintergrund des Mithandelns mit anderen ein gemeinsam geteiltes Verständnis (Hörning

2001: 162). Die Praxis erfährt eine „innere Geregeltheit“ bzw. einen „latenten Sinn“

(Hörning 2001: 223) im Vollzug, der nicht eindeutig ist (Hörning 2001: 228). Kontingenzen

sind möglich. Menschen werden hier als subjektive Träger bzw. Teilnehmer sozialer

Praktiken, aber nicht als Akteure im Sinne von Urhebern verstanden (Hörning/Reuter

2008: 115f.). Sie sind vielmehr sozial Praktizierende.

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2.2 Die Rolle der Materialität bei Hörning

Welche Relevanz kann Materialität in dieser entworfenen, kontingenten

Vollzugswirklichkeit erfahren? Ein Verweis ist bereits augetaucht: Der Körper dient bei

Hörning als Verortungsinstanz für praktische Wissensbestände (Hörning/Reuter 2008:

116). Aber Hörning geht weiter: Praktizierte Kultur sei materialisierte Kultur. Objekte, Dinge

und Artefakte überführten in ihrer materiellen Qualität „soziale Regelungen oder kulturelle

Bedeutungen in einen mehr oder weniger dauerhaften Zustand“ (Hörning/Reuter 2008:

115f.). Dieses Verhältnis ist in diesem Ansatz aber ambivalent: Materiell-technische

Objekte erfahren ihre Bedeutung praktisch - sie geben sie nicht vor -, können aber auf die

Praxis zurückwirken, in dem sie die Erfahrungsweisen und kognitiv-symbolische

Verarbeitung des Einzelnen beeinflussen (Hörning 2001: 166; Hörning/Reuter 2008: 116).

Technik hat bei Hörning einerseits keine gleichbleibende, fixierte Bedeutung, kann aber

andererseits zu Verstetigung und Routinisierung sozialer Praxis beitragen (Hörning 2001:

167; 216). Sie kann mit ihrer Operationsweise zwischen Abruf und Neuerschließung von

Wissen auch neue Handlungs- und Kommunikationsweisen ermöglichen oder alte

Praktiken modifizieren. Ihre Relevanz erfahren Dinge und Technik in diesem Ansatz erst

im Zusammenspiel mit Wissensbeständen im Handlungsvollzug bzw. genauer: in ihrer

konkreten Verwendung, denn Wissen ist das performative Momentum sozialer Praxis. Es

geht um die Handhabung von Dingen nicht um ein dingliches (Mit-)Handlungspotenzial.

Materielle Dinge erfahren in der Auseinandersetzung mit ihnen erst ihren Sinn. Die

Bedeutung wird wiederholend hervorgebracht wird. Das praktische Wissen um die Dinge

formt dabei ein praktisch mögliches Handlungsrepertoire, indem es verschiedene

Handlungszüge ermöglicht oder verweigt bzw. in die Erwägung des Handelnden bringt

oder dieser vorenthält (Hörning 2001: 229). Dies macht unter der praxistheoretischen

Perspektive Hörnings die Performanz des Wissens bezüglich materieller Entitäten aus.

2.3 Wissensbestände als Wesen von Technik

Diesem Verständnis folgend macht Hörning das Wesen von Technik neben ihrer

materiellen Dimension in einem Konglomerat technischer Wissensformen ausfindig.

Technologie ist zunächst „ein Gebäude abstrakter Regeln und kontextunabhängiger

Prinzipien“ (Hörning 2001: 233) und in seinem Wesen ein formelles, kein praktisches

Wissen. Es ist Produkt ganz spezieller sozialer Praktiken, nämlich

(natur-)wissenschaftlicher. Deren Kennzeichen ist Wissen um Wirkungsweisen in Laboren

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zu generieren und als formelles Wissen zu elaborieren.

Eine weitere Dimension, die techne, ist die Technik des Könnens, also die „Fähigkeit

und Fertigkeit des Techniknutzer in seinem Umgang mit den Dingen bestimmte funktionale

und nützliche Eigenschaften hervorzubringen, ihre Möglichkeiten zu nutzen“ (Hörning

2001: 233). Die techne ist eine Kompetenz.

In Abgrenzung dazu lässt sich praktisches Wissen als etwas begreifen, dass mehr als

diese Kompetenz ausmacht, denn es kann über eine Situation hinaus Orientierung und

Bewältigungsmöglichkeit bieten (Hörning 2001: 237).

2.4 Einordnung, Leistung und Kritik des Ansatzes

Hörnings Ansatz lässt sich als eine post-wittgensteinianische Theorie des

(Symbol-)Gebrauchs und der (Symbol-)Verwendung beschreiben, die auf Objekte

ausgeweitet wird (Wieser 2004: 97). Materiell-technische Objekte gewinnen ihre Relevanz

als „Ausdruck und Träger sozialer Sinnbezüge [und] auch als Mittel und Mittler von Kultur“

(Weiser 2004: 97). Der Autor grenzt sich vom Technikdeterminismus und dem radikalen

Sozialkonstruktivismus ab, indem er die Idee des sozial gemachten, an sich fixierten

Werkzeugs und dessen vorgegebener, instrumentellen Nutzung ablehnt und sich des

Weiteren gegen ein relationistisches Verständnis von Objekten positioniert, da diese nicht

einfach beliebig in einen Kontext eingebracht, dort ausgeformt werden und Bedeutung

erfahren (Weiser 2004: 97ff). Dinge, korrespondieren vor dem Hintergrund ihrer

Wiedererkennung durch den Nutzer in der materiellen Form mit praktischen

Wissensbeständen ihrer Verwendung. Sie erfahren in der Konsequenz einen Gehalt, eine

Art Umgangs-Härte. Ihre Verwendung hat zwei Gesichter: Einerseits können sie

Bedeutungen - und in der Konsequenz Praktiken - durch Handlungsorientierung

stabilisieren, andererseits können sie durch Irritation „bedeutungsunterminierende und

desorientierende“ (Weiser 2004: 98) Wirkung entfalten. Sie können in der Dynamik

fortlaufender Aktualisierung von Wissensbeständen Kontingenzen erzeugen. Dennoch

bleibt aber festzuhalten: Als Handelnde werden in dieser Praxistheorie lediglich die

Ausführer sozialer Praktiken begriffen, nicht die Objekte und Dinge. Das Handeln

Praktizierender wiederum ist kein individualistisches, oder intentionales sondern eine

übersubjektive und implizite Praxis (Wieser 2004: 99). Das hörningsche Menschenbild

fordert die klassische Ontologie nicht heraus: Es ist humanistisch (Wieser 2004: 102). Die

Perspektive Hörnings, so bleibt festzuhalten, ist eine kulturtheoretische und einer Lesart

von Praxistheorien zuzuordnen, die Praktiken als bedeutungsgenerierend verstehen

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(Wieser 2004: 101).

3. Werner Rammert: eine pragmatische Theorie gradualisierten und

verteilten Handelns

Das Technik- und Gesellschaftsverständnis Rammerts soll nach der Skizze weniger

Grundannahmen zunächst anhand der von Rammert entworfenen Forschungsperspektive

der Technographie (2008) umrissen und nachfolgend elaboriert werden, um ein

umfassendes Verständnis der Leistung dieses Ansatzes bieten und die in ihm der

Materialität zugeschriebene Relevanz erfassen zu können. Rammert operiert mit einem

Handlungsverständnis, das dem der bereits oben skizzierten Akteur-Netzwerk-Theorie

ähnelt. Es werden keine Vorannahmen über die handelnden Entitäten und Mitglieder der

Gesellschaft getroffen. Der Handlungsbegriff wird insoweit geöffnet, dass

Handlungsträgerschaft nicht an Menschen gebunden ist. Sozialität ist hier kein exklusiv

menschliches Phänomen. Rammerts Perspektive auf die Gesellschaft bzw. das Feld ist

diejenige einer Vogelperspektive und hat zunächst einmal eine symmetrische Optik, da

eben keine Vorannahme, wer handelt, getroffen wird. Gesellschaft lässt sich hier als sozio-

technische Konstellation begreifen, die es zu beschreiben gilt (Rammert 2008: 357). Die

Akteur-Netzwerk-Theorie geht im Unterschied nicht von Konstellationen sondern von

Netzwerken aus. Diese begriffliche Veränderung liegt in Rammerts empirischem Anspruch

begründet.

3.1 Methodologisches Vorgehen und theoretische Annahmen der

Theorie verteilten Handelns

Die Technographie ist eine an die Ethnographie angelehnte Forschungsperspektive. Sie

soll den Forscher befähigen, Gesellschaft in ihrer sozio-technischen Begebenheit

maßstabsgetreu zu beschreiben.

Empirisches Vorgehen

Rammert hat den Anspruch empirisch zu arbeiten (Rammert 2007: 115). Er konstatiert

sogar, dass sich seine Perspektive aufgrund empirischer Befunde entwickelte (Rammert

2008: 344). Die methodologischen Regeln der Technographie implizieren bereits einige

Annahmen. So geht Rammert davon aus, dass es keine theoriefreie empirische Forschung

gibt (2008: 348). Mit der Vorgabe ein Technograph könne das gesellschaftliche Wesen

erfassen, werden bereits fundamentale theoretische Aussagen getroffen, die jenen der

ethnographischen Forschung ähneln (Rammert 2008: 342f.): Es gibt ein von dem

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Forschenden beobachtbares und aufsuchbares Feld, das mit verschiedenen

methodischen Arbeitsweisen zugänglich gemacht werden kann (vgl. bspw. Lüders 2000:

391f.). Soziale Handlung ist beobachtbar und soll aus der Perspektive der Feldpersonen

erschlossen und an deren Sinnzuschreibung orientiert nachvollzogen werden.

Technographische wie ethnographische Beobachtungsfoci und Begriffskategorien sollen

am Feld entwickelt und vorzeitige Setzungen vermieden werden (Rammert 2007: 112;

Lüders 2000: 390). Im Unterschied zur Ethnographie zieht Rammert dabei eine Grenze

ganz neu beziehungsweise zieht sie eben nicht: Der Autor unterläuft die Natur-Kultur-

Unterscheidung radikal, in dem er im Anschluss an die ANT die Prämisse verwirft nur

Menschen könnten handeln (Rammert 2007: 112; 2008: 360f.). Soziale Handlung wird hier

nicht als genuin menschlich begriffen, sondern in einer sozio-technischen Konstellation

verortet (Rammert 2008: 362). Handlung ist verteilt auf materielle Instanzen (Rammert

2008: 353, 357, 361), die menschlich und nicht-menschlich sein können und denen

Handlungsträgerschaft bzw. Handlungsinitiative („agency“) zugeschrieben werden kann

(Rammert 2007: 21, 112; 2008: 361). Handlung kann erst im Zusammenhang, in der

Verbindung der Wirkweisen einzelner Handlungsträger begriffen werden und muss im Feld

festgestellt werden (Rammert 2008: 354, 359). Handlung ist Produkt einer Hybridität aus

Objekten und Subjekten (Rammert 2007: 79; 2008: 355), die diese Unterscheidung

methodologisch nicht mehr rechtfertigt. Der Ansatz übernimmt und erweitert die Symmetrie

des qualitativ-empirisch forschenden Blicks auf Objekte, die seit David Bloors erstmaligen

Forderung (1976: 4f.) merkmalsbestimmend ist.

Methodologische Regeln

An welchen Regeln kann die technographische Forschung orientiert werden und welche

Prämissen werden dadurch bereits gesetzt? Dies soll nun genauer betrachtet werden.

Die erste ausgegebene Regel „Folge den Praktiken“ (Rammert 2008: 347) rückt das

Tun und Handeln aller Instanzen in den Mittelpunkt der Forschungsanstrengung. Dieser

Handlungsbegriff schließt „Körperbewegungen, materielle Begebenheiten und

zeichenhafte Prozesse“ (Rammert 2008: 347) ein und verzichtet zunächst auf eine

Verortung von Handlungsaktivität. Hier wird bereits deutlich wie zentral Handlung für diese

theoretische Perspektive ist und, dass diese flach verstanden wird, um alle Wirkungen

wahrnehmbar machen zu können (Rammert 2007: 112).

„Folge den Sachen“ (Rammert 2008: 347) öffnet den Blick für die Handlungsinitiative

materiell-technischer Objekte. Es sensibilisiert für den möglichen Akteurstatus von Sachen

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an sich, ohne dabei den deutenden und praktischen Umgang mit ihnen und ihre

unabgeschloßene bzw. uneindeutige Qualität aus den Augen zu verlieren (Rammert 2008:

347). Die Frage der Technikgenese und der technischen Historizität taucht bei Rammert

ebenfalls auf (2007: 28, 2008: 350). Mit dieser Regel wird auch die Symmetrie eingeführt,

die die traditionelle Unterscheidung zwischen Subjekten und Objekten sowie Natur und

Kultur methodologisch verwirft (Rammert 2008: 349). Ähnlich dem Ethnograph soll der

Technograph ohne eine Disposition forschen: eben auch den Sachen folgen, um das

Wirken aller Instanzen wahrzunehmen (Rammert 2008: 350). Falls es eine

Unterscheidung gibt, darf diese Kategorie nicht in der Methodik (vor-)angenommen,

sondern muss aus dem Beobachteten her entwickelt werden. Welcher Raum bleibt vor

dem Hintergrund dieser Forderungen für den Menschen? Über die Qualität eines Akteurs

im Sinne einer normativen Annahme schweigt sich der Ansatz aus. Ziel und Anspruch ist

die Beschreibung von Aktivitäten mit symmetrischen Begriffen, „ohne dabei metaphysische

Annahmen darüber machen zu müssen, was Menschen können und Maschinen nicht

können“ (Rammert 2008: 357). Akteure gilt es lediglich in der sozio-technischen

Konstellation zu benennen, aber nicht ontologisch zu setzen. Zu analysieren ist das

verteilte Handeln (Rammert 2008: 353, 356) Es wird dementsprechend nicht behauptet,

Menschen und Objekte seien das gleiche (Rammert 2008: 354).

Die Anweisung „Beschreibe die Relationen“ (Rammert 2008: 347) bedeutet die

Beziehungen, Verweisungen und Zusammenhänge der einzelnen Glieder untereinander

zu begreifen. Sie machen die Konstellation aus und erfahren Relevanz, da Bedeutungen in

der „Verkettung und Vernetzung von Einheiten und Aktivitäten“ (Rammert 2008: 347)

entstünden.

Mit „Beschreibe die Interaktivitäten“ wird der Konsequenz Rechnung getragen, dass

zwischen allen Instanzen Wechselwirkungen auftreten. Sozialität wird in seinem Wesen

prozessual begriffen und „situativer Sinn und soziale Ordnung“ (Rammert 2008: 348) nicht

auf menschliche Interaktion beschränkt verstanden (Rammert 2008: 348). Neben ihr gelte

es, weitere Typen sich vollziehender, wechselseitiger Wirkungen zu differenzieren.

Diese vier Punkte umreißen die Ausgangsperspektive der Theorie Verteilten Handelns.

Grundlegend und merkmalsbestimmend ist die methodologische Symmetrie und die

ontologische Neutralität in der Annahme über Akteure. Wie lässt sich Technik in dieses

Gebäude einordnen und was macht Technik laut Rammert aus? Erfährt sie Bedeutung

innerhalb der Sozialität, wird sie als materielles Phänomen verstanden und wie kann man

sie begrifflich fassen? Dies soll nachfolgend beantwortet werden.

12

3.2 Technikbegriff, Technikverständnis und Materialität

Der Annahme folgend, dass soziales Handeln nicht auf menschliche Entitäten beschränkt

ist, identifiziert Rammert eine konstituierende und vermittelnde soziale Funktion von

Technik (2007: 14). Technik forme unter anderem die Sozialstruktur einer Gesellschaft mit

(Rammert 2007: 11), manifestiere sich in sozio-technischen Konstellationskonfigurationen

als „Technostruktur“ (Rammert 2007: 11) und leiste die „materielle Integration der

Gesellschaft“ (Rammert 2007: 12). Sie sei dabei aber immer auch ein Produkt „kreativen

Handelns“ im Prozess der Herstellung und müsse auch im Prozess „kooperative[r]

Abstimmung, interaktive[r] Aneignung und [...] innovative[r] Umgestaltung“ (Rammert 2007:

11) verstanden werden. Damit wird deutlich, dass Sozialität bei Rammert zu einem großen

Teil als technisch vermittelt gilt.

Die genannten Merkmale versucht Rammert in einem geteilten Technikbegriff zu

erfassen: Technik hat demnach zwei Aspekte, jenen der „Technisierung“ (2007: 350f.;

2008: 16) und jenen des „Trägermediums“ (2008: 351; 2007: 16). Technisierung benennt

einerseits die „formgebende Praxis, Elemente, Ereignisse oder Bewegungen, kunstfertig

und effektiv in schematische Beziehungen von Einwirkung und notwendiger Folge

zusammenzusetzen“ (Rammert 2007: 16) und andererseits in seiner Dimension als

Eigenschaft schematisierter Prozesse, Abfolgen und Handlungen, die verlässlich und

wiederholbar erwartbare Wirkungen generieren (Rammert 2007: 16). Habitualisierung,

Mechanisierung, Algorithmisierung sind unterschiedliche Ausprägungen dieses Vorgangs

bzw. dieser Eigenschaft und verweisen auf die Notwendigkeit eines Trägermediums, in das

die schematische Beziehung eingebracht werden kann (Rammert 2007: 16). So dienen

Körper der Habitualisierung als Trägermedium. Hier werden körperliche Bewegung in

einem Schema aufeinander abgestimmt und bezogen. Die „Konstruktion und Kombination

von physischen Dingen zu Maschinen und komplexen Anlagen“ (Rammert 2007: 16) nennt

sich dem Autor folgend Mechanisierung. Algorithmisierung beschriebe wiederum

Technisierung als die sequentielle Verkettung von Symbolen in zeichenverarbeitenden

Prozessen (Rammert 2007: 16). Vorletztes verweist also auf physische Dinge und letztes

auf Zeichen als Trägermedien von Technik.

Die Relevanz von Materialität für diesen Ansatz wird in der Benennung des

Trägermediums deutlich und nicht nur unter dem Aspekt „Sachtechnik“ verkürzt erfasst

(Rammert 2008: 351). Technisierung bedarf Material - einem materiellen Medium - in

welches sie eingehen und in welchem sie Existenz gewinnen beziehungsweise operieren

13

kann. Körper, physische Dinge und Zeichen sind Formen von Materialität, die Formbarkeit

unterliegen und unterschiedliche Wirkungen entfalten können, wenn sie Programme

eingeschrieben bekommen und in der Konsequenz in sozio-technische Konstellationen

eingehen. Sozialität ist bei Rammert aufgrund technischer Vermittlung gebunden an

materielles Dasein.

3.3 Relationierung und Handlungsgrade in sozio-technischen

Konstellationen

Bisher wurde nur deutlich, dass Rammert vor dem Hintergrund der technographischen

symmetrischen Optik, Handlungsträgerschaft bzw. -initiative physischen Objekten wie

menschlichen Subjekten in gleicher Weise zuschreiben kann. Der Autor erkennt aber vor

dem Hintergrund empirischer Beobachtung an, dass es sinnvoll ist, die Relationierung

zwischen den einzelnen Enitäten genauer zu betrachten (Rammert 2007: 34) und den

agency-Begriff nach verschiedenen Handlungs- bzw. Wirkungsgraden zu differenzieren

(Rammert 2007: 122f., 2008: 353). Die Symmetrie Rammerts ist also nicht so radikal wie

die der ANT, die jegliche Unterschiede methodologisch aber auch ontologisch verneint und

nur feststellen kann, ob gehandelt wird oder nicht (Rammert 2007: 116).

Zunächst soll auf die Relationen der Entitäten untereinander eingegangen werden. Hier

werden drei Arten von Beziehungen identifiziert: Interaktion, Intra-Aktion und Interaktivität

(Rammert 2007: 34). Alle Beziehungstypen kommen in sozio-technischen Konstellation vor

und machen gesellschaftliche Wirklichkeit im (Verweisungs-)Zusammenhang aus

(Rammert 2007: 34, 2008: 353). Einzelne Beziehung verfestigen sich erst dann zu sozio-

technischen Konstellationen, wenn sie so sehr „zeitliche Wiederholung, […] räumliche

Ausbreitung und sachliche Fixierung [im Sinne von Eindeutigkeit in der Ursache-Wirkung-

Beziehung, MK]“ (Rammert 2007: 35) erfahren, dass ihnen gesellschaftliche Signifikanz

zugesprochen werden kann. Eine sozio-technische Konstellation sei gefestigt, aber nicht

starr und unveränderlich, wenn sie einen Institutionalisierungsprozess durchlaufen habe

(Rammert 2008: 353). Interaktion wird als zwischen menschlichen Akteuren stattfindend

und als sinnstiftende Beziehung klassifiziert. Intersubjektive Ordnung werde durch sie

praktisch geschaffen (Rammert 2007: 34). Intra-Aktion umfasst technische Objekt-Objekt

Beziehungen, die in ihrer praktischen Struktur unterschieden werden können:

„hierarchisch[, …] fest gekoppelte Systeme […] oder eher verteilt und locker gekoppelte

Systeme“ (Rammert 2007: 34). Sie sind unter der erkenntnisleitenden Perspektive als

„Dimension materialer Sozialität“ (Rammert 2007: 34, H.i.O) im Sinne einer Verkettung von

14

Aktion anzuerkennen. Interaktivität beschreibt Mensch-Objekt-Beziehung. Die mediale

Vermittlung dieses Beziehungstyps schafft spezifische Formen der „Intermedialität“

(Rammert 2007: 34, H.i.O) und reicht von einer instrumentellen Qualität der Beziehung

Mensch-Objekt (bspw. Handwerk), über instruktive und mittelbar steuernde Qualität (bspw.

Maschinenführung) bis hin zu begrenzt intervenierender und interaktiver Qualität (bspw.

selbstlernende Software) (Rammert 2007: 34, 2008: 353).

Der Autor unternimmt noch eine weitere Schärfung seines Vokabulars, indem er

Handlungsträgerschaft graduell differenziert. Die dreistufige Unterteilung im Anschluss an

Giddens spricht von intentionaler, kontingenter und kausaler Handlungsinitiative (Rammert

2007: 113, 116; 2008: 356). Kausale Handlungsinitiative lässt sich als eine Kette von

Veränderung bewirkender Aktivitäten begreifen. Einzelne Aktivitäten folgen aufeinander

und werden in der Ausführung starrer Programme wirksam (Rammert 2007: 113). Das

Handlungsniveau „Auch-anders-handeln-Können“ (Rammert 2007: 113) zeichnet sich

durch Reaktionsvermögen auf Umweltbedingungen und dem Vorhandensein von

alternativen Handlungsabläufen aus. Es liegt keine Gebundenheit an ein Programm vor

sondern eine Kontingenz der Handlungsoptionen (Rammert 2007: 113). In der Folge kann

Interaktivität zwischen Mensch und Maschine entstehen. Die Komplexität dieses

Sachverhalts kann in Multiagenten-Systemen gesteigert werden (Rammert 2003: 293,

2007: 114). Die höchste Ebene in der Unterscheidung von agency ist intentionales und

reflexives Handeln. Hier grenzt sich der Autor von einem substanzialistischen, (an den

Menschen gebundenes), Verständnis dieses Begriffes ab und fordert stattdessen eine

pragmatische, vollzugsorientierte Auffassung: Das Charakteristikum von Intentionalität sei

die „Verwendung eines intentionalen Vokabulars bei der Steuerung und/oder Deutung des

fraglichen Verhaltens“ (Rammert 2007:115). Avancierte Techniken könnten dies leisten,

wenn sie ihre Funktionen steuernden algorithmischen Prozesse erkennen und anpassen

können (Rammert 2003: 297, 2007: 114).

Mit diesen beiden begrifflichen Differenzierungen gelingt es Rammert seinen

Beschreibung mehr Tiefe zu verleihen und eine genauere empirische Analyse vor

zunehmen. Er kann so zeigen, dass soziales Handeln in der Regel auf verschiedene

Instanzen verteilt ist und deren Teilnahme am Handlungsvollzug nicht gleichberechtigt,

sondern in unterschiedlichen Graden stattfindet (Rammert 2003: 303f.). Was in der ANT

noch blackboxiert wurde, kann jetzt empirisch beschrieben werden. Vor diesem

Hintergrund begreift Rammert Gesellschaft als sozio-technische Konstellation, deren

wirkendes Zusammenspiel das maßgebliche gesellschaftliche Phänomen ist (Rammert

15

2003: 313).

3.4 Einordnung, Leistung und Kritik des Ansatzes

Rammert gelingt es mit der Theorie Verteilten Handelns die zentralen Aussagen der ihr

vorausgehenden Akteur-Netzwerk-Theorie aufzunehmen und zu empirisieren. Damit

übernimmt er zum Beispiel nicht nur die Idee Objekte könnten sozial mithandeln, sondern

entwickelt die Theorie nachhaltig weiter, indem er die starren, übersymmetrischen Aspekte

der ANT korrigiert oder zurückweist. Rammert sieht seine Theorie weder in

sozialkonstruktivistischen, noch in praxistheoretischen Traditionen stehend und verortet sie

in einer pragmatischen Denkweise (Rammert 2008: 362).

Die begriffliche Schärfung der TVH führt zu einem genaueren Blick auf die empirisch

vorzufindenden Feldverhalte und äussert sich auch in der theoretischen Konzeption des

Ansatzes. Die symmetrische methodologisch-analytische Optik wird in einem

Technographen verortet, aber nicht länger radikal verfolgt, sondern für graduelle

Handlungsträgerschaft und spezifische Beziehungstypen sensibilisiert. Soziale Handlung

gerät als verteiltes Handeln und auch in seiner materiellen Bedingtheit in den Blick. Der

Technikbegriff wird in seiner Zweiteilung konzeptuell erweitert. Des Weiteren zeigt

Rammert wie theoretisches Vokabular erkenntnisleitend sein kann, ohne ontologische

Annahmen zu implizieren: Im Gegensatz zur ANT fordert Rammert nur eine

methodologische Symmetrie, der nicht auf der ontologischen Ebene entsprochen werden

muss. Über solche Annahmen bewahrt sich der Ansatz Neutralität.

Kritik leistet vor allem Gesa Lindemann, deren Ansatz nachfolgend beleuchtet werden soll,

wenn sie im Rahmen der Diskussion der Erklären-Verstehen-Kontroverse der Soziologie

argumentiert, dass die Technographenposition der objektivierenden Position eines

nomologisch-deduktiven Beobachters entspricht, welche fehlleitende logische

Schlussfolgerungen bedingt bzw. implizit mitführt.1

4. Gesa Lindemann: Reflexive Theorieentwicklung und die

Mehrdimensionalität der Ordnung des Sozialen

Lindemanns Ansatz ist kein einfacher Theorieentwurf. Ihre Argumentation ist

voraussetzungsvoll, denn sie hat den Anspruch eine neue Sozialtheorie und eine neue

Gesellschaftstheorie systematisch zu entwickeln. Dazu reflektiert sie zunächst die

1 Für eine genauere Kritik Lindemanns an Rammert vergleiche Absatz 4.1, Abschnitt „Das modern-rationale

Ordnungsprinzip in der Akteur-Netzwerk-Theorie und der Theorie verteilten Handelns“.

16

philosophischen Grundannahmen moderner soziologischer (Sozial-)Theoriebildung und

die Selbstbezüglichkeit von Soziologen in diesem Prozess bevor sie ihren eigenen Ansatz,

die Theorie der Weltzugänge, auf der Grundlage der philosophischen Anthropologie

Helmuth Plessners entwirft.

So diagnostiziert die Autorin der modernen sozialtheoretischen Perspektive und ihren

Ansätzen aufgrund basaler Prämissen einen erkenntnisbehindernden, ethnozentrischen

Blickwinkel (Lindemann 2014: 44f.). Diese können Materialität und Objekte nicht ohne

spezifische Vorannahmen betrachten. Die durch ihre Argumentation gewonnene Distanz

zur ethnozentrisch-modernen, sozialtheoretischen Weltsicht und das einfordern einer

empirisch orientierten Begriffsentwicklung macht den Weg frei für eine systematisch-

kritische Theoriekonstruktion, die sie in ihrem eigenen Ansatz verfolgt (Lindemann 2008:

126f.).

Die Argumentation der Theorie der Weltzugänge baut auf die philosophische

Anthropologie Helmuth Plessners auf und entwickelt in der Auseinandersetzung mit den

Wenden der jüngeren sozialtheoretischen Diskussion, die Idee des Weltzugangs als

Ordnungskonzept welcher gleichursprünglich mehrdimensional konstituiert sei und

Ordnung nicht mehr als einzig menschengemacht und lediglich sozial hergestellt begreift

(Lindemann 2014: 18ff., 66).

Mittels der Weiterentwicklung von Plessners Ansatz zur reflexiven Anthropologie gelingt

es Lindemann eine Historisierung von Weltzugängen und sozialer Grenzziehung zu

plausibilisieren. Die moderne, rationale Ordnung ist nur eine von vielen möglichen

(Lindemann 2014: 70). So fordert die Autorin neben dem altbekannten sozialen

Ordnungsproblem, das Problem der erweiterten Ordnungsbildung - oder wie sie es auch

nennt das Problem der Kontingenz der Mitwelt - in den Blick zu nehmen und für dessen

Lösung die soziale Position des Dritten und die soziale Konfiguration der Triade stark zu

machen (Lindemann 2014: 99, 104). Auf der Grundlage der Positionalitätstheorie

Plessners und den theoretischen Linienziehungen Lindemanns kann Materialität im

körpergebundenen Dasein und in der mit anderen Dimensionen für den Weltzugang

gleichursprünglichen Sachdimension Relevanz erfahren und darüber hinaus ein reflexives

Technikverständnis entwickelt werden (Lindemann 2014: 82; 2015).

Aufgrund des Umfangs sollen zunächst vorauszusetzende methodische und

erkenntnistheoretische Argumente Lindemanns erläutert, daran anschließend die für den

Ansatz grundlegende Positionalitätstheorie Plessners und Lindemanns

Weiterentwicklungen dieser zur reflexiven Anthropologie vorgestellt werden, um folglich die

17

Theorie der Weltzugänge mit ihrer These der gleichursprünglichen Mehrdimensionalität

von Ordnung, die Sinnverstehen ermöglicht, darstellen zu können. Danach soll in einem

gesonderten Abschnitt darauf eingegangen werden, wie Materialität in diesem

Theoriegebäude zu verorten ist und relevant werden kann.

4.1 Die Forderung nach empirischer Theorieentwicklung und die

Perspektivierung der modernen sozialtheoretischen Perspektive

An dieser Stelle soll zunächst einmal Lindemanns methodologische und die Erkenntnis

betreffende Kritik an der Erklären-Verstehen-Kontroverse und der herkömmlichen

Theorieentwicklung in der Soziologie dargestellt werden. Lindemann vollzieht

Grundlagenarbeit, wenn sie die basalen Annahmen über den sozialtheoretischen

Gegenstand aufdeckt und die (methodologischen) Konzepte der Erschließung dieses

hinterfragt, deren Verhältnis thematisiert und erstmals ein empirisches Kriterium für die

Angemessenheit dieses Prozesses fordert (Lindemann 2008: 109). Ihre Argumentation

fußt dabei auf der Unterscheidung von Theorietypen: So beschrieben Sozialtheorien den

Gegenstand soziologischer Forschung und konturierten das, was soziologisch in den Blick

genommen werden kann, während Theorien mittlerer Reichweite Ausschnitte der

Gesellschaft erläutern und Gesellschaftstheorien allumfassende Aussagen träfen bzw.

eine Gesamtsicht evozieren (Lindemann 2008: 123f.). Lindemann gibt an, dass diese

Theorietypen mittels eines spezifischen Empiriebezugs systematisch und konsistent

entwickelt werden können und stellt fest, dass diesen Anspruch keine soziologische

Theorie(-familie) bisher verfolgt hat (Lindemann 2008: 123).

Empirischer Bezug von Theorietypen und die Erkenntniskritik

Sie zeigt, dass empirisches Arbeiten immer mit Vorannahmen operiert, die durch das

mit ihnen gewonnene Datenmaterial nicht mehr hinterfragt werden können (Lindemann

2008: 111). Vor diesem Hintergrund können Sozialtheorien - solche Theorien, in denen

Annahmen über den sozialen Gegenstand gemacht werden - nicht mit dem etablierten

Verfahren der Falsifikation beurteilt werden (Lindemann 2009: 15). Die in Sozialtheorien

verwendeten Begriffe und Theorien sind in der Regel selbstreferentiell in der Rezeption

anderer Theorien entwickelt worden (Lindemann 2006: 83). Empirische Daten konnten in

der soziologischen Diskussion vor dem Hintergrund des Falsifikationsanspruchs bisher

keine theoretische Relevanz für Grundannahmen über das Soziale gewinnen (Lindemann

2008: 114). Lindemann bricht mit dieser anerkannten und etablierten Tradition, wenn sie

18

eine kritisch-systematische Theorieentwicklung fordert. Lindemann behauptet

sozialtheoretische Begriffe und Annahmen können an empirischen Daten im Sinne einer

Präzisions-/Irritationsleistung statt eines unerfüllbaren

Falsifikations-/Verifikationsanspruchs orientiert werden (2008: 114). Die

beobachtungsleitenden Setzungen versteht die Autorin als begriffliche Sehgeräte, deren

bildlich gesprochen Sehschärfe bzw. Auflösungsleistung auch bei unbekannten sozialen

Phänomenen wahrgenommen werden kann und so zum Indiz für die Angemessenheit des

verwendeten Begriffs oder der Theorie werden. Empirisches Datenmaterial kann also,

wenn es die Perspektive irritiert, neue Theoriekonstruktion in Sinne einer Präzisierung der

Sehgeräte herausfordern (Lindemann 2006: 86). Dies sei der spezielle Empiriebezug von

Sozialtheorien und wird so von Lindemann erstmals eingefordert. Theorien mittlerer

Reichweite gelte es abduktiv mittels einer schrittweisen Falsifikation an der Empirie zu

orientieren, während Gesellschaftstheorien vor dem Hintergrund der Plausibilität ihrer

„Gestaltextrapolation“ (Lindemann 2008: 124), also der Nachvollziehbarkeit des

Rekurrierens auf punktuelle empirische Erkenntnisse von Theorien mittlerer Reichweite bei

der Konstruktion theoretischer gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge, bewertet

werden sollen (Lindemann 2008: 124f.).

Die Perspektivierung der modernen sozialtheoretischen Perspektive

Mit dem erwähnten kritischen Anspruch ausgestattet lässt sich begreifen wie die Autorin

eine Argumentation entwickelt, die sozialkonstruktivistische Prämissen im Sinne einer

zentralen menschlichen Ordnungsinstanz in bisherigen Sozialtheorien aufdeckt.

Lindemann erzählt die Erklären-Verstehen-Kontroverse in der sozialtheoretischen

Diskussion nach und diskutiert sie kritisch. So kann sie dem Zugang des Erklärens eine

Operationsweise und Weltsicht diagnostizieren, die die Natur-Kultur-Unterscheidung

impliziert, folglich diese nicht hinterfragen kann (Lindemann 2014: 40f.) und den Mensch

immer wieder als die Instanz des Ordnen-Könnens identifiziert (Lindemann 2014: 44).

Damit verortet sie die Erklären-Verstehen-Kontroverse und den Erklären-Zugang in der

modernen, rationalen Weltsicht bzw. Ordnung. Diese kann durch die Aufdeckung ihres

ordnungsbildenden Prinzips als eine mögliche Ordnung perspektiviert werden: Ihr

Ursprung läge in der Idee des ordnenden Menschen (Lindemann 2014: 70). Durch die

Übernahme der modern-rationalen Perspektive im sozialtheoretischen Diskurs wird es

unmöglich andere Ordnung als gleichmöglich zu begreifen (Lindemann 2014: 45). Wie

19

Lindemann hier argumentiert, soll nachfolgend umrissen werden.2

Die Beobachterposition und die Weltdistanz

Erkenntnis erfolgt im Sinne des Erklären-Zugangs durch die Identifikation von

Kausalzusammenhängen in der Relation zu einer Hypothese durch einen unbeteiligten

Beobachter (Lindemann 2014: 39). Die Zusammenhänge blieben allerdings, so wird

eingewendet, einem von der Welt distanzierten Beobachter, wie er deduktiv-nomologisch

vorausgesetzt wird, unerschlossen und würden sich diesem nur als unverbundene Abläufe

darstellen (Lindemann 2014: 39). So folgert Lindemann, dass der Beobachter keine

Weltdistanz im Sinne deduktiv-nomologischen Vorgehens hat, wenn sie zeigt, dass es der

Intervention von der Beobachterposition aus mittels der Setzung eines Anfangspunkts

erfordert, um eine Ereignisfolge in einen Gesamtzusammenhang zu bringen. Dies haben

Laborstudien übereinstimmend herausgestellt (Lindemann 2014: 47).

Der Erklären-Zugang verkennt diese Notwendigkeit der Intervention und die Umstände

der unmöglichen Distanzgewinnung, die Lindemann im Anschluss an Apel in der

Doppelperspektive des Menschen begründet sieht. Mit seiner leiblichen Gebundenheit sei

der Mensch nämlich immer im hier/jetzt verortet und kann sich nur aus seinem Zentrum,

dem Körper, heraus auf die Umwelt beziehen. Diese Verortung lässt den Menschen keine

Distanz gewinnen. Gleichzeitig haben Menschen aber die Fähigkeit sich

aussenperspektivisch – aus der Perspektive von Ko-Subjekten - zu reflektieren und sich so

als Körper wahrzunehmen (Lindemann 2014: 40). Die Möglichkeit des Einnehmens einer

Aussenperspektive ist nicht gleichzusetzen mit deduktiv-nomologischer Weltdistanz.

Vor der Kenntnisnahme dieser Begebenheit lässt sich aufzeigen, wie der Erklären-

Ansatz eine Paradoxie bedingt, indem durch ihn Menschen von Menschen

fälschlicherweise als Objekte begriffen werden (Lindemann 2014: 42). Diese Distanz

herzustellen, wird durch die Gebundenheit des Menschen an das hier/jetzt unmöglich,

welcher Umstand innerhalb der rational-modernen Erklären-Verstehen-Kontroverse aber

nicht wahrgenommen wird.

Aufgrund der Tatsache, dass der Erklären-Zugang aber mit dieser Distanz operiert,

identifiziert er in fest-institutionalisierten Handlungszusammenhängen die Idee der Kultur,

die bei Parsons noch handlungsdeterminierend und in späteren verstehensorientierten,

praxistheoretischen Ansätzen (bspw. Garfinkel) diskursiv verstanden wird. Der Mensch hat

sich von diesen kulturellen Strukturen zu emanzipieren, um treffend beschrieben zu

2 Für eine detaillierte Argumentation vergleiche Lindemann 2014, Kapitel 2.

20

werden und gesellschaftliche Veränderung erklärbar machen zu können (Lindemann 2008:

43). Die Ansätze verfolgen ein „emanzipatorisches Erkenntnisinteresse“ (Lindemann 2014:

45), das den Menschen nicht fremdbestimmt erscheinen lässt. Die Idee einer Struktur, von

der sich der Mensch zu lösen habe, ist Produkt der Beobachterposition.

Anhand der Auseinandersetzung mit dem Erklären-Zugang wird so nachverfolgt, wie die

Natur-Kultur-Unterscheidung implizit in der Fragestellung aufgrund einer unmöglich

einzunehmenden, aber vorausgesetzten Beobachterposition mitgeführt bzw. konstruiert

wird und, dass modernen Ansätzen die normative Annahme zu Grunde liegt, dass

Menschen als agierende, (aus-)handlungsfähige Subjekte anzuerkennen sind (Lindemann

2014: 44f). Lindemann zeigt also auf, wie bereits in der Art und Weise des

wissenschaftlichen Fragens im Rahmen des Prinzips der geschlossenen Frage Relationen

der Erkenntnis vorgegeben sind. Die nomologisch-deduktive Beobachtungsposition, von

der die modern-rationale Weltsicht aus zu plausibilisieren sei, ist, so verkündet Lindemann,

vor der Doppelperspektivität des Menschen unhaltbar. Alle Ansätze, die das

emanzipatorische Erkenntnisinteresse, wenn auch nur kryptisch, verfolgen, argumentieren

letztlich von diesem Standpunkt aus. Sie führen darüber hinaus die Annahme, den Mensch

als Instanz des Ordnen-Könnens anzuerkennen, implizit mit und können nur in Relation zu

diesem rahmenden Vorannahmen Angaben machen und Erkenntnis produzieren

(Lindemann 2014: 73f.).

In der Konsequenz zeigt Lindemann mit Plessner (Lindemann 2014: 69), dass die Idee

des Menschen als Ordnungsinstanz Mensch ein historisierbarer, relativierbarer Gedanke

ist und somit als Ursprung der modernen Ordnung in den Blick genommen werden kann

(Lindemann 2014: 70). Durch diese Perspektivierung können neben dem Menschen auch

andere ordnungsbildende Prinzipien wahrgenommen werden (Lindemann 2014: 70). Die

Autorin begreift diesen Umstand als eine weltsichtspezifische Setzung auf

sozialtheoretischen Theorieniveau, die durch eine unbestimmte Ordnungskraft ersetzt

werden sollte (Lindemann 2014: 76). Mit dieser Argumentation gelingt es der Autorin die

sozialkonstruktivistische Perspektive im Sinne einer Zentralität des Menschen und der

Dominanz der Sozialdimension bei der Vergesellschaftung als eine Mögliche neben

anderen zu begreifen und als die wissenschaftliche Perspektive der modern-rationalen

Weltsicht bzw. Ordnung zu benennen (Lindemann 2014: 71f).

Anschließend verwirft Lindemann das Forschungsprinzip der geschlossenen Frage, in

der sie deduktiv-nomologische Erklärung verortet, und macht das Prinzip der offenen

Frage stark (2014: 74f.). Statt das Phänomen von einer zu benennenden Position aus

21

durch einen Rahmen mit impliziertem Vorentwurf zu beobachten, den es nur noch zu

bestätigen oder abzulehnen gilt, wird dem Gegenstand bei der offenen Frage mit einem

Vorentwurf begegnet, der deutungsoffen bleibt und Verständnis über die Erfassung der

Expressivität des Phänomens ermöglichen soll (Lindemann 2014: 76). Mit welchem

sozialtheoretischen Vorentwurf kann ein wissenschaftliches Vorgehen im Sinne offenen

Fragens operieren? Das ein heuristisches Apriori notwendig ist, um rational fragen zu

können, räumt Lindemann jedenfalls ein (2014: 75). Diese Frage soll in Abschnitt 4.2

diskutiert werden.

Das modern-rationale Ordnungsprinzip in der Akteur-Netzwerk-Theorie und der

Theorie verteilten Handelns

Selbst der Ansatz der Akteur-Netzwerk-Theorie, den Lindemann als ersten Ansatz

begreift, der die modern-rationale Ordnung herausfordert, fällt in die emanzipatorischen

Dynamiken zurück. Mit der Identifikation von Sprechern einer Population, die die den

Prozess der Übersetzung abschließen und ein Netzwerk stabilisieren (Callon 2006: 159f.),

indem sie alle Akteure beschreiben, wird auf eine unhaltbare Beobachterposition

zurückgegriffen, die die Dynamiken des emanzipatorischen Erkenntnisinteresses evoziert.

Im Grunde werde so die Subjekt-Objekt-Paradoxie auf Objekte, Artefakte und Dinge

ausgeweitet (Lindemann 2014: 52). Es sei, einfach gesprochen, nicht mehr nur der

Mensch, sondern auch die Objekte, Artefakte und Dinge, die bei Latour und Callon die

ethnozentrisch-moderne Weltsicht reproduzieren. Darüber hinaus bricht dieses Vorgehen

mit der Bloor'schen Regel Neutralität und Symmetrie im Umgang mit Wissen zu bewahren,

weil es die Beschreibung der Akteure, die anderen Akteursstatus zusprechen können, als

wahr anerkennen muss. Zudem fehlt eine Darlegung, wie diese Akteure von einem

Soziologen auszumachen sind (Lindemann 2006: 87, 2014: 53; Bloor: 1976: 4f.). Es wird

also auch im Ansatz der ANT nicht plausibel von welcher Position aus Gesellschaft

beschrieben werden kann (Lindemann 2014: 55). Rammerts Ansatz der Theorie verteilten

Handelns, der mit seinen Weiterentwicklungen der ANT laut Lindemann das Potenzial in

sich tragen könnte mit der Natur-Kultur-Unterscheidung zu brechen, unternimmt diesen

Versuch nicht explizit, da er auf die Perspektivenübernahme durch einen Ethnographen

zwar eingeht, aber offen lässt, wer als Akteur zu gelten habe (Lindemann 2014: 55).

22

4.2 Die Positionalitätstheorie Helmuth Plessners und die reflexive

Anthropologie Gesa Lindemanns – Verhandlung über die Inhalte

sozialtheoretischer Annahmen

Weiteren Ausführungen soll zunächst ein kurze Beschreibung der Positionalitätstheorie

Helmuth Plessners vorangestellt werden, die sich im großen Rahmen der

anthropologischen Philosophie verorten lässt und danach fragt, wie sich Bewusstsein

konstituiert und Lebewesen sich organisieren (Plessner 1981: 127ff.). Lindemann sieht in

Plessners Theorie Anknüpfungschancen, da dieser seine Überlegungen bereits reflexiv-

deduktiv entwickelte (Lindemann 2014: 86) und seine Annahmen als Operationsweise des

Sozialen im Sinne einer Sozialtheorie begriffen werden könnten, ohne dass positive

Aussagen getroffen werden, die vorgeben wer oder was soziale Instanzen sind

(Lindemann 2009: 65; 2014: 17).

Mit dem Anschluss an den Ansatz von Plessner, geht das Wissen um die Kontingenz

des Ordnungsprinzips „Mensch“ in die Theoriekonstruktion Lindemanns ein und die

Position von der aus eine Gesellschaftsbeschreibung möglich erscheint, wird erstmals

plausibel (Lindemann 2009: 67ff.). Von der Position eines sich reflexiv und seine Umwelt

erfassendes Selbst kann dies geschehen, ohne dass dieses Selbst positiv als menschlich

bestimmt werden muss und seine Beschreibung als letztgültig zu verstehen ist.

Positionalität und Leib-Umwelt-Beziehung

Ausgangspunkt Plessners ist die Dingerscheinung und das logisch gefolgerte Phänomen

der Grenzziehung bzw. Grenzrealisierung belebter Instanzen, über welches eine

Beziehung zur Umwelt vermittelt wird (Lindemann 2014: 86f.). Die Position des

grenzrealisierenden Phänomens bzw. des Selbst in Bezug zu seiner Umwelt lässt sich

anhand des Reflexivitätsniveaus kategorisieren und ist das zentrale Merkmal der

Positionalitätstheorie (Lindemann 2014: 89). Bewusstsein konstituiert sich, wenn die

Grenzrealisierung nicht nur vollzogen (Zustand der offenen Positionalität), sondern auf

sich selbst bezogen werden kann und damit diese, aber auch der eigene Körper und

gleichermaßen die Umwelt erlebbar werden (Lindemann 2014: 87). Wird der Körper im

Sinne eines Aktionszentrums des Aus-sich-heraus-Handelns wahrgenommen und kann

auf die Umwelt im Sinne von Aktivitätsangeboten reagiert werden, ohne die Umwelt

begreifen zu müssen, lässt sich zentrisch organisierte Positionalität eines Selbst feststellen

(Lindemann 2009: 73f). Das Erleben des Selbst und seiner Leib-Umwelt-Beziehung

beschränkt sich dabei auf das Erfahren und Setzen von Reizen und das Ausführen von

23

Reaktionen im Vollzug, welcher Berührungserfahrungen mit anderen grenzrealisierenden

Wesen prinzipiell nicht ausschließt (Lindemann 2014: 93).

Durch eine weitere Steigerung der Reflexivität entsteht exzentrische Positionalität, die

sich wie folgt verstehen lässt: Das exzentrische Selbst erlebt nicht nur die Umwelt und

seinen Körper, sondern erlebt gleichermaßen sein Erleben (Lindemann 2014: 97). Durch

das Erleben des Erlebens kann dieses vom Selbst zum Gegenstand der Reflexion

gemacht werden. Auf diesem Niveau des Selbstbezugs wird das Handeln des Selbst, sein

Dasein, seine Umwelt und die Existenz anderer grenzrealisierender Selbste nicht mehr nur

als Feldverhalt3 sondern als Sachverhalt erfassbar (Lindemann 2014: 96). In der

Konsequenz kann sich das Selbst selbst und „eine nicht auf es bezogene Welt“ begreifen

(Lindemann 2014: 98). Das exzentrische Selbst gewinnt Distanz zu sich selbst und der

Umwelt und wird fähig diese Begebenheiten „in seiner sachlichen Struktur“ (Lindemann

2014: 98) zu erfassen. Die Umwelt, zu der das Selbst über seine eigene Grenzrealisierung

vermittelt in Beziehung steht, wird auf dem Niveau exzentrischer Positionalität als Mitwelt,

in der es selbst existiert und neben ihm andere exzentrische Selbste existieren können,

begriffen (Lindemann 2009: 82). Grund dafür ist, dass auf der zentrischen Ebene der

Positionalität Berührungserfahrungen mit anderen grenzrealisierenden Wesen bereits

möglich sind (Lindemann 2014: 92, 98). Die Mitwelt stellt sich für das exzentrische Selbst,

dennoch nicht eindeutig dar (Lindemann 2009: 65). Vor dem Hintergrund

dividualisierender und individualisierender Weisen des Selbstbezugs4, kann die Mitwelt als

Vollzug von Beziehungen begriffen werden, die keine Aussage darüber treffen, wer als Teil

einer Gruppe anzuerkennen ist, zu der man „wir“ sagen kann (Lindemann 2014: 99): Das

Problem der „Kontingenz der Mitwelt“ (Lindemann 2014: 99) tritt auf und legt die

Notwendigkeit einer sozialen Grenzziehung nah. Plessner selbst gibt keine Antwort auf die

Lösung des Problems, weshalb Lindemann an dieser Stelle mit eigenen theoretischen

Aussagen beginnt. Demnach muss das genannte Ordnungsproblem der Kontingenz der

Mitwelt innerhalb der Sozialdimension eines Weltzugangs gelöst werden. Die soziale

Grenzziehung wird damit in kohärentem Bezug zu anderen Dimensionen eines

Weltzugang vollzogen (Lindemann 2014: 82).

3 Ein Feldverhalt beschreibt den Umstand etwas nur aktionsrelativ und unmittelbar im Vollzug auf sich gerichtet wahrnehmen zu können (Lindemann 2009: 76).

4 Dividualisierender Selbstbezug: Eigenwahrnehmung des Selbstes nicht als zeitüberdauernde, klar umrissene Einheit, sondern als Vollzug von Beziehungen. Individualisierender Selbstbezug: Eigenwahrnehmung einheitlich abgegrenzt über die Zeit hinweg (Lindemann 2014: 297ff.)

24

Reflexive Anthropologie als sozialtheoretische Annahme

An dieser Stelle soll noch einmal vor Augen gerufen werden, dass Lindemann den

Versuch, eine Sozialtheorie und eine Gesellschaftstheorie systematisch-kritisch zu

entwickeln, unternimmt. Sie schließt ihre Überlegungen dabei an das oben dargelegte

Werk des philosophischen Anthropologen Helmuth Plessner an, wenn sie im Vollzug der

Organisationsstufen der Leib-Umwelt-Beziehung die Operationsweise des Sozialen

verortet (Lindemann 2014: 84).

Weil Plessner die Ordnungskraft, die Ordnung hervorbringt, nicht positiv bestimmt und

damit die um die Ordnungskraft ausgemachte Sozialdimension nicht automatisch als

dominierend begreift (Lindemann 2014: 66f.), geht damit auch kein Vorentwurf einer

Ordnung des Sinnverstehens und der Vergesellschaftung einher. Wer ordnen kann, ist bei

Plessner nicht vorab zu benennen, weshalb Ordnung nicht in Bezug auf einen

„allgemeinen Grund“ (Lindemann 2014: 71) begriffen werden muss. Diese Offenheit ist

vorteilhaft bei der Übernahme der Überlegungen Plessners durch Lindemann als

sozialtheoretische Vorannahme im Sinne einer reflexiven Anthropologie, denn sie geht

einher mit der Forderung der Autorin Vorannahmen empirisch irritierbar zu halten.

Im Anschluss an Plessner kann Sinnverstehen und die Dynamik der Vergesellschaftung

von der Position einer unbestimmten reflexiven Instanz aus entwickelt werden, und eine

Gesellschaftsbeschreibung durch das Aufdecken ihrer institutionalisierten Schemata in

verschiedenen Ordnungshinsichten erfolgen. Das so produzierte Wissen über die

Gesellschaft ist mit der Symmetrieregel Bloors vereinbar, da es nicht als letztgültig bzw.

wahr, sondern als relativ zu seiner kommunikativen Institutionalisierung in den Dynamiken

von Selbsten, die eine exzentrisch organisierte Leib-Umwelt-Beziehung aufweisen,

verstanden wird. Damit ist der Prozess des Ordnens als Institutionalisierung freigelegt und

eine spezifische Ordnung wird als reflexiv evozierter Weltzugang neben anderen in den

Blick genommen und damit relativier- und historisierbar (Lindemann 2014: 77). Dieses

Verständnis von Ordnung als reflexives Ergebnis zunächst unbestimmter Relationalität,

sowie das Ordnen-Können nicht positiv zu bestimmen, aber als Eigenschaft exzentrisch

organisierter Leib-Umwelt-Beziehungen zu verorten bildet das sozialtheoretische Gerüst

Lindemanns und macht die grundlegende Dynamik einer Gesellschaftstheorie der

Weltzugänge aus.

Lindemann kann so im Sinne des Vorgehens offenen wissenschaftlichen Fragens einen

Ausgangspunkt mit ihrer reflexiven Anthropologie festsetzen. Weltzugänge werden

begreiflich als Gesamtstruktur des Sinnverstehens und näher betrachtet als

25

multidimensional-kohärentes Ordnungsschemata, das in der Dynamik exzentrisch

organisierter Selbste kommunikativ institutionalisiert werden kann (Lindemann 2014: 84).

Die Leistung der Theorie des Weltzugangs ist des Weiteren aufzuzeigen, dass

Strukturen des Sinnverstehen historisch kontingent sind. Das Soziale wird beispielsweise

erst mit der historisch relativierbaren Grenzziehung um soziale Instanzen konturiert

(Lindemann 2014: 101). Diese soziale Grenzziehung ist kohärent mit den Strukturen

anderer Dimensionen der Ordnung, die Lindemann im Anschluss an die turns in der

soziologischen Diskussion weiterhin in Raum-, Zeit-, Sach- und Symboldimension

ausmacht (Lindemann 2014: 82).

Die Frage nach dem Wie der Etablierung einer Ordnung im Sinne der Infrastruktur eines

Sinnverstehen-Könnens sozialer Instanzen, die als exzentrische Selbste organisiert sind,

soll im nachfolgenden Abschnitt behandelt werden. Die Position des Dritten und die soziale

Konstellation der Triade wird für die Beantwortung dieser Fragestellung unerlässlich sein

(Lindemann 2006: 95ff.).

4.3 Erweiterte Weltoffenheit und Weltzugänge als kommunikativ

institutionalisierte, pluridimensionale Ordnungsmatrix

Das Bezugsproblem der exzentrischen Positionalität ist die erweiterte Weltoffenheit. Alle

historisch vorangegangenen Ansätze identifizierten bereits verschiedene Hinsichten des

Ordnens. Mit Lindemann Forderung nach einer systematisch-kritischen entwickelten

Sozialtheorie, trifft sie auf ein erweitertes Ordnungsproblem, dass bisherige Theorien nicht

begreifen konnten, weil sie vom ordnenden Menschen ausgegangen sind. Mit dem Umweg

über Plessner kann Lindemann zeigen, dass Sinnverstehen nicht nur generalisierter

Muster in Dimensionen der Zeit, des Raums, der Sachlichkeit und der Symbolik notwendig

ist, sondern vorgänglich die Frage wer überhaupt zum Kreis sozialer Personen gehört, die

verstanden werden können, geklärt werden muss. Neben dem altbekannten und vormals

als zentral behandelten Ordnungsproblem tritt also das Problem der Kontingenz der

Mitwelt auf. Die Erkenntnis über erweiterte Weltoffenheit, die reflexiv zu ordnen ist, ist nicht

vereinbar mit einem vorab festgelegten Kreis sozialer Instanzen, die als zu verstehende

Personen begriffen werden müssen. Die Herausarbeitung dieses Problems und das

Aufzeigen, das das Ordnungsproblem damit ein „[Bezugs-]Problem doppelter Kontingenz“

(Lindemann 2012: 329) ist, ist der Verdienst Gesa Lindemanns.

Wie wird eine Ordnung stabilisiert? Wie kommt es zu sozial geteilten, generalisierten

Mustern bezüglich jeder Dimension des Weltzugang, die sich einander stützen, bzw.

26

zumindest nicht widersprechen? Wie wird die Weltoffenheit auf eine verbindliche Art und

Weise gelöst? Anhand eigener Forschung im Umgang mit komatösen Patienten, erarbeitet

Lindemann die kommunikative Institutionalisierung der ordnender Schemata als Lösung

heraus und zeigt für ein Erreichen der Verbindlichkeit dieser Institutionalisierung die

Notwendigkeit der Position des Dritten auf (Lindemann 2006: 88; 2012: 326f).

Althergebrachte Theorien begreifen den Ordnungsvorgang als kommunikativen

Deutungsprozess von Alter und Ego, also als einen dyadischen Prozess in dem sich

interaktiv neben Erwartungen Erwartungserwartungen ausbilden, die ihr Verhalten

wechselseitig strukturieren (Lindemann 2006: 85). In diesem Sinne ist in diesen Ansätzen

das Ordnungsproblem ein Bezugsproblem „einfacher Kontingenz, denn unwägbar

kontingent ist das Verhalten des begegnenden Gegenübers“ (Lindemann 2006: 85). Ist

aber aus der Perspektive eines exzentrisch organisierten Selbst, wie bereits mit der

Erläuterung erweiterter Weltoffenheit dargelegt, ebenfalls kontingent, wer als erwartende

und erwartungserwartende soziale Instanz zu gelten hat, wird deutlich, dass dem

dyadischen Deutungsprozess logisch die Deutung als soziale Instanz vorausgehen muss

(Lindemann 2006: 86f).

Lindemann begreift die Lösung dieser Problematik der Konstitution einer verbindlichen

Grenzziehung innerhalb der Sozialdimension, die sich auf ähnliche Weise beim

Ordnungsprozess in allen anderen Ordnungsdimensionen stellt, in einer Regel, an dem

sich das Selbst orientiert. Die Regel gibt vor, welche Berührungsbeziehungen solche sind,

in denen etwas verstanden werden kann. Einigen sich Ego und Alter auf eine Regel,

erfährt sie keine gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit, da sie durch die beiden Entitäten

immer wieder in Frage gestellt werden kann (Lindemann 2012: 332). Wie kann eine solche

gesamtgesellschaftliche geteilte Regel existieren, ohne dass vorausgesetzt wäre, es gäbe

bereits einen Wertekonsens, etwas Transzendentales, dem die Regel entspringt

(Lindemann 2014: 114)? So schlussfolgert die Autorin, dass solch eine Regel nicht

innerhalb einer dyadischen Konstellation entstehen kann, sondern es der Dritte in einer

Ego-Alter-Tertius-Konstellation ist, der „die Erwartungs-Erwartungen zwischen Ego und

Alter zu einem Muster objektiviert“ (Lindemann 2014: 119). Die Deutung wird zwischen

Alter und Ego kommunikativ vollzogen und von Tertius beobachtet, womit die Erwartungen

Tertius' an Alter und Ego dafür relevant werden, „wie Ego bezogen auf ein fragliches Alter

erwartet“ (Lindemann 2012: 330). Ego bezieht sich aus der Perspektive von Tertius auf

Alter und kann deshalb sein Vorgehen zu einem Muster objektivieren und Regeln

begreifen. Mit dieser triadischen Struktur von Erwartungserwartungen legt Lindemann dar,

27

wie die Etablierung sozial geteilter Schemata des Sinnverstehens kommunikativ vollzogen

werden kann und in der Konsequenz situativ Ordnung gebildet wird. Da sie die Positionen

innerhalb der triadischen Konstellation mit Selbsten besetzt, die eine exzentrisch

organisierte Leib-Umwelt-Beziehung erfahren und somit immer aus dem hier/jetzt agieren,

ist die Beobachterposition des Dritten plausibel und nicht von der Welt abgehoben.

Lindemann tappt nicht in die Falle der Subjekt-Objekt-Paradoxie (2012: 331f). Statt eine

Kultur ausmachen zu müssen, zeigt sich die „soziale“ Herstellbarkeit und Prozessualität

von Ordnung, die immer im hier/jetzt vollzogen wird und Institutionalisierung erfährt.

Weltzugänge lassen sich folglich als pluridimensionale Ordnungsmatrix reflexiver

sozialer Instanzen begreifen. Die zueinander passende und in den fünf genannten

Dimensionen Sozialität, Raum, Zeit, Sachlichkeit, Symbolik stabilisierte Ordnung,

ermöglicht Sinnverstehen und Vergesellschaftung. Auf eine weitere Ausführung des

Ansatzes und die Erläuterung der Spezifika der Kontingenzen innerhalb der einzelnen

Dimension muss an dieser Stelle verzichtet werden.5 Festzuhalten bleibt, dass

Gesellschaft mit der Theorie des Weltzugangs in seiner historischen Kontingenz

beschrieben werden kann und ihre Gestaltwerdung im Sinnverstehen exzentrisch

organisierter Selbste hinlänglich einzelner Dimensionen nachgezeichnet werden kann.

Vor diesem Hintergrund kann nun betrachtet werden, wie Materialität in diesem

Theoriegebäude relevant wird.

4.4 Materialität innerhalb der Theorie der Weltzugänge

Wahrnehmung von Dingen und von materialen Gegebenheiten durch Selbste lässt sich in

dem Theoriegebäude der Weltzugänge den einzelnen Positionalitätsstufen nach

unterscheiden. In dieser Reichweite lassen sich die Aussagen Lindemanns begreifen,

denn die Autorin trifft keine ontologischen oder handlungstheoretischen Aussagen, im

Sinne einer Setzung des (Mit-)Handelns von Dingen oder materiellen Konfigurationen,

vernehmlich Technik.

Zentrische Positionalitätsebene

Auf der Ebene zentrischer Positionalität können Dinge lediglich aktionsrelativ begriffen

werden, was eine Integration bspw. eines Werkzeugs in den leiblichen Richtungsraum

nicht ausschließt. Das Objekt wird bei zentrisch organisierten Selbsten nur situativ, vor

dem Hintergrund eines Reizes er- bzw. begriffen (Lindemann 2015: 3f.). Es hebt sich in

der Wahrnehmung darüber hinaus nicht ab. Zentrisch organisierte Selbste verfügen über

5 Um vertiefendes Verständnis zu erhalten, empfehle ich die Lektüre von Lindemann 2014, Kapitel 3.

28

kein transsituatives Wissen ihrer Selbst oder ihrer Umwelt, sondern (re-)agieren im

Rahmen von Feldverhalten (Lindemann 2015: 4).

Exzentrische Positionalitätsebene

Auf der Ebene exzentrisch organisierter Positionalität geht es um die Stabilisierung

einer praktischen Bedeutung materieller Entitäten für ihren Gebrauch. Durch den

gegenüber der zentrischen Positionalität gesteigerten Selbstbezug erfassen exzentrische

Instanzen eine nicht auf sich bezogene Umwelt und damit auch Objekte und Dinge. Diese

sachliche Erfassung bedingt ein Verständnis der materialen Entität (Lindemann 2015: 6).

Dieses Verständnis muss laut Lindemann in der Sachdimension einer Ordnung stabilisiert

werden, denn die Bedeutung eines Objekts und seiner Verwendung begreift Lindemann

nicht als durch das Objekt determiniert (empirisch äusserst unwahrscheinlich), sondern als

Ergebnis situativer, kommunikativer triadischer Stabilisierung im Sinne einer Soll-Nutzung.

Gelingt diese Stabilisierung, kann das Objekt eine Teilhandlung innerhalb einer

institutionalisierten Gesamthandlung erfahren (Lindemann 2015: 8). Eine institutionalisierte

Gesamthandlung stellt dabei einen Handlungszusammenhang dar, der nicht durch einen

Beobachter sondern die Akteure selbst beschrieben wird. Institutionalisiert ist eine

Gesamthandlung dann, wenn das Wissen um sie transsituativ verfügbar ist (Lindemann

2015: 7). Akteure, die ihren Beitrag zu einer Gesamthandlung symbolisieren, sind von

Artefakten und Objekten zu unterscheiden, die durch eine Wirkung der Gesamthandlung

beitragen, ihre Leistung aber nicht symbolisch darstellen können (Lindemann 2015: 11). In

Artefakte und Objekte ist die „Soll-Nutzung symbolisiert, aber dieses Symbol erscheint an

ihnen, die Symbolproduktion ist nicht ihre eigene Aktivität“ (Lindemann 2015: 13). Wie sich

dies im Einzelnen verhält, sei von Fall zu Fall zu klären und eine empirische Frage.

Die Existenz von Soll-Nutzungsvorgaben von Objekten, schließt spontane alternative

Nutzungen bzw. Bedeutung nicht aus (Lindemann 2015: 10). Vielmehr ist diese durch

Dritte festgezurrte Soll-Nutzung etwas, das dem materiellen Angebot eines Objekts

gegenübergestellt wird (Lindemann 2015: 9). Die praktische Nutzung vollzieht sich in dem

Spannungsfeld des Angebots und der Soll-Nutzung. „Jede neue Nutzung symbolisiert

dabei einen neuen Sinnvorschlag“ (Lindemann 2015: 11). Dieser Umgang mit Materialität

bedarf Symbole der Kommunikation, die in der Symboldimension einer Ordnung

institutionalisiert seien.

Die Verbindung einzelner Werkzeuge zu einer Maschine erfordert raum-zeitliche

Prämissen, also spezifischer generalisierter Muster in der Zeit- und Raumdimension der

29

Ordnung, die das Selbst Zeit und Raum unabhängig von seinem leiblichen Aktionszentrum

wahrnehmen lassen (Lindemann 2015: 15ff.). Solche Prämissen begreifen Raum als

kontinuierlich ausgedehnt und messbar und Zeit als eine Abfolge, die diskret unterteilbar

ist. Damit werden Raum und Zeit als von leiblichen Bezügen losgelöst begriffen und

mathematisch erfassbar. Lindemann nennt dieses Muster digitale Raumzeit (Lindemann

2014: 148f., 169f.; 2015: 15).

Schreitet die triadisch kommunikativ verfasste Formalisierung hinlänglich der

spezifischen Gegenstände der einzelnen Ordnungshinsichten soweit voran, dass Objekte

und Symbole eine ganz deutliche Soll-Nutzung erfahren und mit ihnen Maschinen gebaut

und Algorithmen geschrieben werden können, die Maschinen steuern (Lindemann 2015:

16, 18), gelingt es Wirkungen zu automatisieren und Steuerungsprozesse zu gestalten.

Technik entsteht. Mittels einer reflexiven Steigerung, die dadurch vollzogen wird, dass

Algorithmen Algorithmen steuern, können avancierte kybernetische Techniken entwickelt

werden (Lindemann 2015: 16f., 19).

Diesen Prozess der Technikentwicklung begreift Lindemann folglich als in einer

reflexiven Logik verfasst (2015: 20). Die institutionalisierte Gesamthandlung

Technikentwicklung/-nutzung bedarf einer Soll-Nutzung von Objekten und eine Raum-Zeit-

Ordnung wie der digitalen Raumzeit.

4.5 Einordnung, Leistung und Kritik des Ansatzes

Die Theorie der Weltzugänge fußt auf einer empirisch orientierten Theorieentwicklung.

Diesen Vorgang zu systematisieren ist der erste Verdienst Gesa Lindemanns. Das

Aufzeigen eines Ordnungsprinzip der Moderne und das Perspektivieren modern-rationaler

Weltsicht, die auf jener Zentralität des Menschen gründet, ist eine weitere Leistung der

Theorie der Weltzugänge. Die Übernahme der Positionalitätstheorie Plessners als

sozialtheoretische Annahme ist extrem fruchtbar. Es gelingt Lindemann zu erläutern, dass

Sinnverstehen einer Stabilisierung generalisierter Muster hinlänglich verschiedener

Dimensionen, die nicht auf einander reduzierbar aber miteinander unmittelbar vermittelt

sind, bedarf. Sie vollzieht mittels den eigenen theoretischen Setzungen erstmals eine

Symbiose vorgängiger Wenden der soziologischen Diskussion und den Entwurf eines

umfangreichen, systematischen und kohärenten Ansatz. In diesem Kontext schafft es die

Autorin das Problem der Kontingenz der Mitwelt begreiflich zu machen, anhand dessen

Lösung deutlich wird, dass Soziales erst innerhalb eines Weltzugangs über eine

Grenzziehung konturiert wird. Die Stabilisierung von Handlungsvollzügen zu

30

generalisierten Mustern erfolgt situativ kommunikativ in einer triadischen Konstellation. Die

Rolle des Dritten wird somit erstmals in Lindemanns Theorie systematisch eingeführt. Es

gibt eine vor-ordentliche Existenz von Objekten in der Wahrnehmung zentrisch wie

exzentrisch organisierter Selbste, die als materiales Angebot begriffen werden können. Auf

dem Niveau exzentrisch organisierter Leib-Umwelt-Beziehung wird sinnhafter Umgang

mittels einer Soll-Nutzung stabilisiert, aber nicht determiniert. Die Handhabung erfolgt im

Spannungsfeld materielles Angebot und kommunikativ stabilisierter Soll-Nutzung vor dem

Hintergrund einer institutionalisierten Gesamthandlung (Lindemann 2015: 1). Die Theorie

der Weltzugänge steht damit weder in der Tradition des Sozialkonstruktivismus noch des

Technikdeterminismus. Muster des Sinnverstehen werden im Rahmen eines Weltzugangs

historisierbar und relativierbar und dessen Bildung als Prozess der Vergesellschaftung

begreifbar. Weltverstehen ist bei Lindemann das Ergebnis eines Ordnungsprozesses

hinlänglicher verschiedener Ordnungshinsichten. Damit erfährt die Position, von der

Gesellschaft aus beschrieben werden kann, Plausibilität. Es sind exzentrisch organisierte

Akteure des Feldes, und keine vom Weltgeschehen losgelösten Beobachter, die

beschreiben. Eine Natur-Kultur-Unterscheidung wird damit als spezifisch modern-rational

verortet und nicht mehr weiterverfolgt.

Gesa Lindemanns Theorie der Weltzugänge geht nicht objektivierend vor, sondern

argumentiert relational auf die reflexive Teilnehmerperspektive.

5. Karen Barad: Agentieller Realismus

Ausgehend von der Physik-Philosophie des Physikers Niels Bohr und der Kritik am

Repräsentationalismus, der mit einer Unterscheidung zwischen Erkennenden und dem

Erkannten operiert, entwirft Karen Barad ihre Theorie des Agentiellen Realismus. Diesen

Ansatz nennt die Autorin „performativ“ (Barad 2012: 11) und „posthumanistisch“ (Barad

2012: 11), weil er keine anthropozentrische Weltsicht vertrete und dennoch den Anspruch

auf Objektivität nicht aufgäbe (Barad 2012: 13, 81f.).

5.1 Die Kritik am Repräsentationalismus und die Frage der Objektivität

Barad wendet sich gegen die Annahme des Repräsentationalismus, dass es eine

„vorgängig ontologische Wirklichkeit“ (2012: 8) gibt, die der sprachlichen Beschreibung

bedarf. Ihr Argument ist, dass Dinge und Artefakte aufgrund verschiedener semantischer

und sprachlicher Wenden der wissenschaftlichen Diskussion nicht mehr in ihrer

materiellen Qualität zum Gegenstand gemacht werden, sondern nur noch die Frage nach

31

der Bedeutung von Dingen und Material im (menschlichen) Umgang gestellt würde (Barad

2012: 7). Als grundlegende Annahme dieser Entwicklung identifiziert Barad den

Atomismus, den sie im Anschluss an Rouse in der kartesianischen Philosophie verortet

sieht (2003: 806). Somit begreift sie die repräsentationalistisch-anthropozentrische

Weltsicht als historisch gewachsen und zu wiederlegen (2003: 804), welchen Anspruch

der agentielle Realimus verfolgt. Damit wird deutlich, dass die Autorin im Gegensatz zu

bspw. Gesa Lindemann eine bestimmte Weltsicht nicht perspektiviert, sondern eine

vorgängige Weltsicht ablehnt und eine neue entwirft, indem sie selbst objektivierend

argumentiert.

Objektivitätsverständnis und der Prozess einer sich materialisierenden Welt

Eine Konsequenz des Verwurfs der repräsentationalistisch-anthropozentrischen

Perspektive ist die Aufgabe der Trennung zwischen Ontologie und Semantik und einer

ordnenden Rangfolge dieser (Barad 2012: 41). Die Autorin wendet sich also auch gegen

„traditionell empirische Annahmen“ (Barad 2012: 42). Materialität existiert bei Barad nicht

ontologisch vorrangig, sondern ist in ihrem Dasein immer nur relational auf Phänomene zu

begreifen. Phänomene sind die Objektivität sichernde Referenz Barads (2012: 21, 42), die

immer nur begrenzt in der allgemeinen „Intraaktivität“ (2012: 43) der Welt stabilisiert

werden können. Für Objektivität ist in dem agentiell-realistischen Verständnis der Autorin

„keine klassische ontologische Bedingung absoluter Äusserlichkeit zwischen Beobachter

und Beobachtetem erforderlich“ (Barad 2012: 81), sondern lediglich eine „agentielle

Abtrennbarkeit [...] innerhalb des Phänomens“ vorauszusetzen (Barad 2012: 81, H.i.O.).

Ausserhalb eines Phänomens bestünde „ontologische Unbestimmtheit“ (Barad 2012: 82).

Die agentielle Abtrennung wird durch den „agentiellen Schnitt“ (Barad 2012: 20)

vollzogen, der erst eine phänomen-relationale Unterscheidung ermöglicht und die

Unbestimmtheit semantisch-ontologisch aufzulösen vermag. Barad nennt diese

Unterscheidung in An- und Ablehnung kartesianischer Philosophie „Äusserlichkeit-

innerhalb-von-Phänomen“ (Barad 2012: 20, H.i.O.). Mit dem agentiellen Schnitt, verkündet

Barad, würde des Weiteren eine kausale Struktur innerhalb des Phänomens Gültigkeit

erfahren bzw. „in Kraft gesetzt“ (2012: 20), durch die einige Agentien durch andere im

Sinne einer Ursache-Wirkung-Beziehung markiert werden (2012: 20). Die Relata einer

Beziehung seien mit dieser gleichursprünglich (Barad 2003: 19).

Die Welt ist der Autorin zu Folge also keine zu beschreibende Gegebenheit und auch

kein schlichter zeitlicher Vollzug in der Materialität passiv relevant wird, sondern ein

32

dynamischer Prozess, indem ontologisch-semantisches Dasein in materiellen

Konfigurationen besteht und bedingt ist (Barad 2012: 22). Dieses Dasein ist nicht stabil,

sondern Produkt „eines fortlaufende[n] Fluß[es] von Tätigkeit“ (Barad 2012: 21) der Welt

selbst. Dieses Tätigsein, diese Dynamik begreift Barad als „Intraaktivität“ (Barad 2012:

21). In ihr kann es zu Stabilisierung von Phänomenen kommen, die kausale Strukturen in

Kraft setzen, anhand derer Markierungen vollzogen, d.h. Grenzen gezogen sowie

Eigenschaften und Bedeutungen erwogen werden. Dieser Ablauf bzw. Prozess der

Relevanzbildung sei Materialisierung (Barad 2012: 21).

5.2 Materialisierung als Ausdruck und Bestandteil materiell-diskursiver

Praktiken

Die agentielle Abtrennbarkeit und das stabilisierte Dasein von Phänomenen, also deren

Materialisierung, knüpft Barad an Apparate. Apparate würden die agentiellen Schnitte

vollziehen und die „materiellen Bedingungen der Möglichkeit und Unmöglichkeit der

Materialisierung und Relevanzbildung“ (2012: 34, H.i.O.) darstellen. Diese sind zugleich

Teil des Phänomens und nicht von ihnen losgelöst zu verstehen (Barad 2012: 98). Der

Begriff „Apparat“ ist dem Vokabular des Physikers Niels Bohr entlehnt (Barad 2012: 33).

Bevor sich die Frage gestellt werden kann, was diese Apparate sind6, soll allgemeiner auf

die Materialität der Bedeutungserzeugung, deren dynamische Veränderung und die

Verstehbarkeit der Welt eingegangen werden.

Diskurspraktiken

Die Autorin bezieht sich zunächst auf den Diskursbegriffs Foucaults, der mit „Diskurs“

die „örtliche[n], sozialgeschichtliche[n], materielle[n] Bedingungen [...][von]

Erkenntnispraktiken wie zum Beispiel Sprechen, Schreiben, Denken, Rechnen, Messen,

Filtern, Sich-Konzentrieren“ meint (Barad 2012: 32). Bei Foucault gibt es keine

transzendental-universellen Bedingungen der Erfahrung, sondern eine historisierbare,

kulturell-spezifische Erfahrungsgrundlage (Barad 2012: 31). Diese Idee ist bei Foucault

noch anthropozentrisch zu begreifen. Barad nimmt die Vorstellung des Diskurs als die

historisierbaren und veränderlichen Möglichkeiten von Wirklichkeit auf, um sie anhand der

Überlegungen Bohrs posthumanistisch zu interpretieren (2012: 34).

Die Welt, die Barad entwirft, ist bildlich gesprochen ganz flach. Eine agentiell-

realistische, posthumanistische Interpretation von Diskursen lässt sich begreifen, wenn

6 Man könnte auch Fragen wie diese Apparate zu verstehen sind, da es im agentiell-realistischen Ansatz ja keine Unterscheidung zwischen Semantik und Ontologie gibt und somit die Formulierungen gleichbedeutend sind.

33

man allgemeine Unbestimmtheit der Welt voraussetzt und deren Bestimmtheit nur als

temporär und unstabil vollzogen deutet. Die Intraaktion, das der Welt zugeschriebene

Tätigsein, erzeugt fortlaufend materielle Konfigurationen, die wiederum einer stetigen

Rekonfiguration unterliegen (Barad 2012: 98). Dieser Prozess der (Re-)Konfiguration ist

nie abgeschloßen, d.h. es kann in seiner temporären Gestalt nie letztliche Gültigkeit

erfahren (Barad 2012: 36). Die Welt ist ein intraaktives Werden und Intraaktivität eine

Bedingung dessen. Materie sei so aus sich heraus agentiv, denn diese Aktivität sei in

keiner genauer abzugrenzenden Entität ausschließlich verortbar.

Die materiellen (Re-)Konfigurationen provozieren Phänomene. Sie ziehen temporäre

Grenzziehungen, Eigenschaftsbestimmungen und Bedeutungsevolution mittels kausaler

Strukturen, die phänomen-relational nach Ursache und Wirkungen unterscheiden, nach

sich und evozieren so aus sich heraus Verständnis (Barad 2012: 36). Dabei führen sie die

Materialisierung vorgängiger Phänomene fort, bewirken also Veränderung, aber schaffen

auch neue materielle Konfigurationen. Dieser Vorgang gilt in der agentiell-realistischen

Perspektive als Diskurspraktik (Barad 2012: 35f). Diskurse differenzieren die Welt mittels

der von der Intraaktion ausgehenden Dynamik und vermögen ontologisch-semantische

Unbestimmtheit aufzulösen (Barad 2012: 36). Dabei lösen sie die Unbestimmtheit nie

vollständig auf (Barad 2012: 86), was die Möglichkeit der Veränderung mit sich bringt. Die

Stabilisierung eines Phänomens ist der temporäre Ausschluss anderer Möglichkeiten

(Barad 2012: 90). Der Prozess gleicht also keiner einseitigen steten und produktiven

Relevanzbildung, sondern eher einer fortlaufenden und neu festzustellenden

Relevanzbilanzierung.

Verstehen, Erkennen und der Mensch als Phänomen

Die Welt ist bei Barad innerhalb von Phänomenen aus sich heraus verständlich, weil

Agentien kausal markiert werden. Sie bedarf so keinen „geistigen Akteur“ (Barad 2012: 36)

der Interpretation. Diese Beobachtungsposition existiert in der agentiell-realistischen

Perspektive nicht (Barad 2012: 99). Verstehen bzw. Erkennen ist eine Leistung im

intraaktiven Vollzug (Barad 2012: 36). Ausserhalb von Phänomen bestehen keine

Grenzen, Unterscheidungen und Eigenschaften. Es gibt hier auch keine Unterscheidung

zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem (Barad 2012: 37). Es gibt dort nichts zu

verstehen. Es gibt nur Intraaktivität, aus der ein menschliches Phänomen bzw. ein nicht-

menschliches Phänomen erst als materielle (Re-)Konfiguration stabilisiert hervortritt bzw.

nachdem es Materialisierung erfahren hat. Menschen seien im agentiellen Realismus

34

keine von anderen Phänomenen zu unterscheidenden Phänomene. Sie erführen keine

enthobene Position, sondern seien Teil der flachen, materiellen Konfiguration, die

fortwährend intraagiert (Barad 2012: 88). Menschen erkennen, weil sie zur Welt gehörten

und in der Intraaktion aufgehen (Barad 2012: 100).

Materie ist nicht die Materie des Atomismus

Materie ist in diesem Sinn nicht als Eigenschaft von Dingen zu begreifen, sondern als

vorübergehend Eigenschaften und Sein erfahrende Substanz – dies ist die

Herausforderung an den mit dem Atomismus vertrauten Leser (Barad 2012: 38). Auf Judith

Butler verweisend legt Barad dar, dass Materie keine „individuell gegliederte oder statische

Entität[,...] und nicht unveränderlich oder passiv ist“ (2012: 39), sondern „immer schon

permanente Geschichtlichkeit ist“ (2012: 39). Materie sei keine „feste Substanz, vielmehr

eine Substanz im intraaktiven Werden (Barad 2012: 40). Sie ist Phänomene in ihrer

unabschließbaren Materialisierung (Barad 2012: 40). In ihrer aktuellen Form hat die

Substanz „Materie“ immer schon eine Materialisierung durchlaufen und unterliegt

fortführend diesem Prozess. Bedeutung und Sein dieser sind gleichursprünglich, aber

immer nur temporäres Ergebnis eines Prozesses, der niemals still steht und als

abgeschlossen gelten kann (Barad 2012: 41). Materielles als vorgängig materialisiertes

Phänomen und Diskursivität als Unterscheidung erzeugende Praktik ist „wechselseitig in

die Dynamik der Intraaktivität einbezogen“ (Barad 2012: 41). Auf diese Weise - als

Substanz einer Materialisierung - kann Materialität praktisch relevant werden und diskursiv

werden. Material bzw. Materie ist immer schon selbst materiell-diskursiv (Barad 2012: 91).

Die Welt ist aufgrund ihrer Intraaktivität performativ: Sie wirkt aus sich selbst heraus

(Barad 2012: 43).

Vor diesem Hintergrund lassen sich nun Apparate besser verstehen. Der Apparat des

Experiment, wird bei Bohr zwar in seiner herstellenden Wirkung, aber noch als eine vom

Menschen losgelöste Entität begriffen. Unter agentiell-realistischer Betrachtung wird

deutlich, dass Apparate spezifische materiell-diskursive Praktiken sind, die

Materialisierung erfahren haben. Sie sind ein Phänomen, dass sich, agentiell abgetrennt,

materialisiert. Also sind Apparate spezifische, materielle Konfiguration der Welt, die

wiederum rekonfigurierend wirken, in dem sie relevante Unterscheidungen in Phänomen

herstellen und Materie (weiter) formen (Barad 2012: 31). Apparate sind praktisch,

materiell-diskursiv geformte, aus der Unbestimmtheit hervorgegangene Materie, die selbst

praktisch materiell-diskursiv fortwirkt, unter anderem in dem sie agentielle Schnitte setzt,

35

neue Phänomene provoziert und alte verändert (Barad 31f., 85f.). Der Apparat selbst ist

also immer Teil des Phänomens, und nur in Relation zu ihm zu verstehen und ein

konstitutives Element intraaktiven Werdens. Menschen können sich nicht einfach dieser

Apparate bedienen. Sie sind keine dem intraaktiven Werden enthobene Entität (Barad

2012: 100). Menschen werden im agentiellen Realismus als Teil der (Re-)Konfiguration der

Welt und ihr Wirken im Gesamtkontext der Intraaktivität aufgehend gedeutet (Barad 2012:

100).

5.3 Intraaktivität als Vollzug einer Raum-Zeit-Materie-Topologie

Phänomene können in diesem Verständnis immer als Ausschluss von Unbestimmtem

gelten, was immer wieder die Möglichkeit anderer Möglichkeit bereithält. Es liegt also

keine kausale Determinierung vor, da die Zukunft radikal offen ist (Barad 2012: 88).

Vielmehr ist Intraaktion die schrittweise Rekonfiguration von dem „was möglich ist und was

unmöglich ist“ (Barad 2012: 86). Intraaktion erwirkt die fortlaufende „Veränderung von

Veränderungsmöglichkeiten“ (Barad 2012: 88), ihr Tätigsein ist ein Vollzug. In diesem

Vollzug wird Zeit und Raum erst markiert (90). Sie sind eine Folge jener Dynamik und nicht

ontologisch vorgängig. Weder Raum noch Zeit sei absolut, sondern vielmehr relativ. Sie

sind eine Markierung, die durch die Intraaktivität vollzogen wird. Intraaktion geschieht nicht

in der Zeit, sondern Zeit ist ein Erzeugnis von Rekonfiguration (Barad 2012: 92). So

verhielte es sich auch mit dem Raum, der nicht als „Behälter“ (Barad 2012: 93) der Materie

begriffen werden könnte. Grenzziehungen eines Phänomens fänden nicht im Raum statt,

sondern seien der Ausdruck räumlicher Restrukturierung bzw. Rekonfiguration des Raums

(Barad 2012: 93).

Der Prozess der (Re-)Konfiguration muss ganzheitlich gedacht werden. Er beschränkt sich

nicht auf einen Bereich (Barad 2012: 93). Es handelt sich immer um eine Raum-Zeit-

Materie-Topologie, die Produkt eines temporären Ausschlusses anderer Möglichkeiten ist

(Barad 2012: 93). So werden beispielsweise Quantensprünge erklärbar (Barad 2012: 94).

In der Konsequenz begreift Barad den agentiellen Realismus als „Onto-empistemo-logie“

(Barad 2012: 100, H.i.O.), als ein Theoriegebäude, dass untersuchen kann wie

„Erkenntnispraktiken innerhalb des Seins“ (Barad 2012: 100) vollzogen werden, indem

bestimmte Intraaktionen relevant werden und andere temporär verunmöglichen. Zentral ist

die Frage der Relevanz, nicht mehr die der sprachlichen Erfassung.

36

5.4 Einordnung, Leistung und Kritik des Ansatzes

Die Autorin grenzt ihre Argumentation vom Konstruktivismus (Barad 2012: 84), von idealen

Vorstellungen (Barad 2012: 85) und vom Determinismus (Barad 2012: 88) ab. Ihre Theorie

operiert mit dem Axiom der Intraaktion, die fortwährend Dynamik bedingt und aus der sich

heraus alles konfiguriert. Damit gelingt es ihr eine äussert flache, aber äussert integrative

Argumentation aufzustellen, die sich in kontingente Raum-Zeit-Materie-Topologien

ausdrückt. Materie ist bei Barad alleinige agentive Kraft. Sie wirkt in und durch

Materialisierung von Phänomenen. Ausserhalb von Phänomen ist sie formlos.

Unterscheidungen zwischen Mensch und Nicht-Mensch, Subjekt und Objekt werden

hinfällig. Sie gehen alle im intraaktiven Werden auf. Objektivität im Allgemeinen ist im

agentiellen Realismus nur relativ zu verstehen. Barad gelingt es, dies deutlich und

plausibel werden zu lassen. Es fehlt allerdings eine Ausführung dessen, wie Phänomene

sich selbst begreifen können. Hier wäre eine Schärfung der Erkennen- bzw. Verstehen-

Begrifflichkeit wohl notwendig. Dabei wäre eine daran anknüpfende Erörterung

sozialwissenschaftlicher Theoriebildung hilfreich, die diesen Vorgang ins Verhältnis zu der

relativen Argumentation des Theoriegebäudes bringen müsste. Die Frage, die im Raum

steht, ist welches Objektivitätsverständnis der Intraaktion sozialwissenschaftlichen

Argumentierens unterliegen würde und welche Aussagekraft folglich auch dem agentiellen

Realismus zukäme.

6. Resümee: Die soziale Relevanz von Materialität oder besser

„Sozio-Materialität“?

Die vorangegangene Diskussion der verschiedenen Ansätze hat deutlich werden lassen,

dass es ganz unterschiedliche Möglichkeiten gibt sich der Materialität innerhalb der

Soziologie zu nähern. Hörning nähert sich den Objekten in ihrer Verwendung und behält

dabei eine ganz klassische Subjekt-Objekt-Ontologie bei. Rammert gelingt es eine

weitgehend kritikfähige Beschreibungssprache techno-sozialer Prozesse zu entwickeln,

weil er keine Ontologie forciert. Darüber hinaus wurde begreiflich, dass Materialität in

Ansätzen nicht objektiv einer menschlichen oder sozialen Sphäre gegenüber geordnet

werden muss: Lindemann perspektiviert mithilfe Plessners die modern-rationale Ordnung

und deren impliziten Annahmen im sozialtheoretischen Diskurs, welche auch das

Verständnis von Materiellem prägen. Innerhalb der Theorie der Weltzugänge wird

Ordnung reflexiv hergestellt, als kontingent betrachtet und der Vorgang der

Vergesellschaftung, in den auch der Prozess des Begreiflichwerdens von Materie gehört,

37

historisch plausibel gemacht. Die reflexiven Instanzen sind über ihre Leib-Umwelt-

Beziehung hinlänglich verschiedener Dimensionen gebunden. Barad unternimmt zwar

eine Historisierung des Materialitätsverständnis aber keine Perspektivierung ihrer eigenen

agentiell-realistischen Aussagen, innerhalb derer intraaktives Werden vorherrscht und

Materie in ihrer spezifischen Konfiguration nur als temporäres Phänomen relevant wird.

Der Mensch geht in materiellen Phänomen auf und ist dieser Welt nicht enthoben oder

steht Materiellem gegenüber.

Neuere Ansätze haben also mehr und mehr das Vermögen sich von einer spezifisch

modernen Weltsicht zu distanzieren, die eine Unterscheidung zwischen Sozialität und

Materialität bzw. Kultur und Natur implizit mit sich führt. Diese Ansätze bemerken je nach

Argumentation, dass die Annahme der Zentralität des Menschen bzw. dessen

Enthobenheit von der Welt zu perspektivieren oder abzulehnen ist. So werden ganz neue

Konzepte der Verwicklung mit der Welt, von Gesellschaft und Vergesellschaftung denkbar.

Die Verwicklungen und Verbindungen zwischen Menschen und Materie/Material

beziehungsweise Ding/Objekt/Artefakt wurden aufgrund jener modernen kategorialen

Unterscheidung in der Soziologie zunächst ausgeblendet oder übersehen und mit ihrer

erstmaligen Wahrnehmung noch in diesem Schema gedacht. In der aktuellen Diskussion

lässt sich eine Loslösung oder zumindest eine Historisierung von jenen Kategorien des

Menschen, des Dings, der Kultur und der Natur ausmachen. Kritisch für diese Erkenntnis

ist die Diskussion sozialtheoretischer (Argumentations-)Positionen. Die Unterscheidung

der Kategorien und die vorgenommene Trennung wird als ein Produkt der Moderne

begriffen7. Die zunehmende Anerkennung dieser Umstände ist die Leistung des neueren

Materialitätsdiskurs der Soziologie.

Diese neue Sichtweise und Argumentation bedarf eines Vokabulars, welches die

vorangegangene Grenzziehung nicht mehr in sich trägt. Versuche, solch ein neues

Vokabular zu schaffen, sind in der Diskussion bereits vernehmbar. Meines Erachtens

haben Orlikowski und Scott genau dies vor, wenn sie für die Begrifflichkeit der

Sociomateriality (2008: 454f.) eintreten. Die Aufgabe der Trennungen wird hier vor dem

Hintergrund eigener Überlegungen zu Technik, Organisationen und Arbeit begrifflich

Rechnung getragen.

So muss die Wahl des Haupttitels dieser Arbeit „Die soziale Relevanz von Materialität“

ebenfalls kritisch hinterfragt werden. Die Vorgabe einer sozialen Relevanz operiert mit der

7 Diese Untrennbarkeit der Welt wird beispielsweise von Wise und Wise in ihrer Arbeit Staging an Empire (2007)

über die Pfaueninsel bei Berlin thematisiert, ohne dass die Implikationen explizit erfasst oder benannt würden.

38

Trennung von Sozialität und Materialität, die zwar nicht völlig radikal, aber

anthropozentrisch denkt. Dies nehme ich zur Kenntnis in dem Wissen die Diskussion um

die Historisierung und Perspektivierung jener Trennung dargestellt zu haben. Auf die

Entwicklung einer eigenen begrifflichen Formulierung möchte ich jedoch verzichten.

39

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Things that Talk. Object Lessons from Art and Sciences. New York: Zone Books,

S. 101-145.

Erklärung für schriftliche Prüfungsleistungen

gemäß § 13 Abs. 2 und Abs. 3 der Ordnung der Fachbereiche 02, 05, und 07 der

Johannes Gutenberg-Universität Mainz für die Prüfung im Zwei-Fächer-

Bachelorstudiengang (Kern-Beifach-Ordnung)

Hiermit erkläre ich, Martin Kutter,

Matrikelnr. 2682866,

dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig verfasst und keine anderen als die

angegebenen Quellen oder Hilfsmittel (einschließlich elektronischer Medien und Online-

Quellen) benutzt habe.

Mir ist bewusst, dass ein Täuschungsversuch oder ein Ordnungverstoß vorliegt, wenn sich

diese Erklärung als unwahr erweist. § 20 Absatz 3 Kern-Beifachordnung (s.u.) habe ich zur

Kenntnis genommen.

Mainz, 02.02.2015 _____________________________Unterschrift

Auszug aus § 20 Abs. 3 Kern-Beifachordnung: Versäumnis, Rücktritt, Täuschung, Ordnungsverstoß

(3) Versucht die Kandidatin oder der Kandidat das Ergebnis einer Prüfung durch Täuschung oder Benutzung

nicht zugelassener Hilfsmittel zu beeinflussen, oder erweist sich eine Erklärung gem. § 13 Abs. 2 als unwahr,

gilt die betreffenden Prüfungsleistung als mit „nicht ausreichend“ (5,0) absolviert (…)

Auszug aus § 13 Abs. 2 Kern-Beifachordnung: Schriftliche Prüfungen

(2) Bei der Abgabe der Hausarbeit hat die oder der Studierende eine schriftliche Erklärung vorzulegen, dass

sie oder er die Arbeit selbstständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel

benutzt hat; bei einer Gruppenarbeit sind die eigenständig sowie gegebenenfalls die gemeinsam verfassten

Teile der Arbeit eindeutig zu benennen.

Martin Kutter