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IMAGINÄRE UND PROFUNDE KULTUREN Zur Diskussion um Kultur und Entwicklung

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Page 1: IMAGINÄRE UND PROFUNDE KULTUREN Zur Diskussion um Kultur und Entwicklung

IMAGINÄRE UND PROFUNDE KULTUREN

Zur Diskussion um Kultur und Entwicklung

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„L‘umile Italia“

Pier Paolo Pasolini: „Was dem Faschismus nicht gelungen war, das gelang dem ‚Wirtschaftswunder‘“.

Die Ausrottung des l‘umile Italia, des einfachen Italiens mit seinen einfachen Italiens mit seinen proletarisch-kleinbürgerlichen, proletarisch-kleinbürgerlichen, stark regional verankerten stark regional verankerten Kulturen Kulturen im Gegensatz zum

offiziellen Italien der bürgerlichen Kultur

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Pier Paolo Pasolini

(1922-1975)italienischer Filmregisseur, Drehbuchautor und Schriftstelle

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Pier Paolo Pasolini

spricht auch vom „Verbrechen der Ausrottung der bäuerlichen Kultur und ihrer Träger“ (Alte und neue Kulturpolitik: in: Pasolini, Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft [Hg. Peter Kammerer] Berlin 1998, 40-43)

bezieht sich u.a. auf das „Italien der Italien der BesiegtenBesiegten“, das vom staatstragenden italienischen Bürgertum unterworfen aber nicht assimiliert werden konnte (siehe: Revelli, Nuto: Il mondo dei vinti. Einaudi 1977)

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Antonio Gramsci (1891-1937)

appellierte mit seinem Begriff

„„cultura nazional-cultura nazional-popolare“ popolare“

bereits an das „andere Italien“.

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Cultura NazionalpopolareCultura Nazionalpopolare

– Bewahrung, d.h. Aufwertung und Zusammenfassung der Besonderheiten in einem „blocco storico“, einer politisch handlungsfähigen Sammelbewegung

– Überwindung der Partikularismen, der Regionalismen und der Provinzialismen im Rahmen der Nation und der Nationen. Wenn sich die Völker einig werden und vereinen, muss das etwas anderes sein, als wenn die Völker in großen militärischen, wirtschaftlichen und politischen Blöcken zusammengeschweißt werden.

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Entwicklung 1949

Vier Fünftel der Weltbevölkerung stand zu Beginn der Entwicklungsära per definitionem (Truman 1967, erläuternd Esteva 1993:98-107) vor der nicht wirklich an sie gerichteten Frage, ob sie zur entwickelten Welt aufschließen wollten oder ob sie unter Androhung von Sanktionen dies ablehnen. In welcher Weise sie an dem imposanten Unternehmen, das sich seit 1949 Entwicklungspolitik nannte, teilzunehmen wünschten, stand nicht zur Debatte.

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Entwicklung versus Kultur

Über kulturelle Besonderheiten wurde nicht verhandelt. Wenn von Kultur gesprochen wurde, stellte diese eher einen Fremdkörper dar, möglicherweise eine Bedrohung für das Gelingen von konkreten Entwicklungsprojekten, mindestens aber ein Ärgernis, eine Last.

Kultur benennt in gewisser Weise die Vergangenheit und die Gegenwart, moderne Entwicklung weist aber grundsätzlich in die Zukunft, ist also (noch nicht) da.

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Gustavo Esteva

Esteva, Gustavo (21995): Fiesta – jenseits von Entwicklung, Hilfe und Politik. Brandes & Apsel/ Südwind: Frankfurt am Main/ Wien [1992]

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Entwicklung stinkt

„Für die meisten Menschen in diesem Land stellt sogenannte Entwicklung in ihrer konkreten Form – als staatliche Entwicklungsprojekte – die größte Bedrohung dar. Entwicklungsstrategien setzten immer voraus, dass es Unterentwicklung, das heißt, nicht normkonforme Produktions- und Lebensformen gibt, welche ‚unterentwickelte Menschen’ haben. Das hat man uns lange genug eingetrichtert. Diese Menschen leben für die ‚Entwickelten’ in einer ‚unterentwickelten Welt’. Es handelt sich aber um eine konkrete, eine gelebte Welt.“ (Esteva 21995:158)

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Kultur versus Entwicklung

KULTURVergangenheitGegenwartNach rückwärts

gewendet rückschrittlich

ENTWICKLUNGZukunftNoch-Nicht-Aber-

Schon-Bald In die Zukunft

gerichtet Fortschritt

Page 12: IMAGINÄRE UND PROFUNDE KULTUREN Zur Diskussion um Kultur und Entwicklung

Edmundo O‘Gorman

O’Gorman, Edmundo (1958): La invención de América. SEP – FCE: México D.F.

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Die Erfindung Amerikas

Indem Amerika – versehen mit dem Attribut „neue Welt“ – zum projektiven Raum für die europäische Expansion, die eine wirtschaftliche, eine politische, eine ökologische, eine kulturelle und eine Siedlungsexpansion gleichzeitig gewesen ist, konnte es bis heute nicht aus dem Schatten seiner diskursiven Verortung als das inferiore „Andere“ im Vergleich mit Europa treten. Die „Echofunktion“ Amerikas, die in der Kolonialzeit geprägt wurde, würde laut O’Gorman gegenüber der „alten Welt“ (die zugleich „die eine, vereinte Welt“ darstellt) bis zum heutigen Tag beibehalten.

Page 14: IMAGINÄRE UND PROFUNDE KULTUREN Zur Diskussion um Kultur und Entwicklung

Guillermo Bonfil Batalla

Bonfil Batalla, Guillermo (31990): México profundo. Una civilización negada. Grijalbo: México, D.F. [1987]

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Indianisches versus modernes Mexiko

Bonfil Batalla spricht von zwei Mexikos: Das eine bezeichnet er als México profundo. Das profunde Mexiko gründet in einer Jahrtausende alten Zivilisation, die zwar mit der Invasion Amerikas durch die Europäer untergetaucht, aber nicht verloren gegangen wäre. Das „erfundene“ Mexiko hingegen nennt Bonfil Batalla México imaginario, das imaginierte Mexiko, die ständige Projektionsfläche, das ewige Projekt einer Moderne, die niemals eintritt (Bonfil Batalla 31990:10 /11).

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Imagination

Imagination bedeutet, dass die Realisierung des aktuellen Seins in die Zukunft verlegt und auf eine standardisierbare Vorstellung hin ausgerichtet wird. Dass also die Gegenwart einem „Noch-nicht-aber-schon-Bald“-Zustand geopfert wird. Und, dass es Vorschriften, einen Plan gibt, der zum Heil führt. Die Imagination davon, was sein soll, ist überaus präzise und lässt sich genau beschreiben. Ihr Wesen, ihre Essenz wird klar umrissen. Die aktuelle Vorstellung von diesem zukünftigen Sein wird zum höchsten Wert des Handelns und überschattet die verschiedenen stets präsenten Gesichter des México profundo.

Page 17: IMAGINÄRE UND PROFUNDE KULTUREN Zur Diskussion um Kultur und Entwicklung

Profunde versus Imaginäre Kultur

Profunde KulturEin Kulturbegriff,

der versucht zu sehen, zu verstehen und zu beschreiben, was vor sich geht.

Profunde Kultur orientiert sich am Vorgefundenen.

Imaginäre KulturEin Kulturbegriff,

der besagt, was sein wird.

Imaginäre Kultur orientiert sich am Vorgestellten, dem IMAGO

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Erinnern versus Vorhersehen

Die profunden Kulturen erinnern sich ihres Lebens und sind in eine in die Vergangenheit gerichtete Sehnsucht verstrickt, während die Imaginären von ihrem zukünftigen Leben träumen, sich auf ein Morgen vertrösten.

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Strukturelle und kulturelle Gewalt

Imaginäre Kultur / Entwicklungverhält sich gegenüberProfunder Kultur/ Kulturgewaltsam.

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Kulturelle Gewalt

Johan Galtung verwendet das Begriffspaar Modernisierung und Entwicklung. Modernisierung bezeichnet den Plan, der auf gewaltsamen Strukturen basiert und gleichzeitig strukturell gewaltsam ist. Unter Entwicklung versteht er die Dynamik von Modernisierung, sie verhält sich kulturell gewaltsam

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Gewaltsames Verhältnis

THESE– Profunde Kultur hemmt Entwicklung– „Der magische Realismus ist unfähig, mit der äußerst

entwickelten Logik der angelsächsischen Welt zu konkurrieren. Die lateinamerikanische Seinsweise mag schön sein, sie ist leider nicht exportierbar. Mit magischem Realismus lassen sich weder die Auslandschulden bezahlen, noch ein Ansatz entwickeln, der Produktion und Export ermöglicht.“ (Enrique Gómez 1990)

Page 22: IMAGINÄRE UND PROFUNDE KULTUREN Zur Diskussion um Kultur und Entwicklung

Gadi Algazi

Algazi, Gadi (2000): Kulturkult und die Rekonstruktion von Handlungsrepertoires. In: L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 11 (1) 105-119.

Page 23: IMAGINÄRE UND PROFUNDE KULTUREN Zur Diskussion um Kultur und Entwicklung

Culture is how to do what

Tätigsein – ist nicht auf ein endgültiges Ergebnis, ein

abgeschlossenes Werk gerichtet – beschreibt das umfassende, nie enden

wollende, von Vergänglichkeit begleitete Tun.

Es geht um die Qualität der Aktivitätum das „Wie-Sein“ in dieser Welt.

Page 24: IMAGINÄRE UND PROFUNDE KULTUREN Zur Diskussion um Kultur und Entwicklung

Kultur als eigenmächtiges Tätigsein

Kaller-Dietrich, Martina (2002): Macht über Mägen. Essen machen statt Knappheit verwalten. Haushalten in einem südmexikanischen Dorf. Promedia: Wien

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Kultur bedeutet Tätigsein

Tätigsein schafft keine Tatsachen, an der sich Kultur, Zivilisation, Gesellschaft oder eben die Entwicklung derselben messen ließe.

Page 26: IMAGINÄRE UND PROFUNDE KULTUREN Zur Diskussion um Kultur und Entwicklung

Erich Fromm

Existenzweise des Seins im Vergleich zur Existenzweise des Habens

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Hoffentlich regnet es Kaffee aufs LandHoffentlich geht ein Platzregen von Yuka und Tee herniederFallen Käsestücke vom HimmelUnd ergießt sich Milch und Honig über die Hügel.

Hoffentlich regnet es Kaffee aufs Land Entsteht ein hoher Berg mit Weizen und Quinua übersät Und bedeckt die Landschaft mit körnigem ReisUnd wird der Pflug durch deine Liebe angetrieben.[....]Damit wir im Conuco [Provinz in Kolumbien] nicht so leidenDamit alle unsere Rufe hörenDamit es regnet und regnetDamit alle Landkinder singenDamit sie diesen Gesang auch in Rumänien hören

Ojalá que llueva café en el campo/ Juan Luis Guerra

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„Hiersindwir...

Page 29: IMAGINÄRE UND PROFUNDE KULTUREN Zur Diskussion um Kultur und Entwicklung

...die immerschon Toten ...

Page 30: IMAGINÄRE UND PROFUNDE KULTUREN Zur Diskussion um Kultur und Entwicklung

...ohne Gesichterund ohne Geschichte...

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... um zusterben,auf dasswir leben.“

(Sub Marcos 1994)

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EJERCITO ZAPATISTA DE LIBERACION NACIONAL

Page 33: IMAGINÄRE UND PROFUNDE KULTUREN Zur Diskussion um Kultur und Entwicklung

YA BASTA!

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Konflikte lösen

„Der Konflikt wird nur dort gelöst werden, wo er einzig und allein zu lösen ist: im Herzen.“

(Subcomandante Marcos desde la Selva Lacandona 1998)

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Die Geschichten der Anderen

„Gibt es überhaupt einen Ausweg? ... Der einzige Wegjenseits des Mordens liegt darin, die Erfahrung, dieErinnerungen, die Lebenswelten der anderen Seite indas eigene Leben einzubeziehen, ein gemeinsames Schicksal, gemeinsames Leben zu entwerfen, mit anderen Worten: ... dass begonnen wird, sich gegen-seitig Geschichten zu erzählen, statt die eigene Geschichte zu Mythen umzubauen. ... Utopie? Wahrscheinlich. Aber utopisch ist auch die Gewalt, diedas Verschwinden des Anderen erträumt.“

Natan Sznaider: Schimären der Erinnerung. In: Le Monde Diplomatique (dt. Ausgabe) November 2001:3