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Leseprobe Nummi, Markus Am Anfang ein Garten Roman Aus dem Finnischen von Stefan Moster © Insel Verlag 978-3-458-17597-1 Insel Verlag

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  • Leseprobe

    Nummi, MarkusAm Anfang ein Garten

    Roman Aus dem Finnischen von Stefan Moster

    © Insel Verlag978-3-458-17597-1

    Insel Verlag

  • Markus Nummi

    Am Anfang ein Garten

    Roman

    Aus dem Finnischen von Stefan Moster

    Insel Verlag

  • Titel der Originalausgabe:

    Kiinalainen puutarha

    © Markus Nummi and Otava Publishing Company Ltd. 2004

    First published by Otava Publishing Company Ltd., Helsinki 2004

    Der Verlag dankt FILI – Finnish Literature Exchange

    für die Förderung der Übersetzung

    Die Stellen aus dem Koran werden zitiert nach: Der Koran. Aus dem

    Arabischen übersetzt von Max Henning. Einleitung und Anmerkungen

    von Annemarie Schimmel. © 1960 Philipp Reclam jun. GmbH & Co.,

    Stuttgart. Durchgesehene und verbesserte Ausgabe 1991.

    Erste Auflage 2014

    © der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2014

    Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

    des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch

    Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

    Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

    (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

    ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

    oder unter Verwendung elektronischer Systeme

    verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,Waldbüttelbrunn

    Druck: Pustet, Regensburg

    Abbildung auf Seite 602/603: Museovirasto, Helsinki

    Printed in Germany

    ISBN 978-3-458-17597-1

  • Am Anfang ein Garten

  • Gutshof Kirkniemi, September 1950

    »Nicht bewegen, Herr Marschall!«, kommandierte Juntunen.Der alte Mann musste lachen. Er hatte sich gerade erst

    zwischen zwei Säulen auf der Verandatreppe des Gutshausesniedergelassen. Er hatte seinen Platz mit Bedacht gewähltund zum Schluss den Stock neben sich abgelegt. GlaubteChauffeur Juntunen, er werde Reißaus nehmen? Wo er dochselbst vorgeschlagen hatte, anlässlich des wunderbaren Früh-herbsttages ein Bild zu machen.Wenn er zu schnell aufsprän-ge, würde er die Treppe hinunterpurzeln.

    Eine kurze Regung im Bauch, und schon drang das Lachennach oben, durch alle Wunden hindurch, unaufhaltsam, estat weh, aber ihm war zum Lachen. Mehr Würde, bitte! Erversuchte in die Ferne zu schauen, weg von dieser Situationund von sich selbst, an den Hecken entlang die Stufen hin-ab bis in den Garten jenseits des Wasserbassins, auf die Ro-senbeete, aufs Gewächshaus, auf die Apfelbäume und übersie hinweg zum Ufer, zur Sauna am See. Er versuchte seinganzes Bewusstsein mit der Großartigkeit dieses aus demParlamentsetat bezahlten Geburtstagsgeschenks zu füllen.Er schaute in noch weitere Ferne, über den gemächlich plät-schernden See hinweg auf den Wald am anderen Ufer, aufKiefern und Fichten. Er schaute auf eine Idylle, gefärbt vonder Herbstsonne, er schaute auf eine Landschaft, für die Tau-sende junge Männer gefallen oder verwundet worden wa-ren; Familien waren auseinandergerissen worden, Kinder hat-ten ihre Väter verloren, Mütter ihre Söhne. Das ganze Landvoller blutender Wunden. Er sah es, aber es half nichts. Er kamnicht von der Treppe weg, nicht aus der Situation heraus, inder Juntunen sich sorgte, der tapsige Greis könne vor demAuge der Kamera fliehen.

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  • Und so musste er lachen.Bobi, der vor der Treppe auf der Erde lag, drehte sich zu

    ihm um. Er wunderte sich selten, immerhin war er ein Mi-nenhund, der in vollem Umfang gedient hatte, aber jetzt wirk-te er verblüfft.

    Juntunens Wangen röteten sich.»Verzeihen Sie, Herr Marschall«, sagte er verlegen. »Ich

    habe gemeint …«»Ich weiß schon, was Sie gemeint haben, Juntunen, es ist

    durchaus angemessen, ›nicht bewegen‹ zu sagen«, beruhigteihn Mannerheim und verkniff sich ein Lächeln. »Aber zu vielAngst sollten Sie nicht haben, Juntunen. So ein alter Gaul be-wegt sich nicht mehr einfach so.«

    Juntunen überlegte fieberhaft, ob er sagen sollte: ja, HerrMarschall, oder: nein, Herr Marschall. Er suchte nach Wor-ten, er schluckte. Sein Dienstherr war kein einfacher Ge-sprächspartner. Aber jetzt befreite er Juntunen aus der Klem-me.

    »Also gut«, sagte er schließlich. »Ich verspreche: keine Be-wegung.«

    Juntunen zögerte kurz, dann räusperte er sich: »Ich werdedann also jetzt das Bild machen.«

    Jemand kicherte.Juntunen richtete sich wieder hinter der Kamera auf.»Das war nicht ich!«, erklärte Mannerheim und drehte

    sich abrupt um. Er konnte gerade noch zwei kleine Köpfehinter dem Geländer der Veranda verschwinden sehen.

    Mit einem Handzeichen gab er Juntunen zu verstehen, ersolle ruhig sein und stillhalten, dann rappelte er sich mit Hil-fe seines Stocks auf und spähte hinter das Geländer. Dorterwartete ihn ein nicht alltäglicher Anblick: Zwischen denZweigen der Sträucher schauten zwanzig kleine Köpfe her-vor, Kinder von Bediensteten, vielleicht Kinder aus der nähe-ren Umgebung, außerdem bestimmt auch Nachwuchs vonVertriebenen. Die ganze große Schar war mucksmäuschen-

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  • still. Voller Entsetzen blickten die kleinen Gesichter auf dengroßen Kopf, der über dem Geländer erschienen war.

    »Habe ich euch erwischt … ihr Schlingel«, sagte der gro-ße Kopf und musterte die Kinder streng. Seine steifen fin-nischen Sätze verstärkten den furchterregenden Eindrucknoch. »Zur Strafe …«

    Er legte eine kleine Kunstpause ein, was auf die Zuhörer-schaft großen Eindruck machte. Dies wiederum erfüllte denRedner mit großem, kindlichem Stolz.

    »Die ganze Schar auf die Treppe! Marsch! Und hinsetzen!Verstanden? Ihr müsst mit aufs Bild! Mit so einem alten Kerlwie mir.«

    Die Kinder wechselten kreuz und quer lange Blicke, ihrEntsetzen verwandelte sich allmählich in Erleichterung, abernoch trauten sie sich nicht, zu lachen.

    »Marsch!«, ertönte das Kommando.Sieh an, stellte Mannerheim fest, sie gehorchen. Ungläu-

    big schlichen sie herbei und setzten sich auf die Treppe undden Fußboden der Veranda.

    Juntunen wirkte nervös, es dauerte seine Zeit, bis alle ih-ren Platz eingenommen hatten, aber am längsten dauertees, bis der alte Mann seinen Platz in der Mitte der Schar ge-funden hatte.

    »Nicht bewegen!«, sagte Juntunen erneut, aber deutlichstrenger.

    »Midilimanglar!«, kam es als schelmisches Echo aus demMund des Hausherrn zurück.

    Juntunen hob mit fragendem Gesichtsausdruck den Kopf.Mannerheim legte den Finger auf die Lippen, er werde jetztstill sein. Er nickte noch schnell, bevor er erstarrte: Weiter-machen.

    »Moment … so eine große Gruppe passt nicht drauf«,murmelte Juntunen und schickte sich an, die Kamera weiterweg zu rücken.

    Der alte Mann saß inmitten der Kinder und wartete. Er

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  • hatte es nicht eilig, auf einmal hatte er es nicht mehr eilig.Ihm war, als säße er auf einer Wiese, als umringten ihn vomSommer gebräunte kleine Arme und Beine, als wüchsen siedirekt aus dem Verandaboden empor, als umgäbe ihn ein wo-gendes Blütenmeer aus hellen Schöpfen. Ein alter Mann aufeiner Blumenwiese. Es war warm, fast noch Sommer.

    »Nicht bewegen!«, hörte man nun wieder Juntunen ru-fen.

    Ein leichter Wind, ein Hauch von Herbst.Da geriet in ihm etwas in Bewegung.Ein alter Mann und seine Begleiter. Eine Engelschar.Er versuchte sie anzuhalten, die Bewegung. Es war eine

    Regung in der Tiefe, die an die Oberfläche drängte, ins Ge-sicht.

    Das Gesicht musste gewahrt werden.Wieder versuchte er in die Ferne zu schauen, in den Gar-

    ten. In jenen Garten, der in Terrassen zum Fluss hin abfiel …nein, zum See. Gewächshäuser, Apfelbäume … Pfirsichbäu-me, Pappeln … nein, das war ein anderer Garten, er saheinen anderen Garten. Dunkle, grüne Üppigkeit, dicker, sü-ßer Geruch von Früchten, Terrassen, und unten, weiter weg,der Fluss … Das Flussbett, das helle Lachen einer Frau. Rings-um eine Mauer, Berge. Irrtümer, Berge, Fehler, Mauern,schrecklicher Druck.

    Dann plötzlich Leichtigkeit. Unter den Obstbäumen lau-fen Elfen dahin. Zwei Engel bleiben stehen, schauen denMann an.

    Stasie, Sophy.Und verschwinden.Nicht bewegen.Wo?Man hört Stimmen. Eine Stimme.»Danke!«, sagt Juntunen noch einmal.Die Kinder standen auf. Leise,verwundert über das Schwei-

    gen des alten Mannes in ihrer Mitte. Sie gingen die Treppe

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  • hinunter und um die Ecke, erst dann rannten sie los. Erstdann schwebten sie davon.

    Bobi lag immer noch erstarrt auf der Stelle, an die manihn kommandiert hatte, aber er hatte den Kopf gedreht.Der Nacken wies zur Kamera, denn Bobi starrte auf seinenHerrn.

    Dieser schloss die Augen. Er versuchte zurückzufinden, injenen Garten. Wo hatte er nur gelegen? Beim HerrenhausLouhisaari, dem Haus seiner Kindheit? Waren es die Apfel-bäume seiner Großmutter in Sällvik gewesen oder die An-pflanzungen von Onkel Albert in Fiskars? Oder gar die Besit-zungen, die seine Frau Nata in die Ehe eingebracht hatte?Gärten, Bäume, Menschen, Kriege, alles geriet durcheinan-der. Alle die verlorenen Gärten.

    »Herr Marschall …?«, hörte er Juntunen fragen. »Ist al-les … gut?«

    Mannerheim blinzelte, spürte eine feuchte Spur unter demAugenlid.

    »Herr Marschall?«, fragte Juntunen noch einmal besorgt.»Die Sonne hat mich geblendet«, sagte er und rappelte sich

    auf. »Das sind die empfindlichen Augen eines alten Mannes,Sie werden das auch noch erleben, Juntunen.«

    Juntunen legte die Kamera in die Tasche, ganz langsam; erbeobachtete seinen Vorgesetzten, fragte sich, ob er Hilfe ho-len sollte und wie lange die Fahrt ins Rot-Kreuz-Kranken-haus der Stadt wohl dauern würde. Unter der Beobachtungfiel es dem alten Mann doppelt so schwer, aufzustehen.Das ärgerte ihn, zumal er immer noch versuchte, seinem Ge-dächtnis einen Namen abzuringen, den Namen des Gartens.

    »War das indisch?«, fragte Juntunen plötzlich.»Was?«»Das, was Sie da gesagt haben, Herr Marschall … ›Mini-

    mangel‹ oder so ähnlich«, antwortete Juntunen.»Midilimanglar. Das ist eine östliche Turksprache, Uigu-

    risch.«

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  • »Was bedeutet das?«»Das, was Sie gesagt haben, Juntunen: nicht bewegen!«»Wo spricht man denn so?«, wollte Juntunen wissen, ge-

    nierte sich dann aber dafür. »Ach so, bestimmt in der Ost-türkei …«

    »Nein, sondern …«, fing Mannerheim an.Dann kam die Erinnerung: Es war kein finnischer Garten.»In Ostturkestan. Oder auch Chinesisch Turkestan«, sag-

    te er und suchte innerlich nach dem Garten. »Man kann esauch Xinjiang nennen.«

    »Viele Namen«, sagte Juntunen, als die Stille anhielt.»Xinjiang ist ein frischer … ein neuer Name, erst zweihun-

    dert Jahre alt, er bedeutet so viel wie ›neues Grenzland‹…«Die Antwort kam langsam,Wort für Wort, während die Ge-danken durch Obstgärten und Laubengänge sprangen. »Ob-wohl China schon vor zweitausend Jahren versucht hat, dieRegion zu kontrollieren … gehört sie trotzdem nicht zum ei-gentlichen China … aber sie ist das Tor nach China … einLand der Karawanen … Die Seidenstraße …«

    »Eine seidene Straße«, bemühte sich Chauffeur Juntunenanzuknüpfen,weil er ahnte, dass das Thema noch nicht been-det war, und traute sich, eine spitzbübische Miene aufzuset-zen. »Auf so einer würde ich auch gern mal fahren.«

    »Das ist eine ziemlich unebene Straße«, knurrte der alteMann. Er ließ sich auf den Scherz nicht ein, denn er versuch-te jetzt, ein Bild zusammenzusetzen. Bäume, eine Gruppevon Missionaren, er war ganz dicht dran … Aber es verflüch-tigte sich. Enttäuscht seufzte er auf: »Die ganze Gegend istuneben.«

    Juntunen kniff die Augen zusammen, als versuchte er, dasBild, das er vor Augen hatte, deutlicher zu sehen. Manner-heim war im Begriff, sich zu entfernen, aber er warf nocheinen Blick auf Juntunen und blieb stehen.

    »Ich werde Ihnen eine Hilfe geben, Juntunen!«Es lag nun wieder Eifer in seiner Stimme.

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  • »Eine Gedächtnishilfe!« Seine Hände fingen an, eine Kar-te in die Luft zu zeichnen. »Die Mongolei rechts oben … Af-ghanistan links unten … dazwischen Chinesisch Turkestan.Mitten auf dem Eurasischen Kontinent, so weit vom Meerentfernt, wie es nur möglich ist, inmitten der schrecklichenTaklamakan-Wüste, ringsum Berge, Berge, Berge, im Nor-den Tian Shan, die Himmlischen Berge, ›die Höllischen‹ wä-re der bessere Name, im Westen das Alai-Gebirge und beson-ders Pamir, im Süden die Gebirgskette Kun Lun, das GebirgeKarakorum und der Hindukusch … Dazwischen liegt es.«

    Juntunen nickte unsicher.»So wie Europa zwischen … dem Eismeer oben, dem Mit-

    telmeer unten.«Juntunen versuchte etwas Zustimmendes zu sagen, aber

    die Wörter wollten ihm nicht aus dem Mund kommen.»Jetzt ist der arme Juntunen so durcheinander, dass wir

    eine Karte brauchen.«Juntunen erbot sich, eine zu holen, erhielt zur Antwort

    jedoch ein entschiedenes Kopfschütteln. Mannerheim gingzwei Stufen nach unten, drückte den Stock auf die Erde undfing an zu zeichnen.

    »Denken Sie an ein Hufeisen, Juntunen!«Eine Pferdespur erschien im Sand.»In der Mitte des Hufeisens die Taklamakan. Am Rand

    Oasenstädte, hier und da.« Der Stock folgte der Linie, dieer gezeichnet hatte, und sauste dann immer schneller durchdie Luft. »Das Hufeisen ist nach Osten hin offen, wo dieWüsten Lop Nor und Gobi liegen – und China. Ringsumüberall Berge, dahinter Indien, die Sowjetunion, die restlicheWelt. In der Mitte … ein Spielfeld. The Great Game, ist dasbekannt? Großbritannien und Russland gucken hinter denBergen hervor … messen sich, ein Jahrhundert Wettstreit …wer ist wer …«

    Der Stock schlug gegen das Verandageländer und fiel zuBoden.

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  • Juntunen bückte sich, um ihn aufzuheben.»Da kommt man nicht so leicht hin«, sagte er und gab den

    Stock zurück. Allmählich kam er mit.»Nein, leicht ist man da nicht hingekommen.«»Der Herr Marschall ist dort gewesen?«, fragte Juntunen,

    obwohl er die Antwort bereits kannte.»Vor einem halben Jahrhundert.«»Das war, als Sie hoch zu Ross Asien durchquerten!«, er-

    eiferte sich Juntunen. »Wie viel Wegstrecke ist dabei denn zu-sammengekommen?«

    »Vierzehntausend Kilometer. Zwei Jahre hat es gedauert.«»Da lernt man seinen Sattel kennen.«»Das kann man wohl sagen.«»Was haben Sie da noch erforscht?«, fragte Juntunen, als

    er merkte, dass der alte Mann über etwas nachdachte.»Was heißt erforscht. Was ein Amateur nun eben so er-

    forscht. Da gab es unter dem Sand allerdings Etliches, ganzeStädte, buddhistische Schätze. Und auf dem Sand allerleiVölker. Es hat sich einiges angesammelt, Gegenstände undHandschriften. Und Fotografien.« Mannerheim richtete denRücken gerade. »Aber auch damals war ich im militärischenAuftrag unterwegs.«

    »Im militärischen?«»Ich sollte Straßen und Wege für die russische Armee su-

    chen, für alle Fälle … falls …«, erzählte Mannerheim, undwieder nahm der Garten vor seinen Augen Gestalt an, dieMauer, die Muster, die Blumen, »… falls es einmal einen An-griff geben sollte … auf China.«

    Juntunen setzte wieder eine scherzhafte Miene auf: »Eswar also eine von den ganz heimlichen Missionen der russi-schen Armee.«

    Das Bild zerfiel, die Gedanken gerieten durcheinander.Zornig schlug der Stock mitten in der Taklamaka-Wüste auf:»Ein Erkundungsauftrag, der vom Generalstab der russischenArmee an Oberst Mannerheim erteilt wurde.«

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  • »Ja, richtig, genau«, sagte Juntunen und korrigierte so-gleich das Lächeln auf seinem Gesicht. Er wusste nicht,was er als Nächstes sagen sollte, dann kam ihm ein Themain den Sinn, das er für ungefährlich hielt.

    »Das Fotografieren war sicherlich eine ganz schöne Pro-zedur bei den damaligen Apparaten.«

    »Nicht viel mehr als heutzutage«, sagte Mannerheim kühl.Es ärgerte ihn noch immer, dass sich der Garten verflüchtigthatte. »Mehr als tausend Fotografien sind entstanden.«

    »Oho. Das war ja eine ziemliche Knipserei.«Als Antwort kam ein Brummen, aber es klang nun wie-

    der zustimmend.»Und damals hat der Herr Marschall das mit der Mini-

    mangel gelernt?«, traute sich Juntunen zu fragen.»Midilamanglar«, berichtigte ihn Mannerheim.Und da fiel es ihm ein. Er erinnerte sich an den Garten.»Kashgar!«, rief er aus. »Es war in Kashgar.«Der Stock kratzte am Rand der Zeichnung im Sand.»Dort, dort liegt Kashgar. Am Ansatz des Hufeisens, beim

    letzten Nagel an der westlichen Ausbuchtung, dort …« DieStockspitze hielt über dem Zeichen für Kashgar in der Luftinne, Mannerheim schloss die Augen, sein Blick suchte ir-gendwo im Inneren nach einem Ort. »Die Stadt, in der es kei-nen Unterschied zwischen Gut und Böse gab …«

    »Keinen Unterschied zwischen Gut und Böse?«, wundertesich Juntunen.

    »Das war eine Geschichte … der Erzähler saß auf demPlatz vor der Hauptmoschee der Stadt Kashgar«, sagte Man-nerheim, noch immer mit zusammengekniffenen Augen.»Zuvor war ich in einem Garten gewesen, der …«

    Offenkundig dachte der Marschall angestrengt nach, Jun-tunen wollte ihm nicht ins Wort fallen.

    »Ich muss neu nachdenken …«, murmelte Mannerheim.Der Stock löste sich vom Boden und schwenkte in RichtungTreppe. »Von Sankt Petersburg aus fuhr ich … mit der Eisen-

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  • bahn, dann mit dem Schiff auf der Wolga, Kaspisches Meer,wieder mit der Eisenbahn,Taschkent, Samarkand, Andischan.Von dort mit dem Karren nach Osch, dann zu Pferd durchKirgisien, über die Berge hierher, nach Kashgar.«

    Der Stock kehrte zum Ausgangspunkt zurück. »In Kash-gar begann die Reise. Dort lag der Garten.«

    »Welcher Garten?«, wunderte sich Juntunen.»Na, der …« Die Augen schlossen sich, Mannerheim

    strengte sich an.Juntunens Stimme brach das lange Schweigen: »Der Chi-

    nese da unten, der ist ein bisschen wie der Russe hier beiuns.«

    Da kam es: »Chini bagh!«»Wie bitte?«»Der Chinesische Garten, in dem …«, sagte Mannerheim,

    drehte sich um und stieg die Treppe zum Eingang hinauf.Das musste er sofort überprüfen, bevor er es wieder ausdem Gedächtnis verlor.

    »Der chinesische Garten, also?«, rief ihm Juntunen hin-terher.

    »Da gab es diese …«, gab der Marschall zurück und ver-schwand im Haus.

    Juntunen war nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Hat-te der Alte gerade ›Engel‹ gesagt?

    Eine Zeitlang blätterte er in den Papierstapeln, bis er schließ-lich fand, was er suchte. Einen braunen Umschlag. »Asien.Notizbuch / lose Blätter. 1 Fotografie (überzählige Kopie).«Und die Anmerkung: »WEG?«

    Der Umschlag war ihm im Frühling vor anderthalb Jahrenin der Schweiz in die Hände gefallen, in der Klinik von Val-Mont. Darum erinnerte er sich noch daran. Er hatte ihn1937 zur Seite gelegt, nach den Feiern zu seinem siebzigstenGeburtstag, als die Veröffentlichung seiner Reisetagebüchervorbereitet wurde. Inzwischen lag bereits der achtzigste Ge-

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  • burtstag hinter ihm, und er hatte in Val-Mont etwas in An-griff genommen, was er so oft zuvor verurteilt hatte: SeineMemoiren. Er ließ sie von seinen Mitarbeitern schreiben.

    Er hatte Emerik Olson, der den Teil mit dem Ritt durchAsien schrieb, den Umschlag zeigen, ihn nach seiner ehr-lichen Meinung zu diesem Trugbild fragen wollen. Aberdann war es zu einem kleinen Streit gekommen. Olson hattesich nach Falun verzogen, um dort mit seiner Frau Lauch an-zupflanzen. Das Kapitel über den Ritt durch Asien schrieber trotzdem zu Ende.

    Der Umschlag war bei dem Mann geblieben, der sich erin-nerte, samt unsortiertem Inhalt:

    Ein Foto. Die überzählige Kopie eines Bildes,das eine Grup-pe von Menschen in einem Garten zeigte.

    Chini bagh. Der chinesische Garten.Unter dem Foto mehrere beschriebene Blätter.Zuoberst eine Notiz, die unmittelbar nach dem Entwi-

    ckeln des Fotos gemacht worden war: technische Angabenund eine kurze Beschreibung. Vielleicht als Beiblatt zu demNotizbuch mit den Eintragungen über die Fotografien ge-dacht.

    Dann einige gemischte autobiografische Niederschriften,die mit Herbst 1906 (zur Zeit der Erkrankung) und Winter1907 (eine Art Vergleich zweier Fotos) datierte. Als NächstesNotizen für einen Vortrag bei der Finnisch-Ugrischen Gesell-schaft im Jahr 1909 (ein Vortrag, der nie gehalten wurde)und ein Briefkonzept aus dem Jahr 1920, die Antwort aufdie Anfrage eines verschrobenen Professors. Dann noch einÜbungsblatt zur finnischen Grammatik, 1933.

    Und ganz zum Schluss: Aufzeichnungen zu einem Ge-spräch mit Professor Hildén im Jahr 1937. Also nach der In-dienreise. Als Anlage die Schilderung eines seltsamen Vor-falls zu Beginn der Reise (ein Mann und seine Tochter aufeinem indischen Bahnhof).

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  • Er betrachtet das Bild, er liest die Texte.Versucht in die Ferne zu schauen, bis zu dem Trugbild. Bis

    in den Herbst vor einem halben Leben. Nach dem Schiff-bruch.

    Versucht hinter das Bild zu sehen, hinter die Wörter, aberdie Jahre, die Berge versperren die Sicht.

    Er versucht, die Engel zu sehen.Er schaut in den Garten. In den finnischen Garten.Vor ein

    paar Sommern waren die Mädchen hier. Stasie und Sophy,alle beide. Es war ein herrlich warmer Sommer.

    Sie gingen durch seinen Garten und er beobachtete sieheimlich. Zwei ältere Damen inmitten von Blumen, inmittenseines Lebens, ohne Richtung. Sie gehen getrennt vonein-ander, jede im eigenen Takt, recht einsame Wege gehen sie,ohne einander zu begegnen.

    Man kann nicht sagen, dass sie schweben wie Engel.Aber damals.Als kleine Mädchen. Der Mann zwar nicht jung, doch

    auch nicht alt, sondern noch voller Kraft.Eine kleine Hand ergreift die große Hand. Drückt vertrau-

    ensvoll zu. Lässt dann wieder los, ebenso vertrauensvoll.Weil man fliegen muss.Weil man immer zurückkehren kann.Weil man die große Hand jederzeit ergreifen kann.

    Ein Trugbild.Irgendwo in der Ferne ein silbernes Aufblitzen. Das helle

    Lachen einer Frau.Nicht bewegen, hatte er gesagt. Aber gerade da war etwas

    in Bewegung geraten.

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  • Die Berge (1933)