„kein anfang ohne gedächtnis. kein gedächtnis ohne erzählen.“

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Universiteit Gent Academiejaar 2009-2010 „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“ Eine Untersuchung des Problems der zuverlässigen Erinnerung in Timms Erinnerungsbüchern Am Beispiel meines Bruders und Der Freund und der Fremde. Promotor: Dr. Elke Gilson Verhandeling voorgelegd aan de Faculteit Letteren en Wijsbegeerte voor het behalen van de graad van Master in de Taal- en Letterkunde: Duits-Scandinavistiek door Marijke Aspeslagh

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Page 1: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

Universiteit Gent

Academiejaar 2009-2010

„Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein

Gedächtnis ohne Erzählen.“ Eine Untersuchung des Problems der zuverlässigen Erinnerung in

Timms Erinnerungsbüchern Am Beispiel meines Bruders und Der

Freund und der Fremde.

Promotor: Dr. Elke Gilson Verhandeling voorgelegd aan de Faculteit Letteren en Wijsbegeerte

voor het behalen van de graad van

Master in de Taal- en Letterkunde:

Duits-Scandinavistiek

door

Marijke Aspeslagh

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Page 3: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

Dankeswort

Ich möchte mich an erster Stelle bei meiner Promotorin Dr. Elke Gilson bedanken. Sie hat

mich immer mit großer Geduld und Flexibilität betreut und mich ihre umfassenden

Kenntnisse in der Gedächtnisliteratur genießen lassen. Ihre kritischen Bemerkungen und

interessanten Vorschläge haben mich angeregt, die Arbeit besser und deutlicher zu machen.

Ich danke auch meinen Eltern; meiner Mutter für ihr Zutrauen, dass ich meine Arbeit zeitig

fertigschreiben würde, und meinem Vater für seine Besorgnis, dass ich sie nicht zeitig

fertigschreiben würde, denn auf diese Weise hat er mich zu mehr gezielter und effizienter

Arbeit motiviert. Ich bedanke mich auch bei meiner Schwester, für ihre manchmal zu langen,

aber immer inspirierenden Besuche bei meinem Studierzimmer; bei meinen Freunden, um mir

die notwendige Erholung und immer wieder neue Energie zu besorgen, und insbesondere bei

Mathieu Berteloot, für seine willkommene Hilfe bei dem Lay-out machen dieser Arbeit.

Schließlich möchte ich Uwe Timm danken, denn er hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, einen

kritischen Blick gegenüber den eigenen und fremden Erinnerungen zu wahren und sich nie

mit Selbstverständlichkeiten zu begnügen.

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Inhalt

1. EINLEITUNG 1

2. DIE GATTUNGSFRAGE 4

2.1 Am Beispiel meines Bruders 4 2.1.1 Eine Autobiographie? 4 2.1.2 Die Techniken zur Problematisierung der Gattungsfrage 7

2.2 Der Freund und der Fremde 9 2.2.1 ‚Eine Erzählung’ 9 2.2.2 Das Problem der Literarisierung 13

3. DAS SCHREIBEN: EINE SUCHE 17

3.1 Der Entstehungsprozess von Am Beispiel meines Bruders und Der Freund und der Fremde 17 3.1.1 Der Schreibanlass 18 3.1.2 Versuche zum Schreiben 20 3.1.3 Was macht das Schreiben schließlich möglich? 22

3.2 Individuelles und kollektives Gedächtnis 25 3.2.1 Gedächtnistheoretischer Hintergrund: die vier Gedächtnisformationen nach Aleida Assmann 25 3.2.2 Die Erinnerung in Am Beispiel meines Bruders 29

3.2.2.1 Die Gefahr des glättenden Erzählens 30 3.2.2.2 Arten von Erinnerung 32

a) Das Familiengedächtnis 32 Die individuelle Erinnerung 32 Der Bruder aus der Sicht der Eltern 36 Die festgeschriebene Erinnerung 38 Bilder 40

b) Das kollektive Gedächtnis 42 3.2.3 Die Erinnerung in Der Freund und der Fremde 45

3.2.3.1 Erzählen und das Heil des Vergessens 45 3.2.3.2 Arten von Erinnerung 47

a) Das Generationen – und kollektive Gedächtnis 47 b) Das individuelle Gedächtnis 50

Die eigene Erinnerung 50 Ergänzungen von Fremden 52

c) ‚Festgeschriebenes’ 54 d) Die zuverlässige Erinnerung? 57

4. DIE BEDEUTUNG DER ERINNERUNGSARBEIT 59

4.1 Von kommunikativem zu kulturellem Gedächtnis 59 4.1.1 Bücher als Beitrag zum kulturellen Gedächtnis 59 4.1.2 Die Abwehr der festgeschriebenen Kategorien 61 4.1.3 Exemplifizierung und Individualisierung 66

4.2 Das Schreiben als Selbstsuche 69

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5. SCHLUSS 72

PRIMÄRLITERATUR 75

SEKUNDÄRLITERATUR 75

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1. Einleitung „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen“

1 stellt Uwe Timm 2009 in

seinen poetologischen Vorlesungen im Adorno-Hörsaal der Frankfurter Goethe-Universität

fest. Timm deutet hier einerseits auf die unlösbare Verbindung zwischen Erzählen und

Erinnern hin: Ohne Erzählungen, mündliche oder schriftliche, können Erinnerungen nicht

beibehalten werden. Andererseits sind Erinnerungen eine Voraussetzung dafür, überhaupt mit

dem Erzählen anfangen zu können.

Aus dem oben Zitierten kann gefolgert werden, dass Uwe Timm das Erzählen, das

Schreiben, zugleich immer auch als eine Art von Erinnerungsarbeit betrachtet, sei es das sich

Erinnern an das eigene Leben oder an das von anderen. In seinen Büchern versucht Timm,

das Leben bestimmter Personen zu rekonstruieren. Viele dieser Personen, z. B. „den Onkel,

der in der Johannisnacht als Kartoffelkenner auftritt, den Cousin, der das Vorbild für den

Hochstapler im Kopfjäger abgab, die Tante Brücker aus der Currywurst“2 hat es wirklich

gegeben. Trotz der autobiographischen Züge seiner Figuren, treten sie immer in fiktiven

Geschichten auf. Anders ist es in seinen zwei kürzlich erschienen Erinnerungsbüchern Am

Beispiel meines Bruders3 und Der Freund und der Fremde,

4 die als autobiographische

Geschichten eingestuft werden.5

Ziel meiner Untersuchung ist es, herauszufinden, in welcher Art und Weise Uwe Timm

in diesen zwei Büchern versucht, das Leben von zwei ihm sehr nahen, aber zugleich sehr

entfernten Personen zu rekonstruieren. In Am Beispiel meines Bruders hat Timm die Absicht,

den Lebenslauf des Bruders, der sich 1943 freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hat und einige

Monate später an schweren Verletzungen gestorben ist, zu rekonstruieren. Auch wenn die

Eltern über die Grausamkeiten, wofür die SS verantwortlich ist, informiert sind, ist der Bruder

nach wie vor in ihrer Erinnerung als Helden erhaben. Der Bruder wird Timm, der beim Tod

des Bruders nur drei Jahre alt war, als Vorbild aufgedrängt. Timm will herausfinden,

1 Uwe Timm: Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009, S. 64.

2 Timm zit. n. Ulrich Greiner: „Warum Uwe Timm ‚Schwaan‟ mit zwei a schrieb“. In: Die Zeit, 30.03.2010.

3 Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2007 (2003).

4 Uwe Timm: Der Freund und der Fremde. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2007 (2005).

5 Vgl. u.a. Rüdiger Bernhardt: Am Beispiel meines Bruders: Erläuterungen zu Uwe Timm. Hollfeld: Bange

Verlag 2008, S. 23, Clemens Kammler: Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, Oldenbourg Interpretation

Band 107. München: Oldenbourg 2006, S. 21, Friedhelm Marx: “Erinnerung, sprich. Autobiographie und

Erinnerung in Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders”. In: Erinnern, Vergessen, Erzählen: Beiträge zum Werk

Uwe Timms. Hg. von Friedhelm Marx. Göttingen: Wallstein 2007, S. 27-35, hier S. 27, Steffen Martus: „Also

man lacht sich wirklich tot. Teilnehmer- und Beobachtungsperspektiven auf Uwe Timms 68er-Romane Heißer

Sommer und Der Freund und der Fremde“. In: Keiner kommt davon: Zeitgeschichte in der Literatur nach 1945.

Hg. von Erhard Schütz und Wolfgang Hardtwig. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 192-215, hier S.

197.

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inwieweit dieses idealistische Bild des Bruders, das ihm von den Eltern aufgedrängt worden

ist, zuverlässig ist. In Der Freund und der Fremde wird das Leben Benno Ohnesorgs

beschrieben, bevor dieser 1967 durch Erschießung auf der Anti-Schah-Demonstration getötet

wurde und auf diese Weise die Ikone der Studentenrevolution wurde. Uwe Timm hat von

1961 bis 1963 zusammen mit Ohnesorg am Braunschweig-Kolleg das Abitur nachgeholt und

hat mit ihm während dieser zwei Jahre eine innige Freundschaft aufgebaut. Anders als im

Bruderbuch, verfügt er somit über eigene Erinnerungen für die Rekonstruktion von Ohnesorgs

Leben. Auch in diesem Fall aber, ist ihm – diesmal von der Öffentlichkeit – ein anderes Bild

des Freundes aufgedrängt worden, dessen Zuverlässigkeit fragwürdig ist und Timm hat es

sich zum Auftrag gemacht, kritisch an dieses Bild heranzugehen.

An erster Stelle ist es interessant, nachzugehen, in welche Gattung die zwei Texte

eingestuft werden können. Aus welchen Gründen gelangen Kritiker zu der Schlussfolgerung,

dass es sich hier um autobiographische Texte handelt? Hat Uwe Timm mit diesen Büchern

wirklich Autobiographien schreiben wollen? Wenn er das gewollt hat, muss man eingestehen,

dass die Texte sich nicht als klassische Autobiographien deuten lassen. Ist das vielleicht eine

bewusste Erzählstrategie des Schriftstellers? Es hat den Anschein, dass in Am Beispiel meines

Bruders unterschiedliche Techniken zur Problematisierung der Gattungsfrage verwendet

werden, und auch in Der Freund und der Fremde wird Verwirrung über die Gattung gestiftet,

schon indem der Text ausdrücklich als ‚eine Erzählung‟ bezeichnet wird. Warum Timm mit

bestimmten Techniken die Gattungsfrage problematisieren will, wird deutlich, wenn

untersucht wird, wie Timm bei der Rekonstruktion der Lebensläufe des Bruders und des

Freundes verfährt.

In einem zweiten Schritt, worauf das Hauptgewicht der Untersuchung liegt, wird

nachgegangen, wie Timm genau verfährt, um kritisch an das ihm vermittelten Bild des

Bruders und Benno Ohnesorgs heranzugehen. Erstens wird erforscht, wie das

Entstehungsprozess der Bücher aussieht: Was hat Timm zum Schreiben dieser Texte

getrieben? Warum sind sie erst Jahre nach den Geschehnissen geschrieben worden, und was

hat ermöglicht, dass Timm die Texte schließlich doch schreiben könnte? Zweitens wird

mithilfe Aleida Assmanns Gedächtnistheorien in Der lange Schatten der Vergangenheit6

untersucht, inwieweit die in Assmanns Studie dominante Zweiteilung zwischen dem

individuellen und dem kollektiven Gedächtnis auf Timms Erinnerungsbüchern angewendet

werden kann. Wie sich in Assmanns Gedächtnisstudie herausstellt, ist es besser, das

6 Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München:

Beck 2006.

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inviduelle Gedächtnis nicht zu streng des kollektiven Gedächtnisses zu unterscheiden, denn

die individuelle Erinnerung ist immer schon kommunikativ (und somit sozial). Statt die

Zweiteilung zwischen dem individuellen und kollektiven Gedächtnis, schlägt sie eine mehr

nuancierte Einteilung in verschiedenen Gedächtnisformationen vor. Es wird untersucht

werden, welche Arten von Erinnerung Timm bei der Rekonstruktion von einem mehr

zuverlässigen Bild des Bruders und des Freundes in Anspruch nimmt, ob diese Erinnerungen

ihm direkt oder indirekt vermittelt worden sind, und inwieweit sie ihm bei der Suche nach

dem Bruder und dem Freund helfen können.

Ein dritter Schritt dieser Arbeit besteht darin, zu erforschen, was die Bedeutung der

Erinnerungsarbeit, die Timm in seinen Büchern durchführt, sein könnte. Es ist schon deutlich,

dass er kritisch an die ihm vermittelten Erinnerungen herangehen will, aber er scheint mit

seinen Texten auch noch etwas Anderes zu beabsichtigen: Die Transformation des

kommunikativen, fließenden Gedächtnisses in ein festes, kulturelles Gedächtnis. Indem die

Lebensgeschichten des Bruders und des Freundes aufgeschrieben werden, wird das Bild, das

in den beiden Erinnerungsbüchern ihnen geschildert wird, auch festgeschrieben. Es ist

interessant, einmal nachzugehen, wie der Bruder und der Freund – obwohl Timm die Absicht

zu haben scheint, den Bruder zum Exempel und den Freund von Ikone zu Individuum zu

machen – nicht zu bestimmten Kategorien festgeschrieben werden. Weiter scheint die

Erinnerungsarbeit nützlich, indem sie neben einer Suche nach dem Bruder und Ohnesorg auch

eine Selbstsuche für Timm ist. Wie das möglich ist und welche Ergebnisse diese Suche hat,

wird in einem letzten Punkt dieser Arbeit nachgeforscht.

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4

2. Die Gattungsfrage Wichtig für die gesamte Untersuchung ist es, die Texte Am Beispiel meines Bruders und Der

Freund und der Fremde zuerst einer bestimmten Gattung zuzuordnen. Obwohl diese zwei

Bücher – zusammen mit dem 1989 erschienenen Vogel friss die Feige nicht, später Römische

Aufzeichnungen – u.a. in den in der Einleitung erwähnten Werken als Timms

autobiographische Werke betrachtet werden, ist es nicht so selbstverständlich, diese Texte

einfach als Autobiographie zu bezeichnen. Ich möchte herausfinden, inwieweit die Bücher als

autobiographisch betrachtet werden können, und ob eine gezielte Erzählstrategie dafür

verantwortlich ist, dass eine gattungstechnische Einordnung dieser Texte problematisch wird.

2.1 Am Beispiel meines Bruders

2.1.1 Eine Autobiographie?

Rüdiger Bernhardts Beschreibung von Am Beispiel meines Bruders in Königs Erläuterungen

deutet auf den vielseitigen Charakter des Textes hin: „Er ist Erzählung und Essay, Sachbuch –

auf seiner Bestsellerliste setzte ‚Der Spiegel‟ das Buch auf die Sachbuchliste – und

Autobiographie, Familiengeschichte und Geschichtsabriss, Kriegsbericht und

Dokumentation“.7 Man kann dem Text tatsächlich all diese Eigenschaften zuschreiben und

das aufgrund der besonderen Erzählweise, die benutzt wird. Die Familiengeschichte wird

dargestellt anhand vieler unterschiedlicher Textsorten, die durcheinander montiert sind. Diese

Erzählweise kann man als Montagetechnik bezeichnen. Das Buch vermittelt die Erfahrungen

und Träume der Ich-Figur, Erinnerungen und Briefe der Eltern und Schwester, enthält

Tagebucheinträge und Feldpostbriefe des Bruders, Berichte über den Kriegsverlauf von

Befehlshabern wie Himmler und Zitate von Primo Levi, Christopher Browning, Søren

Kierkegaard u.a. Es hat den Anschein, dass Bernhardt Am Beispiel meines Bruders mit Recht

diesen unterschiedlichen Genres zuordnet.

Vor allem interessiert mich, inwieweit der Text mit den Kriterien einer Autobiographie

übereinstimmt und das im Hinblick auf die Erinnerungsproblematik, die ich im folgenden

Schritt der Arbeit behandeln werde.8 Philippe Lejeune hat eine Autobiographie definiert als

einen „rückblickenden Bericht in Prosa, den eine wirkliche Person über ihr eigenes Dasein

erstellt, wenn sie das Hauptgewicht auf ihr individuelles Leben, besonders auf die Geschichte

7 Bernhardt: Am Beispiel meines Bruders: Erläuterungen zu Uwe Timm, S. 5.

8 Vgl. dazu insbesondere 3.2.2.1 und 3.2.3.1

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5

ihrer Persönlichkeit legt“.9 Da es in Timms Buch so viele unterschiedliche Textsorten gibt,

erfahren wir als Leser die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven. Es würde daher zu

kurz greifen, zu behaupten, dass nur eine Person diese Geschichte erzählt. Auch kann nicht

behauptet werden, dass der Hauptakzent auf das Leben der Ich-Figur liegt. Wie der Titel

schon zeigt, ist es eher der Bruder, von dem die Geschichte handelt. Seine Tagebucheinträge,

Briefe und Fotos dominieren die Geschichte, nicht die der Ich-Figur. Weiter wird auch den

anderen Familienmitgliedern eine große Anzahl von Abschnitten gewidmet. Es ist also

schwer zu behaupten, dass das individuelle Leben der Ich-Person betont wird.

Außerdem ist die Frage, ob die Ich-Figur sich auf eine „wirkliche“ Person bezieht, ob

sie mit Uwe Timm, dem Schriftsteller, identisch ist. Lejeune deutet darauf hin, dass es für

eine Autobiographie „der nachweisbaren Identität zwischen Autor, Erzähler und Figur“10

bedarf. Im Text ist nachzulesen, dass die Ich-Figur, wenn sie beim Reisen an Grenzen

kommt, und ihren Namen in die Kästchen auf die Einreiseformulare einträgt, „Uwe Hans

Heinz“11

verwendet, also denselben Namen wie den des Autors. Auf diese Weise stellt der

Autor eine Verbindung zwischen sich selbst, dem Autor Uwe Timm, dessen Name der

Leser auf dem Titelblatt wiederfinden kann, und der Ich-Figur dar. Auch in den

Feldpostbriefen des Bruders zeigt sich diese Verbindung. Manchmal erwähnt der Bruder

Uwe nur beiläufig: „[...] schreibe der Mutti, sie soll keine Päckchen mehr schicken [...] Soll

lieber unser süßer kleiner Uwe das Zeug essen“.12

Einmal gibt es sogar einen ganzen Brief,

der an die Ich-Figur, „Lieber Uwe!“,13

gerichtet ist. Die Identität zwischen Autor, Erzähler

und Figur ist also tatsächlich nachweisbar und das an sich ist schon die Voraussetzung

dafür, dass ein Text als autobiographisch bezeichnet werden kann. Wenn der Name der

Figur mit dem des Autors identisch ist, gibt es laut Lejeune zwei Möglichkeiten: Entweder

gibt es keinen Pakt, was bedeutet, dass der Titel und das Vorwort nichts über den

autobiographischen Bezug voraussagen, oder es gibt einen biographischen Pakt,14

was

darauf hindeutet, dass der Autor „in einem Einleitungspakt ausdrücklich seine Identität mit

dem Erzähler [...]“15

erklärt hat. Unter Einleitungspakt sei der Titel, das Vorwort und der

Klappentext zu verstehen. Das Autobiographische ist schon dadurch bestätigt, dass es die

9 Philippe Lejeune: „Der autobiographische Pakt“. In: Die Autobiographie: zu Form und Geschichte einer

literarischen Gattung. Hg. von Günter Niggl. Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S. 214-257,

hier S. 215. 10

Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 217. 11

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 19. 12

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 24. 13

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 55. 14

Vgl. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 236-237. 15

Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 235.

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6

Namensidentität gibt, aber auch der autobiographische Pakt liegt vor: Im Vorwort wird der

familiale Bezug zwischen dem Autor und der Bruder-Figur im Buch dargestellt, indem der

Name des Bruders, Karl-Heinz Timm, auftaucht. Wenn das für den Leser nicht reicht, sich

zu einer autobiographischen Lektüre zu entscheiden, gibt es noch den deutlichen Hinweis

auf die Gattung, die der Autor im Titel Am Beispiel meines Bruders anhand des

Possessivpronomens gibt: Die Verbindung zum eigenen Leben wird deutlich hergestellt. Es

gibt also ausreichend textuelle Hinweise, die die Identität des Autors mit der Figur

bestätigen, und durch die der Leser auf einem autobiographischem Pakt schließen kann.

Auch verschiedene außertextuelle Argumente tragen zu einer autobiographischen

Lektüre des Textes bei. Wenn man z. B. die Biographie des Autors in Königs

Erläuterungen16

und die der Ich-Person miteinander vergleicht, gibt es nur

Übereinstimmungen. Auch Äußerungen zu dieser Frage von Uwe Timm selber in

Interviews und Vorlesungen passen zum autobiographischen Pakt. So hat er auf die Frage,

warum er keinen Roman über seine Familie geschrieben hat, in einem Interview

geantwortet: „Das hätte ich nicht gekonnt, das war mir sehr früh klar. Ich konnte mir

einfach nicht vorstellen, meine Eltern zu fiktionalisieren. Ich wollte strikt trennen zwischen

Fiktionen und dem, was wirklich war“.17

Da Timm so sehr betont, dass er nicht

fiktionalisieren will, wäre es nicht konsequent, wenn er sich selbst in dieser Ich-Figur

fiktionalisiert hätte. In seinen letzten poetologischen Vorlesungen gesteht er auch ein, dass

drei seiner Bücher „diesen autobiographischen Zugriff“18

haben. Gemeint sind Römische

Aufzeichnungen, Am Beispiel meines Bruders und Der Freund und der Fremde.

Es gibt bestimmt ausreichend Gründe, anzunehmen, dass die Ich-Figur sich auf eine

„wirkliche“ Person bezieht, und dass es sich hier somit um eine Autobiographie handelt.

Daraus könnte man folgern, dass die Ich-Figur ihr Leben mitteilt, wie es wirklich gewesen

ist, denn eine Autobiographie erzwingt, wie Uwe Timm selber bemerkt „eine größere Nähe

zum ursprünglich Erlebten und zum Erinnerten“.19

Doch kann man hier wegen der oben

dargestellten Abweichungen von den klassischen Merkmalen der Autobiographie, nicht

von einer reinen Autobiographie sprechen. Die Bezeichnung „autobiographischer

Randtext“20

oder „Alloautobiographie“,21

wie Clemens Kammler sie nach Torsten

16

Vgl. Bernhardt: Am Beispiel meines Bruders: Erläuterungen zu Uwe Timm, S. 7-14. 17

Timm zit. n. Kammler: Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, S. 107. 18

Timm: Von Anfang und Ende, S. 72. 19

Timm: Von Anfang und Ende, S. 81. 20

Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart: Metzler 2000, S. 61 zit. n. Kammler: Uwe Timm, Am

Beispiel meines Bruders, S. 21.

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7

Pflugmacher in Oldenbourg Interpretationen vorschlägt, scheint daher für diesen Text

geeigneter. Trotzdem will ich versuchen, die Bezeichnungen ‚Ich-Figur‟ und ‚Uwe Timm‟

getrennt zu verwenden, um so einen Unterschied zu machen zwischen der Ich-Figur, die an

dieser Geschichte teilnimmt und dem Autor, der sich selbst in dieser Geschichte inszeniert

hat, und der das Formale des Textes kontrolliert.

2.1.2 Die Techniken zur Problematisierung der Gattungsfrage

Wie sich oben schon herausgestellt hat, ist es nicht einfach, die Geschichte

gattungstechnisch einzuordnen. Es ist, als ob Timm – auch wenn er eingesteht, mit Am

Beispiel meines Bruders eine Autobiographie geschrieben zu haben – bewusst die

Gattungsfrage kompliziert machen möchte, als ob er mit verschiedenen Techniken

vermeiden will, dass man den Text einfach als Autobiographie betrachtet.

Ein erstes erzähltechnisches Verfahren sind die vielfältigen Perspektivwechsel, die

oben schon erwähnt worden sind. Es ist nicht falsch, hier von einem Ich-Erzähler zu

sprechen, denn die Ich-Person erzählt tatsächlich von ihrem Leben und demjenigen der

Familie. Man muss aber darauf achten, dass die Geschichte nicht nur aus der Sichtweise

des Ich-Erzählers erzählt wird: Die vielen verschiedenen Textsorten lassen auch andere zu

Worte kommen, und auch sie erzählen die Geschichte mit. Auf diese Weise stiftet Timm

Verwirrung über die Gattung: In einer klassischen Autobiographie gibt es nur einen

zentralen Erzähler, die Ich-Figur.

Eine weitere Technik, die das Bestimmen des Genres schwierig macht, ist die Art und

Weise, in der Timm sich selbst bezeichnet. Ich habe schon gezeigt, dass die Ich-Person und

Timm aufgrund von textuellen Hinweisen als miteinander identisch betrachtet werden

können. Doch bezeichnet Timm sich in gewissen Ausschnitten nicht als ‚ich‟, sondern ist

plötzlich von dem ‚Jungen‟, dem ‚Kind‟ oder dem ‚Nachkömmling‟ die Rede: „Der Junge

war zu spät gekommen und hatte, was er besorgen sollte, vergessen“.22

Hier gibt es nicht

länger eine Ich-Perspektive. Es ist scheinbar ein Erzähler, der außerhalb der Geschichte

steht, der dem Leser hier dieses Detail aus der Kindheit Uwe Timms mitteilt. Wo Timm

zuerst noch die Verbindung zwischen der Ich-Figur und sich selbst deutlich machte,

versucht er hier eine Distanz zwischen der Ich-Figur, die damals zu spät kam und sich

21

Torsten Pflugmacher: “Abstand gestalten. Erinnerte Medien und Erinnerungsmedien in der Autobiographie

seit 1989”. In: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen –

Vermittlungsperspektiven. Hg. von Clemens Kammler und Torsten Pflugmacher. Heidelberg: Synchron Verlag

2004, S. 109-126, hier S. 124 zit. n. Kammler: Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, S. 21. 22

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 144.

Page 16: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

8

selbst, dem Autor, der Jahre später diesen Text schreibt, darzustellen. Im Kontext wird es

dann deutlich, dass Timm mit diesem ‚Jungen‟ einfach sich selbst gemeint hat.

Auch im folgenden Zitat scheint zuerst ein allwissender Erzähler die Erzählfunktion

von der Ich-Figur übernommen zu haben: „Und der Nachkömmling? Mittelblond, die

Gestalt des Vaters, ähnlich ihm auch in der Kopfform, im Haaransatz, dem Haarwirbel, den

Händen, aber die Augen der Mutter, braun – ich“.23

Nach der Beschreibung des

„Nachkömmlings“ aber, taucht dann wieder dieses „ich“ auf: Die Erzählperspektive

wechselt noch im selben Satz. Manchmal erscheint Timm somit als aktiver Teilnehmer an

der Geschichte, nach Genettes Erzähltheorie als intradiegetischer Erzähler,24

manchmal

versucht er sich von seiner Geschichte zu distanzieren.25

Außerdem fällt auf, dass Timm schon bevor er die Bezeichnung „Junge“ für sich

selbst verwendet, den Bruder als „Junge“ bezeichnet: „Seltsam war an dem Jungen, daß er

hin und wieder in der Wohnung verschwand“.26

Zuerst ist fraglich, ob Timm hier sich

selbst oder den Bruder beschreibt, aber wenn man weiterliest, wird deutlich, dass es sich

um den Bruder handelt: „In der Zeit war der Bruder nicht zu bewegen, draußen zu

spielen“.27

Es ist, als ob er die Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Bruder auf diese Weise

hervorheben will. Sowohl er als auch der Bruder sind damals dieser Junge gewesen, sind

Kind derselben Eltern. Gerade das ist problematisch: Wie konnte der Bruder, der von

denselben Eltern erzogen worden ist, freiwillig der SS beitreten? Für Timm wäre es

einfacher, sich von seinem Bruder zu distanzieren, aber dann verpasst er zugleich auch die

Möglichkeit, je Einblick in das Wesen des Bruders zu bekommen. Gerade die Ähnlichkeit

zwischen ihnen ermöglicht Einsicht: Da Timm aus eigenen Erfahrungen kaum etwas über

den Bruder weiß, kann er dadurch, dass er seine eigene Geschichte beschreibt und diese der

des Bruders angleicht, leichter die Geschichte des Bruders rekonstruieren.

Das Wechseln der Perspektive, sowohl durch das Einmontieren von Texten von

anderen, als auch durch den Wechsel von Ich-Erzähler zu scheinbar allwissendem Erzähler,

zeigt, dass die Ich-Figur sich von ihrer Geschichte distanziert. Dabei helfen auch die vielen

kursiv gedruckten Sätze. In ihnen kann man wieder die Diskrepanz zwischen dem Eigenen

und dem Fremden erblicken. Viele Kursivsätze sind Sätze, die auch in anderen Texten von

23

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 48. 24

Vgl. Jürgen Pieters: Beste lezer, Een inleiding in de algemene literatuurwetenschap. Gent: Academia Press

2007, S. 136. 25

Warum Timm versucht, eine Distanz zur eigenen Geschichte zu wahren, wird unten in 3.2.2.1 verdeutlicht. 26

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 13. 27

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 13.

Page 17: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

9

Timm vorkommen. So gibt es das zweimal erwähnte „das Kinn an die Kragenbinde“28

auch in einem Gedicht über den Vater in Mit gemischten Gefühlen.29

Die Geschichte des

Vaters über das dampfende Gehirn30

wurde auch schon einmal erzählt, und zwar in Timms

Debütroman Heißer Sommer.31

Wer mit der Timmschen Literatur vertraut ist und sich

dieses intratextuellen Verweissystems, also des Verweissystems innerhalb der Texte von

Timm32

bewusst ist, kann diese Wiederholungen als einen weiteren Hinweis auf das

autobiographische Charakter des Textes betrachten.

Sehr oft sind die kursiv gedruckten Sätze auch Aussagen der Eltern, der Schwester

oder von anderen. Wenn die Ich-Figur z. B. fragt, warum der Bruder sich zur SS gemeldet

hat, und die Antwort lautet: „Aus Idealismus. Er wollte nicht zurückstehen. Sich nicht

drücken“,33

wird den Satz kursiviert, um zu betonen, dass es sich hier um eine Aussage der

Mutter handelt. Die Technik der Kursivsätze bietet außerdem wieder eine Möglichkeit,

während des eigenen Erzählens doch noch die Anderen sprechen zu lassen. Durch die

deutliche Hervorhebung von Aussagen der Anderen, unterscheidet Timm sehr

nachdrücklich zwischen dem, was eigen und fremd ist. Das betont wiederum, wie sehr er

versucht, Distanz zur eigenen Familie zu halten.

2.2 Der Freund und der Fremde

2.2.1 ‚Eine Erzählung’

Wenn man sich als Leser das Vorwort und den Klappentext anblickt, fällt auf, dass auch

hier – wie in Am Beispiel meines Bruders – ein Einleitungspakt vorliegt, wodurch der Leser

folgert, dass er mit einer Autobiographie zu tun hat. So wird im Vorwort und auf dem

Umschlag deutlich erwähnt, dass das Buch von dem „Freund Uwe Timms“, Benno

Ohnesorg, handelt und außerdem wird der Text nach Römische Aufzeichnungen und Am

Beispiel meines Bruders als Timms drittes autobiographisches Werk bezeichnet. Es wird

also deutlich ein autobiographischer Pakt mit dem Leser geschlossen. Auch wenn die Ich-

Figur im Text keinen Namen trägt, und sie sich in diesem Hinblick somit nicht auf den

Autor Uwe Timm bezieht, gibt es ausreichend andere textuelle Hinweise, die den

28

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 135, S. 149. 29

Mit gemischten Gefühlen. Gedichte, Biographien, Statements. Hg. von Jan Hans, Uwe Herms, Ralf Thenior.

München: Wilhelm Goldmann Verlag 1978, S. 329. 30

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 99. 31

Uwe Timm: Heißer Sommer. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2005 (1974), S. 48. 32

Vgl. Julia Schöll: „Chaos und Ordnung zugleich – zum intra- und intertextuellen Verweissystem in Uwe

Timms Erzähltexten“. In: „(Un-)erfüllte Wirklichkeit“: neue Studien zu Uwe Timms Werk. Hg. von Frank Finlay.

Würzburg: Königshausen und Neumann 2006, S. 127-139, hier S. 127. 33

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 19.

Page 18: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

10

autobiographischen Charakter des Textes bestätigen. So gibt es auch in diesem Text sehr

viele Parallelen zwischen der Biographie Uwe Timms, und der der Ich-Figur. Vielleicht

könnte Der Freund und der Fremde sogar als eine Fortsetzung von Am Beispiel meines

Bruders betrachtet werden.

Am Beispiel meines Bruders beschreibt die Geschichte der Familie Timm während

des zwanzigsten Jahrhunderts, die meisten Informationen beziehen sich aber auf die

Periode von 1940 bis 1958. Es ist ziemlich selbstverständlich, dass diese Periode betont

wird, denn in dieser Zeitspanne finden einige bedeutende Ereignisse – sowohl für die Ich-

Figur persönlich, als auch für die deutsche Gesellschaft im Allgemeinen – statt, so u.a. der

Zweite Weltkrieg, die Geburt der Ich-Figur (1940),34

der Tod des Bruders Karl-Heinz

(1943)35

und des Vaters Hans (1958)36

und das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit.

Auch das Tagebuch, das der Bruder zwischen dem vierzehnten Februar und dem sechsten

August 194337

geführt hat, und das bei der Konstruktion des Bildes vom Bruder den

größten Anteil hat, stammt aus dieser Periode.

In Der Freund und der Fremde liegt der Fokus dagegen auf die Periode von 1958 bis

1968. Wie oben schon erwähnt wurde, starb der Vater 1958, und demzufolge wird der Ich-

Figur, die inzwischen das Kürschnerdiplom mit Auszeichnung nachgeholt hat, das

Kürschnergeschäft überlassen. Drei Jahre arbeitet sie im Geschäft, um es 1961 schließlich

zu entschulden.38

Im einundzwanzigjährigen Lebensjahr fängt sie wieder zu studieren an

und holt 1961 bis 1963,39

zusammen mit anderen Kollegiaten, unter denen Benno Ohnesorg,

am Braunschweig-Kolleg das Abitur nach. Der Text beschreibt vor allem das Leben der

Ich-Figur und Ohnesorgs, die Freundschaft zwischen ihnen und Ohnesorgs Tod 1967,

sowie die darauffolgende Aufregung. Wenn man diese Ereignisse mit der Biographie Uwe

Timms vergleicht, gibt es – wie schon in Am Beispiel meines Bruders – eine völlige

Übereinstimmung. Auch gibt es hier wieder außertextuelle Hinweise, die darauf hindeuten,

dass das Buch autobiographisch ist. So hat es sich oben in der Analyse der Gattungsfrage

von Am Beispiel meines Bruders schon herausgestellt, dass Uwe Timm Der Freund und der

Fremde auch selber als autobiographisch bezeichnet.

Doch macht Timm auch hier die gattungstechnische Einordnung für den Leser nicht

einfach: Im Untertitel bezeichnet er den Text als ‚eine Erzählung‟, nicht als ‚eine

34

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 19. 35

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 8. 36

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 151. 37

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 14. 38

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 20. 39

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 14.

Page 19: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

11

(Auto)biographie‟. Um herauszufinden, warum er das macht, ist es empfehlenswert,

nachzugehen, welche Merkmale einer Erzählung normalerweise zugeschrieben werden,

und ob es überhaupt einen großen Unterschied zwischen der Gattung der Erzählung und der

der Autobiographie gibt.

In dem Deutschen Wörterbuch von Hermann Paul wird die Erzählung als „innerhalb

der epischen Gattung relativ unbestimmt“40

bezeichnet. Metzler Lexikon unterscheidet

zwischen der Erzählung in weiterem Sinn und einer engeren, literarischen Bestimmung, die

die Erzählung als „die kommunikative Vermittlung realer oder fiktiver Vorgänge durch

einen Erzähler an einen Rezipienten“41

definiert. Ein wesentliches Element dieser

Definition ist, dass eine Erzählung nicht unbedingt mit Fiktion gleichgestellt werden muss.

Für die Geschichtsschreibung ist diese Feststellung sehr wichtig, denn sie betont, dass auch

reale Ereignisse immer zuerst erzählt werden müssen, um überhaupt vermittelt werden zu

können. Aus der Definition im Metzler Lexikon ist abzuleiten, dass die Tatsache, dass ein

Text als Untertitel ‚eine Erzählung‟ trägt, nicht ausschließt, dass der Text auch eine

Autobiographie, die „eine größere Nähe zum ursprünglich Erlebten und zum Erinnerten“42

erzwingt, sein kann. Diese Idee stimmt mit Lejeunes Ansicht überein, dass der Begriff

‚Erzählung‟, weil er seinerseits unbestimmt ist, völlig mit dem autobiographischen Pakt

vereinbar ist.43

Die Vereinbarkeit von Erzählung und Autobiographie soll weiter spezifiert werden,

durch die Definition von beiden Gattungen im Reallexikon der deutschen

Literaturwissenschaft definiert. Als ausschlaggebend für die Zuordnung zur Gattung der

Erzählung wird hier nur „das Vorliegen der elementaren Struktur der Narrativität (des

‚Erzählerischen‟)“44

genannt. Die Autobiographie wird hier definiert als „ein

nichtfiktionaler, narrativ organisierter Text […], dessen Gegenstand innere und äußere

Erlebnisse sowie selbst vollzogene Handlungen aus der Vergangenheit des Autors sind“.45

In beiden Beschreibungen wird auf den narrativen Charakter der Gattung hingedeutet, was

die Erzählung und die Autobiographie wieder vereinbar macht.

40

Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch. Tübingen: Niemeyer Verlag 1992, S. 246. 41

Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze, Personen, Grundbegriffe. Hg. von Ansgar Nünning.

Stuttgart: J.B. Metzler 2008, S. 133. 42

Vgl. dazu 2.2.1. 43

Vgl. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 232: „[...] es ist zu bemerken, daß Roman in der gegenwärtigen

Terminologie den romanesken Pakt impliziert, während der Begriff Erzählung seinerseits unbestimmt ist und

vereinbar mit dem autobiographischen Pakt“. 44

Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Harald Fricke, Klaus Weimar u.a. Berlin: de

Gruyter 1997-2003, S. 517 45

Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 169.

Page 20: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

12

Entscheidende Unterschiede zwischen beiden Gattungen scheint es somit nicht zu

geben. Daher erhebt sich die Frage, warum Timm Der Freund und der Fremde schon

ausdrücklich als eine Erzählung bezeichnet hat und Am Beispiel meines Bruders nicht,

während aus den oben beschriebenen Merkmalen der Erzählung abzuleiten ist, dass dieser

Text genauso gut der Gattung der Erzählung zugeordnet werden kann. Wenn die Erzählung

durch ihre relative Unbestimmtheit als Oberbegriff für die Autobiographie funktionieren

kann, warum wird dann noch explizit darauf hingedeutet, dass es sich hier um eine

Erzählung handelt, warum hat Timm nicht einfach ‚eine Autobiographie‟ als Untertitel

verwendet, wenn er dann doch eine Gattung vorschlagen wollte? Vielleicht ist die folgende

Aussage von Timm zu diesem Thema in seinen poetologischen Vorlesungen hilfreich:

„Selbst eine reine Dokumentensammlung hat eine Tendenz zum Erzählen, ein Muster, ein

episches Muster, das durch Auswahl, Anordnung und Gewichtung entsteht und Bedeutung

generiert“.46

Auch hier wird auf den narrativen Charakter jedes Textes hingedeutet, aber

zugleich impliziert diese Aussage die Annahme, dass sogar ein auf reinen Tatsachen

basierter Text immer eine Bedeutung bekommt, die von dem, was für den Erzählenden die

Wahrheit ist, abhängig ist. Dabei sei bemerkt, dass das „ursprünglich Erlebte“, zu dem die

Autobiographie eine größere Nähe behalten muss, immer nur das selbst Erlebte ist und

demzufolge eigentlich nur für den Erzähler der Geschichte völlig wahr ist. Eine

dokumentarische Erzählweise – die Timm sowohl in Am Beispiel meines Bruders als auch

in Der Freund und der Fremde benutzt – ist am Besten geeignet, eine größtmögliche

Objektivität zu erreichen, aber dennoch ist sie nicht imstande, einem autonom Bedeutung

generierenden narrativen Muster aus dem Weg zu gehen.

Indem Timm Der Freund und der Fremde als eine Erzählung bezeichnet, hebt er gerade

diesen narrativen Charakter des Textes hervor und demzufolge gesteht er auch seinen

strukturierenden Beitrag zum Text ein, denn er ist derjenige, der erzählt, der die Geschichte

inszeniert. Auf den ersten Blick ist dieses Geständnis schwer vereinbar mit der Tatsache, dass

im ganzen Text niemals die Verbindung zwischen der Ich-Figur, dem Erzähler einerseits, und

Timm, dem Autor andererseits dargestellt wird. Bei Lejeune ist aber nachzulesen, dass nur

wenn der Name des Autors mit dem Namen der Figur im Text identisch ist, die Möglichkeit

der Fiktion ausgeschlossen werden kann.47

Das Fehlen der Namensidentität ist somit auch ein

Hinweis darauf, dass Timm auf einen völligen Wahrheitsanspruch verzichtet. Das macht er

auch im Bruderbuch, aber dort sind es die öffentlichen Dokumente, die vermeiden, dass

46

Timm: Von Anfang und Ende, S. 110. 47

Vgl. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 236.

Page 21: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

13

Timms Sichtweise als die einzige richtige betrachtet wird. In Der Freund und der Fremde

sind kaum öffentliche Dokumente einmontiert.48

Es hat den Anschein, dass die Ich-Figur hier

viel mehr selbst erzählt, und dass somit, wie im Untertitel versprochen wird, tatsächlich ein

Erzähler in den Vordergrund tritt, der sich die Geschichte aneignet. Der Grund dafür liegt

wahrscheinlich in der Art und Weise, wie Timm hier mit seinen Erinnerungen an Benno

Ohnesorg umgehen will.49

Die Zuordnung zur Gattung der Erzählung bewirkt, dass Timm,

obwohl er sich in diesem Text mehr Nähe zur Geschichte erlaubt, doch noch auf einen

völligen Wahrheitsanspruch verzichten kann.

2.2.2 Das Problem der Literarisierung

Oben hat sich herausgestellt, dass Der Freund und der Fremde eine Autobiographie ist,

aber weil Timm selber so sehr betont, dass es sich um eine Erzählung handelt, möchte ich

den Text als ‚autobiographische Erzählung‟ bezeichnen im Kontrast zu der

Alloautobiographie Am Beispiel meines Bruders. Es ist schon deutlich geworden, dass sich

sogar bei der Vermittlung von reinen Tatsachen, immer ein narratives Muster bildet. Der

Erzähler entscheidet aber selber darüber, inwieweit er die narrativen Muster zu bestimmten

erzähltechnischen Zwecken verwendet.

Martin Rehfeldt hat auf diese Muster in Der Freund und der Fremde hingedeutet. Er

bezeichnet sie als „Literarisierung“,50

womit er das Erzählen von tatsächlichen Ereignissen

in einem literarischen Text gemeint hat. Rehfeldt stellt fest, dass in diesem Text

verschiedene Probleme der Literarisierung von biographischem Stoff deutlich werden. So

ist er der Meinung, dass Timm manchmal bestimmte Ereignisse als Vorausdeutungen

semantisiert.51

Er führt an, dass die Aussage der Psychologin, dass Ohnesorg „durchaus

Ansätze [hat], jemand zu werden, der nicht ganz alltäglich ist“,52

durch den Kommentar des

Erzählers: „Und auch das hatte seine Erfüllung gefunden, wenn auch so anders als

vermutet: ... jemand zu werden, der nicht ganz alltäglich ist“,53

zum „delphischen

Orakelspruch“54

wird. Dass Timm diesen Zufall, der eben Tatsache ist, hervorhebt, deutet

wiederum darauf hin, dass Timm sich einen größeren Anteil im Text erlaubt als im

Bruderbuch: Er ist derjenige, der diese Zufälle durch seinen Kommentar als

48

Vgl dazu ausführlicher 2.2.2 und 3.2.3.1. 49

Vgl. dazu ausführlicher 3.2.3. 50

Martin Rehfeldt: “Dem Gegenstand seine Fremdheit belassen. Zum Umgang mit erzählerischen und ethischen

Problemen der Literarisierung von biographischem Stoff in Uwe Timms Der Freund und der Fremde“. In:

Deutsche Bücher 37 3/4, 2007, S. 203-213. 51

Vgl. Rehfeldt: Dem Gegenstand seine Fremdheit belassen, S. 209. 52

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 124. 53

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 124. 54

Rehfeldt: Dem Gegenstand seine Fremdheit belassen, S. 209.

Page 22: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

14

Vorausdeutungen darstellt. Timm ist sich dieses Verfahrens aber völlig bewusst. Das

bemerkt auch Rehfeldt, wenn er anführt, dass das Problem der Literarisierung von

biographischem Stoff im Text selbst reflektiert wird,55

wenn Timm erwähnt: „Einem

fiktionalen Text würde man verweigern, was ich beim Lesen der Gerichtsakte Ohnesorg

fand, dieselbe Psychologin war als Gutachterin für den Prozeß gegen seinen Todesschützen

bestellt worden. Zufälle, die den Anschein von einem sinnfälligen Muster haben und uns

doch nur staunend befremden“.56

Obwohl Timm selber Tatsachen als Vorausdeutungen

semantisiert, macht diese Bemerkung die Literarisierung von biographischem Stoff weniger

problematisch, denn sie zeigt, dass Timm sich deutlich bewusst ist der Tatsache, dass die

Zufälle durch die Art und Weise, in der erzählt wird, in einem sinnfälligen Muster zu

passen scheinen.

Auch wenn Timm sich seines Beitrags zur Bildung von Muster bewusst ist, erhebt

sich die Frage, warum er bestimmte Zufälle anhand des narrativen Musters als

Vorausdeutungen darstellt. Im Text ist zu lesen, dass die Ich-Figur über Benno Ohnesorg

schreiben möchte, „um das Zufällige, das Absurde, das in diesem Tod lag, zu zeigen“.57

Weil sie gerade das Zufällige zeigen will, deutet sie auch ausdrücklich darauf hin. Die

Hervorhebung der auffallenden Zufälle im Leben Ohnesorgs, erlaubt es auch, das Zufällige

weniger geläufig, weniger absurd zu machen. Wie Timm in seinen Vorlesungen feststellt:

„Das literarische Erzählen ist eben nicht zufällig, es schafft – durch seine Struktur – neue

Bedeutung, die es in der Zerstreutheit des Alltags so nicht gibt“,58

und weiter: „So werden

die alltäglichen Dinge und Ereignisse aus ihrem Zu-Fall durch das Erzählen herausgehoben

und neu gedeutet“.59

Gerade die Literarisierung dieser Ereignisse bewirkt, dass Timm den

Zufällen Bedeutung verleihen kann, denn indem er die Tatsachen in ein Muster gießt, sind

die Zufälle nicht länger Zufälle, sondern scheinen sie alle in einem größeren Plan

eingeordnet zu sein. Das macht die ganze Ohnesorg-Geschichte – im Rahmen des

Möglichen – doch weniger absurd.

Neben diesen semantisierten Vorausdeutungen, stellt Rehfeldt noch ein weiteres

Problem literarisierter Biographien fest, und zwar, dass

der Stoff den verbreiteten Schemata mythischer, literarischer oder filmischer Erzählungen so

idealtypisch entsprechen kann, dass die Wiedergabe tatsächlicher Ereignisse in der Literarisierung als

Klischee wahrgenommen werden kann – zumal, wenn die formale Präsentation und der

55

Vgl. Rehfeldt: Dem Gegenstand seine Fremdheit belassen, S. 209. 56

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 124. 57

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 92. 58

Timm: Erzählen und kein Ende, S. 19. 59

Timm: Erzählen und kein Ende, S. 103.

Page 23: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

15

kommentierende Erzähler diese Schemata nicht nur nicht als solche thematisieren, sondern die ihnen

entsprechenden Ereignisse auch noch betonen.60

Als Beispiel nennt er die Tatsache, dass die Ich-Figur die Handwerkslehren, die sie und

Benno Ohnesorg vor dem Studium am Braunschweig-Kolleg gemacht haben, aufeinander

bezieht.61

Laut Rehfeldt bewirken aber die essayistischen Attribute, beispielsweise die

Abstrahierung beider Freunde zu Erfahrungen der achtundsechziger Generation, dass die

Trivialität, die dem Text als Vorwurf gemacht werden könnte, reduziert wird.62

Die

Betonung der Ähnlichkeit in Bezug auf die Handwerkslehren soll nicht einmal als

klischeehaft betrachtet werden, wenn man annimmt, dass Timm möglicherweise wiederum

aus Mangel an Informationen über den Freund, eine Verbindung zwischen dem eigenen

und dem zu rekonstruierenden Leben herstellen will. Auf diese Weise kann er mehr

Einsicht in das Benehmen von Ohnesorg bekommen, dem er sich mit seinem Schreiben

anzunähern versucht. Diese von Rehfeldt als Klischee erfahrenen Ausschnitte haben aus

diesem Blickwinkel eine völlig andere Funktion, nämlich eine, die Timm bei seinen

Recherchen weiterhelfen kann.

Wie sich oben mit einer Aussage von Timm aus seinen poetologischen Vorlesungen

herausgestellt hat, ist jeder Text, auch ein dokumentarischer, gewissermaßen literarisiert.

Selbstverständlich gibt es Unterschiede im Grad der Literarisierung und werden einem

Roman leichter narrative Muster erlaubt als z. B. einer Autobiographie oder der

Geschichtsschreibung, denn bei diesen Gattungen wird doch eine objektive Annäherung der

Ereignisse verlangt. Die Literarisierung in dieser autobiographischen Erzählung stellt kein

wirkliches Problem dar, gerade weil – wie sich auch aus Rehfeldts Darlegungen herausstellt

– Timm selber dieses Problem thematisiert: Er ist sich bewusst der Tatsache, dass sich

während des Erzählens unvermeidlich narrative Muster bilden. Timm nützt dieses

‚Problem‟ in diesem Text aus, indem er die tatsächlichen Ereignisse in einem geeigneten

narrativen Muster darstellt. Ein Muster, das ihm erlaubt das Absurde zu bändigen und ihn

erst nach dem Niederschreiben der Ereignisse zur Einsicht kommen lässt. Dieses Verfahren

darf nicht mit Fiktionalisierung gleichgestellt werden. Wenn Fiktionalisierungen

eingeschoben werden, kündigt Timm diese deutlich an: „Gäbe es die Möglichkeit, eine

Unterlassung in der eigenen Biographie zu korrigieren [...]“,63

und darauf folgt die

Korrektur:

60

Rehfeldt: Dem Gegenstand seine Fremdheit belassen, S. 209. 61

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 15. 62

Vgl. Rehfeldt: Dem Gegenstand seine Fremdheit belassen. S. 211. 63

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 145.

Page 24: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

16

Mein Wunsch wäre von einer genauen, bis ins Detail gehenden Vorstellung bestimmt, hier aber

rückwirkend: zwei Monate in London zu wohnen, als Untermieter bei einem Angestellten eines

Teeimporteurs oder einem Lehrer. Ein Mann, der während des Kriegs auf einem englischen Zerstörer

gedient hätte [...]. Morgens in einer Sprachenschule gemeinsam mit Italienern, Schweden und Isländern

englische Grammatik üben und mir eben diese Wunschform erklären lassen, ein Mädchen

kennenzulernen, das aus Cambridge käme, rotblond, sommersprossig und pummelig, um mit ihm ins

Kino, ins Theater zu gehen [...], danach in einem Pub stehen und von einem jungen Mann, der

vielleicht der Bruder dieser pummeligen rotblonden Schönen sein könnte, sich den Unterschied der

englischen Biere erklären zu lassen.64

Die Korrektur seines Lebenslaufes strotzt vor Konjunktiven, und er betont nochmals, dass

es sich um eine „Vorstellung“ handelt. Timm unterscheidet somit deutlich zwischen dem,

was er sich vorstellt und dem, was tatsächlich stattgefunden hat.

Dabei sei bemerkt, dass Timm sich völlig seiner beschränkten Wahrheit bewusst ist,

und dass er somit nicht die Absicht hat, zu behaupten, dass was er erzählt, zweifelsohne so

gewesen ist. Das wird dadurch sichtbar, dass er – wie in Am Beispiel meines Bruders –

unterschiedliche Textsorten neben die eigenen Erfahrungen der Ich-Figur einmontiert. So

gibt es zwei Briefe, die Benno Ohnesorg an den Direktor des Braunschweig-Kollegs

geschrieben hat, um sich um eine Aufnahme zu bewerben,65

ein Gedicht Ohnesorgs,66

die

Analyse der Psychologin des Braunschweig-Kollegs,67

verschiedene Berichte bezüglich

Ohnesorgs Tod68

und sehr viele Zitate, u.a. von Beckett, Barthes, Benjamin und Camus.

Diese fremden Dokumente und Texte ermöglichen eine andere Sicht auf die Geschehnisse.

Zusammenfassend kann in Bezug auf die Gattung dieser beiden Texte festgestellt

werden, dass Timm sich in Am Beispiel meines Bruders – obwohl ein autobiographischer

Pakt vorliegt – bemüht, die Distanz zur eigenen Biographie zu bewahren. In Der Freund

und der Fremde, das ebenso autobiographisch ist, wird eine mehr persönliche Annäherung

an das Autobiographische erlaubt.

64

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 146-147. 65

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 15-19. 66

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 151-152. 67

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 123-124. 68

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 114-115, S. 121.

Page 25: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

17

3. Das Schreiben: eine Suche

3.1 Der Entstehungsprozess von Am Beispiel meines Bruders und Der Freund und der Fremde

Oben wurde untersucht, welcher Gattung man die Texte zuordnen kann und dabei hat sich

herausgestellt, dass es sich in beiden Fällen um eine Autobiographie handelt, mit der

Nuancierung, dass Am Beispiel meines Bruders als eine Alloautobiographie bezeichnet wurde.

Der Freund und der Fremde kann als eine autobiographische Erzählung betrachtet werden.

Doch hat Uwe Timm eigenen Aussagen zufolge nie die Absicht gehabt, mit diesen

Erzählungen Autobiographien zu schreiben: „Sie sind am Anfang nicht einmal mit dem

Vorsatz entstanden, eine Autobiographie zu schreiben, sondern aus einem, auch von

Zeitumständen bedingten Bedürfnis der Selbstbefragung“.69

Das Bedürfnis der Selbstbefragung hat also den Übergang der biographischen Texte ins

Autobiographische verursacht. Die Aufgabe, eine Biographie des Bruders Karl-Heinz bzw.

des Freundes Benno Ohnesorg zu schreiben, ist nicht einfach in Anbetracht der Umstände:

Der Bruder ist schon gestorben, als Timm drei Jahre alt war. Er hat somit kaum eigene

Erinnerungen an den Bruder und muss mit einem ihm von den Eltern aufgedrängten Bild

zurechtkommen. An Ohnesorg hat Timm zwar mehr eigene Erinnerungen, aber auch in

diesem Fall reichen sie nicht über die zwei Jahre, die sie zusammen am Braunschweig-Kolleg

studiert haben, hinaus. Außerdem wird ihm nach Ohnesorgs Tod von den Medien eine Menge

anderer Erinnerungen aufgedrängt.

Timm kämpft also mit dem Problem, bei der Konstruktion dieser Biographien über

ungenügende Informationen zu verfügen. Wie Steffen Martus schreibt, ist Timm durch den

Mangel an dokumentarischem Material über Benno Ohnesorg gezwungen, eine

Doppelbiographie zu schreiben, in der er Ohnesorgs Leben mit seiner eigenen Biographie

ergänzt.70

Ähnlich verfährt er auch bei der Rekonstruktion der Biographie des Bruders. Es ist

also die Suche nach dem Bruder und dem Freund, die Timm zu einer Selbstbefragung zwingt.

Nur wenn er Einblick in seine eigene Biographie bekommt, wird es ihm gelingen, die des

Bruders und des Freundes zu beschreiben, aber zugleich kann er erst Einblick in seine eigene

Identität bekommen, wenn er kritisch an das Bild des Bruders und des Freundes herangeht. 71

69

Timm: Von Anfang und Ende, S. 73. 70

Vgl. Steffen Martus: „‟Also man lacht sich wirklich tot‟. Teilnehmer- und Beobachtungsperspektiven auf Uwe

Timms 68er-Romane Heißer Sommer und Der Freund und der Fremde“. In: Keiner kommt

davon: Zeitgeschichte in der Literatur nach 1945. Hg. von Erhard Schütz und Wolfgang Hardtwig. Göttingen:

Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 192-215, hier S. 197. 71

Dieses Problem wird genauer in dem Abschnitt über die Selbstsuche, 4.2, besprochen.

Page 26: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

18

3.1.1 Der Schreibanlass

Es ist deutlich, dass Timm sich vorgenommen hat, die Lebensläufe des Bruders und des

Freundes zu rekonstruieren. Die Frage ist jetzt, warum er diese Texte schreiben möchte, oder

musste, denn wie er erwähnt, ist das Schreiben, sicherlich im Fall des Bruders, „wie eine

Verpflichtung, wie eine Selbstverpflichtung“.72

Woher kommt dieser Schreibdruck, was war

der Anlass zum Schreiben dieser Texte?

Im Hinblick auf Am Beispiel meines Bruders kann eine Aussage von Timm in einem

Interview Auskunft geben:

Ich war drei Jahre alt, als er [der Bruder, M.A.] starb, und habe nur eine äußerst blasse Erinnerung an ihn.

Trotzdem war er in unserer Familie ständig präsent, als Druck, als atmosphärischer Druck. Karl-Heinz

galt immer als Vorbild, das im Krieg als Held gestorben war. Das wurde so nicht gesagt, aber in der

Vermittlung galt er als tapferer, anständiger, gehorsamer Junge. Das gaben meine Eltern an mich weiter,

als Erziehungsdruck sozusagen, und dem wollte ich auf den Grund kommen. So was braucht Zeit.73

Mit diesem Bild des Bruders wächst Uwe Timm auf. Obwohl die Eltern wussten, wozu die

SS-Einheiten eingesetzt worden sind, und für welche Grausamkeiten sie verantwortlich sind,

ist der Bruder, der der SS freiwillig beitrat, immer noch das Vorbild. Aus dem Zitat kann man

folgern, dass Timm untersuchen will, wie das Bild dieses anständigen Jungen entstanden ist.

Es hat den Anschein, dass er herausfinden will, inwieweit der Bruder mit Recht als

„Erziehungsdruck“ gilt. Ob das bedeutet, dass er dem Bruder seinen Ruf als Helden der

Familie nehmen will, bleibt vorläufig noch dahingestellt.

Gewiss ist, dass er versuchen will, ein mehr wahrheitsgemäßes Bild des Bruders, als das,

das die Eltern ihm aufgedrängt haben, aufzustellen. Vor allem die Tagebucheinträge des

Bruders enthalten Aussagen, die dem Bild, das die Eltern von dem Bruder umreißen, nicht

entsprechen. Für Timm war vor allem der folgende Satz ungeheuerlich: „März 21. Donez.

Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG“.74

In

seinen Vorlesungen erläutert Timm: „es war nicht leicht, sich ihm [dem Satz, M.A.] zu stellen.

Zugleich war er der Schüssel für die das Schreiben anstoßenden Fragen“, wie:

Wie kommt es zu dem Verlust von Empathie, wie kommt es dazu, bereitwillig zu töten und sich töten zu

lassen? Wie kommt das Gewaltsame in die Sprache? Wie bilden sich Sprachmuster, die andere Menschen

aus den moralischen Verbindlichkeiten ausgrenzen? Und vor allem auch diese Frage, eine quälende, wie

hätte ich mich anstelle des Bruders verhalten, wäre ich in derselben geschichtlichen Situation groß

geworden?75

72

Timm: Von Anfang und Ende, S. 75. 73

Timm zit. n. Kammler: Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, S. 106. 74

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 16. 75

Timm: Von Anfang und Ende, S. 79.

Page 27: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

19

Die Fragen, die im Schreiben beantwortet werden sollen, bilden – wie auch Timm erwähnt –

den Anlass zum Schreiben des Erinnerungstextes.

Ein erster Schreibanstoß für Der Freund und der Fremde ist schon oben erwähnt

worden, nämlich der Versuch, durch das Schreiben das Zufällige, das Absurde an Ohnesorgs

Tod zu zeigen. Weiter wagt Timm sich auch hier an die Rekonstruktion eines Lebenslaufes

heran, diesmal seines Freundes Benno Ohnesorg. Ein wichtiger Unterschied zu Am Beispiel

meines Bruders ist, dass er an Ohnesorg schon eigene Erinnerungen hat. Er ist somit nicht von

den Erinnerungen von anderen abhängig, zumindest nicht in Bezug auf die Periode, die sie

zusammen am Braunschweig-Kolleg verbracht haben (1961-1963). Um zu wissen, was sich

davor und danach abgespielt hat, muss er sich aber wiederum auf Erinnerungen von anderen

verlassen. Darunter auch die, welche die Medien ihm aufdrängen. Timm stößt hier somit auf

ein ähnliches Problem wie in seinem anderen Erinnerungsbuch: Seine eigenen Erinnerungen

werden mit anderen Tatsachen konfrontiert, und dann erhebt sich die Frage, inwieweit sie

noch ‚korrekt‟ sind, wenn eine Erinnerung das je wirklich sein kann. So muss Timm zu den

Kommentaren nach Ohnesorgs Tod, wie er das auch zu den Aussagen der Eltern, zu den

Äußerungen im Tagebuch machen musste, immer Stellung nehmen und nachgehen, inwieweit

sie sich mit seinen eigenen Erinnerungen reimen:

Wäre er infolge einer Krankheit oder eines Unfalls gestorben, wäre Trauer um ihn möglich gewesen, so

aber war sein Tod ein Skandal, der in Kommentaren, Erklärungen, Gegenerklärungen abgehandelt wurde,

und ich selbst mußte bei jedem Bericht, bei jeder Diskussion, auch vor mir selbst, immer wieder dazu

Stellung nehmen. Politische Erklärungen schoben sich vor jeden Versuch, sich seiner zu Erinnern. Das

Sensationelle seines Todes verhinderte in den ersten Wochen und Monaten ein einfühlsames Erinnern.76

Genauso wie in Am Beispiel meines Bruders ist das Schreiben für Timm ein Mittel, Stellung

zu nehmen. Indem er schreibt, versucht er sich ein – auf jeden Fall für ihn – mehr stimmiges

Bild des Freundes zu formen.

Wie Timm sich im Bruderbuch die Frage stellt, was er gemacht hätte, wäre er „in

derselben geschichtlichen Situation groß geworden“, enthält auch Der Freund und der

Fremde eine Komponente der Selbstbefragung. Jahre nach Ohnesorgs Tod erfährt Timm

mittels eines Briefes von Ohnesorgs Frau Christa, dass dieser mit Timm nach ihrem Abschied

gehadert hat,77

und zwar, weil sie ursprünglich den Plan hatten, gemeinsam in Berlin zu

studieren, aber Timm statt dessen nach München umgezogen ist.78

Für Timm war ihre

Freundschaft vor diesem Brief eine „ungetrübte, ganz auf das Lesen und das Schreiben

76

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 12. 77

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 13. 78

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 113.

Page 28: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

20

ausgerichtete“,79

aber danach schien es, als ob sie doch nicht so ungetrübt gewesen war.

Timm will seiner eigenen Erinnerung kritisch gegenüberstehen und das Schreiben bietet ihm

eine Möglichkeit dazu.

3.1.2 Versuche zum Schreiben

Jetzt, da deutlich geworden ist, was Timm zum Schreiben dieser Texte veranlasst hat, ist es

interessant zu überprüfen, wann genau sie schließlich zustande gekommen sind. In Erzählen

und kein Ende schreibt Timm: „Die zeitliche Distanz zu sich ist die Voraussetzung dafür, daß

man über sich etwas erzählen kann“.80

Wie ich schon erwähnt habe, geschieht Erzählen

meistens erst hinterher, nachdem das, was erzählt wird, geschehen ist. Rein praktisch gesehen,

braucht man also eine zeitliche Distanz zum Erzählten. Manchmal ist die Distanz aber nicht

nur aus praktischen, sondern auch aus emotionalen Gründen notwendig: Das Geschehene

kann für den Erzähler schwer in Worte zu fassen sein.

Auffallend ist, dass die beiden Bücher eine sehr große Distanz zum Geschehenen

aufzeigen. Am Beispiel meines Bruders erschien genau sechzig Jahre nach dem Tod des

Bruders; Der Freund und der Fremde achtunddreißig Jahre nach Ohnesorgs Tod.

Verschiedene von Timms älteren Werken zeigen aber, dass er schon früher versucht hat, über

den Bruder und den Freund zu schreiben. In bestimmten Büchern gibt es z.B. Passagen, die in

Am Beispiel meines Bruders wiederkehren oder in denen der Drang des Autors, über den

Bruder zu schreiben, bereits anklingt. Rhys Williams stellt in Eine ganz gewöhnliche

Kindheit81

fest, dass es in Timms Johannisnacht eine Passage gibt, in der man sehr deutlich

sehen kann, wie schwer es ihm fällt, über den Bruder zu schreiben:

Es war, als bewegten sich diese aufgetürmten Möbelstücke im Wind, ja, wie Bäume bogen sie sich, das

Holz ächzte, im Schatten, am Boden, kniete mein Bruder, den ich nur von Kriegsfotos kannte. Er

versuchte eine Schublade aufzuziehen, er kniete, ich hatte vergessen, daß ihm die Beine fehlten. Es ist so

mühsam, sagte er, von hier unten an die Schrankschubladen zu kommen. Büroschränke. Ich begann alle

Schubladen herauszuziehen. Sie waren angefüllt mit Papier, sorgfältig zu kleinen Kugeln

zusammengeknautscht. Ich entfaltete eines dieser Knäuel und sah, es waren von mir beschriebene Seiten.

Der Bruder wollte aber eine bestimmte Schublade geöffnet haben. Sie ließ sich als einzige nicht

herausziehen, auch nicht mit Gewalt. Sie klemmte. Ich zog nur schwach, tat aber so, als zöge ich mit aller

Kraft. Wollen mußt du. Los, sagte mein Bruder.82

79

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 13. 80

Timm: Erzählen und kein Ende, S. 66. 81

Rhys Williams: „Eine ganz gewöhnliche Kindheit.“ In „(Un-)erfüllte Wirklichkeit”: Neue Studien zu Uwe

Timms Werk. Hg. von Frank Finlay. Würzburg : Königshausen und Neumann 2006, S. 173-184, hier S. 175. 82

Uwe Timm: Johannisnacht. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1996, S. 107.

Page 29: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

21

Timm träumt davon, wie sein Bruder versucht, ihn zum Schreiben anzutreiben. Die vielen

zusammengeknautschten Kugeln deuten darauf hin, dass Timm schon viele Male versucht hat,

über den Bruder zu schreiben. Es gelingt ihm aber nicht, denn die Schublade, in der sich der

Text über den Bruder befindet, klemmt. Timm könnte sie öffnen, wenn er es wirklich wollte,

aber er zieht nur schwach. Aus der Halbherzigkeit seines Ziehens kann man ableiten, dass er

zum Schreiben des Textes noch nicht bereit ist. Wenn man weiß, dass Uwe Timm die Briefe

des Bruders schon als Jugendlicher gelesen hat,83

kann man annehmen, dass er schon lange

Schwierigkeiten haben muss, diese ‚Schublade‟ zu öffnen.

Auch dem Freund, Benno Ohnesorg, werden schon in früheren Werken verschiedene

Passagen gewidmet. In Timms Debütroman Heißer Sommer wird schon beschrieben, wie

Ohnesorg erschossen worden ist:

Die Kugel hatte die rechte Großhirnhälfte durchschlagen. In seinem Kopf hatte man ein deformiertes

Mittelmantelgeschoß gefunden. Da die Schwärzung fehlte, sei nicht zu ermitteln gewesen, aus welcher

Entfernung Ohnesorg getroffen wäre. Man gehe jedoch davon aus, daß der Schuß auf den Studenten aus

nicht allzu großer Entfernung abgegeben worden sei.84

Auch in Der Freund und der Fremde wird die Erschießung beschrieben:

Obduktionsbericht. C. Vorläufiges Gutachten

Der 26-jähr. Student Benno Ohnesorg ist an einem Kopfsteckschuß infolge der schweren Hirnschädigung

und dem damit verbundenen Blutverlust gestorben. Der Einschuß saß an der rechten Kopfseite, etwa in

der Mitte des rechten Scheitelbeines, 7 cm oberhalb des Ohrenansatzes. Der Schußgang hatte die rechte

Großhirnhälfte von hinten unten nach links oben durchschlagen. Das Geschoß fand sich in einer

trichterförmig erweiterten Schußlücke in der linken Stirnbeinhälfte. Es handelt sich um ein deformiertes

Nickelmantelgeschoß, anscheinend Kaliber 7,65 mm.85

Timm hat diese Akte, die den Namen „Staatsanwaltschaft Band I, zum Fall Ohnesorg“86

trägt,

im Berliner Landesarchiv entdeckt, und sie enthält selbstverständlich eine viel genauere

Beschreibung als die, die der Leser in Heißer Sommer bekommt. Der Grund dafür ist

wahrscheinlich, dass Timm zur Zeit seines Debütromans noch keine solchen Recherchen über

Ohnesorgs Tod unternommen hatte, möglicherweise, weil er dazu noch nicht fertig war.

Auch ist in Heißer Sommer nachzulesen, dass Ullrich, die Hauptperson, eine „ziellose

Unruhe“ in sich entdeckt, „seit jener Nacht, als er von dem Tod Benno Ohnesorgs gehört

hatte“.87

Ullrich, ein Germanistikstudent in München, ist gerade dabei, ein Hölderlin-Referat

83

Vgl. Timm zit. n. Kammler: Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, S. 106: “Ich wollte immer über meinen

Bruder schreiben, dessen Briefe ich schon als Jugendlicher gelesen hatte.” 84

Timm: Heißer Sommer, S. 57. 85

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 121-122. 86

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 121. 87

Timm: Heißer Sommer, S. 61.

Page 30: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

22

zu schreiben, wenn Ohnesorg erschossen wird. Es gelingt ihm nicht länger, seine Arbeit

fertigzuschreiben und er zieht nach Hamburg um. Dort schließt er sich einer politisch aktiven

Gruppe von Studenten an und engagiert sich in Demonstrationen und Protesten.

Die Lektüre von Der Freund und der Fremde macht deutlich, wie sehr die Wirkung von

Ohnesorgs Tod auf Ullrich der Reaktion Timms ähnelt: Wenn Timm, in Paris an seiner

Dissertation über ‚Das Problem der Absurdität bei Camus‟ arbeitend, die Nachricht über

Benno Ohnesorgs Tod vernimmt, zerreißt er seine fast fertig geschriebene Arbeit.88

Darauf

fängt er an, eine ganz neue Arbeit über die Absurdität bei Camus zu schreiben, die viel mehr

politisch orientiert ist.

Es ist, als ob Timm schon sehr früh den Drang hatte, über Ohnesorg zu schreiben, aber

noch nicht imstande war, die Geschichte in autobiographischer Form zu erzählen. Eine

Autobiographie setzt – obwohl sich schon herausgestellt hat, dass durch bestimmte

Erzähltechniken doch eine Distanz bewahrt werden kann – schließlich doch eine persönliche

Annäherung an die eigene Geschichte voraus. Timm erwähnt in Von Anfang und Ende, dass

er zuerst angefangen hat, Heißer Sommer in der Ich-Perspektive zu schreiben, aber dass er

nach sechzig Seiten nicht weiter schreiben konnte, denn „das schreibende Selbst störte sich –

es sollte ja kein biographischer Bericht werden – an einer fehlenden Distanz zu dem fiktiven,

dem fremden Selbst“.89

Erst Jahre später, in Der Freund und der Fremde, ist er imstande, aus

der persönlicheren Ich-Perspektive über Benno Ohnesorg zu erzählen.

3.1.3 Was macht das Schreiben schließlich möglich?

Es ist inzwischen deutlich, dass das Schreiben über den Bruder und den Freund für Timm

nicht einfach vonstatten gegangen ist. Was hat aber bewirkt, dass er nach diesem großen

Zeitabschnitt doch die zwei Erinnerungsbücher hat zustande bringen können? Um diese Frage

zu beantworten, wird zuerst untersucht, welche Faktoren Timm – trotz unterschiedlicher

Schreibversuche – daran gehindert haben, diese Texte zu schreiben.

In Am Beispiel meines Bruders sind verschiedene Erklärungen für den Aufschub des

Textes zu finden. Eine erste besteht darin, dass es der Ich-Figur lange an Mut fehlte, sich

wirklich ins Leben des Bruders zu vertiefen. Die Ich-Person vergleicht ihr ängstliches

Zurückweichen bei der Lektüre des Tagebuchs und der Briefe des Bruders mit der Angst, die

sie als Kind vor dem Ende des Märchens von Ritter Blaubart der Brüder Grimm hatte.90

Sie

88

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 78. 89

Timm: Von Anfang und Ende, S. 105. 90

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 9.

Page 31: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

23

hat Angst davor, etwas herauszufinden, das noch grausamer sein könnte als die Tatsache, dass

der Bruder bei der SS gedient hatte. Beispielsweise, dass er auch an Erschießungen von

Zivilisten teilgenommen hat.91

Eine andere Erklärung ist, dass Timm dieses Buch nicht schreiben konnte, so lange die

Mutter lebte.92

Nur nachdem sie und einige Jahre später auch die Schwester gestorben sind,

kann Timm endlich mit dem Schreiben anfangen: „Erst als auch die Schwester gestorben war,

die letzte, die ihn [den Bruder] kannte, war ich frei, über ihn zu schreiben, und frei meint, alle

Fragen stellen zu können, auf nichts, auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen“.93

Dieses

Zitat bestätigt, was schon oben behauptet wurde: Timm hat die Absicht, kritisch an das Bild

des Bruders heranzugehen. Dasjenige, was er über den Bruder schreiben will, wird vermutlich

nicht der Meinung der Familienmitglieder entsprechen, sonst würde er dieses „frei sein“ und

„keine Rücksicht nehmen müssen“ nicht so betonen. Um der Meinung seiner Familie Respekt

zu erweisen, verschiebt er das Schreiben, bis sie alle gestorben sind.

Ein dritter Grund nennt Timm in Von Anfang und Ende, wo er behauptet, das Schreiben

über den Bruder sei erst möglich, nachdem er anhand des Romans Rot die richtige Technik

entdeckt habe, mit der er über den Bruder erzählen könne:

[…] narrative Montagetechnik, eine Methode, die das Erzählen nicht auf Chronologie, sondern auf

Bedeutung ausrichtet, die das umfasst: die Reflexion auf Geschichte und Gesellschaft, das Zitieren

verschiedener Sprechweisen, dokumentarische Zitate, ein umgangssprachliches, essayistisches und

poetisches Schreiben. Eine ästhetische Konstruktion, die nicht sagt, so war es, sondern so könnte es

gewesen sein, die, indem sie über die Leerstellen zwischen den Textblöcken auf das Fragmentarische des

Erfahrbaren, Erinnerbaren verweist, nicht den Anspruch auf das „Ganze“ erhebt.94

In Der Freund und der Fremde scheint Timm keine Angst davor zu haben, zu

recherchieren und neue Informationen über den Freund zu bekommen. Das hat

wahrscheinlich damit zu tun, dass Ohnesorg als Opfer gestorben ist – im Gegensatz zum

Bruder, der als SS-Soldat der Kategorie der Schuldigen, der Täter angehört.95

Was Timm bei

seiner Untersuchung schon hindern kann, ist die Erregung, die er bei der Erschießung

Ohnesorgs empfindet. Anders als im Falle des Bruders, hat Timm den Tod des Freundes sehr

bewusst erlebt, und außerdem ist er Benno Ohnesorg viel näher gewesen, als er je seinem

Bruder gewesen ist. Diese sehr persönliche Bezogenheit zum Geschehen bewirkt, dass das

91

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 34. 92

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 9. 93

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 10. 94

Timm: Von Anfang und Ende, S. 80. 95

Die Schwierigkeiten bei der Zuordnung zur Kategorie der ‚Opfer‟ oder der ‚Täter‟ werden unten in 4.1.2

dargelegt.

Page 32: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

24

Sprechen und Schreiben darüber nicht einfach sind und zum Teil verdrängt werden. Das ist

oben deutlich geworden, als der Bericht über Ohnesorgs Tod in Heißer Sommer mit der viel

detaillierteren Akte in Der Freund und der Fremde verglichen wurde: Timm war erst Jahre

später imstande, die präzisen Umstände von Ohnesorgs Tod nachzuforschen.

Auch in diesem Text hat es den Anschein, dass Timm zuerst eine geeignete Erzählweise

finden musste, um über den Freund schreiben zu können. Wie die Ich-Figur im Text

behauptet, verwarf sie mehrere Anfänge, weil die Sprache zu formelhaft blieb und ihre

hilflose Wut ins Deklamatorische verwandelte;96

sie „fand keine Sprache für ihn, jeder Satz

bekam einen aggressiven, abstrakt politischen Ton – einen Ton, der nie der seine gewesen

war“.97

Timm wurde zu sehr von den damaligen Verhältnissen geprägt, um auf eine für ihn

richtige Weise über Ohnesorg zu schreiben. Wenn er das damals gemacht hätte, wäre es durch

die Empörung eine politische Deklamation geworden, und das ist gerade, was er vermeiden

möchte, denn das machen die Medien schon ausreichend. Der Tod Ohnesorgs wird so sehr

medialisiert, sensationalisiert, dass das für Timm „ein einfühlsames Erinnern“98

verhindert.

Erst Jahre später scheint er die richtige Sprache, die richtige Erzählweise entdeckt zu haben,

um über Ohnesorg zu schreiben, und zwar in der schon oben umschriebenen narrativen

Montagetechnik. Es sei bemerkt, dass diese hier nicht distanzierend wirkt, wie in Am Beispiel

meines Bruders, sondern gerade bewirkt, dass Uwe Timm auf eine andere, eine einfühlsamere

Weise als in einem politischen Pamphlet über den Freund erzählen kann.

Ein Grund, der Timm in Am Beispiel meines Bruders als Schreibhindernis nannte,

nämlich das am Lebensein der Personen, die den Bruder gekannt haben, scheint auf den ersten

Blick nicht wirklich das Schreiben über den Freund zu verhindern. Benno Ohnesorgs Frau

Christa ist zwar beim Erscheinen des Buches schon gestorben, aber im Nachwort ist

nachzulesen, dass viele andere Bekannte Ohnesorgs ihm beim Schreiben des Buches geholfen

haben, unter ihnen u.a. Bennos Sohn Lukas und der Bruder Willibald, Brigitte Braun, eine

Freundin von Christa und Benno Ohnesorg und Frank Grossmann und seine Frau, die mit

Benno Ohnesorg zusammenwohnten. Timm hat während des Schreibens des Buches also

Lebenden um Hilfe gebeten, was ziemlich selbstverständlich ist: Ohnesorg ist ja durch seinen

unglücklichen Tod national wie auch international bekannt geworden. Die Möglichkeit, erst

über ihn zu schreiben, nachdem jeder, der ihn gekannt hat, gestorben ist, gibt es einfach nicht.

Timm erzählt aber erst dann über Ohnesorg, wenn die Geschehnisse des zweiten Juni 1967

96

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 12. 97

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 12. 98

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 12.

Page 33: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

25

nicht länger aktuell sind, wenn es neue Generationen gibt, die nicht länger wissen, was sich

gerade an diesem Tag abgespielt hat, die sich nur noch entfernt daran erinnern. Die

Möglichkeit, erst über das Geschehen zu erzählen, wenn jeder, der es erlebt hat, gestorben ist,

gibt es zwar nicht, aber eine alternative Lösung liegt hier vor: Timm erzählt die Geschichte

Ohnesorgs erst, wenn die Generation, die sie aus nächster Nähe erlebt hat, ausreichend

Distanz zum Geschehen entwickelt hat.

Eine andere Einsicht, die der Ich-Figur dabei geholfen hat, die Geschichte Ohnesorgs

niederzuschreiben, war die folgende: „Es blieb aber der Vorsatz, mehr noch, die

Verpflichtung, über ihn zu schreiben. Ein Erzählen, das nur gelingen konnte – und diese

Einsicht mußte erst wachsen –, wenn ich auch über mich erzählte“.99

Ein Gedanke, der auch

in Am Beispiel meines Bruders auftaucht: „Und erst mit dem Entschluß, über den Bruder, also

auch über mich, zu schreiben, das Erinnern zuzulassen, war ich befreit, dem dort

Festgeschriebenen nachzugehen“.100

Dieser Gedanke schließt sich der schon oben genannten

Idee, dass Timm aus Mangel an Informationen zum Schreiben einer Autobiographie

gezwungen worden ist, an.101

Jetzt, da verschiedene Gründe aufgezählt worden sind, die Timm am Schreiben

gehindert haben, und die im Laufe der Zeit besiegt worden sind, fällt das größte Problem sehr

deutlich auf: Das Bedürfnis nach Distanz zum Erzählten, wie Timm es auch in Von Anfang

und Ende betont hat.102

Eine zeitliche Distanz ist notwendig, um Angst- oder Rachegefühle zu

bewältigen, um die richtige Erzählweise zu finden, um den Mut zu finden, nicht nur den

Erinnerungspfad des Anderen, sondern auch den eigenen abzuschreiten.

3.2 Individuelles und kollektives Gedächtnis

3.2.1 Gedächtnistheoretischer Hintergrund: die vier Gedächtnisformationen nach Aleida Assmann

Wenn die Art und Weise, wie die Erinnerungsarbeit in diesen Büchern verläuft, untersucht

werden will, soll zuerst auf die unterschiedlichen Erinnerungsprozesse in Am Beispiel meines

Bruders und Der Freund und der Fremde aufmerksam gemacht werden. Timm erwähnt in

seinen poetologischen Vorlesungen: „Ich habe mich in zwei Büchern ausdrücklich mit

99

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 13. 100

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 16-17. 101

Vgl. dazu ausführlicher 4.2. 102

Vgl. dazu 3.1.2.

Page 34: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

26

Erinnerung und Gedächtnis beschäftigt, in den Erzählungen103

‚Am Beispiel meines Bruders‟

und ‚Der Freund und der Fremde‟, wobei ich weiß, dass ich bei dem letzteren Buch diese

Erinnerungsmomente mit anderen teile“.104

Der Unterschied, den Timm hier macht, erinnert

an denjenigen, den Jan und Aleida Assmann in ihren Gedächtnistheorien gemacht haben: den

zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis.

In Der lange Schatten der Vergangenheit erarbeitet Aleida Assmann diese Begriffe. Der

übergeordnete Unterschied ist der zwischen dem individuellen und dem kollektiven

Gedächtnis, aber Assmann deutet darauf hin, dass dieser nicht zu streng genommen werden

darf. Wie sie am Anfang ihrer gedächtnistheoretischen Darstellung bemerkt, ist jeder Mensch

ein Individuum, aber das bedeutet nicht, das er ganz für sich existiert. Das Individuum ist

immer Teil größerer Zusammenhänge, ist verknüpft mit einem „Wir“,105

das keine Einheit ist,

sondern sich in vielen verschiedenen Mitgliedschaften aufteilt. Genauer formuliert: Eine

Person gehört unter unterschiedlichen Bedingungen immer verschiedenen Gruppen an, wie

einer Familie, einer Generation, einer Nation. Die unvermeidliche Gruppenzugehörigkeit

bewirkt, das nie von einer rein individuellen Erinnerung gesprochen werden kann: „Das

Gedächtnis des Individuums umfasst deshalb weit mehr als den Fundus unverwechselbar

eigener Erfahrungen; in ihm verschränken sich immer schon individuelles und kollektives

Gedächtnis“.106

Es ist also unmöglich, das individuelle Gedächtnis vom kollektiven zu

trennen. Assmann optiert daher für eine mehr nuancierte Einteilung der verschiedenen Arten

von Gedächtnis. So teilt sie die Zweiteilung zwischen individuellem und kollektivem

Gedächtnis in vier Gedächtnisformationen auf: das individuelle, soziale, kollektive und

kulturelle Gedächtnis. Für die vorliegende Studie ist es wichtig, zu wissen, was diese

Gedächtnisformationen gerade beinhalten.

Mit dem individuellen Gedächtnis fängt jedes Selbstbewusstsein an. Ohne individuelle

Erinnerungen kann ein Mensch sich keine Identität bilden: „Die je eigenen biographischen

Erinnerungen sind unentbehrlich, denn sie sind der Stoff, aus dem Erfahrungen, Beziehungen

und vor allem das Bild der eigenen Identität gemacht ist“.107

Diese Erinnerungen haben

bestimmte Merkmale. Erstens sind sie perspektivisch, was bedeutet, dass sie immer von der

Wahrnehmung des Individuums abhängig sind. Das macht die Erinnerung unaustauschbar

103

Timm benennt hier beide Erinnerungsbücher als „Erzählung‟, was die oben dargestellten Feststellungen im

Zusammenhang mit der Gattungsfrage nicht unterminieren muss, denn es ist nach wie vor so, dass von den

eigentlichen Büchern nur Der Freund und der Fremde mit dem Untertitel „Eine Erzählung‟ unterschrieben

worden ist. 104

Timm: Von Anfang und Ende, S. 71-72. 105

Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 21. 106

Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 23. 107

Randall zit. n. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 24.

Page 35: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

27

und unübertragbar. Zweitens sind Erinnerungen mit Erinnerungen anderer vernetzt, was

bewirkt, dass sie sich gegenseitig bestätigen, Glaubwürdigkeit gewinnen und auf diese Weise

eine gemeinschaftsbildende Funktion bekommen. Ein drittes Merkmal der Erinnerungen ist,

dass sie fragmentarisch sind und nachträglich durch das Erzählen ergänzt worden sind. Erst in

Erzählungen bekommen sie eine Struktur. Schließlich sind Erinnerungen flüchtig und labil,

was bedeutet, dass die Wichtigkeit und Relevanz einer Erinnerung sich im Laufe des Lebens

ändern kann, abhängig von der Änderung der Person und ihrer Lebensumstände.

Anhand dieser Merkmale des individuellen Gedächtnisses zeigt sich schon der soziale

Charakter der Erinnerungen. Halbwachs, Gründer der sozialen Gedächtnisforschung, zeigt,

dass ein einsamer Mensch sich keine Erinnerungen bilden kann, „weil diese erst durch

Kommunikation, d.h. im sprachlichen Austausch mit Mitmenschen, aufgebaut und verfestigt

werden“.108

Demzufolge können persönliche Erinnerungen als ‚kommunikatives Gedächtnis‟

bezeichnet werden. Wie schon gezeigt, ist ein Individuum immer Teil verschiedener Wir-

Gruppen, die mitentscheiden, welche Erinnerungen relevant und wertvoll sind. Weiter besteht

das kommunikative Gedächtnis auch in einem spezifischen Zeithorizont, der meistens achtzig

bis hundert Jahren umfasst, was ungefähr mit der Lebensdauer von drei Generationen

übereinstimmt. Wenn die Generationen, auf denen das kommunikative Gedächtnis beschränkt

ist, verschwinden, löst sich auch das kommunikative Gedächtnis selber auf. Daher darf dieses

Gedächtnis auch das „Kurzzeitgedächtnis“109

genannt werden. Das prototypische Beispiel

dieses Drei-Generationen- oder Kurzzeitgedächtnisses, ist das Familiengedächtnis, das das

Gedächtnis der (Ur-)Großeltern, Eltern und Kinder umfasst.

Es ist also schwer, zwischen dem individuellen und dem sozialen Gedächtnis zu

unterscheiden, da das individuelle Gedächtnis schon immer sozial gestützt ist. Es sei doch

bemerkt, dass Erinnerungen, die sich innerhalb des Familienkreises bewegen, einen viel

privateren Charakter haben als z.B. die Erinnerungsmomente, die man mit Menschen seiner

Generation teilt. Es ist denn auch notwendig, zwischen Familiengenerationen einerseits und

sozialen und historischen Generationen andererseits zu unterscheiden. Karl Mannheim erfuhr

bei seiner Untersuchung des Generationengedächtnisses, „dass Individuen im Alter von 12 bis

25 Jahren für lebensprägende Erfahrungen besonders aufnahmefähig sind und dass das, was

in diesem Zeitraum erlebt wurde, für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen

bestimmend bleibt“.110

Menschen derselben Generation teilen somit bestimmte

108

Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 25. 109

Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 26. 110

Mannheim zit. n. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 26.

Page 36: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

28

Überzeugungen, Weltbilder usw. miteinander und erfahren die historischen Ereignisse aus

einer für die Generation spezifischen Perspektive. Genauso wie das individuelle Gedächtnis

hat das soziale Gedächtnis einen begrenzten Zeithorizont: Wenn die Vergangenheit nicht

länger durch „conversational remembering“,111

durch das Gespräch, wach gehalten wird,

verschwindet das soziale Gedächtnis.

Es hat sich gezeigt, dass das individuelle und soziale Gedächtnis sich leicht miteinander

verbinden lassen. Der Übergang vom sozialen zum kollektiven Gedächtnis ist

problematischer. Es hat lange eine skeptische Einstellung zu diesem Begriff geherrscht: In

den sechziger und siebziger Jahren wurde das kollektive Gedächtnis mit Begriffen wie

‚Ideologie‟ und ‚Mythen‟112

gleichgestellt, was auf den manipulierenden Charakter von

mentalen und materialen Bildern, auf denen dieses Gedächtnis sich stützt, hindeutet. Seit den

neunziger Jahren ist man sich der Wichtigkeit dieser Bilder – und auch der Denkmäler,

Erzählungen usw. – für die Identität einer Gemeinschaft bewusst. Man ist nach wie vor auf

mögliche Manipulierung von Bildern und Symbolen aufmerksam, sondern man beschäftigt

sich jetzt vor allem mit der Frage nach ihrer überzeitlichen Wirkmacht und ihrer historischen

Konstruiertheit.113

Dass der Übergang vom sozialen zum kollektiven (auch kulturellen,

nationalen, politischen) Gedächtnis nicht einfach verläuft, hat mit dem Unterschied im

Hinblick auf Gedächtnis und Erfahrung zu tun. Anders als das soziale Gedächtnis, das durch

‚conversational remembering‟ aufrecht erhalten wird, und zusammen mit seinem Träger, dem

Menschen, verschwindet, hat das kulturelle Gedächtnis mit einem Fundus von Erfahrung und

Wissen, der „von seinen lebendigen Trägern abgelöst und auf materielle Datenträger

übergegangen ist“,114

zu tun. Solche materielle Datenträger oder symbolische Medien sind

Monumente, Riten, Texte usw., und diese bewirken, dass das kulturelle Gedächtnis nicht –

wie das Familien- und Generationengedächtnis – auf einen Zeithorizont von achtzig bis

hundert Jahren beschränkt ist, sondern Jahrhunderte überdauern kann. Auf diese Weise kann

ein Individuum von einem Ereignis, das er nie direkt erfahren hat, doch noch eine Erinnerung

aufbauen. Die Bedingung ist jedoch, dass die materiellen Datenträger von den heutigen

Generationen immer noch als Träger von kollektiven Erinnerungen anerkannt werden. Wenn

das nicht der Fall ist, sind sie nur Bilder oder Monumente ohne Bedeutung, und sind sie

demzufolge dem kulturellen Gedächtnis nicht länger dienlich. Auch sei bemerkt, dass das

kulturelle Gedächtnis nicht beliebig ist: Eine gezielte kulturelle Strategie bestimmt, was

111

Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 28. 112

Vgl. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 30. 113

Vgl. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 31. 114

Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 34.

Page 37: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

29

gerade zum kulturellen Gedächtnis gemacht wird. Wie Assmann feststellt: „Institutionen und

Körperschaften wie Kulturen, Nationen, Staaten, die Kirche oder eine Firma ‚haben‟ kein

Gedächtnis, sondern ‚machen‟ sich eines mithilfe memorialer Zeichen und Symbole“.115

Jetzt, da die vier Gedächtnisformation, wie Aleida Assmann sie vorschlägt, näher erklärt

worden sind, ist es nützlich, die wichtigsten Unterschiede zwischen dem individuellen (und

somit immer sozialen) und dem kollektiven Gedächtnis zusammenfassend noch einmal

darzustellen.116

Das soziale Gedächtnis hat einen biologischen Träger, wodurch es auf

achtzig bis hundert Jahre befristet ist. Diese Zeitspanne umfasst meistens drei Generationen

und ist somit intergenerationell. Das soziale Gedächtnis wird im Gespräch vermittelt und

verschwindet, wenn die Kommunikation (‚conversational remembering‟) aufhört. Das

kulturelle Gedächtnis wird von materiellen Zeichen und Symbolen, wie Bildern und

Jahrestagen getragen. Weil es nicht von der Kommunikation abhängig ist, ist es zeitlich

entfristet. Das kulturelle Gedächtnis ist denn auch nicht auf drei Generationen beschränkt,

sondern reicht über sie hinaus, ist also transgenerationell.

3.2.2 Die Erinnerung in Am Beispiel meines Bruders

Nachdem anhand von Aleida Assmanns Gedächtnistheorie die unterschiedlichen

Gedächtnisformationen dargestellt worden sind, kann untersucht werden, inwieweit diese auf

Timms Erinnerungsbücher angewendet werden können. Wie oben schon gezeigt, deutet

Timm darauf hin, dass der Unterschied zwischen dem Erinnern in Am Beispiel meines

Bruders und dem in Der Freund und der Fremde darin liegt, dass er in Der Freund und der

Fremde die Erinnerungsmomente mit anderen teilt. Wie oben dargelegt, ist es unmöglich,

dass eine Erinnerung rein privat ist, denn die Erinnerung wird erst durch Kommunikation

geformt. Im Hinblick auf diesen Gedanken gilt die Idee der geteilten Erinnerungsmomente

auch für das Bruderbuch. Statt zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis zu

unterscheiden, ist es daher geeigneter, vom Familiengedächtnis in Am Beispiel meines

Bruders und vom Generationengedächtnis in Der Freund und der Fremde zu sprechen. Diese

zwei Arten von Gedächtnis drängen Timm Erinnerungen an die von ihm ‚gesuchten‟

Personen auf, deren Zuverlässigkeit zweifelhaft ist. Wie das Familiengedächtnis bzw. das

Generationengedächtnis zusammen mit anderen Gedächtnisformationen in seinen

Erinnerungsbüchern gestaltet werden, wird jetzt untersucht.

115

Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 35. 116

Vgl. dazu das Schema in Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 54.

Page 38: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

30

3.2.2.1 Die Gefahr des glättenden Erzählens

Reinhard Wilczek äußert sich folgendermaßen über Timms Ästhetik: „Sein Erzählen ist

immer auch der (biographische) Rekonstruktionsversuch eines Lebensentwurfs, dessen

Authentizität erst sichtbar gemacht oder dem Vergessen entrissen werden muss“.117

Diese

Feststellung gilt genauso gut für Am Beispiel meines Bruders: Timm versucht, indem er

erzählt, sich ein mehr zuverlässiges Bild des Bruders zu formen. Wie auch der Titel dieser

Arbeit zeigt, entsteht das Gedächtnis erst, indem man erzählt. Es ist aber sehr wichtig, zu

erwähnen, dass die Macht, die dem Erzählen dadurch zukommt, sehr groß ist: Während des

Erzählens gibt es die Möglichkeit, die Vergangenheit ganz anders darzustellen, als sie

wirklich gewesen ist.

Timm beweist im Bruderbuch, dass er sich des manipulierenden Charakters des

Erzählens völlig bewusst ist. Jetzt wird die Wichtigkeit der oben analysierten Gattungsfrage

deutlich. Wie sich dort herausgestellt hat, benutzt Timm verschiedene Techniken zur

Problematisierung der Gattungsfrage. Obwohl sich aus der Analyse zeigt, dass es sich hier um

eine – wenn auch nicht eine klassische – Autobiographie handelt, hat Timm versucht, dies so

gut wie möglich zu verbergen, als ob er vermeiden wollte, dass der Leser den Text einfach als

eine Autobiographie betrachten würde. Das hat vielleicht mit der Verantwortung, die einer

Autobiographie zugeschrieben wird, zu tun, nämlich die Annahme, dass eine Autobiographie

eine wahrheitsgemäße Darstellung der Wirklichkeit ist. So erwähnt Timm das in seinen

poetologischen Vorlesungen118

und auch Matteo Galli deutet darauf hin, dass ein

autobiographischer Text einen absoluten Wahrheitsanspruch verlangt.119

Eine Autobiographie

trägt somit das Risiko, dass der Leser das, was erzählt wird, als das einzige Richtige

betrachtet. Dass Timm diese Annahme vermeiden will, zeigt schon seine besondere

Erzählweise, die Montagetechnik, mit der er verschiedene Sichtweisen zu Worte kommen

lässt, und auf diese Weise seine eigene Sichtweise als eine der vielen darstellt.

Die Montagetechnik hat auch die Funktion, der „Gefahr, glättend zu erzählen“,120

aus

dem Wege zu gehen, also zu vermeiden, dass, wenn etwas nach und nach erzählt wird, das

117

Reinhard Wilczek: „Erzählen als ‚existenziale‟ Kategorie. Reflexion zur Ästhetik des Narrativen bei Uwe

Timm“. In: Deutschsprachige Erzählprosa seit 1990 im europäischen Kontext: Interpretationen, Intertextualität,

Rezeption. Hg. von Volker Wehdeking und Anne-Marie Corbin. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2003, S.

163-178, hier S. 175. 118

Vgl. Timm: Von Anfang und Ende, S. 81 (siehe auch 2.1.1 und 2.2.1) 119

Vgl. Matteo Galli: „Vom Denkmal zum Mahnmal: Kommunikatives Gedächtnis bei Uwe Timm“. In: „(Un-)

Erfüllte Wirklichkeit“: neue Studien zu Uwe Timms Werk. Hg. von Frank Finlay. Würzburg : Königshausen und

Neumann 2006, S. 162-172, hier S. 171. 120

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 36.

Page 39: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

31

Geschehene sich ändert und so das Grausame geglättet wird. Dieses Verfahren wird im

Text anhand der Bombardierung von Hamburg illustriert:

Das Eigentümliche war, wie der Schock, der Schreck, das Entsetzen durch das wiederholte Erzählen

langsam faßlich wurden, wie das Erlebte langsam in seinen Sprachformeln verblaßte: Hamburg in

Schutt und Asche. Die Stadt ein Flammenmeer. Der Feuersturm.121

Das Grausame der Bombardierung wird geglättet, indem man immer wieder davon erzählt.

Die Ich-Figur scheint nichts dagegen zu haben, findet es aber ‚eigentümlich‟, dass durch

bestimmte Sprachformeln das Leid eingegrenzt werden kann.

Sehr kritisch ist Timm, wenn mit solchen Sprachformeln versucht wird, die

Grausamkeiten der Nazi-Verbrecher zu relativieren. In einem Interview erwähnt er: „Ich

schätze es gar nicht, wenn man in Deutschland versuchen sollte, sich eine kollektive

Opferrolle buchstäblich zu erarbeiten. [...] man sollte die Gewichte nicht verschieben“.122

Auch im Text betont die Ich-Figur diese Idee:

Das Geschehen verschwand in den Stereotypen: Hitler, der Verbrecher. Die Sprache wurde nicht nur

von den Tätern öffentlich mißbraucht, sondern auch von denen, die von sich selbst sagten, wir sind

noch einmal davongekommen. Sie erschlichen sich so eine Opferrolle.123

In diesem scharfen „erschlichen“ wird sichtbar, dass die Ich-Figur die Entschuldigung, das

sich der Verantwortung entziehen kritisiert. Es ist daher wahrscheinlich, dass es für Timm

denn auch sehr wichtig ist, durch das Erzählen die Grausamkeiten, die sein Bruder und die

Nationalsozialisten im Allgemeinen begangen haben, nicht als weniger grausam

darzustellen, als sie gewesen sind. Wenn er das machen würde, würde er genau das tun,

was er bei seinem Vater so verachtet, nämlich das ‚Kneifen‟.124

Um dieses Kneifen, dieses

Glätten der Grausamkeiten durch wiederholtes Erzählen zu vermeiden, ist die

Montagetechnik ein sehr geeignetes Mittel. Sie bewirkt, dass die Erzählung unregelmäßig

und chaotisch dargestellt wird, und so wird der Text eigentlich eine Art Sinnbild des

Erinnerungsverlaufs. Timm behauptet auch, dass er die Montagetechnik mit diesem Ziel

verwendet: „Diese Erinnerungen sind Bruchstücke, die können nicht durchlaufend erzählt

werden, weshalb ich auch diese Methode der kurzen Absätze gewählt habe“.125

Die Technik bewirkt somit, dass der Text auf keinen Fall geglättet ist – sowohl formal

als auch inhaltlich. Im Gegenteil, da so viele unterschiedliche Textsorten einmontiert

121

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 39. 122

Timm zit. n. Kammler: Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, S. 108. 123

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 103. 124

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 130. 125

Timm zit. n. Kammler: Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, S. 107.

Page 40: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

32

werden, bekommt die Erzählung eine unpolierte Struktur, sie ist kein fließendes Ganzes.

Der Verlauf der Geschichte wird dem Leser auch nicht chronologisch mitgeteilt, man muss

als Leser selbst die Geschichte mit aufbauen. Die Montagetechnik bewirkt also auch, dass

der Leser eine aktive Funktion in dieser Erzählung bekommt: Er muss selber die

Kausalverbindungen herstellen, Timm macht das nicht für ihn. Auf diese Weise vermeidet

er, was er der Vätergeneration vorwirft, nämlich dass sie ganz frei von dem Krieg erzählten,

„ohne daß sich die Frage nach der Schuld stellte, nach Chronologie und Kausalität der

Grausamkeiten“.126

Indem Timm mit Hilfe dieser Montagetechnik selbst keine

Kausalketten herstellt, ist der Leser desto mehr verpflichtet, selbst über Chronologie und

Kausalität nachzudenken. Durch die formalen Unebenheiten ist es schwierig, inhaltlich zu

einem geglätteten Ganzen zu kommen. Diese besondere Erzählweise ist so eine Hilfe, die

Gefahr des glättenden Erzählens zu vermeiden und die Objektivität so viel wie möglich zu

bewahren.

3.2.2.2 Arten von Erinnerung

a) Das Familiengedächtnis

Die individuelle Erinnerung

Timm hat mit diesem Text also die Absicht, ein zuverlässiges Bild des Bruders zu

rekonstruieren, ohne während des Schreibens in das glättende Erzählen zu verfallen. Um

herauszufinden, wie er mit dieser Aufgabe umgeht, ist eine Analyse der verschiedenen Arten

von Erinnerung, mit denen Timm bei seiner Suche konfrontiert wird, angewiesen. Wie schon

erwähnt, hat es den Anschein, dass Timm sich beim Erinnerungsprozess vorwiegend auf das

Familiengedächtnis verlässt. Es muss aber erwähnt werden, dass das Familiengedächtnis

sicherlich nicht die einzige Gedächtnisformation ist, und dass Timm sich auch nicht bewusst

dazu entschieden hat, das Familiengedächtnis zur Dominante dieses Buches zu machen. Er ist

eher aus Mangel an eigenen Erinnerungen dazu gezwungen, sich auf das Familiengedächtnis

zu verlassen (weshalb die individuelle Erinnerung hier dem Familiengedächtnis zugeordnet

worden ist).

Um seine Zielsetzung zu erreichen, wäre es aber ideal, ausreichend eigene Erinnerungen

an den Bruder zu haben, und diese in ihrem authentischen Kontext wieder hervorzurufen. Die

Idee, dass es Erinnerungen gibt, die unverändert im Gedächtnis gespeichert sind, ist aber

126

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 128.

Page 41: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

33

umstritten. Halbwachs hat den Begriff des sozialen Rahmens eingeführt, um zu zeigen, dass

Erinnerungen immer „unter dem Druck der Gesellschaft“127

rekonstruiert werden, und dass

die Vergangenheit immer schon unseren aktuellen Bedingungen und Wünschen anglichen

wird.128

Er ist somit der Meinung, dass es keine authentische Erinnerung geben kann. Im

Hinblick auf den Viktimisierungsprozess in Deutschland, den Timm ganz kritisch gegenüber

steht, ist es interessant Martin Walsers Ansichten über die authentische Erinnerung zu

beachten. Er hält es mit Halbwachs‟ Behauptung, dass die Gegenwart die Vergangenheit

beeinflussen kann, aber laut ihm ist die Umbildung der Vergangenheit nicht unserer Kontrolle

entzogen (wie Halbwachs behauptet), sondern ist sie eine Form der Verstellung und Selbst-

Täuschung.129

Er spricht daher nicht wie Halbwachs von einem sozialen Rahmen, der den

Menschen zur Anpassung der Vergangenheit zwingt, sondern von der „Vergangenheit als

Rolle“,130

die Menschen sich bewusst geben. Walser verachtet die bewusste Manipulierung

der Erinnerung zugunsten gegenwärtiger Wünsche. Er ist – wie Marcel Proust – Befürworter

der „mémoire involontaire“,131

die durch bestimmte Faktoren aus dem Unbewussten

hervorgerufen werden kann, wie der Geschmack einer Madeleine bei Proust Erinnerungen

freisetzt, die er zuerst vergessen glaubte. Diese hervorgerufene Erinnerung sei authentisch und

nicht den Bedingungen der Gegenwart angeglichen.

Es erhebt sich die Frage, welche Sichtweise die richtige ist. Halbwachs hat mit seiner

Theorie des sozialen Rahmens teilweise Recht, denn es ist tatsächlich so, dass viele

Erinnerungen unbewusst angepasst worden sind. Er unterschätzt aber die Macht der

Vergangenheit, und sieht nicht ein, wie sehr z. B. traumatische Ereignisse wie Krieg und

Holocaust in die Gegenwart hineinwirken. Wie der Titel von Aleida Assmanns Studie Der

lange Schatten der Vergangenheit schon zeigt, und wie sie später noch bemerkt, lebt der

Mensch im Schatten einer Vergangenheit, „die in vielfältiger Form in die Gegenwart weiter

hineinwirkt und die Nachgeborenen mit emotionaler Dissonanz und moralischem Dilemma

heimsucht“.132

Dieser Tatsache hat Halbwachs gar keine Aufmerksamkeit geschenkt. Walser

127

Halbwachs zit. n. Aleida Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen

Erinnerungsliteratur. Wien: Picus 2006, S. 34. 128

Vgl. Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur,

S. 35. 129

Vgl. Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur,

S. 41. 130

Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur, S.

40. 131

Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur, S.

41. 132

Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur, S.

39.

Page 42: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

34

hat Recht, wenn er auf die Gefahr, Erinnerungen nach eigenen Wünschen umzuformen,

hindeutet.133

Seine Theorie bekam aber viel Kritik, weil er in seinem autobiographischen

Buch Ein springender Brunnen nicht einmal ‚Auschwitz‟ nennt, seiner Meinung nach, weil er

damals einfach nicht wusste, es gäbe etwas wie Auschwitz, und weil er seine Erinnerung

somit nicht „mit Hilfe eines inzwischen erworbenen Wissens [...] belehren“134

wollte. Für

Walser sind das Wissen und die Erinnerung also nicht miteinander zu vereinen, denn das

heutige Wissen verforme die authentische Erinnerung. Hierdurch könnte Walser den Vorwurf

gemacht werden, dass er sich auf diese Weise wie viele Deutsche mit der Formel „Das haben

wir nicht gewußt“135

der Schuld entzieht und sich so eine Opferrolle erarbeitet, was Timm gar

nicht schätzen kann.136

Es ist interessant, einmal nachzugehen, wie Timm sich gegenüber diesen zwei äußersten

Sichtweisen von Halbwachs einerseits und Walser andererseits stellt. Wie oben im Abschnitt

über das glättende Erzählen deutlich geworden ist, ist er sich der Gefahr einer retrospektiven

Sichtweise bewusst. Mithilfe der Montagetechnik versucht er denn auch zu vermeiden, dass

die Erinnerungen ihre ursprüngliche Form in den immer wiederholten Erzählungen verlieren.

Es hat also den Anschein, dass er Befürworter der authentischen Erinnerung ist, und dass er

bei der Rekonstruktion des Bildes vom Bruder versuchen will, die Erinnerung an sich

sprechen zu lassen. Diese Idee lässt sich in dem Satz: „Erinnerung, sprich“137

fassen. Die

Erinnerung wird hier befohlen, selbst zu sprechen. Es handelt sich um den Titel eines Buches

von Vladimir Nabokov, das den Untertitel „Wiedersehen mit einer Autobiographie“138

trägt,

auf Englisch An Autobiography Revisited. Im Hinblick auf die Gattungsfrage kann diese

Information nützlich sein. So behauptet Friedhelm Marx, dass Uwe Timms Buch sich mit

diesem Zitat selbst als autobiographischer Text zu erkennen gibt.139

Dieses „Revisited“ deutet

darauf hin, dass die Ich-Figur ihre Autobiographie aufs Neue besuchen will, und sich das, was

ihr immer erzählt worden ist, wieder ansehen will, um herauszufinden, inwieweit das alles

stimmt. Dieses „Wiedersehen“ deutet aber zugleich auch auf die Distanz hin, die es zwischen

dem früheren und dem heutigen Ich gibt; auf die Tatsache, dass die Ich-Figur im Jetzt einen

133

Vgl. Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur,

S. 41. 134

Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur, S.

41. 135

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 129. 136

Vgl. dazu 3.2.2.1. 137

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 36. 138

Vladimir Nabokov: Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie. Reinbek: Rowohlt Tb. 1999. 139

Vgl. Friedhelm Marx: “Erinnerung, sprich. Autobiographie und Erinnerung in Uwe Timms Am Beispiel

meines Bruders”. In: Erinnern, Vergessen, Erzählen: Beiträge zum Werk Uwe Timms. (2007), S. 27-35, hier S.

28.

Page 43: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

35

Sprung ins Damalige macht. Obwohl es das Ziel ist, die Erinnerung selber sprechen zu lassen,

wird anhand des Satzes ‚Erinnerung, sprich‟ also zugleich darauf hingewiesen, dass die

Erinnerung nie in ihrer ursprünglichen Form zu erreichen ist. Das zeigt sich auch in der Art

und Weise, wie der Satz im Text dargestellt wird: Der Absatz vor diesem Satz handelt von

einem Bild der Bombardierungen in Hamburg, das der Ich-Figur immer noch deutlich

vorschwebt: „In der Luft schweben kleine Flämmchen“,140

worauf die Erinnerung empfohlen

wird, selber zu sprechen. Darauf folgt aber ein neuer Absatz, in dem darauf hingedeutet wird,

dass dieses Erinnerungsbild erst hinterher Bedeutung bekommen hat: „Die in der Luft

schwebenden Flämmchen fanden erst später im Erzählen ihre Erklärung. Es waren die vom

Feuersturm aus den brennenden Häusern gerissenen Gardinenfetzen“.141

Es hat den Anschein, dass Timm sich im Erinnerungsprozess zwischen Halbwachs und

Walser stellt. Das lässt sich auch anhand der ersten und einzigen lebendigen Erinnerung, die

Timm an den Bruder hat, illustrieren:

Ich komme aus dem Garten in die Küche, wo die Erwachsenen stehen, meine Mutter, mein Vater, meine

Schwester. Sie stehen da und sehen mich an. Sie werden etwas gesagt haben, woran ich mich nicht mehr

erinnere, vielleicht: Schau mal, oder sie werden gefragt haben: Siehst du etwas? Und sie werden zu dem

weißen Schrank geblickt haben, von dem mir später erzählt wurde, es sei ein Besenschrank gewesen. Dort,

das hat sich als Bild mir genau eingeprägt, über dem Schrank, sind Haare zu sehen, blonde Haare.

Dahinter hat sich jemand versteckt – und dann kommt er hervor, der Bruder, und hebt mich hoch. An sein

Gesicht kann ich mich nicht erinnern, auch nicht an das, was er trug, wahrscheinlich Uniform, aber ganz

deutlich ist diese Situation: Wie mich alle ansehen, wie ich das blonde Haar hinter dem Schrank entdecke,

und dann dieses Gefühl, ich werde hochgehoben – ich schwebe. [meine Hervorhebung]

Es ist die einzige Erinnerung an den 16 Jahre älteren Bruder [...].142

Der Text fängt mit dieser einzigen eigene Erinnerung, die die Ich-Figur an den Bruder hat, an.

Bei einer genaueren Lektüre fällt aber auf, dass diese Erinnerung schon von anderen

überarbeitet ist, wie eine Art von Palimpsest. Das wird deutlich in dem „werden“, das auf die

Vermutung der Ich-Figur hinweist, dass die Familienmitglieder so gehandelt haben müssen.

Auch dass der weiße Schrank ein Besenschrank ist, ist der Ich-Person erst später erzählt

worden. Es wird sichtbar, dass erst später die Erinnerung in diesem Kontext gestellt worden

ist. Man könnte Timm vorwerfen, er lasse sich bei seiner Erinnerung zu sehr von der

Gegenwart, von einem retrospektiven Blick führen, wenn er nicht, indem er

„werden“ verwendet, deutlich gemacht hätte, dass er sich des überarbeiteten Charakters seiner

Erinnerung bewusst ist. Außerdem erwähnt er, was er sich schon deutlich erinnert, und das

140

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 35. 141

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 36. 142

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 7.

Page 44: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

36

sind nur Erinnerungssplitter: die ihn anschauenden Familienmitglieder, das blonde Haar und

das Gefühl des Schwebens.

Timm verlässt sich somit einerseits nicht einfach auf seine einzige authentische

Erinnerung, wie Walser, andererseits schreibt er auch nicht alle Macht der Gegenwart zu, wie

Halbwachs. Er zeigt den Wert einer authentischen Erinnerung, aber auch, dass sie ohne

Kontext nichts vorstellt. Man soll sich nur davor hüten, die späteren Hinzufügungen als

selbstverständlichen Teil der Erinnerung zu sehen und immer versuchen, zwischen dem

Eigenen und dem Fremden zu unterscheiden. Timm scheint ein Gleichgewicht zwischen den

zwei äußersten Sichtweisen gefunden zu haben. Jetzt bleibt aber das Problem, dass Timm

schon andeutet: Die oben zitierte Erinnerung, ist die einzige eigene, die er an den Bruder hat.

Während es das Beste wäre, bei der Rekonstruktion des Bruders eigene Erinnerungen zur

Verfügung zu haben, die ihm dabei helfen können, ein Bild des Bruders zu formen, das

zuverlässiger wäre, als das, was die Eltern ihm aufdrängen, gibt es für ihn also keine andere

Möglichkeit, als die Erinnerungen der Familienmitglieder als Ausgangspunkt seiner

Recherchen zu nehmen.

Der Bruder aus der Sicht der Eltern

Wie schon erwähnt in dem Abschnitt über den Schreibanlass, wird Timm als Nachzügler

ständig an die Tapferkeit und Anständigkeit des Bruders erinnert. Er hat das immer als

„Erziehungsdruck“143

erfahren, und man könnte sagen, dass auch eine Art von

Erinnerungsdruck vorliegt. Die Eltern haben ihm ja immer das Bild, das sie vom Bruder

haben, aufgedrängt, so dass es für ihn sehr schwierig war, sich ein mehr neutrales Bild von

dem Bruder zu machen. Trotz dieses Drucks will er versuchen, die Erinnerungen der Eltern

und der Schwester neu zu betrachten. Wie auch die Ich-Figur im Text sagt: „Sich ihnen [dem

Bruder und Vater, M.A.] schreibend anzunähern, ist der Versuch, das bloß Behaltene in

Erinnerung aufzulösen, sich neu zu finden“.144

Dass er sich neu finden will, illustriert auch

der große zeitliche Abstand zum Erzählten, und die Tatsache, dass die Ich-Figur erst erzählen

kann, wenn die Familienmitglieder gestorben sind: Erst wenn das Familiengedächtnis

langsam verschwindet, wenn – wie Yvonne Pietsch bemerkt – die Zeitzeugen nicht mehr

befragt werden können,145

fängt die Ich-Figur an, nachzufragen. Das scheint paradox, aber

143

Timm zit. n. Kammler: Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, S. 106. 144

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 18. 145

Vgl. Yvonne Pietsch: „Auf der Suche nach der verlorenen Familie“. In: Familie und Identität in der

deutschen Literatur. Hg. von Thomas Martinec und Claudia Nitschke. Frankfurt: Europäischer Verlag der

Wissenschaften 2009, S. 259-273, hier S. 264.

Page 45: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

37

Timm fand erst dann die Möglichkeit, in die Erinnerung einzudringen, weil sie „nicht

abgeschlossen war, solange Menschen lebten, die Mutter, die Schwester, die immer noch

korrigierend und ergänzend hätten eingreifen können“.146

Es ist aber nicht so, dass das

Familiengedächtnis völlig abgeschlossen ist, denn wie oben schon gezeigt, existiert es

ungefähr achtzig bis hundert Jahre, was mit drei Generationen übereinstimmt. Timm ist in

dieser Reihe die zweite Generation und noch am Leben, also imstande, die Erinnerungen an

seine Kinder weiterzugeben. Was vor allem aus seiner Aussage hervorgeht, ist, dass er sich

dazu entschieden hat, kritisch an das Familiengedächtnis heranzugehen und es nicht einfach

anzunehmen, wie es ihm angeboten wird.

Wie ist aber am Besten zu verfahren, um kritisch an das Familiengedächtnis herangehen

zu können? Eine geeignete Methode dazu ist wieder die Montagetechnik, denn sie kann für

einen mehr objektiven Blick auf die Situation sorgen, und dadurch kann Timm mehr Distanz

zur eigenen Familie bewahren. Anhand verschiedener Absätze über den Bruder wird deutlich,

wie das Bild, das die Eltern vom ihm haben, aussieht. Aus der Art und Weise, wie Timm

diese Absätze montiert hat, kann gefolgert werden, dass er sich der Widersprüche in den

Erinnerungen der Eltern bewusst ist. Im folgenden Zitat stellt sich heraus, dass die Ich-Figur

einsieht, wie unterschiedlich der Bruder von beiden Eltern betrachtet wird.

Er war ein eher ängstliches Kind, sagte die Mutter. Er log nicht. Er war anständig. Und vor allem, er war tapfer, sagte der Vater, schon als Kind. Der tapfere

Junge. So wurde er beschrieben, auch von entfernten Verwandten. Es waren wörtliche Festlegungen, und

sie werden es auch für ihn gewesen sein.147

Timm hat hier die Aussage der Mutter gegenüber der des Vaters montiert, man könnte das als

Kontrastmontage bezeichnen. Auch hier spricht die Ich-Figur von „wörtlichen Festlegungen“,

genauso wie sie von dem Verfallen in Sprachformeln und Stereotypen spricht, wenn sie auf

die Risiken des glättenden Erzählens hinweist. Das Prinzip des glättenden Erzählens ist auch

auf den Bruder übertragen worden. Das Wesen des Bruders ist durch die Jahre hindurch auf

einige feste Merkmale reduziert worden, sie ist zu einigen wörtlichen Festlegungen geglättet

worden. Das kursive „Der tapfere Junge“ betont nochmal, dass es sich hier um Worte handelt,

die nicht die der Ich-Figur und auch nicht die des Bruders sind, auch für den Bruder ist das

nur eine wörtliche Festlegung.

Anhand der Kontrastmontage zeigt Timm, dass er sich der Unzuverlässigkeit

bestimmter Aussagen bewusst ist. So betont die Mutter, wie brav der Bruder als Kind war:

„Er war brav. Ein braves Kind, sagte sie. Ein stilles Kind. Verträumt. Aber das sagte sie auch

146

Timm: Von Anfang und Ende, S. 78. 147

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 14.

Page 46: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

38

von mir, und vielleicht stimmt es sogar aus ihrer Sicht“.148

In dem Absatz, der dieser Aussage

vorangeht, kann man aber lesen, dass der Bruder in der Hitlerjugend mehrmals strafexerzieren

musste. Außerdem erwähnt die Ich-Figur nur einige Sätze nach der Aussage der Mutter: „Die

Eltern vermuteten mich in der Jugendgruppe eines Hamburger Briefmarkenvereins, während

ich durch die Straßen von Sankt Pauli lief, dem Viertel, das so ganz unheilig war [...]“. Timm

hat hier die Aussage der Mutter zwischen zwei Absätzen montiert, die das Gegenteil

darstellen und die Ich-Figur hat zur Aussage der Mutter noch hinzugefügt, dass das Urteil

über der Bruder und ihn vielleicht ‚aus ihrer Sicht‟ stimme. Indem Timm das auf diese Weise

montiert, zeigt er, dass er sich der Unzuverlässigkeit der Sichtweise der Mutter bewusst ist.

Neben dem Problem der unzuverlässigen und undifferenzierten Erinnerungen der Eltern,

gibt es auch das Schweigen, nicht nur der Eltern, sondern einer ganzen Generation. Es ist

nicht so, dass nicht über den Krieg erzählt wurde: „Die Vätergeneration, die Tätergeneration,

lebte vom Erzählen oder vom Verschweigen“.149

Der Vater gehörte zur ersten Gruppe, indem

er an den Diskussionen darüber teilnahm, wie man den Krieg doch hätte gewinnen können ,150

und Argumente suchte für die Mitschuld der Alliierten.151

Dringliche Fragen der Ich-Figur

wurden vom Vater aber entkräftet: „Du hast keine Ahnung. Du hast das nicht mitgemacht“.152

Der Vater verliert sich also in Details, redet von Sachen, die es nicht einmal gegeben hat, und

zugleich verschweigt er auf diese Weise das, was wirklich gewesen ist. Timm wird somit mit

vielen Lücken im Familiengedächtnis konfrontiert. Wie er diese zu füllen versucht, wird

später gezeigt.

Die festgeschriebene Erinnerung

Das individuelle Gedächtnis und die erzählten Erinnerungen der Eltern zeigen sich als

unzureichend und zu undifferenziert für die Rekonstruktion der Lebensgeschichte des Bruders.

Es gibt aber noch eine Art von Erinnerung, die zum familialen Gedächtnis gezählt werden

kann, und das ist die „festgeschriebene Erinnerung“.153

Nur hieraus spricht der Bruder selbst:

„Er [der Bruder, M.A.] selbst, sein Leben, spricht nur aus den wenigen erhaltenen Briefen und

aus dem Tagebuch“.154

Diese Dokumente verschaffen der Ich-Figur einen mehr direkten

Zugang zum Bruder. Es ist aber zweifelhaft, ob sie deswegen ein objektives Bild des Bruders

148

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 27. 149

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 99. 150

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 75, 95. 151

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 130. 152

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 105. 153

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 33. 154

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 33.

Page 47: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

39

umreißen. Wenn man z. B. die Feldpostbriefe, die der Bruder an die Eltern schreibt,

miteinander vergleicht, fällt auf, dass der Bruder beide Eltern anders informiert. So schreibt er

in einem Brief an den Vater vom zwanzigsten Juli 1943, dass es schwere Kämpfe sind,155

während er in einem Brief an die Mutter, der vom zweiundzwanzigsten Juli 1943 datiert,

schreibt, dass er es traurig findet, dass sie nie eingesetzt werden.156

Das stimmt mit dem

überein, was er seinem Vater in einem Brief vom siebzehnten März 1943 versprochen hat:

„Du schreibst mir, daß ich der Mutti nicht schreiben soll, daß ich im Kampf bin. So kann ich

Dir sagen, daß ich bis jetzt nichts davon nach Hause geschrieben habe und daß ich auch in

Zukunft nichts davon nach Hause schreibe“.157

Der Bruder passt die Informationen, die er den

Eltern gibt, ihren Erwartungen an: Die Mutter sieht in ihm ein braves, verträumtes Kind, also

fügt er zu seiner Aussage, dass sie nicht eingesetzt werden, hinzu: „Aber Du weißt, daß ich da

wenig drauf gebe [...]“. Für den Vater ist der Bruder der anständige, gehorsame Junge, und

wenn er dem Vater schreibt, erwähnt er denn auch, dass er die Jagd auf Orden großen Unsinn

findet, und dass er nur Befehle ausführt,158

denn er weiß, dass der Vater das schätzen würde.

Während die Ich-Figur sich so sehr davor hütet, durch das Erzählen in wunschgelenkte

Mutmaßungen zu geraten,159

wird deutlich, dass der Bruder in seinen Briefen genau das

macht: Er stellt sich selbst wunschgemäß dar, gemäß den Wünschen der Eltern. Daher ist es

für die Ich-Figur unmöglich, aus den Briefen das wahre Gesicht des Bruders abzuleiten. Diese

festgeschriebenen Erinnerungen machen den Bruder greifbarer als die erzählten Erinnerungen,

aber man muss eingestehen, dass sie nicht zuverlässiger sind.

Auch die Tagebucheinträge zählt die Ich-Person zu den festgeschriebenen Erinnerungen.

Da der Bruder diese nur für sich selbst geschrieben hat, und sie somit nicht den Erwartungen

von anderen angepasst sind, könnten sie ein ziemlich genaues Bild des Bruders darstellen. Es

gibt aber verschiedene Probleme im Hinblick auf das Tagebuch. So fiel es der Ich-Figur

zuerst sehr schwer, sich in die Tagebucheinträge zu vertiefen. Wie schon erwähnt, konnte sie

an der folgenden Stelle anfangs nie weiterlesen:

März 21.

Donez

Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG.160

155

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 56. 156

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 92. 157

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 74. 158

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 74. 159

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 76. 160

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 16.

Page 48: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

40

Nicht nur hat der Bruder einen russischen Soldaten erschossen, sondern er scheint das zudem

sehr normal zu finden und sich deswegen gar nicht schuldig zu fühlen, das zeigt sich aus

diesem banalen ‚ein Fressen für mein MG‟. Die Lust des Bruders am Töten stimmt nicht mit

dem Bild des braven, anständigen Jungen überein. Es ist für die Ich-Figur somit nicht nur

schwierig, die Tagebucheinträge durchzugehen, weil sie mehr Fürchterliches enthalten

könnten, sondern auch, weil sie gegen das Bild, das die Eltern vom Bruder haben, sprechen

könnten. Wenn die Ich-Figur aber ein vollständiges Bild des Bruders rekonstruieren will,

kann sie der Lektüre der Tagebucheinträge nicht entgehen. Ein anderes Problem ist, dass,

obwohl man die Tagebucheinträge als objektiver als die erzählten Erinnerungen und die

Briefe betrachten kann, sie weiter kaum Informationen über den Bruder selber enthalten.

Dieser schreibt in seinem Tagebuch fast nur über den Kriegsalltag. Persönliche Äußerungen

über das, was geschieht, sind kaum vorhanden: „Der Hintergrund der lakonischen

Eintragungen läßt sich fast nie aufhellen, ihn, den Bruder, nicht sichtbar werden, seine Ängste,

Freude, das, was ihn bewegt hat, Schmerzen, nicht einmal Körperliches wird angesprochen, er

klagt nicht, registriert nur“.161

Wenn die Ich-Figur über die Tagebucheinträge etwas mehr über den Bruder erfahren

will, ist sie gezwungen, die Einträge auf ihre eigene Weise zu interpretieren, und so ist das

Tagebuch schließlich auch nicht imstande, Quelle für ein mehr zuverlässiges Bild des Bruders

zu sein.

Bilder

Sehr wichtig für die Rekonstruktion des Familiengedächtnisses sind die Bilder, die mit Aleida

Assmann „als das Medium absichtsloser Vergangenheitsvermittlung par excellence gelten

können“.162

Insgesamt gibt es im Text ca. achtundzwanzig Fotos,163

unter denen ungefähr

zehn Bilder des Bruders. Sie zeigen ihn in Uniform164

und in Zivil,165

beim Vater auf dem

Schoß und im Auto,166

im Matrosenanzug mit einer Schultüte167

usw. Wenn man zuverlässige

Information über das Äußere einer Person bekommen will, sind Bilder sehr geeignet. Nur sie

geben der Ich-Figur eine Idee des Aussehens des Bruders, unabhängig von den

161

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 141. 162

Aleida Assmann: Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München:

Beck 1999, S. 114. 163

Diese gehören nicht alle dem Familiengedächtnis, es gibt auch Bilder, die im kollektiven Gedächtnis

eingegangen sind. Diese werden im Abschnitt über das kollektive Gedächtnis ausführlicher besprochen. 164

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 10. 165

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 11. 166

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 17. 167

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 62.

Page 49: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

41

Beschreibungen der Eltern. Das, woran sie sich selber erinnern kann, sind ja – wie erwähnt –

nur seine blonden Haare.

Oft ist es aber so, dass die Ich-Figur die Bilder mit eigenen Deutungen versieht. Das

wird z. B. deutlich, wenn sie ein Foto des Vaters als Soldaten zuerst ausführlich beschreibt,

um schließlich festzustellen, dass der Vater vermutlich einen Witz gemacht hat, und die

anderen Soldaten daher lachen.168

Die Vermutung, dass der Vater einen Witz gemacht hat,

geht aus ihrem Wissen hervor, dass der Vater ein „guter Unterhalter bei Tisch“169

war, der oft

Witze erzählte. Die Ich-Figur fügt dem Bild, das an sich nur Äußeres zeigt, also

Charakterzüge des Vaters hinzu. Das erinnert an Silke Horstkottes Feststellung, dass „der

Betrachter von Bildern diese nicht nur mit narrativen Kontexten, sondern auch mit einem

eigenen Reservoir unbewußter, möglicherweise bildhafter Erinnerungen abgleicht [...]“.170

Im Falle des Bruders hat die Ich-Figur aber nicht die Möglichkeit, die Bilder mit

eigenem Wissen zu ergänzen, denn alles, was sie über seine Mentalität, seine Wünsche weiß,

ist ihr von den Eltern erzählt worden. Wenn ein Bild den Bruder z. B. in HJ-Uniform mit

Stiefeln zeigt, weiß die Ich-Figur, dass der Bruder sein Taschengeld gespart hat, um sich diese

Stiefel kaufen zu können,171

weil die Eltern ihr das nachher erzählt haben. Das Foto

unterstützt in diesem Fall somit die Aussagen der Eltern, und deutet auf die Beschränkung der

Bilder des Bruders im Allgemeinen hin: Jeder narrative Kontext, der die Ich-Figur einem Foto

des Bruders hinzufügt, ist nicht ihr eigener. Sie kann sich nicht von den Interpretationen der

Eltern befreien, denn ohne diese haben die Bilder keine Bedeutung. Ohne lebendigen

Erinnerungsbezug, ohne sprachliche Kommunikation, ist ein Bild nach Siegfried Kracauer

eine „äußere Hülle“, die „das Gegenteil von Erinnerung“172

ist.

Obwohl Fotografien – wie oben zitiert – eine „Vergangenheitsvermittlung par

excellence“ sind, sind sie also deutlich von der Gegenwart abhängig, was bewirkt, dass die

Ich-Figur auch anhand der Bilder des Bruders sich nur eine Vorstellung von seiner Mentalität,

seinen Wünschen und Charakterzügen bilden kann. Auch die Fotos, die der Familie nach dem

Tod des Bruders geschickt worden sind, bieten keine Auskunft: Sie sind ganz alltäglich,173

wie seine Aufzeichnungen und zeigen keine gehenkten Russen oder die Erschießung von

168

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 20. 169

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 77. 170

Silke Horstkotte: Nachbilder: Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur.

Köln: Böhlau 2009, S. 125. 171

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 86. 172

Siegfried Kracauer zit. n. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 53. 173

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 25.

Page 50: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

42

Zivilisten.174

Auch diese „ 10 Lichtbilder“175

lassen den Bruder nicht „aufhellen“176

, seine

Intentionen nicht sichtbar werden.

b) Das kollektive Gedächtnis

Es hat sich herausstellt, dass das Familiengedächtnis nicht wirklich imstande ist, der Ich-Figur

befriedigende Informationen über das Leben des Bruders zu verschaffen. Dem

Familiengedächtnis können die Merkmale, mit denen Aleida Assmann die individuelle

Erinnerung gekennzeichnet hat, zugeschrieben werden. Die Erinnerungen der Familie sind

erstens perspektivisch: Sie umreißen ein Bild des Bruders, das aus dem Blickwinkel der

Eltern stimmt. Man kann somit nicht behaupten, dass ihre Erinnerungen falsch sind, denn wie

die Ich-Figur ebenfalls bemerkt, stimmen sie aus ihrer Sicht.177

Ein wahrheitsgemäßes Bild

stellen sie deshalb aber nicht unbedingt dar. Zweitens ist es so, dass die Erinnerungen des

Vaters mit denen der Mutter vernetzt sind. Obwohl sie beide den Begriff ‚braver Junge‟

anders definieren, sind sie sich darüber einig, dass der Bruder anständig war. Ihre

Erinnerungen bestätigen sich also und werden auf diese Weise glaubwürdiger. Drittens sind

sie fragmentarisch, was darauf hindeutet, dass sie „begrenzt und umgeformt“178

sind. So

deuten beispielsweise die ‚festgeschriebenen‟ Ausdrücke, mit denen die Eltern den Bruder

bezeichnen, darauf hin, dass durch immer wiederholte Erzählungen der Bruder zu diesem

braven Jungen umgeformt worden ist. Der Kontext, der die fragmentarische Erinnerung so

ordnet, dass sie die Sichtweise der Eltern unterstützt, ist erst nachher entstanden, als die Eltern

mit dem Erzählen angefangen haben. Die Erinnerungen sind viertens flüchtig und labil, was

sich z. B. im Versäumnis der Ich-Figur zeigt, Dingen noch einmal nachzufragen,179

wenn sie

dazu noch die Möglichkeit hatte. Was früher nicht interessant schien, zeigt sich im Licht von

Timms Recherchen plötzlich als wichtig. Dies illustriert, wie sehr die Relevanz von

Erinnerungen sich ändern kann. Zu diesen vier Defiziten kommt noch das – gezielte oder

nicht gezielte – Schweigen der Eltern.

Weil Timm mit diesen Defiziten im Familiengedächtnis konfrontiert wird, ist er für

seine Recherchen gezwungen, die Lücken mit außerfamiliären Erinnerungen aufzufüllen. Hier

kann das kollektive, kulturelle Gedächtnis Auskunft bieten. Wie im Text deutlich wird, hat

Timm neben den Erinnerungen der Eltern und der Schwester und neben den

174

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 25. 175

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 31. 176

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 141. 177

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 27. 178

Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 25. 179

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 130.

Page 51: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

43

festgeschriebenen Erinnerungen auch eine Menge anderer Dokumente montiert. In seinen

poetologischen Vorlesungen argumentiert er das:

Jede literarische Arbeit, jedenfalls die mich interessierende, muss sich beidem, dem individuellen wie

dem gesellschaftlichen Erinnern, öffnen und gerade dem nachspüren, was verschwiegen wird, was nicht

im Blick und dennoch da ist. [...] Das auf das gesellschaftliche Gedächtnis gerichtete Nachdenken macht

das Öffentliche, ja notwendig Politische der Literatur aus, das von den individuellen Erfahrungen des

Schriftstellers ausgeht, um über sie hinauszugehen..180

Indem das individuelle und das kollektive Erinnern in einem Text zusammen behandelt

werden, gibt es also die Möglichkeit, diese einander ergänzen zu lassen. Auch Brigitte

Rossbacher hat festgestellt, dass im Text das kulturelle Gedächtnis aufgerufen wird, wenn

Lücken im Familiengedächtnis gestopft werden sollen.181

Die öffentlichen Dokumente sind

sehr gezielt im Text einmontiert. So lässt Timm einen Brief des Bruders durch die Bemerkung

folgen, dass der Bruder das Leiden der russischen Zivilbevölkerung nicht registriert hat,

worauf ein Brief des Generals Heinrici folgt, in dem er seiner Frau eine ausführliche

Beschreibung des grausamen Zustands in den russischen Dörfern gibt.182

Das kollektive

Gedächtnis funktioniert hier als eine Ergänzung für den Mangel an Informationen im Brief

des Bruders. An anderen Stellen werden Dokumente anhand der Kontrastmontage einander

gegenüber gestellt. So gibt es einen Brief des Bruders, in dem er am Ende um die Antwort der

Mutter bittet: „Nun liebe Mutsch will ich schließen, schreibe mir bald wieder“.183

Gerade

nach diesem Brief zitiert Timm aus Primo Levis Die Untergegangenen und die Geretteten,

dass die Häftlinge im Konzentrationslager keine Nachrichten von Verwandten und Freunden

bekommen konnten, und er schließt den Absatz mit dem oben zitierten Satz aus dem Brief des

Bruders ab. Indem diese zwei Absätze kontrastiert werden, wird das grausame Schicksal der

Opfer desto mehr betont.

Das Familiengedächtnis wird auch mit öffentlichen Fotos ergänzt. Wie oben gezeigt,

gibt es keine Fotografien des Bruders, die für eine Teilnahme an der Erschießung von

Zivilisten sprechen. Timm füllt diese Lücke auf,184

indem er öffentliche Fotos einer Schlucht

in der Nähe von Kiew im Text montiert,185

die er durch den Satz „Deutlich zeigen die Fotos –

180

Timm: Von Anfang und Ende, S. 82-83. 181

Vgl. Brigitte Rossbacher: Cultural Memory and Family Stories: Uwe Timm’s Am Beispiel meines Bruders in

Michael Braun: “Die Leerstellen der Geschichte.” In: Erinnern, Vergessen, Erzählen: Beiträge zum Werk Uwe

Timms. Hg. von Friedhelm Marx. Göttingen: Wallstein 2007, S. 53-67, hier S. 58. 182

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 24-26. 183

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 102. 184

Obwohl es keine Beweise für die Beteiligung des Bruders an Erschießungen von Zivilisten gibt, stellt Timm

seine Tätigkeiten doch in diesem Kontext dar. Ob er damit eine Dekonstruktion des Heldenbildes des Bruders

gemeint haben könnte, wird unten untersucht. 185

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 136, 137.

Page 52: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

44

die Sonne scheint“186

folgen lässt. Der Satz benennt die Deutlichkeit, die Klarheit dieser

Bilder, die in den von dem Bruder geschickten Fotos nicht anwesend ist. Sie stellen das

Leiden der Zivilbevölkerung, von dem in den Briefen und Tagebucheinträgen des Bruders

nicht die Rede ist, deutlich dar, lassen es ‚aufhellen‟. Auch das bekannte Foto von Lee Miller,

The evil, das nach der Befreiung des Konzentrationslagers in Dachau aufgenommen worden

ist und Häftlinge zeigt, die einen SS-Mann in einem Bach ertränken, ist einmontiert.187

Es

illustriert die Wut der Häftlinge, verursacht durch die Grausamkeiten der SS, die die Eltern

nicht haben sehen wollen.

Das sind nur einige Beispiele, die zeigen, wie nützlich das kollektive Gedächtnis für die

individuelle Erinnerung sein kann. Es ist aber wichtig, darauf zu achten, dass auch das

kollektive Gedächtnis Lücken enthält. Timm stellt fest: „Erinnerungen lassen sich verdrängen,

bewusst, oder sie werden durch das Unbewusste regelrecht blockiert, was, wie wir wissen, zu

psychischen Störungen führen kann, zum Trauma. Ein Vorgang, der durchaus nicht nur im

individuellen, sondern auch im kollektiven Gedächtnis feststellbar ist“.188

So geschieht es,

dass Denkmale nicht länger als Träger des kulturellen Gedächtnisses funktionieren, weil jeder

ihre Bedeutung vergessen hat. Es handelt sich dabei um einen natürlichen Vorgang, denn eine

Gesellschaft ist nicht imstande, alles beizubehalten. Das Schweigen kann aber auch eine

gezielte kulturelle Strategie sein,189

beispielsweise zugunsten einer bestimmten Ideologie.

Im Nachkriegs-Deutschland ist das Schweigen, das Vergessen der Bevölkerung eher

eine unbewusste Strategie: Man redet nicht über den Krieg, weil die Geschehnisse zu grausam

sind, um sie in Worte zu fassen. Das Unbewusste blockiert also die Erinnerung und führt zum

Trauma, zumindest für die Generationen, die den Krieg bewusst erfahren haben. Jochen

Hörisch deutet darauf hin, dass die Erinnerungsarbeit an die Massenmorde der Nazis mit einer

Verzögerung von zwei Jahrzehnten stattfand.190

Erst nach zwanzig Jahren ist die Bevölkerung

imstande, ihr kollektives Trauma zu verarbeiten. Die Verarbeitung fängt mit den Protesten der

Achtundsechziger – zu denen auch Timm gehört – an, die die Vätergeneration zur

Verantwortung und zu Antworten zwingen. Belastende Bilder, Dokumente, die es – trotz des

kollektiven Schweigens – noch immer gibt, sind Auslöser ihres Nachfragens. Man könnte hier

mit Assmanns Terminologie von einem Speichergedächtnis sprechen. Mit dem Begriff ist

gemeint, dass das, was von einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgeblendet

186

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 137. 187

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 60. 188

Timm: Von Anfang und Ende, S. 82. 189

Vgl. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 52. 190

Vgl. Jochen Hörisch: Das Wissen der Literatur. München: Wilhelm Fink Verlag 2007, S. 146.

Page 53: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

45

ist, nicht gänzlich vergessen sein muss, denn es kann in materiellen Spuren, wie Bildern und

Büchern, aufbewahrt sein, und in einer späteren Epoche neu entdeckt und gedeutet werden,

worauf es durch Traditionen, z. B. Gedenktage, wieder funktionell wird.191

Timm macht das, was im Speichergedächtnis bewahrt worden ist, wieder zum

„Funktionsgedächtnis“, indem er die offiziellen Dokumente in seiner privaten

Familiengeschichte aufnimmt. Das ist laut Aleida Assmann typisch für Familienromane: „Sie

dokumentieren die Nachgeschichte des Zweiten Weltkriegs im privaten Milieu der Familie

und thematisieren damit eine grundsätzliche Diskrepanz zwischen offizieller und privater

Erinnerung, die die deutsche Nachkriegsgeschichte bestimmt hat“.192

Timms Erzählweise,

wobei er die privaten und offiziellen Erinnerungen neben und gegenüber einander montiert,

deutet auch darauf hin, dass er sich weigert, heutiges Wissen bei seinen Recherchen zu

vernachlässigen. Es ist zwar seine Absicht, die Erinnerung sprechen zu lassen, ohne die

Korrekturen und Anpassungen der Familienmitglieder, aber es stellt sich heraus, dass er kein

zuverlässigeres Bild des Bruders erreichen kann, wenn er nicht auch die kollektiven

Erinnerungen mit einbezieht, die er erst später zu seiner Verfügung hat. Auf diese Weise zeigt

Timm, „dass eine retrospektive Bewertung der eigenen Erinnerung möglich ist, ohne diese

umzufälschen“.193

3.2.3 Die Erinnerung in Der Freund und der Fremde

3.2.3.1 Erzählen und das Heil des Vergessens

Oben wurde die Gattung der Erzählung, der dieses Buch zugeschrieben wird, schon

ausführlich besprochen, und darauf hingewiesen, dass die Ich-Person hier weniger

Schwierigkeiten hat, ihre Beziehung zum Erzählten anzuerkennen. Die Ich-Figur tritt hier

mehr selber als Erzähler der Geschichte hervor, und erteilt weniger den anderen das Wort. Es

gibt zwar immer noch die Montagetechnik, aber die einmontierten Dokumente sind viel

weniger zahlreich als diejenigen in Am Beispiel meines Bruders. So gibt es hier nur zwei

191

Vgl. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 56. 192

Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur, S.

25. Hierbei sei bemerkt, dass – wie Yvonne Pietsch in ihrem Aufsatz Auf der Suche nach der verlorenen Familie,

S. 266 schon feststellt – der Begriff „Familienroman“ nicht wirklich eine adäquate Bezeichnung für Am Beispiel

meines Bruders ist. Erstens weil das Buch sich nicht zu einer „drei (und mehrere) Generationen umspannenden

Retrospektive“ (Assmann, S. 28) weitet, und zweitens weil der Begriff „Roman“ einen fiktionalen Charakter des

Buches impliziert, was – wie oben bei der Analyse der Gattungsfrage deutlich geworden ist – der Absicht der

Autobiographie, der Wahrheit so gut wie möglich anzunähern, widerspricht. 193

Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur, S.

50.

Page 54: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

46

Briefe, beide von Benno Ohnesorg an den Direktor des Braunschweig-Kollegs,194

während im

Bruderbuch wohlgemerkt elf Briefe einmontiert sind. Zu diesen einmontierten Dokumenten

gehören auffallend wenig öffentliche Dokumente.195

Auch werden bei der Rekonstruktion der

Geschichte Ohnesorgs weniger Bilder verwendet: dreizehn gegenüber achtundzwanzig. Im

Hinblick auf die Zitate kann aber nicht behauptet werden, dass sie in diesem Text weniger

anwesend wären als in Am Beispiel meines Bruders: Zahllose Zitate von u.a. Ovid,196

Walter

Benjamin,197

Albert Camus198

sind einmontiert worden. Doch gibt es einen wichtigen

Unterschied zum Bruderbuch: Am Ende des Textes werden die Bücher, aus denen zitiert

worden ist, erwähnt. Mit diesem Verfahren lässt Timm die Zitate viel weniger für sich

sprechen als im Bruderbuch. Er deutet so auf die Tatsache hin, dass er selber derjenige ist, der

zitiert. Außerdem unterscheidet er auf diese Weise viel ausdrücklicher als in Am Beispiel

meines Bruders zwischen seinen eigenen Aussagen und denen von Fremden, und betont so,

dass er der wichtigste Erzähler dieser Geschichte ist.

Die Montagetechnik in diesem Text ist somit zwar für die Darstellung des

Erinnerungsverlaufes sehr geeignet, aber hat nicht wirklich zum Ziel, zu vermeiden, dass die

Ich-Figur zu sehr mit der erzählten Geschichte verbunden wird, wie im Bruderbuch. Der

Grund dafür liegt vermutlich in der Art und Weise, wie Timm sich an seinen Freund zu

erinnern versucht. Auch hier versucht er, einen Lebensentwurf darzustellen, die authentische

Person sichtbar zu machen, und wiederum gibt es das Problem, dass ihm von außen ein Bild

dieser Person, von dem die Zuverlässigkeit fraglich ist, aufgedrängt wird. Daher hat er sich

zum Auftrag gemacht, sich von diesem aufgedrängten Bild zugunsten seiner eigenen

Erinnerung an Benno Ohnesorg zu befreien. Was ihm dabei hilft, ist wiederum die zeitliche

Distanz, durch die er Gefühle wie Rache und Wut verarbeiten kann, aber noch wichtiger:

durch die das Generationengedächtnis – das unten ausführlicher besprochen wird – sich

langsam verwischt.

Aleida Assmann zitiert in ihrer Erinnerungsstudie Der lange Schatten der

Vergangenheit den Arzt Thomas Browne, der sich sehr pessimistisch über das

Erinnerungsvermögen des Menschen äußert:

Es wechseln Dunkelheit und Licht im Lauf der Zeit, und Vergessen hat an unserem Leben einen ebenso

großen Anteil wie das Erinnern. Von unserem Glück behalten wir nur einen oberflächlichen Eindruck

194

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 15-16 und S. 17-19. 195

Diese Dokumente werden im folgenden Abschnitt über das Generationen – und kollektive Gedächtnis

ausführlicher besprochen. 196

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, u.a. S. 127. 197

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, u.a. S. 34. 198

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, u.a. S. 65.

Page 55: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

47

zurück, und selbst die schmerzhaftesten Hiebe vernarben bald wieder. Dem Äußersten sind unsere Sinne

nicht gewachsen, und das Leid zerstört entweder uns oder sich selbst.199

Obwohl er Recht hat, dass das Vergessen Hand in Hand mit dem Erinnern geht, ist es für

Timm gerade dieses Vergessen, welches das Erzählen ermöglicht. Wie er auch in Von Anfang

und Ende feststellt: „Das Erzählen hat seinen Ursprung eben darin, im Erinnerten und

Vergessenen. Wobei zum Erinnern immer auch das Vergessen gehört, das Vergessen

möglicherweise sogar der weit produktivere Teil ist, indem es die Bedeutungsinseln im Fluss

Lethe erst schafft“.200

Erst wenn das Generationengedächtnis sich verwischt, ist er imstande,

seine eigene Geschichte über Benno Ohnesorg zu erzählen.

3.2.3.2 Arten von Erinnerung

a) Das Generationen – und kollektive Gedächtnis

Oben ist anhand eines Zitats von Timm dargestellt worden, dass er in Der Freund und der

Fremde die Erinnerungsmomente mit anderen teilt, während das in Am Beispiel meines

Bruders nicht der Fall ist. Ich habe diesen von Timm gemachten Unterschied mit den

Begriffen des Familiengedächtnisses und des Generationengedächtnisses verknüpft. In Am

Beispiel meines Bruders habe ich das Familiengedächtnis als die dominante

Gedächtnisformation bezeichnet, weil die Ich-Figur für ihre Recherchen von diesem

Gedächtnis sehr abhängig ist und sich beim Erinnerungsprozess somit in der ‚Wir-Gruppe‟

der Familie befindet. In Der Freund und der Fremde ist sie nicht abhängig von dem

Generationengedächtnis (sie verfügt über ausreichend individuelle Erinnerungen), aber sie

gehört trotzdem immer noch der Wir-Gruppe ihrer Generation.

Wie schon gezeigt anhand von Aleida Assmanns Gedächtnistheorien, ist jede

Generation von bestimmten Schlüsselerfahrungen geprägt, und teilen die Personen derselben

Generation bestimmte Weltbilder, Überzeugungen usw. Eine Schlüsselerfahrung, die die Ich-

Figur – die den Achtundsechzigern gehört – mit ihrer Generation teilt, ist die Erschießung

Benno Ohnesorgs und die darauffolgende Studentenrevolution. Normalerweise gibt es nach

einer Periode von ca. dreißig Jahren einen Generationswechsel, der bewirkt, dass die

Haltungen und Überzeugungen der vorigen Generation nicht länger bestimmend sind.201

Das

Schicksal Ohnesorgs und die Studentenrevolution haben aber solchen großen Einfluss gehabt

199

Thomas Browne zit. n. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 23. 200

Timm: Von Anfang und Ende, S. 69. 201

Vgl. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 27.

Page 56: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

48

(z. B. im Hinblick auf die Verarbeitung der deutschen Vergangenheit), dass sie bis in die

heutige Zeit hineinwirken. Sie sind Teil des kollektiven Gedächtnisses geworden „durch

solche symbolische Stützen [Bilder, Texte, Monumenten usw.], die die Erinnerung in die

Zukunft hinein befestigen, indem sie spätere Generationen auf eine gemeinsame Erinnerung

verpflichten“.202

Es ist somit nicht einfach, hier zwischen dem Generationengedächtnis und

dem kollektiven Gedächtnis zu unterscheiden, weil der Text erst geschrieben worden ist,

wenn die Transformation vom Generationen- zum kollektiven Gedächtnis sich schon

vollzogen hat. Was für die Ich-Figur 1967 eine Schlüsselerfahrung ihrer Generation war, war

beim Erscheinen des Buches 2005 schon kollektiv gespeichert.

Eine der wichtigsten symbolischen Stützen des kollektiven Gedächtnisses im Hinblick

auf die Studentenrevolution ist unzweifelhaft das Bild des erschossenen Ohnesorgs, das

zweimal im Buch erwähnt wird.203

Wie die Ich-Figur feststellt, gehört es zu den Bildern, „die

sich ins Bewußtsein einsenken, eine hochverdichtete, aus sich heraus sprechende Situation

zeigen und so rationale Einsichten emotional aufladen und an die eigene Handlungsfähigkeit

appellieren“.204

Auf die Ich-Figur wirkte das Bild wie ein „Kraftstoß“,205

der sie dazu trieb,

sich zu ändern. Das erinnert an Roland Barthes‟ „punctum“206

, eine sehr starke Reaktion auf

ein Bild, die beim Rezipienten hervorgerufen wird, weil das Bild ihn wie ein Pfeil

durchbohrt.207

Matteo Galli hat öffentliche Bilder, die ein Punctum verursachen, als „negative

Epiphanien“208

bezeichnet, so auch das Bild des sterbenden Ohnesorg, das seiner Meinung

nach der Mittelpunkt dieses Textes ist.209

Oben wurde gezeigt, dass zur Zeit der sechziger und siebziger Jahre die Idee herrschte,

dass das kollektive Gedächtnis ein von der Gesellschaft kreierter Mythos war. Inzwischen ist

man sich aber der überzeitlichen Wirkmacht von Bildern bewusst geworden: Gewisse Bilder

prägen sich den nachfolgenden Generationen einfach unauslöschlich ein. Die überzeitliche

Wirkmacht des Ohnesorg-Bildes zeigt, dass dieses Bild nicht aus politischen Gründen von

den Rechten noch von den Linken zum kollektiven Erbe gemacht worden ist, sondern dass es

von sich aus zum Träger des kollektiven Gedächtnisses geworden ist. Es wurde oben gezeigt,

202

Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 35. 203

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 11 und 117. 204

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 117. 205

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 117. 206

Roland Barthes zit. n. Matteo Galli: „Schuhkartons und Pappschachteln: Uwe Timms mediale

‚Gedächtniskisten‟“. In: Erinnern, Vergessen, Erzählen. Beiträge zum Werk Uwe Timms. Hg. von Friedhelm

Marx. Göttingen: Wallstein 2007, S. 103-116, hier S. 106. 207

Vgl. Roland Barthes zit. n. Galli: Schuhkartons und Pappschachteln: Uwe Timms mediale ‚Gedächtniskisten’,

S. 107. 208

Galli: Schuhkartons und Pappschachteln: Uwe Timms mediale ‚Gedächtniskisten’, S. 108. 209

Vgl. Galli: Schuhkartons und Pappschachteln: Uwe Timms mediale ‚Gedächtniskisten’, S. 116.

Page 57: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

49

dass auch die Ich-Figur das einsieht: Sie nennt das Bild eine „aus sich heraus sprechende

Situation“.210

Sie ist sich aber nicht darin einig, dass die Öffentlichkeit anhand des Bildes eine

Art von Mythenbildung um Ohnesorg herum in Gang bringt. Einerseits tritt Ohnesorg durch

sein traumatisches Schicksal als der heroische Held, der sich für seine politischen

Überzeugungen geopfert hat, hervor. Er wird zum „politischen Exempel“211

der

Achtundsechziger gemacht. Andererseits wird er von den Medien als ein politischer Rebell

gestaltet, eine Darstellung, gegen die die Ich-Figur protestiert:

Empörung, Wut, Ratlosigkeit, dann eine gerichtete Wut, eine Wut auf die Staatsorgane, auf die Polizei,

auf den Regierenden Bürgermeister Albertz, auf die SPD, auf die Pressesprecher der Behörden, die

zunächst alles herunterredeten, dem Toten unterstellten, er habe den Zivilfahnder angegriffen. Eine

gezielte Desinformation wurde verbreitet: Ein Polizist sei von einem Demonstranten mit einem Messer

angegriffen und erstochen worden.212

Obwohl das Bild von Ohnesorg für sich spricht, wird hier sichtbar, dass es damals doch

Versuche gegeben hat, diesem Foto eine ganz andere Bedeutung zu geben. Es gibt auch noch

ein anderes Foto des am Boden liegenden Ohnesorgs, auf dem neben ihm ein Polizist mit

einem Knüppel in der Hand steht, „als habe er den Demonstranten eben niedergeschlagen“.213

Die Ich-Figur fügt aber gleich darauf hinzu, dass es bekannt war, dass Ohnesorg erschossen

worden ist. Doch war das unmittelbar nach dem Geschehen nicht der Fall: „Zunächst war

noch abgestritten worden, daß der Demonstrant durch einen Schuß umgekommen sei“,214

manche behaupteten, Ohnesorg sei „unglücklich gestürzt“.215

Obwohl das Foto des Polizisten

mit dem Knüppel in der Hand die Polizei nicht als weniger schuldig darstellt, kann das Foto

doch dazu beigetragen haben, die Annahme, dass Ohnesorg nicht erschossen worden war,

aufrecht zu erhalten.

Ohnesorg ist durch seinen zufälligen Tod zu etwas gemacht worden, das er nie gewesen

ist. Er war nicht politisch engagiert,216

er war sogar nicht an Politik interessiert,217

auf jeden

Fall nicht laut der Ich-Figur. Das Bild des toten Ohnesorgs stimmt gar nicht mit dem ihres

Freundes Benno überein, es ist „eine merkwürdige Verkehrung seiner Existenz“.218

Wie

Reinhard Wilczek erwähnt, gibt Timm durch sein Schreiben seinen Figuren „jene Würde

210

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 117. 211

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 14. 212

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 116-117. 213

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 162. 214

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 121. 215

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 121. 216

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 14. 217

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 87. 218

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 14.

Page 58: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

50

zurück, die ihnen genommen wurde“,219

und das ist sicherlich auch hier der Fall. Im Text liegt

der Nachdruck auf die eigenen Erfahrungen der Ich-Figur mit Ohnesorg. Die eigenen

Erinnerungen sind dominant. Das stellt sich heraus, wenn man sich als Leser den Text ansieht.

Es gibt zwar viele Zitate, aber nur sehr wenige von ihnen sind öffentliche Dokumente. Die

einzigen offiziellen Dokumente, die außer dem berühmten Foto in Bezug auf Ohnesorgs Tod

in den Text einmontiert sind, sind Dokumente, die mehr Auskunft über Ohnesorgs

Erschießung bieten. So gibt es das Zeugnis von Erika Hörnig, die beobachtete, wie Ohnesorg

von einem Polizisten auf den Kopf geschlagen wurde, darauf erschossen wurde, und wie er

dann nach wie vor von Polizisten geschlagen wurde.220

Vermutlich hat Timm dieses

Dokument gewählt, weil es völlig gegen die Mitschuld Ohnesorgs spricht. Weiter hat er eine

Akte einmontiert, die sehr genau die Art von Ohnesorgs Verletzung zeigt,221

und die übrigens

unmittelbar nach dem Absatz über die Zweifel an Ohnesorgs Erschießung gestellt worden ist,

und somit ein schönes Beispiel der Kontrastmontage darstellt.

Die zwei oben beschriebenen Absätze sind die einzigen offiziellen Dokumente, die

mehr Auskunft über das Geschehen geben. Obwohl es unendlich viele Zeugnisse des

Ereignisses gibt, hat Timm sich dazu entschieden, diese nicht in den Text einzumontieren. Die

Ich-Figur erzählt: „Ich lese die Zeugenaussagen von Polizisten, Demonstranten, Journalisten,

Passanten. Zeichnungen vom Tatort. Flugblätter, die zur Demonstration aufrufen“, 222

aber

keine dieser Dokumente werden tatsächlich im Text verwendet. Während in Am Beispiel

meines Bruders die öffentlichen Dokumente zur Absicht haben, das Familiengedächtnis zu

komplettieren, unterschiedliche Sichtweisen darzustellen, werden sie hier bewusst zur Seite

gestellt, um die eigene Sichtweise des Autors nicht zu untergraben.

b) Das individuelle Gedächtnis

Die eigene Erinnerung

Oben wurde das Heil des Vergessens besprochen. Damit war gemeint, dass Timm dank des

Verschwindens des Generationengedächtnisses die Möglichkeit bekommt, seine eigene

Ohnesorg-Geschichte zu erzählen. Das Generationengedächtnis hat sich, wie üblich nach

dreißig Jahren, verwischt. Das Bild des Geschehens hat zwar eine überzeitliche Wirkmacht,

aber der ganze Kontext um das Bild herum hat sich geändert: Die vielen Pressemeldungen,

219

Wilczek: Erzählen als ‚existenziale’ Kategorie. Reflexion zur Ästhetik des Narrativen bei Uwe Timm, S. 175. 220

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 114. 221

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 121-122. 222

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 122.

Page 59: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

51

die Kommentare zu Ohnesorgs Tod und Leben, die politischen Erklärungen, die bei der Ich-

Figur ein einfühlsames Erinnern verhinderten,223

sind nicht länger aktuell. Timm hat

achtunddreißig Jahre später die Chance, zu einem einfühlsamen, eigenen Erinnern zu geraten.

Anders als in Am Beispiel meines Bruders hat die Ich-Figur bei der „Suche nach seinem

[Ohnesorgs, M.A.] Tod“224

eigene Erinnerungen an ihren Freund, die nicht von anderen

überarbeitet worden sind. Das fällt gleich auf der ersten Seite des Buches auf, wo die Ich-

Figur sehr genau eine Erinnerung an den Freund beschreibt:

Dieser erste Blick. Unten der Fluß, der ruhig und grün dahinfließt, die Steinbrücke, auf deren Mauer er

sitzt, ein Bein über das andere geschlagen, so schaut er zum anderen Ufer, ein paar Büsche und Weiden

stehen dort, dahinter öffnen sich die Wiesen und Felder. Ein Tag im Juni, frühmorgens, noch mit der

Frische der Nacht, der Himmel ist wolkenlos und wird wieder die trockene Hitze des gestrigen Tages

bringen.225

Im Präsens erzählt die Ich-Figur, wie Benno Ohnesorg an diesem Tag im Juni dasaß, als ob

dieser Moment mit dem Schreiben zusammenfällt. Das Buch fängt somit nicht mit einem

rückblickenden Erzählen an, und das bewirkt, dass die Erinnerung als äußerst lebendig

hervortritt. Die Ich-Figur nennt sie eine ihrer „bildgenauen Erinnerungen“,226

und das zeigt

sich in der Direktheit, mit der sie dargestellt wird: Es gibt hier keine Konjunktive,

Vermutungen und hinzugefügten Kontexte wie bei der einzigen Erinnerung, die die Ich-Figur

an ihren Bruder hat. Die Erinnerung scheint völlig authentisch und vollständig aus dem

Gedächtnis hervorgerufen zu sein. Obwohl Halbwachs der Meinung ist, dass die Erinnerung

unter dem Diktat der Gegenwart steht, und auch Timm selber behauptet: „Es gibt natürlich

keine reine Form der Erinnerung und somit auch keine reine Authentizität. Erinnerung ist

immer schon durch das Mehrwissen (und Nicht-mehr-Wissen, Vergessen) der Gegenwart

kontaminiert, das Auswahl, Hervorhebung, Kontextsetzung bestimmt“,227

scheint sich diese

Erinnerung der Authentizität doch sehr anzunähern. Es gibt noch viele andere Absätze, die

davon zeugen, dass die Ich-Figur über eine Menge eigener Erinnerungen verfügt. So

beschreibt sie genau Ohnesorgs Lachen und sein Äußeres,228

sowie seine Gesten.229

Diese

sind individuelle Erinnerungen, aber zugleich sind sie schon sozial und kommunikativ, gerade

weil sie in einem Text vermittelt werden.

223

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 12. 224

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 163. 225

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 7. 226

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 8. 227

Timm: Von Anfang und Ende, S. 81. 228

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 41. 229

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 67-68.

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52

Man könnte diese Art von Erinnerungen mit einem Begriff von Aleida Assmann „das

aktive Ich-Gedächtnis“ nennen, wobei es darauf ankommt, „Erinnerungen bewusst aufzurufen

und ihnen die Form einer Erzählung zu geben, die ihnen Bedeutung zu verleihen und

Perspektiven für die Zukunft zu öffnen vermag“.230

Es gibt daneben auch „das unsortiert und

vorbewusste Mich-Gedächtnis“,231

das mit der ‚mémoire involontaire‟ von Proust verglichen

werden kann, und das man nicht selber hervorruft, sondern durch Gerüche, Geschmäcke usw.

aufgeweckt wird. Ein Beispiel dafür sind die Erinnerungsfetzen, die der Ich-Figur einfallen,

wenn sie vom Tod Ohnesorgs erfährt und auch in dem Augenblick, als sie über ihn

schreibt.232

Dasselbe gilt für die Eindrücke von Blumen, die bewirken, dass der Freund ihr

nahe ist.233

Diese Art von Erinnerungen sind von äußeren Faktoren aufgerufen worden und

haben sich der Ich-Figur aufgedrängt. Auch sie sind Beispiele von eigenen Erinnerungen an

Benno Ohnesorg.

Ergänzungen von Fremden

Es wurde schon erwähnt, dass Timm mit diesem Text zum Ziel hat, seine eigene Erinnerung

an Benno Ohnesorg sprechen zu lassen. Für ihn ist Ohnesorg nie der politisch engagierte

Demonstrant gewesen, der er nach seinem Tod geworden ist, und das will er auch

gewissermaßen ‚beweisen‟. Obwohl die Ich-Figur über eine Anhäufung eigener Erinnerungen

verfügt, umfassen diese nur zwei Jahre von Ohnesorgs Leben. Er könnte sich einfach auf

diese Erinnerungen verlassen, um zu zeigen, was für eine Person Ohnesorg schon war. Es ist

aber typisch für Timm, dass er sich für diesen Auftrag nicht nur auf seine eigenen

Erinnerungen basiert, denn wie sich schon mehrmals herausgestellt hat, ist er sich der

Relativität der Erinnerung234

bewusst. Vor allem die Jugend Ohnesorgs soll weiter aufgeklärt

werden, denn die einzigen Eindrücke, die die Ich-Figur von Ohnesorgs Leben bevor und nach

dem Braunschweig-Kolleg hat, hat sie anhand von Ohnesorgs Erzählungen bekommen. So hat

Ohnesorg ihr z. B. erzählt, dass er während seiner Lehre als Schaufenstergestalter mit dem

Chefdekorateur befreundet war, aber gewisse Details fügt die Ich-Figur selber hinzu: „Der

Junge [Benno Ohnesorg, M.A.], stelle ich mir vor, stand daneben und hörte zu“.235

Wobei

noch einmal auf die Tatsache aufmerksam gemacht werden kann, dass Timm hier Ohnesorg

230

Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 120. 231

Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 120. 232

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 10. 233

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 152. 234

Vgl. NachBilder des Holocaust. Hg. von Inge Stephan und Alexandra Tacke. Köln: Böhlau 2007, S. 35. 235

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 27.

Page 61: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

53

bezeichnet, wie er manchmal auch sich selbst bezeichnet,236

um die Ähnlichkeit zwischen

ihnen hervorzuheben. Weiter hat sie über bestimmte Dokumente Informationen über

Ohnesorgs Leben bekommen, wie z. B. via das Merkblatt über die Einkommensverhältnisse

der Eltern, aus dem sie erfährt, dass Ohnesorgs Vater „663 DM im Monat“ verdiente; daraus

folgert die Ich-Figur: „Sie müssen als sechsköpfige Familie [...] sehr bescheiden gelebt

haben“.237

Bei den oben beschriebenen Techniken ist die Ich-Figur aber gezwungen, in

Mutmaßungen zu verfallen, was nicht ideal ist, wenn sie ein zuverlässiges Bild des Freundes

darstellen will. Eine mehr produktive Weise, um mehr Informationen zu bekommen, sind

denn auch die Gespräche mit Verwandten und Freunden von Ohnesorg. Im Dankeswort am

Ende des Buches fasst Timm zusammen, wer ihn mit weiteren Auskünften über Ohnesorgs

Leben versehen hat:

Danken möchte ich Lukas Ohnesorg für das lange Gespräch und seine nachdenkliche Offenheit.

Dank auch Willibald Ohnesorg für die Einblicke in die Kindheit seines Bruders und Brigitte Braun,

der Freundin von Benno und Christa Ohnesorg, die von den beiden so genau und anteilnehmend erzählen

konnte; Frank Grossman und Rotraud Cros, die 1967 mit Benno Ohnesorg zusammen wohnten;

Friederike Hausmann, die mir von dem Tag des Geschehens erzählt hat.

Dank des Beitrags dieser Personen ist Timm imstande, auf die bestmögliche Weise über den

ihm unbekannten Teil von Ohnesorgs Leben zu erfahren. Dass er explizite erwähnt, wer ihm

dabei geholfen hat, ist nicht nur eine Form elementarer Höflichkeit, sondern auch eine Weise,

um zu betonen, dass es im Buch nicht nur seine eigene Sichtweise gibt.

Die Gespräche mit Ohnesorgs Freunden und Verwandten bestätigen tatsächlich das Bild,

dass Timm von Ohnesorg skizziert. Ohnesorg wird von der Ich-Figur als eine ruhige, sanfte

Person beschrieben, die sich ziemlich zurückhaltend aufstellt,238

„ – um sich plötzlich zu

äußern, überraschend, in einer knappen witzigen Bemerkung [...]“.239

Er hält sich meistens

fern von Festen,240

um sich auf sein Schreiben zu konzentrieren.241

Sie erwähnt auch: „So

ruhig, ja sanft er schien, so hartnäckig war er, wenn er von etwas überzeugt war“.242

Dieses

Bild wird von Ohnesorgs Bruder Willibald bestätigt, wenn er berichtet, „wie sehr die

Anstrengungen des Jüngeren auf die Literatur, auf die Musik, den Jazz, auf die Kunst

236

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, u.a. S. 29: „Dieser Junge mit der Volksschulbildung, der jeden

Auftrag vergaß, der durch den Tag stolperte oder wie narkotisiert herumstand, der wollte Bücher schreiben, das

war zu komisch“. 237

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 82. 238

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 8, 97 239

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 41. 240

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 7, 39. 241

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 41. 242

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 39.

Page 62: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

54

gerichtet waren“.243

Auch Frank Grossmann, der mit Benno und Christa zusammen gelebt hat,

beschreibt ihn als ruhig, „in sich gekehrt und dann, überraschend, ein witziger

Kommentar“.244

Auch Bennos Sohn Lukas ist mit diesem Bild seines Vaters aufgewachsen.

Für ihn war Ohnesorg „ein unkorrigierbares Gespenst, das am Tisch saß. [...] Benno, der

Hochbegabte, Benno, der nichts mehr falsch machen konnte [...]“.245

c) ‚Festgeschriebenes’

Außer den schon oben genannten Dokumenten in Bezug auf Ohnesorgs Erschießung, gibt es

noch einige andere festgeschriebene Erinnerungen, die das von Timm skizzierte Bild

Ohnesorgs bestätigen. So hat er das Gutachten der Psychologin bei der Aufnahmeprüfung

Ohnesorgs am Braunschweig-Kolleg einmontiert, das ein äußerst positives Bild von Ohnesorg

darstellt:

Ohnesorg ist sehr sensibel, eindrucksempfänglich, vor allem in ästhetischer Hinsicht. Er wirkt indessen

zwar zart in seiner ganzen Art, aber doch nicht weich oder unentschieden. [...] Seine Intelligenz ist gut;

oft wird er zwar mehr reflektieren als sich äußern, aber er hat doch Sinn für das Wesentliche einer Sache.

Mitmenschlich ist er kein schwieriger Partner, vielleicht manchmal geneigt, sich auf sich selbst

zurückzuziehen, aber doch ansprechbar und auch kontaktwillig. [...]246

Es ist, als ob die Psychologin in diesem Gutachten zusammenfasst, wie die Ich-Figur den

Freund sieht. Neben die Informationen, die sie indirekt durch die Gespräche mit Freunden

und Verwandten von Ohnesorg bekommt, tritt diese Analyse als ein direktes Dokument

hervor, das die mündlichen und somit fließenden Erinnerungen der Gespräche bestätigt. Es

gibt in der Personalakte Benno Ohnesorgs aber auch andere Interpretationen. So hat Ohnesorg

bei der Aufnahmeprüfung auch einen Baum zeichnen müssen, und aufgrund dieses Baums hat

ein anderer Psychologe ihm sehr andere Eigenschaften zugeschrieben: „introversiv, weich,

geschmeidig, Mangel an Selbstkontrolle (etwas, was man ihm am wenigsten nachsagen

konnte), passiv sinnierend, geistig unsicher [...]“.247

Wie der von der Ich-Figur eingefügte

Kommentar zwischen Klammern zeigt, ist sie gar nicht mit der Charakteranalyse

einverstanden. Sie nennt den Test beliebig und schlicht, aber zugleich zeigt dieser, dass jene

psychologische Analyse eigentlich nur eine Interpretation des Psychologen und demzufolge

perspektivisch ist.

243

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 49. 244

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 116. 245

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 136. 246

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 123-124. 247

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 125.

Page 63: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

55

Die festgeschriebenen Erinnerungen, die den direktesten Zugang zu Ohnesorg

verschaffen, sind seine eigenen Briefe, Aufzeichnungen und Gedichte. Wie schon erwähnt,

gibt es zwei Briefe Ohnesorgs, in denen er sich beim Direktor des Braunschweig-Kollegs um

die Aufnahme bewirbt. Hieraus spricht sein Wunsch, „Kunsterzieher“248

zu werden. Er

beschreibt in beiden Briefen, wie er sich „bildend“249

beschäftigt, und im zweiten Brief

(geschrieben aus Frankreich), berichtet er, dass er ausgezogen ist, „ein Mensch zu werden“.250

Die Briefe zeugen von seiner großen Liebe für Kunst und Literatur und von seinem

Durchhaltevermögen, wenn er von etwas wirklich überzeugt ist. Sie stimmen somit mit dem

Bild überein, dass die Ich-Figur und der Bruder Willibald von ihm haben. Man soll aber auf

das Ziel der Briefe achten: Sie sind mit der Absicht, einen Platz am Braunschweig-Kolleg zu

bekommen, geschrieben. Man soll damit rechnen, dass eine gewisse gezielte Selbstdarstellung

vorliegen kann.

Im Hinblick auf seine tatsächlichen literarischen Tätigkeiten sind nur wenige

‚Beweisstücke‟ zurückgeblieben. Es gibt seine Überlegungen über den Zusammenhang von

Gefühl und Literatur, die in der von der Ich-Figur und Ohnesorg gegründeten Zeitschrift teils-

teils veröffentlicht worden sind, und aus denen die Ich-Figur einen Satz zitiert.251

Weiter gibt

es in der Zeitschrift Akzente, die Ohnesorg ihr geschenkt hat, verschiedene Anstreichungen

und Randnotizen, die zeigen „welch erstaunlich abgelegene Wege er in seiner Lektüre

suchte“.252

Von seinen Gedichten, die bestmöglichen Beweisstücke seines dichterischen

Talents, ist nur eines geblieben,253

obwohl die Ich-Figur über fünf oder sechs Gedichte von

ihm verfügt hat, die aber im Laufe der Zeit verlorengegangen sind.254

Die beste Art und

Weise, in der Ohnesorg in die Geschichte als Dichter eingehen könnte, nämlich durch die

Publikation seiner Gedichte, wird hierdurch unmöglich. Wie die Ich-Figur feststellt: „Er hat

viel bewegt – als Opfer“.255

Wie Timm in seinem Aufsatz Der Gedankenstrich erwähnt, steht

der Gedankenstrich für das, was nicht verbalisiert werden kann, wohin die Sprache nicht

reicht.256

Hier impliziert der Gedankenstrich vermutlich den Bereich, in dem Ohnesorg nicht

viel hat bewegen können, und das ist als Dichter.

248

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 15. 249

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 15. 250

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 18. 251

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 38. 252

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 68. 253

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 151-152. 254

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 151 255

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 117. 256

Vgl. Uwe Timm Lesebuch. Die Stimme beim Schreiben. Hg. von Martin Hielscher. München: Deutscher

Taschenbuch Verlag 2005, S. 409.

Page 64: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

56

Den größten Anteil der einmontierten Zitate machen die Auszüge aus literarischen

Werken aus. Das ist eine weitere Technik, den Nachdruck auf das Literarische zu legen, statt

auf die öffentlichen Dokumente über Ohnesorgs Tod. Außerdem ist es für Timm eine der

meist geeigneten Methoden, sich dem Freund anzunähern. Wie die Ich-Figur erzählt: „Unsere

Freundschaft begann als Gespräch über Literatur“.257

Auch nach seinem Tod scheint die

Literatur sie mit dem Freund in Verbindung zu setzen: „[...] die Erinnerung an ihn spricht

immer wieder auch durch Texte [...]“.258

Fragmente aus Texten, die sie zusammen besprochen

und gelesen haben, wie Ovids Metamorphosen259

und Samuel Becketts Molloy,260

werden im

Text montiert. Sie funktionieren nicht wie Erinnerungen an sich, sondern können als ‚Medien‟,

die der Ich-Figur Erinnerungen vermitteln, betrachtet werden. Nicht nur von ihnen zusammen

gelesene Texte, sondern auch neue Texte können diese Wirkung haben, indem Ohnesorg, „[...]

sein Lachen, seine Gesten mit der Hand, seine Kommentare“,261

die Ich-Figur manchmal

beim Lesen begleiten.

Die im Text beschriebenen Bilder sind eine letzte Art von Erinnerungen. Diese sind

nicht wirklich festgeschrieben wie die oben dargestellten Erinnerungen, sondern gehören

ihnen doch gewissermaßen durch ihren hohen Grad der Direktheit. Wie erwähnt, gibt es in

diesem Text auffallend weniger Bilder als in Am Beispiel meines Bruders, was

möglicherweise damit zu tun hat, dass Bildmaterialien von dem Freund der Ich-Figur nicht so

leicht zur Verfügung stehen wie diese ihrer eigenen Familie. Auch ist es möglich, dass Timm

die Bilder bei dem Schreiben über Ohnesorg als weniger wichtig betrachtet, weil er Ohnesorg

gekannt hat. Er braucht die Bilder nicht um sich – wie im Bruderbuch – den Freund visuell

vorstellen zu können, oder um gewisse Charakterzüge daraus abzuleiten. Was er schon macht

in Bezug auf Ohnesorgs Frau Christa. Timm ist ihr nie begegnet und seine Sicht auf sie ist

„durch Erzählungen bestimmt, in denen sie meist in einem ungünstigen Licht erscheint“.262

Er

versucht denn auch, aus einem Foto, das sie am Strand zeigt,263

abzuleiten, was Ohnesorg in

ihr gesehen hat, was ihm zuerst aufgefallen war. Die meisten anderen Bilder gibt es vor allem

zur Illustration der Geschichte.

257

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 8. 258

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 127. 259

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 125. 260

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 155. 261

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 126. 262

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 162. 263

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 169.

Page 65: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

57

d) Die zuverlässige Erinnerung?

Timm versucht also anhand seiner eigenen Erinnerungen und mithilfe der Erinnerungen von

Ohnesorgs nächsten Verwandten, ein Bild darzustellen, das am Besten mit dem Benno

Ohnesorg, wie er ihn kennt, übereinstimmt. In Am Beispiel meines Bruders gelingt es ihm

nicht ein zuverlässiges Bild des Bruders zu konstruieren, er ist nach wie vor nicht erreichbar.

Es erhebt sich die Frage, inwieweit es ihm für seinen Freund gelingt. Auf den ersten Blick

scheint er mit seiner Absicht Erfolg zu haben: Anhand der vielen persönlichen Beiträge über

Ohnesorg, werden die kollektiven Sichtweisen, die Ohnesorg zum Märtyrer der

Studentenrevolution gemacht haben, verlassen. Es wird ein völlig anderes Bild Ohnesorgs

aufgestellt, in dem vor allem seinem sanften Charakter, seiner Zurückgezogenheit und seinem

großen literarischen Talent Nachdruck verleiht wird.

Neben Timms Absicht, ein zuverlässiges Bild des Freundes zu konstruieren, liegt auch

die Frage vor, inwieweit Ohnesorg echt der Junge war, den Timm im Text beschrieben hat.

Diese Frage erhebt sich, wenn die Ich-Figur einen Brief von Christa Ohnesorg bekommt, die

sie über ihre Freundschaft mit Ohnesorg grübeln lässt: „Es war eine ungetrübte, ganz auf das

Lesen und das Schreiben ausgerichtete Freundschaft gewesen, so schien es mir, bis ich vor

fünf Jahren [...] einen Brief bekam, in dem sie mir schrieb, er habe mit mir nach unserem

Abschied gehadert. Eine Nachricht, die mich verstörte und mit ein Grund war, über ihn, über

uns zu schreiben“.264

Was die Ich-Figur hinterher immer als eine sorgenlose Freundschaft

betrachtete, wurde von Ohnesorg ganz anders gesehen. Erst während der Erinnerungsarbeit ist

es ihr deutlich geworden, dass Ohnesorg mit ihr gehadert haben muss, weil sie plötzlich ihren

gemeinsamen Plan, nach Berlin zu gehen, änderte und nach München umzog.265

Alles, woran die Ich-Figur sich richtig zu erinnern dachte, wird durch diese Entdeckung

in ein neues Licht gestellt. Das Zitat am Anfang des Buches aus T.S. Eliots Four Quartets

illustriert dieses Problem sehr gut:

There is no end, but addition: the trailing

Consequence of further days and hours,

While emotion takes to itself the emotionless

Years of living among the breakage

Of what was believed in as the most reliable –

And therefore the fittest for renunciation.

Das, was für Timm ein richtiges, zuverlässiges Bild ihrer Freundschaft scheint („the most

reliable“) und demzufolge leicht in der Erinnerung aufzurufen ist („the fittest for

264

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 13-14. 265

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 113.

Page 66: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

58

renunciation“), hat sich als unzuverlässig herausgestellt („among the breakage“). Die

Erinnerung an die ungetrübte Freundschaft hat sich durch Christas Brief, der erst Jahre nach

ihrem Abschied kam, geändert („there is no end, but addition“). Die Erinnerung ist nie zu

Ende, es gibt immer Hinzufügungen, wie auch Timm feststellt: „Erinnerungen sind [...]

geschmeidig. Sie sind formbar und verformbar. Im individuellen Bereich durch Wünsche,

Interessen, momentane Affekte, und in der Gesellschaft durch Herrschaftsinteressen, durch

den medialen Zugriff“.266

Es ist die Frage, inwieweit die Ich-Figur ihre Erinnerung nach eigenen Wünschen und

Interessen verformt hat. Während es für sie deutlich ist, dass Ohnesorg ein großes Dichttalent

war, stellt sich heraus, dass kaum jemand von diesem Talent wusste. Grossmann, der mit

Ohnesorg zusammen gelebt hat, weiß nicht, ob dieser Gedichte geschrieben hat, ob er

überhaupt geschrieben hat.267

Auch der Sohn scheint nichts davon zu wissen, oder er hat der

Ich-Figur nicht darüber erzählt, das wird deutlich, wenn sie hofft, „daß sich in den mit allen

möglichen gebrauchten Dingen vollgestellten Kammern und Zimmern seines Sohnes

vielleicht doch Gedichte finden lassen [...]“.268

Es stellt sich heraus, dass sogar Ohnesorgs

Frau Christa nur ein Gedicht von ihm kennt und sonst von keiner anderen literarischen Arbeit

weiß.269

Die Ich-Figur stellt fest: „Er muß sein Schreiben vor anderen wieder verschlossen

haben, auch vor dem Menschen, der ihm am nächsten stand. Möglicherweise hat er kaum

noch oder gar nicht mehr geschrieben“.270

Vielleicht war das Dichten nur eine Phase für

Ohnesorg. Wenn das der Fall wäre, ist das Bild des sich nur auf Literatur und Schreiben

richtenden Ohnesorgs vielleicht übertrieben. Auch ist es nicht so sicher, dass Ohnesorg sich

nicht für Politik interessierte. Brigitte Braun erzählt, wie sie Ohnesorg in der Morgue das

Buch, das er zuletzt gelesen hat, Nirumands Persien. Modell eines Entwicklungslands. in die

Hände steckte, das Buch, das ihn zu der Demonstration bewogen hatte.271

Ohnesorg war also

politisch interessiert, obwohl sich das vor der Demonstration nicht in tatsächliches politisches

Engagement gezeigt hat.

Die oben beschriebenen Informationen hat die Ich-Figur zwar nach ihrer Freundschaft

mit Ohnesorg bekommen und müssen daher nicht unbedingt gegen ihre eigene Erinnerung an

Ohnesorg sprechen. Im Text steht aber, dass die Politik ihm auch schon während ihrer

Freundschaft nicht völlig egal war: In einem Essay für die Zeitschrift teils-teils erwähnt er ein

266

Timm: Von Anfang und Ende, S. 93. 267

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 116. 268

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 168. 269

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 173. 270

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 173. 271

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 166.

Page 67: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

59

Zitat von Gustav Landauer, einem Autor, den die Ich-Figur erst Jahre später in der

Studentenbewegung gelesen hat.272

Es war also nicht so, dass Ohnesorg sich ganz fern der

politischen Entwicklungen hielt, aber er hat sich offensichtlich nicht darüber geäußert. Auch

andere Sachen bleiben für die Ich-Figur verborgen. So stand sie einmal vor Ohnesorgs

Zimmer und war Zeuge eines rätselhaften Ausbruches: „Ein Brüllen, Schimpfen, Fluchen.

Auch schien er gegen Stühle, Schränke zu treten. Es war eine Pöbelei, ein berserkerhaftes

Zwiegespräch mit einem Niemand. War ich gemeint“?273

Auch wenn sie zusammen lebten,

hat die Ich-Figur Ohnesorg nie völlig durchschauen können, immer ist er für sie

gewissermaßen fremd geblieben. Das zeigen die vielen Anspielungen auf seine

Zurückgezogenheit274

und auch der Titel Der Freund und der Fremde, der auf Ohnesorg

bezogen werden kann, weil er für Timm zugleich ein Freund und ein Fremde ist, aber auch

auf Timm selber hindeuten kann, indem er auch gewissermaßen fremd für sich selbst ist.275

Es gelingt Timm somit nicht, herauszufinden, inwieweit seine Erinnerungen, seine

Vorstellung von Ohnesorg stimmen. Das er auch die Informationen erwähnt, die gegen sein

Bild von Ohnesorg sprechen, deutet darauf hin, dass er dem Leser keine Erinnerungen

aufdrängen will, dass er sich der Beschränkungen seiner eigenen Erinnerungen bewusst ist. Er

bedauert es, „nicht gefragt zu haben. Nicht mehr die Möglichkeiten haben, etwas zu klären, zu

erklären. Und zu verstehen“.276

Timm beschreibt seine Erinnerungsarbeit wie ein Gehen durch

eine Trümmerlandschaft: „Ich gehe mit dem Auftrag durch diese Trümmer, die Teile

zuzuordnen, was mir nicht gelingen will“.277

Genau wie der Bruder, lässt Ohnesorg sich nicht

aufhellen. Das Schreiben ist nach wie vor eine ergebnislose Suche.

4. Die Bedeutung der Erinnerungsarbeit

4.1 Von kommunikativem zu kulturellem Gedächtnis

4.1.1 Bücher als Beitrag zum kulturellen Gedächtnis

Es hat sich herausgestellt, dass es Timm, trotz seiner intensiven Erinnerungsarbeit, nicht

gelingt, ein zuverlässiges Bild des Bruders und des Freundes zu rekonstruieren. Wie er in

272

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 154. 273

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 85-86. 274

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, u.a. S. 80: „Fern erschien er, unberührbar. Ein Mondstrahl“, S. 82:

„Keine Klagen, auch das gehörte zu dem Eindruck von sanfter Stärke, stillem Fürsichsein, das zuweilen in eine

Schwermut glitt, unerreichbar erschien er dann“. 275

Vgl. dazu ausführlicher 4.2. 276

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 173. 277

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 148.

Page 68: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

60

einem Interview feststellt: „[...] das Ziel ist für mich nach wie vor Wahrheitsfindung, die

natürlich nur approximativ und fragmentarisch zu erreichen ist und sich immer wieder selbst

in Frage stellen muss“.278

Es erhebt sich die Frage, wozu das Schreiben, die Erinnerungsarbeit

dann doch nützlich ist. Ist das Schreiben über den Brüder und den Freund umsonst gewesen,

weil diese nur „approximativ und fragmentarisch“ zu erreichen sind? Wenn man eine Aussage

von Timm in seinen poetologischen Vorlesungen betrachtet, wird deutlich, was Timm weiter

noch mit seinem Schreiben erreichen will: „Mich interessiert der Übergang von den

alltäglichen Dingen der Lebenswelt zum Monument. [...] Die Schrift bildet eine Brücke

zwischen dem zeitlichen Nahhorizont und dem Fernhorizont“.279

Mit anderen Worten: Timm

ist der Meinung, dass die Schrift, also Bücher, Dokumente, aber auch andere gezeichnete

Dinge280

wie Bilder, imstande sind, das, was kommunikativ und demzufolge fließend ist, zum

Monument, zum Teil des kulturellen Gedächtnisses umzuformen. Auch Matteo Galli deutet in

seinen Untersuchungen der Timmschen Literatur immer wieder auf diese Transformation hin:

Meines Erachtens besteht Timms Projekt einer ‚Ästhetik des Alltags‟ gerade in dem Versuch, das

Kurzzeitige, das durch den Tod der Kommunikatoren zum Verschwinden Verurteilte des kommunikativen

Gedächtnisses durch Literatur zu retten und in dem Versuch, dieses prekäre Gedächtnis im Endeffekt in

kulturelles Gedächtnis zu transformieren.281

Laut ihm ist es vor allem das Fotomaterial in Timms Büchern, dass durch seine

Beispielhaftigkeit die Transformation in ein bedeutendes Denkmal des kulturellen

Gedächtnisses ermöglicht,282

aber es sei bemerkt, dass schon die Tatsache, dass die

Familiengeschichte bzw. die Geschichte des Freundes in einem Text niedergeschrieben

worden sind, bewirkt, dass diese zum Teil des kulturellen Gedächtnisses werden können.

Timms Literatur kann somit im Allgemeinen als „Beitrag zum kulturellen Gedächtnis“283

betrachtet werden.

Es soll aber bemerkt werden, dass Timm nicht ohne Weiteres die kommunikativen

Erinnerungen zu kulturellen machen will. Das würde nicht mit seiner oben zitierten Einsicht,

dass die ganze Wahrheit nicht zu erreichen ist, übereinstimmen: Er ist sich der Begrenztheit

seiner Sichtweise bewusst und zeigt das anhand unterschiedlicher Techniken, wie u.a. der

278

Timm zit. n. LebensBeschreibungen: zwanzig Gespräche mit Schriftstellern. Hg. von Daniel Lenz und Eric

Pütz. München: Ed. Text und Kritik 2000, S. 100. 279

Timm: Erzählen und kein Ende, S. 17. 280

Vgl. Timm: Erzählen und kein Ende, S. 25. 281

Galli: Vom Denkmal zum Mahnmal: Kommunikatives Gedächtnis bei Uwe Timm, S. 163. 282

Vgl. Matteo Galli: „Schuhkartons und Pappschachteln: Uwe Timms mediale ‚Gedächtniskisten‟“. In:

Erinnern, Vergessen, Erzählen. Beiträge zum Werk Uwe Timms. Hg. von Friedhelm Marx.

Göttingen: Wallstein 2007, S. 103-116, hier S. 105. 283

Schöll: Chaos und Ordnung zugleich – zum intra- und intertextuellen Verweissystem in Uwe Timms

Erzähltexten, S. 138.

Page 69: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

61

Kontrastmontage und der Perspektivwechsel, die oben schon besprochen wurden. Dass die

Erinnerungen aber in einem Buch niedergeschrieben werden, verhindert, dass er seine Absicht,

die Wahrheit immer in Frage zu stellen, schwieriger einhalten kann. Die Geschichten werden

ja durch die Schrift festgelegt, und es gibt nach dem Aufschreiben keine Möglichkeit mehr,

diese zu ändern. Auch die Ich-Figur in Der Freund und der Fremde stellt fest, dass das

Festgeschriebene nicht korrigierbar ist.284

In Am Beispiel meines Bruders deutet sie anhand

der Kursivierungen vielfach darauf hin, dass sie sich der festgeschriebenen Ausdrücke, die

das Geschehene glätten können, sehr bewusst ist. Mit Missachtung nennt sie sie

„Wortverfinsterungen“.285

Timm stellt sich in Von Anfang und Ende deshalb die Frage: „Wie

deutet man ein gelebtes Leben in einer Sprache, die nicht glättet, keine vorgestanzten

Formulierungen benutzt, nicht den Kanon der gängigen Tröstungen in Anspruch nimmt, in

einer Sprache, die das Besondere hervorhebt, ohne sich anzubiedern“?286

Es ist schon gezeigt

worden, dass Timm anhand der Montagetechnik versucht, die Lebensläufe des Bruders und

Freundes nicht zu glätten. Es ist interessant einmal zu betrachten, inwieweit die

Montagetechnik vorbeugen kann, dass der Bruder und der Freund in einer bestimmten

Kategorie festgeschrieben werden.

4.1.2 Die Abwehr der festgeschriebenen Kategorien

Wenn die Lebensläufe des Bruders und des Freundes niedergeschrieben werden, gibt es die

Gefahr, dass sie einer gewissen Kategorie zugeordnet werden: Der Bruder könnte durch seine

SS-Vergangenheit als Täter bezeichnet werden, Ohnesorg durch sein verhängnisvolles

Schicksal als Opfer. Aleida Assmann deutet aber darauf hin, dass die Zuordnung zu einer

dieser Kategorien nicht immer einfach ist. Das hat mit der Ambivalenz des Wortes ‚Opfer‟,

die sie anhand der Opferbegriffe in der lateinischen Sprache illustriert, zu tun:287

Im

Lateinischen wird zwischen dem Opfer (victima) einerseits und der Opfermaterie (sacrificium)

andererseits unterschieden. Die Begriffe ‚victima‟ und ‚sacrificium‟ markieren heute zwei

gegensätzliche Pole, die auf Deutsch im Wort ‚Opfer‟ zusammenfallen, und stellen den

Unterschied zwischen dem passiven Objekt von Gewalt einerseits und dem aktiven,

selbstbestimmten Einsatz des eigenen Lebens andererseits, dar.288

Während das ‚victima‟

unfreiwillig zum Opfer gemacht worden ist, hat das ‚sacrificium‟ sich bewusst dazu

284

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 50. 285

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 98. 286

Timm: Von Anfang und Ende, S. 59. 287

Vgl. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 72. 288

Vgl. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 73.

Page 70: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

62

entschieden, zu sterben, „als eine Gabe an die Gemeinschaft und das Vaterland“289

oder aus

religiösen Beweggründen.290

Obwohl der Bruder und der Freund unter völlig anderen Umständen gestorben sind,

könnten sie beide als Opfer in dem Sinne von ‚sacrificium‟, also als Personen, die wie ein

Märtyrer einen Opfertod gestorben sind, betrachtet werden: Der Bruder ist als Soldat für das

Vaterland gestorben, Ohnesorg als engagierter Student für seine politischen Ideale. Zumindest

wurden sie, bevor Timm über sie geschrieben hat, so erinnert. Anhand seiner besonderen

Erzähltechnik beweist er, dass sie nicht einfach einer Kategorie zugeordnet werden können.

Es wurde schon gezeigt, dass der Bruder aus der Sicht der Eltern ein braver, anständiger

Junge war. Auf die Frage der Ich-Figur, warum er der SS beigetreten ist, antwortet die Mutter:

„Aus Idealismus. Er wollte nicht zurückstehen. Sich nicht drücken“.291

Der Bruder tritt auf

diese Weise wie ein Märtyrer hervor, der für seine Ideale einen – wie es in der Todesnachricht

genannt wird – „Heldentod“292

gestorben ist. Wenn sich dann später herausstellt, wofür die SS

verantwortlich ist, bekommt der Bruder für seine Eltern sogar den Status eines Opfers im

Sinne des ‚victima‟, indem sie behaupten, „der Idealismus des Jungen“293

sei missbraucht

worden. Timm montiert gegenüber dieser Idee aber Aussagen, die den Bruder viel mehr als

Täter statt als Opfer erscheinen lassen. So hat es den Anschein, dass die Ich-Figur die Lust

des Bruders am Töten zeigen will. Man soll dabei darauf achten, dass der Bruder von Mitte

Februar bis Anfang August unaufhörlich Tagebuch geführt hat, „kein Tag ist ausgelassen“.294

Die Einträge in Am Beispiel meines Bruders sind also ein von Timm selektierter Ausschnitt

aus einer Menge von Einträgen. In diesen selektierten Einträgen ist das Gefallen des Bruders

am Töten und die Freude, die er an seinem Auftrag erlebt, oft deutlich sichtbar: „Gelände

wird durchkämmt. Viel Beute!“,295

„Mein überschweres Beute Fahr-MG schießt wie toll“,

„ich nehme mein MG und knalle drauf“,296

„Ich habe jetzt eine prima Random Pistole

gefunden [...] es war ja schon immer mein Schwarm son Ding zu haben“297

usw. Es ist, als ob

Timm bewusst Einträge aus dem Tagebuch gewählt hat, die zeigen, dass der Bruder eigentlich

nicht so anständig war, wie seine Eltern vermuteten, dass sich hinter dem ‚Idealismus‟ ein

großer Drang nach dem Töten verbarg. Dirk Niefanger bemerkt, dass „der Erzähler den

289

Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 74. 290

Vgl. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 75. 291

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 19. 292

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 73. 293

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 19. 294

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 14. 295

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 15. 296

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 16. 297

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 101.

Page 71: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

63

Bruder mit deutlich grausameren Taten und drastischeren Ereignissen charakterisiert (oder

zumindest kontextualisiert), als die Notizen, Briefe und Tagebucheinträge es zulassen. Denn

von Exekutionen, KZs und Genoziden lesen wir beim Bruder ja nichts“.298

Es ist einerseits tatsächlich so, dass Timm neben den Tagebucheinträgen des Bruders

Aussagen von z. B. Himmler über den Kampf der Rassen299

montiert, als ob er diese

Aussagen mit denen des Bruders verbinden will. Andererseits aber äußert der Bruder sich im

Tagebuch und in den Briefen tatsächlich nicht zu den Exekutionen und Genoziden. Wie auch

die Ich-Figur feststellt: „In dem Tagebuch finden sich keine anti-semitischen Äußerungen und

keine Stereotypen wie in den Feldpostbriefen anderer Soldaten [...]“.300

Die Tatsache, dass sie

darauf hindeutet, spricht dann wieder gegen eine mögliche Profilierung des Bruders als Täter.

Dasselbe gilt für die Bemerkung der Ich-Figur, dass das Eintreten des Bruders in die Waffen-

SS „nur die wortlose Ausführung von dem, was der Vater im Einklang mit der Gesellschaft

wünschte“301

war, aus der gefolgert werden könnte, dass der Bruder laut ihr doch aus einem

Pflichtbewusstsein, das Vaterland zu dienen, gehandelt hat.

Es ist deutlich, dass Timm das Bild des Bruders sehr ambivalent darstellt. Er scheint

eine Balance zwischen der Darstellung des Bruders als Opfer oder als Täter zu suchen. Es ist,

als ob es für Timm nicht so wichtig ist, den Bruder wirklich einer dieser Kategorien

zuzuordnen, sondern er scheint mehr Wert auf das In-Frage-Stellen der Kategorien zu legen.

Wie schon oben erwähnt, schätzt er es gar nicht, wenn man in Deutschland versucht, sich eine

Opferrolle zu erarbeiten.302

Mit der ambivalenten Darstellung des Bruders scheint er sowohl

die Opferrolle, die dem Bruder durch die Eltern zugeschoben wird, als auch die

bundesdeutsche Tendenz zur Viktimisierung303

anzuklagen. Timm selber ordnet seinen

Bruder keiner Kategorie zu. Er urteilt schließlich nicht, sondern scheint das wiederum dem

Leser zu überlassen und motiviert ihn so, kritischer an diese Viktimisierung heranzugehen.

Genau dasselbe macht er in Der Freund und der Fremde. Der Unterschied mit dem

Bruderbuch ist zwar, dass es sich hier nicht um die Kategorien Opfer und Täter, sondern um

die zwei Pole des Opferbegriffes dreht: das selbstbestimmte Opfer und das unfreiwillige

Opfer. „Sein Tod wurde als Beweis für autoritäre und faschistische Tendenzen der

Staatsmacht genommen. Ich las, er habe keiner politischen Gruppierung angehört. Er sei

298

Dirk Niefanger: “Grenzen der Fiktionalisierung“. In: Erinnern, Vergessen, Erzählen: Beiträge zum Werk

Uwe Timms. Hg. von Friedhelm Marx. Göttingen: Wallstein 2007, S. 37-52, hier S. 49. 299

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 33. 300

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 148. 301

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 56. 302

Vgl. dazu 3.2.2.1 und 3.2.2.2. 303

Vgl. Niefanger: Grenzen der Fiktionalisierung, S. 50, siehe auch 3.2.2.1 für Timms Äußerungen dazu.

Page 72: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

64

keiner der Krawallbrüder gewesen. Das verstärkte sein Bild als Opfer“.304

Obwohl die

Öffentlichkeit Ohnesorg nicht als politisch engagiert sieht und somit nicht als jemanden, der

sein Leben aus Idealismus geopfert hat, kann er doch als ‚sacrificium‟ betrachtet werden, weil

– wie die Ich-Figur erwähnt – sein Tod mit „etwas mehr Bedeutung, mit Wertung“ aufgeladen

wird, indem sie als „Opfertod, ein Tod, der andere vor dem Tod bewahrt“,305

bezeichnet wird.

Gleich darauf äußert sie aber: „Das Empörende an seinem Tod ist das Zufällige. Das

Absurde,“306

was bedeutet, dass sie es mit der Bezeichnung von Ohnesorg Tod als Opfertod

nicht einverstanden ist. Der Tod Ohnesorgs war ein Zufall, er hat zwar bewusst an der

Demonstration teilgenommen, aber war sich nicht der Gefahr bewusst, die ihn dort erwartete.

Anders als der Bruder, der sich bewusst dazu entschieden hat, sein Leben für das Vaterland zu

opfern und sich auf diese Weise als einer der Kriegshelden ins Buch der Geschichte

einzutragen, hat Ohnesorg „auf eine nicht beabsichtigte, zufällige Weise Geschichte gemacht

[...]“.307

Das Absurde, das Zufällige an Ohnesorgs Tod wird so sehr betont, dass gefolgert

werden kann, dass die Ich-Figur seinen Tod nicht mit einem bestimmten Sinn aufladen will,

und dass Ohnesorg für sie somit kein ‚sacrificium‟ ist. Obwohl sie nicht einverstanden ist, mit

der Art und Weise, wie die Öffentlichkeit den Tod Ohnesorgs bezeichnet, hat sich schon oben

in Bezug auf die Literarisierung herausgestellt, dass sie auch selber, indem sie das Zufällige

als Vorausdeutung semantisiert,308

Ohnesorgs Schicksal mit einem Sinn aufzuladen scheint.

Auf diese Weise scheint es, als ob die Ereignisse in einen größeren Plan passen, der den Tod

Ohnesorgs weniger absurd macht. Auch die vielen mythologischen Vergleiche entsprechen

dieser Idee. So vergleicht die Ich-Figur ein Foto von ihr und dem Freund in Badeanzug mit

„Patroklos und Achill“,309

wobei die Ich-Figur der Letztere sei. Martin Rehfeldt sieht in

diesem Vergleich wieder eine Vorausdeutung und zwar, weil Timm mit seinem politischen

Engagement Rache für seinen getöteten Freund nimmt, genau wie auch Achill das für

Patroklos machte.310

Die Ich-Figur erwähnt auch, dass der Kunstlehrer behauptete, „er zeige

eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der griechischen Bronzeplastik, die als Wagenlenker von

Delphi bezeichnet wird“,311

und die Freundin von Christa und Benno Ohnesorg, Brigitte,

304

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 14. 305

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 113. 306

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 113. 307

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 13. 308

Vgl. dazu 2.2.2. 309

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 100. 310

Vgl. Rehfeldt: Dem Gegenstand seine Fremdheit belassen, S. 208. 311

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 42.

Page 73: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

65

erzählt, dass er in der Morgue „wie ein griechischer Held“312

da lag. Indem auf die

mythologischen Vergleiche hingedeutet wird, scheint sie gewissermaßen selber an die

Mythenbildung herum Ohnesorg, an seine Heroisierung durch die Öffentlichkeit,

mitzuarbeiten.

Auch das Bild, die negative Epiphanie, die Ohnesorg nach seiner Erschießung zeigt,

wird von der Ich-Figur mit gewissen Bedeutungen aufgeladen. So ist ihr erster Gedanke beim

Betrachten des Bildes, dass es eine Einstellung aus Cocteaus Der Tod der Orpheus sein

könnte,313

der – wiederum sehr zufällig – einer der Lieblingsfilme Ohnesorgs war.314

Dieser

Vergleich erinnert übrigens an Ovids Mythe von Orpheus und Eurydike, aus der später im

Text zitiert wird,315

und in der Ohnesorg nicht als Orpheus, sondern als Eurydike betrachtet

werden kann, die von der Ich-Figur, der Orpheus, aus der Unterwelt des Hades zurückgeholt

werden soll. Es wird auch auf die christlichen Motiven, die das Foto zeigt, hingedeutet:

„Diese Frau in einem festlichen schwarzen Umhang, das schwarze Gewand läßt die Arme frei,

so kniet sie neben ihm, und der Blick geht nach rechts oben, die Assoziation ist naheliegend:

eine religiöse Ikone“.316

Wenn sich herausstellt, dass es von dem sterbenden Ohnesorg noch

ein anderes Foto gibt, das wahrscheinlich nach dem oben beschriebenen Foto aufgenommen

wurde,317

wünscht die Ich-Figur sich „die Bildfolge wäre eine andere, erst diese Aufnahme

und später das Foto mit der schwarz gekleideten Frau“,318

was darauf hindeutet, dass sie

genau wie die Öffentlichkeit das Ikonische an dem Bild braucht, um sich mit dem Vorfall

besser abfinden zu können.

Trotz der verschiedenen Aufwertungen von Ohnesorgs Leben und Tod und der Tendenz

zur Heroisierung, kann schließlich doch gefolgert werden, dass die Ich-Figur eingesehen hat,

dass es keinen Sinn im ganzen Geschehen gibt, Ohnesorg ist einfach zufällig durch den

Schuss getroffen worden, er ist nach wie vor ein unfreiwilliges Opfer. Diese Einsicht zeigt

sich indirekt, wenn die Ich-Figur ein Gespräch über Camus‟ Der Fremde zwischen sich und

dem Freund rekonstruiert: Die Ich-Figur versucht, Erklärungen für das Handeln der

Hauptperson, Meursault, der einen Araber erschossen hat, zu finden, aber laut dem Freund

war es nur „Die Sonne, die Hitze, das Aufblitzen des Messers, der Schuß, das ist alles“,

worauf die Ich-Figur einsieht: „Vielleicht hatte er damit recht, und es gab nicht die von mir

312

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 166. 313

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 11. 314

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 12. 315

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 125, 127 316

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 117-118. 317

Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 162. 318

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 163.

Page 74: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

66

gesuchte tiefere Bedeutung. Ein Zufall. Der Schuß ist so sinnlos wie der Tod, wie es die Welt

ist“.319

Der Bezug zwischen Camus‟ Der Fremde und Ohnesorgs Schicksal zeigt sich schon

im Titel des Textes Der Freund und der Fremde, und wird später noch deutlicher, indem die

Ich-Figur darauf hinweist, dass der Vergleich mit dem Geschehen in Camus‟ Text sich

aufdrängt.320

Weiter zeigt sich die Einsicht der Ich-Figur, dass Ohnesorg nicht zu einem Helden

verherrlicht worden soll, wenn sie das Erinnern – wie schon oben gezeigt – mit dem Gehen

durch eine Trümmerlandschaft vergleicht:

Ich gehe durch eine Trümmerlandschaft, darin liegen einzelne größere Teile, erkennbar noch in ihrer

Form, also auch in ihrer früheren Funktion, hier ein Treppenstück, dort ein Gesims, eine Wand steht noch

mit einer Fensterhälfte, es könnte eine Kirche gewesen sein, ein Schloß, nein, doch eher eine Kirche von

erstaunlichem Ausmaß, eine Kathedrale wahrscheinlich. Ich gehe mit dem Auftrag durch diese Trümmer,

die Teile zuzuordnen, was mir nicht gelingen will. Eine Stimme, die seine ist, sagt, daß es keine Kirche

sei, sondern ein Velodrom.321

Die Ich-Figur will die Trümmer zu einer Kirche, sogar zu einer Kathedrale zusammensetzen.

Es stellt sich aber heraus, dass das gesuchte Objekt (der Freund) nicht als etwas von

„erstaunlichem Ausmaß“ interpretiert werden soll, was darauf hindeutet, dass die Ich-Figur

Ohnesorg nicht heroisieren, idealisieren soll. Die Trümmer, die Erinnerungsfragmente sollen

sich zu einem Velodrom zusammensetzen lassen, mit dem laut Rehfeldt das Bild unablässigen

Kreisens etabliert wird.322

Genau wie beim Bruder ist die Ich-Figur nicht imstande, ein

endgültiges Bild Ohnesorgs festzulegen: Ohnesorg wird nicht als freiwilliges oder

unfreiwilliges Opfer festgeschrieben, sogar nicht als Opfer überhaupt. Das Nicht-Erklären-

Können soll somit positiv betrachtet werden, denn durch die ambivalente Darstellung Benno

Ohnesorgs wird die Gefahr vermieden, dass er durch diesen Text statt der Opferrolle eine

neue Rolle bekommt: die – nach Rehfeldt – des genialen Dichters.323

4.1.3 Exemplifizierung und Individualisierung

Oben wurde nach Matteo Galli zitiert, dass Timm mit seinen Erinnerungsbüchern das

kommunikative Gedächtnis ins kulturelle transformieren will. Diese Transformation geschieht

sicherlich in Am Beispiel meines Bruders, wo die Geschichte der Familie eigentlich schon auf

eine indirekte Weise dem kollektiven Gedächtnis gehört, indem sie sehr beispielhaft für das

319

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 66. 320

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 92. 321

Timm: Der Freund und der Fremde, S. 148. 322

Vgl. Rehfeldt: Dem Gegenstand seine Fremdheit belassen, S. 213. 323

Vgl. Rehfeldt: Dem Gegenstand seine Fremdheit belassen, S. 212.

Page 75: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

67

Nachkriegsdeutschland ist: Genauso wie man aus dem Titel Am Beispiel meines Bruders

ableiten kann, tritt der Bruder hier als Beispiel für eine Generation, die sich von der

nationalsozialistischen Ideologie hat verführen lassen, auf. Michael Braun deutet darauf hin,

dass das Buch mit dem Titel an die Tradition der Exempla-Literatur anknüpft, „in der die

Historie als eine vorbildliche Beispielsammlung fremder Erfahrungen gilt, aus denen man

lernen kann“.324

Die exemplarische Funktion des Buches geht auch aus der Einmontierung von

kollektiven Erinnerungen hervor. Anhand der Hinzufügung öffentlicher Dokumente wird das

Familiengedächtnis neben das kollektive Gedächtnis gestellt und wie schon erwähnt,

ergänzen diese einander auf diese Weise. Anders als in Der Freund und der Fremde wird bei

diesem Text nicht erwähnt, aus welchen Werken zitiert worden ist. Die Zitate sprechen

dadurch viel mehr für sich, sie treten als selbständiger hervor, weil nicht darauf hingedeutet

wird, dass sie von einem Erzähler einmontiert worden sind. Die Geschichte wird auf diese

Weise entindividualisiert und kann so leichter als Beispiel der kollektiven Erinnerung dienen.

Auch die schon oben genannten Techniken, die bewirken, dass der Text nicht als rein

autobiographisch betrachtet werden kann, und mit denen die Ich-Figur ihre eigene Geschichte

aus Händen geben zu wollen scheint, unterstützen diese Entindividualisierung.

In Der Freund und der Fremde liegt nicht wie im Bruderbuch eine Transformation des

kommunikativen Gedächtnisses ins kulturellen vor, sondern eher eine Umkehrung dieses

Prozesses. Benno Ohnesorg ist ja schon Teil des kulturellen Gedächtnisses durch seinen

berühmten, traumatischen Tod. Die Ich-Figur scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben,

dem Freund seine Individualität zurückzugeben, also ihn aus dem kulturellen Gedächtnis

wieder zu dem Ohnesorg ihrer eigenen Erinnerungen zu transformieren. Dass Timm den Text

mit der Gattung der Erzählung unterschreibt, deutet auf eine persönlichere Schreibweise hin:

Er gesteht ein, dass er die Geschichte erzählt, und erlaubt sich auf diese Weise mehr Nähe

zum Erzählten. Aus der Analyse der Art und Weise, wie in Der Freund und der Fremde

erinnert wird, hat sich herausgestellt, dass es ihm ziemlich gut gelingt, den Ohnesorg hinter

dem traumatischen Schicksal zu zeigen. Der Nachdruck liegt nicht länger auf seinen Tod, der

ihn zum Teil des kollektiven Gedächtnisses gemacht hat, sondern auf sein Leben und seine

literarische Begabung.

Die Individualisierung des Freundes spricht auch aus dem Titelbild: Statt der Abbildung

des Bruders auf dem Umschlag von Am Beispiel meines Bruders, die – wie auf der

324

Braun: Die Leerstellen der Geschichte, S. 53-54.

Page 76: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

68

Copyrightseite zu lesen ist – „Privatbesitz des Autors“ ist, gibt es auf dem Umschlag von Der

Freund und der Fremde keine Abbildung des Freundes, sondern ein Foto von Kelvin E.

Hargrove, Sunset on the Franklins. Vermutlich hat Timm dieses Umschlagfoto vorgeschlagen,

weil eine Abbildung des Freundes die Möglichkeit zur Ikonisierung wieder erhöhen würde,

gerade wie die negative Epiphanie des am Boden liegenden Ohnesorgs bewirkt hat, dass

dieser als Opfer Geschichte gemacht hat. Auf dem Umschlagfoto des Bruderbuches tritt der

Bruder als ein vorbildlicher und pflichtbewusster Soldat hervor. Das Bild unterstützt auf diese

Weise die exemplarische Funktion des Textes.

Im Ziel der Individualisierung Ohnesorgs liegt aber auch ein Paradox: Timm macht

Ohnesorg wieder von der Ikone zum Individuum anhand eines Buches, eines veröffentlichten

und demzufolge öffentlichen Textes. Die Individualisierung ist somit durch den kulturellen

Charakter der Literatur nie ganz möglich. Durch Timms kritisches Herangehen an die eigene

und fremde Erinnerung, durch sein Hindeuten auf die Ambivalenz wird Ohnesorg aber so

wenig wie möglich aufs Neue zur Ikone gemacht. In Am Beispiel meines Bruders hat er schon

die Absicht, das Familiengedächtnis zum kulturellen Gedächtnis zu transformieren, aber auch

in diesem Text festigt er das Gedächtnis nicht einfach wie es ihm vermittelt ist, sondern mit

seinen Defiziten und Unzuverlässigkeiten. Auf diese Weise geht der Bruder nicht als ein

eindeutiges, festgeschriebenes Beispiel in die Geschichte ein.

Aus dem oben Dargelegten ist zu folgern, dass ein wichtiges Ergebnis von Timms

Erinnerungsbüchern gerade ist, dass es kein Ergebnis gibt. Es gelingt ihm nicht, ein

endgültiges und zuverlässiges Bild des Bruders und des Freundes zu rekonstruieren, und

gerade das ist von Bedeutung, denn die ergebnislose Suche deutet auf das Problematische der

Erinnerung hin: Es ist unmöglich, etwas zu rekonstruieren, wie es wirklich gewesen ist, aber

deshalb soll man nicht einfach in ‚wunschgelenkte Mutmaßungen‟ geraten und das denken,

was man am liebsten annehmen will. Als „Notwehr gegen das Vorgefundene“325

hat Timm

sich eine besondere Erzählweise angeeignet, die er schon 1993 in seinen Poetikvorlesungen

beschrieben hat:

[...] ein Erzählen, das [...] den Sinn schärft für die Ambivalenzen, für das Unversöhnliche, Heterogene, für

die nicht aufhebbaren Widersprüche, also für das Tragische. Erzählen könnte den Sinn schärfen gegen

jeden ideologischen Anspruch, der genau vorschreiben will, was falsch, was richtig ist und wie etwas zu

sein hätte. Erzählen wäre dann ein vorsichtiges Ausforschen zwischen dem, was wirklich war, und dem,

was hätte sein können.326

325

Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 60. 326

Timm: Erzählen und kein Ende, S. 87.

Page 77: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

69

Dieses Erzählideal wendet Timm zehn Jahre später auch in seinen Erinnerungsbüchern an: Er

verweigert sich, zwischen wahr und falsch zu entscheiden, und auch nach genauer

Erforschung ist es immer nur „[...] der wunderbare Konjunktiv [...] Es könnte so gewesen

sein“,327

den er sich zu verwenden erlaubt.

4.2 Das Schreiben als Selbstsuche

Es ist inzwischen deutlich, dass Timm anhand des Schreibens sich zwei ihm ‚nahen Fremden‟

anzunähern versucht. Das Schreiben ist eine Suche nach ihrem authentischen Wesen und

Leben, die aber nie zu endgültigen und vollständigen Resultaten führen kann. Neben der

Suche nach dem Bruder und dem Freund scheint das Schreiben aber auch eine Selbstsuche zu

sein. Das Schreiben über sich scheint für Timm sogar notwendig, um das Schreiben über den

Bruder und den Freund zu ermöglichen. Wie schon oben erwähnt, konnte die Ich-Figur in Der

Freund und der Fremde erst über den Freund erzählen, wenn sie auch über sich erzählte. Es

hat sich ebenfalls herausgestellt, dass auch in Am Beispiel meines Bruders das Schreiben über

den Bruder für die Ich-Figur unlösbar mit dem Schreiben über sich verbunden ist.328

Timm hatte nicht die Absicht, mit diesen Erinnerungsbüchern Autobiographien zu

schreiben, aber wie sich herausstellt, ist er mehr oder weniger zu einem autobiographischen

Schreiben gezwungen worden.329

Das ist nicht erstaunlich, wenn er erwähnt, dass die Texte

ursprünglich aus einem Bedürfnis der „Selbstbefragung“330

entstanden sind. Timm hatte mit

diesen Büchern also nicht nur die Absicht, das ihm aufgedrängte Bild des Freundes und des

Bruders zu befragen, sondern er will auch seine eigene Identität befragen. Oben wurde nach

Aleida Assmann darauf hingedeutet, dass biographische Erinnerungen für die eigene Identität

unentbehrlich sind: „Und dennoch müssen wir festhalten, dass es die Erinnerungsfähigkeit ist,

so fragwürdig sie auch sein mag, die Menschen erst zu Menschen macht. Ohne sie könnten

wir kein Selbst aufbauen und nicht mit anderen als individuellen Personen

kommunizieren“.331

Diese Idee lässt sich auch in einer Bemerkung der Ich-Figur in Am Beispiel meines

Bruders fassen, die besagt, dass mit dem ersten Bild, das sie sich eingeprägt hat, das Wissen

von sich selbst beginnt.332

Gleich darauf folgt die schon oben besprochene erste und einzige

327

Timm: Von Anfang und Ende, S. 87. 328

Vgl. dazu 3.1.3. 329

Vgl. dazu 3.1. 330

Vgl. Timm: Von Anfang und Ende, S. 73. 331

Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 24. 332

Vgl. Timm: Am Beispiel meines Bruders, S. 7.

Page 78: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

70

Erinnerung an den Bruder, die überarbeitet ist und somit gleich zeigt, dass die

Erinnerungsfähigkeit fragwürdig ist. Auch die anderen Erinnerungen im Bruderbuch, sowie

diese in Der Freund und der Fremde haben sich als perspektivisch und verformbar gezeigt,

Merkmale die, wie gezeigt, keine Erinnerung aus dem Wege gehen kann. Wie Assmann

bemerkt, soll das nicht nach sich ziehen, dass man sich als Mensch daher keine Identität

bilden kann. Es stellt sich aber heraus, dass Timm schon Probleme mit der Unzuverlässigkeit

seiner Erinnerungen zu haben scheint, und sein Bedürfnis nach Selbstbefragung zeigt, dass er

sich nicht länger mit den fragwürdigen Erinnerungen, die seine Identität bis an das Schreiben

der Erinnerungsbücher gesichert haben, begnügen will. Die Suche nach dem Wesen des

Freundes und des Bruders, der Versuch, ihre Lebensläufe zu rekonstruieren ist demzufolge

von sich aus auch eine Suche von Timm nach sich selbst, denn die Erinnerungen an den

Bruder und den Freund sind Teil seines ‚Selbst‟.

Wie sich schon herausgestellt hat, ist es aber nicht möglich, je die einzige echte

Erinnerung zu erreichen, denn diese gibt es einfach nicht. Timms Suche ist ergebnislos in dem

Sinne, dass er nie ein authentisches Bild des Bruders und Freundes erreichen wird, und

demzufolge ist auch die Selbstsuche, mit der Timm gerade herausfinden wollte, inwieweit

diese Erinnerungen, die seine Identität mit begründen, ‚stimmen‟, ergebnislos. Doch bedeutet

der Mangel an Ergebnissen wiederum nicht unbedingt, dass die Selbstsuche daher umsonst

gewesen ist. Wie Yvonne Pietsch bemerkt, kann Am Beispiel meines Bruders auch als eine

„über den dürftigen Resten der Familiengeschichte ausgetragene ‚Selbsttherapie‟“333

betrachtet werden. Schon weil Timm nach sechzig Jahren endlich in einem nicht fiktionalen

Text über die Verantwortlichkeit und Mitschuld der Familie schreibt, kann gefolgert werden,

dass er fertig ist, die Vergangenheit endlich zu verarbeiten. Auch in Der Freund und der

Fremde kann das Schreiben mit einer Art Selbsttherapie verglichen werden: Timm ist nach

fast vierzig Jahren schließlich imstande, über den Tod des Freundes zu schreiben. Endlich

kann er sich darüber äußern, was darauf hindeutet, dass er fertig ist, das Geschehene zu

verarbeiten.

Während er im Schreiben die eigene Vergangenheit bewältigt, kommt er auch zu einem

Selbstverstehen, gerade weil er die anderen so genau darzustellen versucht: „Dieser Versuch,

darzustellen, wie man gehandelt, gedacht, empfunden hat, ist immer auch ein Wiedererkennen,

ein Selbstverstehen, ein Besserverstehen des anderen“.334

Timm stellt nicht nur den anderen

dar, er stellt auch sich selbst wie ein anderer dar. Wie schon gezeigt, benennt er sowohl den

333

Pietsch: Auf der Suche nach der verlorenen Familie, S. 270. 334

Timm: Erzählen und kein Ende, S. 98.

Page 79: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

71

Bruder als auch den Freund manchmal als ‚der Junge‟ und auch sich selbst bezeichnet er

manchmal so. Auf diese Weise stellt er nicht nur die Ähnlichkeit zwischen ihm und dem

Freund bzw. dem Bruder dar, sondern er stellt sich zugleich auch wie ein Fremder dar. Er

nähert sich der Geschichte des Bruders und des Freundes aus einer anderen Perspektive an. Er

wagt es mit dem Schreiben, seine Identität – die für ihn jahrelang etwas Selbstverständliches,

das durch seine Erinnerungen gefestigt worden ist, war – zu befragen, indem er mit dem Blick

eines Anderen die Erinnerungen betrachtet. Auch wenn es keine endgültigen Antworten gibt,

und Timms Selbstsuche ohne Ergebnis bleibt, ist sie nicht misslungen, denn Timm ist durch

seine Erzählweise zu einer Neubetrachtung des Selbst gezwungen. Die Identität als etwas

„Nicht-Selbstverständliches“335

zu zeigen, ist – laut Timm in seinen poetologischen

Vorlesungen – eine der wichtigsten Möglichkeiten der Literatur:

Das Nachdenken, das Schreiben, diese dialogische Form mit sich selbst, ist eine Möglichkeit der

Selbstverständigung und Selbstvergewisserung durch Selbstdeutung, wobei diese ohne Befragung äußerer

Einflüsse, gesellschaftlicher und geschichtlicher Konnotationen des Ich, Gefahr läuft, im Partikularen,

Beliebigen stecken zu bleiben.336

Gerade, indem Timm so kritisch mit den ihm vermittelten und eigenen Erinnerungen umgeht

und sich weigert, sich selbst auf eine nur einzige Weise zu deuten, gelingt es ihm, die Gefahr,

im Beliebigen stecken zu bleiben, zu vermeiden.

335

Timm: Von Anfang und Ende, S. 87. 336

Timm: Von Anfang und Ende, S. 71.

Page 80: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

72

5. Schluss Ziel dieser Untersuchung war herauszufinden, wie Uwe Timm verfährt, um die

Lebensgeschichten des Bruders und des Freundes zu rekonstruieren.

Dabei habe ich zuerst die Frage nach der Gattung gestellt. Es hat sich herausgestellt,

dass beide Texte Autobiographien sind, aber nicht im strengen Sinn. Am Beispiel meines

Bruders habe ich als Alloautobiographie bezeichnet, denn es gibt hier den von Lejeune

entworfenen autobiographischen Pakt, aber weil Timm mit verschiedenen Techniken, wie die

Perspektivwechsel, die ambivalente Selbstbezeichnung und die kursiv gedruckten Aussagen

von anderen, den Akzent von der Ich-Figur zu den anderen Familienmitgliedern verschiebt,

kann nicht behauptet werden, dass dem Leben der Ich-Figur Nachdruck verleiht wird, wie in

einer klassischen Autobiographie. Der Freund und der Fremde ist schon mit der Gattung der

Erzählung unterschrieben, aber ich habe sie genauer als eine autobiographische Erzählung

bezeichnet, weil auch in diesem Text der autobiographische Pakt vorliegt, und sich nach

genauer Untersuchung des Begriffs ‚Erzählung‟ herausgestellt hat, dass die Gattung der

Erzählung und der Autobiographie ganz vereinbar sind. Auch hier gibt es zwar verschiedene

einmontierte Dokumente, aber dass der Text explizite mit der Gattung der Erzählung

bezeichnet wird, deutet darauf hin, dass Timm sich hier – im Gegensatz zur Brudergeschichte

– eine größere Nähe zu Ohnesorgs Lebensgeschichte erlaubt, und das in Anbetracht der

Individualisierung, die er hier durchführen will.

In einem zweiten Schritt der Arbeit wurde die eigentliche Suche nach einem mehr

zuverlässigen Bild des Bruders und des Freundes näher betrachtet. Bei der Analyse des

Entstehungsprozesses der Erinnerungsbücher hat sich herausgestellt, dass es vor allem die

Unzuverlässigkeit der Timm aufgedrängten Erinnerungen an den Bruder und den Freund ist,

die Timm zum Schreiben angetrieben hat. Viele Faktoren, unter denen Timms Angst vor der

Wahrheit im Zusammenhang mit den Tätigkeiten des Bruders bei der SS, die Aufregung nach

dem Tod Ohnesorgs, der Mangel an einer geeigneten Schreibtechnik und der Druck der ihm

aufgedrängten Erinnerungen, haben ihn lange gehindert, über die ‚gesuchten‟ Personen zu

schreiben. Es ist vor allem die Distanz zu den Geschehnissen, die es schließlich ermöglicht

hat, dass er über den Bruder und den Freund schreiben konnte und die ihm aufgedrängten

Erinnerungen kritisch betrachten konnte.

Mithilfe von Aleida Assmanns gedächtnistheoretischer Studie, ist gezeigt worden, dass

die individuelle Erinnerung durch Kommunikation schon immer sozial ist und demzufolge

nicht wirklich von dem sozialen Gedächtnis getrennt werden kann. Diese Feststellung ist

Page 81: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

73

wichtig, denn sie deutet darauf hin, dass, wenn Timm anführt, dass er in Der Freund und der

Fremde die Erinnerungsmomente mit anderen teilt, das auch in Am Beispiel meines Bruders

der Fall ist. Der Unterschied liegt darin, dass Timm im Bruderbuch Erinnerungen aus dem

Familiengedächtnis aufgedrängt worden sind, während es in Der Freund und der Fremde das

Generationengedächtnis (und später auch das kollektive Gedächtnis) ist, das Timm ein Bild

von Ohnesorg aufdrängt.

Zuerst wurde untersucht, wie Timm in Am Beispiel meines Bruders die

Erinnerungsarbeit durchführt. Timm will das Idealbild des Bruders kritischer betrachten, aber

zugleich vermeiden, dass durch den autobiographischen Charakter des Textes seine

Sichtweise als die einzige richtige betrachtet wird. Das erklärt, warum Timm den Text anhand

der vielen einmontierten Dokumente, die als eine Vielfalt von Sichtweisen, von Stimmen die

Geschichte des Bruders darstellen, nicht als eine klassische Autobiographie hervortreten lässt.

Bei der Untersuchung der Erinnerungsarten stellt sich heraus, das Timms individuelle

Gedächtnis schon Teil des Familiengedächtnisses ist, denn ohne die Erinnerungen der Eltern,

ohne die Briefe und Bilder, hat er keine Erinnerungen an den Bruder. Anhand der

Kontrastmontage zeigt sich, dass das Familiengedächtnis eine Menge von Lücken und

Unzuverlässigkeiten enthält. Diese versucht Timm aufzufüllen anhand öffentlicher

Dokumente. Das Problem ist, dass auch diese ihrerseits Lücken aufzeigen. Der Bruder ist –

trotz der intensiven Erinnerungsarbeit – nach wie vor unerreichbar.

In Der Freund und der Fremde wird der persönlichen Sichtweise durch die Zuordnung

des Textes zur Gattung der Erzählung mehr Nachdruck verleiht, was nicht bedeutet, dass

Timm diese als die einzige richtige darstellt: Er montiert auch hier – obwohl auffallend

weniger öffentliche als im Bruderbuch – andere Sichtweisen auf das Geschehen ein. Dass

Timm hier weniger öffentliche Dokumente einmontiert, hat alles zu tun, mit der Art und

Weise, wie er Ohnesorg darstellen will: Anders als im Bruderbuch ist Ohnesorg schon Teil

des kollektiven Gedächtnisses durch seinen verhängnisvollen Tod. Timm, der sich Ohnesorg

ganz anders erinnert als das politische Exempel, wie er von den Medien dargestellt wird, will

Ohnesorg seinen Wert als Individuum zurückgeben. Seine individuelle Erinnerung zeigt aber

genau wie das Familiengedächtnis im Bruderbuch Defizite auf, wodurch er schließlich auch

kein endgültiges Bild des Freundes rekonstruieren kann.

Nach der Analyse der Erinnerungsarbeit, wurde in einem dritten Schritt dieser

Untersuchung nachgeforscht, wozu Timms Suche nützlich ist, wenn es ihm nicht gelingt, den

Bruder und den Freund zu erreichen. Es hat sich herausgestellt, dass Timm mit seinen

Büchern eine Transformation des kommunikativen Gedächtnisses ins kulturelle beabsichtigt.

Page 82: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

74

Dabei sei aber bemerkt, dass Timm bei dieser Transformation sehr kritisch verfährt. Das hat

damit zu tun, dass, indem er das Bild des Bruders und des Freundes in seinen Büchern

niederschreibt, diese auch unvermeidlich festgeschrieben werden. Gerade das will Timm

vermeiden, denn es hat sich schon gezeigt, dass er nicht seine Sichtweise als die einzige

richtige darstellen will, da er sich der Unzuverlässigkeit der Erinnerungen bewusst ist. Durch

eine ambivalente Darstellung des Bruders und Freundes verhütet Timm die Festschreibung

des Bruders und des Freundes zu einer festen Kategorie von Täter oder Opfer. Timm hat die

Absicht, den Bruder als Exempel der Kriegsgeneration darzustellen. Anhand der

Einmontierung von kollektiven Erinnerungen deutet er schon auf die Beispielhaftigkeit der

Geschichte des Bruders hin, und die Transformation zum kulturellen Gedächtnis wird durch

das Aufschreiben der Bruder- und Familiengeschichte Tatsache. Problematischer ist das in

Der Freund und der Fremde, denn Timm will Ohnesorg gerade zu dem Freund seiner eigenen

Erinnerungen transformieren. Dass Ohnesorgs Geschichte in einem Text veröffentlicht wird,

würde somit die Absicht der Individualisierung unterminieren, wenn Timm nicht durch die

ambivalente Darstellung vermeiden würde, dass Ohnesorg aufs Neue zur Ikone gemacht wird.

Auch der Bruder geht durch die ambivalente Darstellung nicht als ein eindeutiges,

festgeschriebenes Beispiel in die Geschichte ein. Das wichtigste Ergebnis der Suche, scheint

somit zu sein, dass das Bild des Bruders und Freundes nicht endgültig und vollständig

rekonstruiert werden kann, dass es also kein Ergebnis gibt. Auf diese Weise wird auf das

Problem der Erinnerung hingedeutet und wird gezeigt, dass Ambivalenz gut ist. Sie hütet, in

wunschgelenkte Mutmaßungen zu geraten und fordert immer wieder, dass kritisch an die

eigene Erinnerung und an die Erinnerungen von anderen herangegangen wird.

Die Suche nach dem Bruder und Ohnesorg ist auch nützlich, weil sie für Timm ebenso

gut eine Selbstsuche ist: Indem er erforscht, inwieweit die Erinnerungen an den Bruder und

den Freund stimmen, erforscht er auch seine eigene Identität, denn wie gezeigt sind

biographische Erinnerungen unentbehrlich für das Bilden eines ‚Selbst‟. Da es ihm nicht

gelingt, ein endgültiges Bild des Bruders und Ohnesorgs aufzubauen, kann er auch nicht auf

den Grund kommen, inwieweit die Erinnerungen, die seine Identität mit begründen, stimmen.

Doch ist die Selbstsuche nicht umsonst, denn indem Timm schreibt, gelingt es schon, sich

abzufinden mit dem Geschehenen. Das Schreiben ist auf diese Weise eine Art von

Selbsttherapie. Außerdem wagt er es, indem er die Erinnerungen kritisch betrachtet, seine

eigene Identität in Frage zu stellen, sie nicht als etwas Selbstverständliches zu sehen. Auch im

Hinblick auf sich selbst lässt Timm die Ambivalenz herrschen, und auf diese Weise entkommt

er wiederum der Gefahr, im Beliebigen stecken zu bleiben.

Page 83: „Kein Anfang ohne Gedächtnis. Kein Gedächtnis ohne Erzählen.“

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