kraus walpurgisnacht

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Die Dritte Walpurgisnacht von Karl Kraus

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Page 1: Kraus Walpurgisnacht

Die DritteWalpurgisnacht

vonKarl Kraus

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»Die Dritte Walpurgisnacht« entstand

1933. Kraus wollte sie zunächst als

Heft der »Fackel« erscheinen lassen,

entschied sich dann aber gegen eine

Veröffentlichung. Die Begründung lie-

ferte er 1934 in dem umfangreichen

Aufsatz »Warum die Fackel nicht er-

scheint«, der das gesamte Heft Nr.

890–905 füllt. Sie erschien erst 1952,

herausgegeben von Heinrich Fischer.

Nach der von Heinrich Fischerherausgegebenen Fassung

München: Kösel, 1967Satz: Wolfgang Hink, Berlin 2010

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Mir fällt zu Hitler nichts ein. Ichbin mir bewußt, daß ich mit die-sem Resultat längeren Nachdenkensund vielfacher Versuche, das Ereig-nis und die bewegende Kraft zu er-fassen, beträchtlich hinter den Erwar-tungen zurückbleibe. Denn sie wa-ren vielleicht höher gespannt als je-mals gegenüber dem Zeitpolemiker,von dem ein populäres Mißverständ-nis die Leistung verlangt, die alsStellungnahme bezeichnet wird, undder ja, sooft ein Übel nur einiger-maßen seiner Anregbarkeit entgegen-kam, auch das getan hat, was man dieStirn bieten nennt. Aber es gibt Übel,vor denen sie nicht bloß aufhört ei-ne Metapher zu sein, sondern das Ge-

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hirn hinter ihr, das doch an solchenHandlungen seinen Anteil hat, sichkeines Gedankens mehr fähig däch-te. Ich fühle mich wie vor den Kopfgeschlagen, und wenn ich, bevor iches wäre, mich gleichwohl nicht be-gnügen möchte, so sprachlos zu schei-nen, wie ich bin, so gehorche ich demZwang, auch über ein Versagen Re-chenschaft zu geben, Aufschluß überdie Lage, in die mich ein so vollkom-mener Umsturz im deutschen Sprach-bereich versetzt hat, über das persön-liche Erschlaffen bei Erweckung einerNation und Aufrichtung einer Dikta-tur, die heute alles beherrscht außerder Sprache. Daß der Versuch zu ei-ner geistesgemäßen Verarbeitung derEindrücke, die das Schauspiel uner-schöpflich und erschöpfend bietet, daßdiese starke und niederwerfende Pro-

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blematik auch dem Selbsterhaltungs-trieb Raum gewähren könnte, magdurch das Bekenntnis vor unerschro-ckenen Lesern wettgemacht sein; um-somehr, als er doch offenbar auch ei-ner Erhaltung geistiger Möglichkei-ten diente, die vielleicht noch wichti-ger wäre, als die unmittelbare Äuße-rung zum Geschehnis. Denn was be-deutet dieses sonst als eben die Ge-fahr, alles menschliche Denken demMenetekel unterworfen zu sehen, des-sen Gegenwart ihm kein Horizont,kein Abtritt mehr erspart; als dieimmer wache Vorstellung einer bre-vis manus, die auch ausführt, wassie kündet. Das Wort, das ihr stehenwollte, entsteht zwischen der Not-wendigkeit und der Vergeblichkeit;schwerer belastetest es und leich-ter ausgesetzt als der tägliche An-

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griff der unverantwortlichen Redak-teure, überholt und behindert von denEffekten der beweglichen Kampfna-tur; verstrickt in das feindliche Zu-sammenwirken der Zufallsmächte, indiese Untrennbarkeit des Wirklichenund des Wörtlichen. Denn darin, wasdie Diurnisten der Geschichte brin-gen, ist bloß das Grauen enthalten:der Botschaft und des Boten, der sieverantworten soll: sie melden, undwecken das Verlangen nach Sühnungder Tat im Wort. Nun erst werde Un-sägliches gesagt: und das gelänge nurbis zu dem Versuch, die Untauglich-keit des geistigen Mittels zu erweisen.Deshalb sollten die, die eine »Stim-me« urgieren, sich bewußt sein, daßsie als Schrei noch aus erstickendemChaos bestimmt ist, Sprache zu sein;und daß ein Gestaltungswille, der von

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Natur dazu neigt, vom Stoff bewältigtzu werden, nicht Stellung nimmt, son-dern Stand sucht im tausendfachenAnsturm eines Übels, das mit ihmleichter fertig würde als er mit demÜbel.

Ist denn, was hier dem Geist ge-schah, noch Sache des Geistes? Liegtnicht das Ereignishafte, das Erstma-lige, in der Stellung, die das Ereig-nis zum Geist nimmt: anfechtend, woes unanfechtbar bleibt? Ist nicht, wasihn entwaffnet, mehr das Wesen alsdie Gefahr? Und gibt es ein Mutpro-blem vor dem Exzeß der geodynami-schen Natur, gewährt er nebst demGedanken an das Unglück der Irdi-schen einen andern als den: Denkenin Sicherheit zu bringen? Wenn esdas Element nun insbesondere aufdie Offenbarung unfreundlichen Den-

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kens abgesehen hätte, ja auf den An-schein des Denkens überhaupt, so wä-re der nicht feigherzig, der sich derMahnung fügte, nicht in den Kraterzu spucken, um sich andere Plänevorzubehalten. Selbst der Dichter derNation, deren Erweckung solche Vor-sicht eingibt, er wäre es nicht mehr,wenn er heute die Anspielung wag-te, daß des Tigers Zahn ein Kinder-spiel sei gegen den schrecklichstender Schrecken, den Menschen, der sei-ne Landsmannschaft erlebt, den Hei-matschein als Diplom erkennt undkeinen Paß mehr hat, nur das be-sondere Kennzeichen: ein Deutscherzu sein. Da gibt es so viel zu stau-nen, daß man nicht leicht Worte fin-det. Um zu sagen, was geschah, kannes die Sprache nur stammelnd nach-sprechen. Denn es ist ein Moment im

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Völkerleben, der insofern der Größenicht entbehrt, als bei elektrischemLicht, ja mit allen Behelfen der Radio-technik an den Urstand angeknüpftwird und ein Umschwung in allen Le-bensverhältnissen eintritt, nicht sel-ten durch den Tod. Der Mensch holtvom Himmel seine Rechte, und da-vor sei Gott behütet; Blut beweistsich durch Blut; knechtischer Befehlbricht in Leben, Freiheit und Besitz,denn ihm sind Gesinnung und Geburtverantwortlich; über Nacht geschahes; und jede weitere Nacht lebst duin Erwartung; »nach überstandenerGewalt versöhnt ein schöner Aufent-halt«. Viele Berufene kamen über we-nige Auserwählte, und sind nicht al-le befriedigt; doch Ideale nahmen siedazu, ihr Handwerk zu veredeln; vomGrunde kam es, zu Grunde geht es,

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von einem mystischen Punkt ist dersoziale Ausgleich regiert. Ordnungbeginnt zu herrschen: hält man sichdie Ohren zu, hört man kein Stöh-nen mehr. Es vollzog sich eine Reini-gung der Säfte, ein Wandel, der dieHandelsinteressen zwar berührt, abernicht berücksichtigt, unbeschadet ei-nes Aufsehens der Umwelt, worin sichNeid nicht ohne Schadenfreude kund-gibt. Diese grundstürzende Verände-rung, von der auch der Außenstehen-de noch benommen ist, da sie dochvon gestern auf heute die brauchbars-ten Knechte zivilisatorischen Betriebsin Feueranbeter und Bekenner einesBlutmythos verwandelt hat, daß sieschier nicht wiederzuerkennen sind;diese Umwälzung, von Ideen bewirkt,so einfach wie das Ei des Kolumbus,bevor er Amerika entdeckte – wird sie

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gar von einem Verbrauch an Symbo-len, Fahnen und Feuerwerkskörperngefördert, wie ihn die Entwicklungnoch nicht gekannt und nicht geahnthat, ferner von einer Hypertrophieder geredeten und gedruckten Kli-schees, der der Äther und die Papier-fabriken bis an die Grenze der Leis-tungsfähigkeit genügen: so geht siewie eine epidemische Gehirnerschüt-terung einher, der nichts, was nochOdem hat, widerstehen könnte undvor der sich der Abgewandte taktlosvorkommt wie nur einer, der beim Be-gräbnis der Menschheit den Hut nichtabnimmt.

Da es sich jedoch um ihre Aufer-stehung handelt, so bleibt vollendsnichts übrig, als Gefühlen gerechtzu werden, die alle messianische In-brunst symbolgläubiger Vorzeit hin-

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ter sich lassen. Hat man doch gese-hen, wie in Versammlungen, coram,Frauen sich die Kleider vom Leib rei-ßen, und da bliebe unsereins unbe-wegt? Hat man doch gehört, daß »dasganze große Volk, das erste Volk desErdballs« einen Geburtstag, der alsder 44. noch keinen besondern Ein-schnitt bedeutet, als den Tag, »da derHerrgott ihm seinen Retter aus tiefs-ter Not schenkte«, auf die folgendeArt begangen hat:

... Auf den Tennen der Getreideböden imrauhen Ostpreußen, von dem kaum derSchnee noch gewichen ist, so gut wieauf den Einödhöfen der Karawankentä-ler trafen sich die Bauern, und im Geden-ken an Adolf Hitler lösten sich die har-ten Falten der klobrigen Bauerngesich-ter und aus heißem Herzen sandten sie

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ein Gebet zum Herrn empor, er möge ih-nen den Führer noch lange erhalten. Aufden sturmumdräuten Halligen der Nord-see saßen die friesischen Fischer beisam-men und legten die salzgebeizten Arbeits-hände ineinander, um ihrem Gott zu dan-ken, der dem Reich in seiner Not einenHerzog sandte.

Da ähnliche Wahrnehmungen auch inden Alpen und der niedersächsischenEbene, in den gleichförmigen grauen,rußbedeckten Bergmannshäusern derwestfälischen Kumpels wie auf demErzberg gemacht wurden, wenngleichvon Wien aus, so lasset uns nüch-tern werden, denn es liegt der Ver-dacht nahe, daß das journalistischeÜbel mit der rassenmäßigen Aus-scheidung seiner angestammten Ver-treter noch nicht gänzlich beseitigt

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ist. Wohl dem, der so für Wahrneh-mung und Ausdruck Glut gesammelthat, und wo uns Zweifelsucht erschüt-tert, die tiefreligiöse Zuversicht in dasKredo kleidet:

... Die gottgewollte Erneuerung der deut-schen Natur, des deutschen Geistes undBlutes hätte den Nationalsozialismusund seinen Führer, diese herrlichste Er-scheinung aller Zeiten, nicht geschaffenund im Reiche nicht siegen lassen, wennes nicht auch ihr Wunsch und Wille wä-re, daß dieses naturgewaltige Werkzeugdes Himmels in weiterer Folge auch dieganze Welt von Parasiten befreie, die seitmehr als zweitausend Jahren die Ursachefast aller Qualen und Katastrophen wa-ren, die die Völker der Erde entzweiten,zermürbten und versklavten.

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Freilich, so bedeutend die Perspek-tive, so klar erscheint im Rückblickdoch nur das granum salis enthalten,daß die Entzweiung, Zermürbung undVersklavung der Erde jenen Parasitenerst seit der Erfindung der Drucker-schwärze gelungen ist, vermöge ei-nes Berufs, von dem sich auch An-gehörige der Wirtsvölker, zwar mitgeringerer Fertigkeit, jedoch ausrei-chend nähren. Es bleibt durchaus da-hingestellt, ob die Welt an einemWesen, dessen Presse bloß gleichge-schaltet, aber nicht beseitigt wurdeund dessen Heilkraft überhaupt be-stritten ist, in absehbarer Zeit ge-nesen wird; ob sich nicht vielmehrjetzt schon dank der journalistischenPropagierung von Gedanken, die aufdie Zeit vor Erfindung der Drucker-schwärze zurückgehen, eine gewis-

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se Zermürbung, Versklavung, viel-leicht auch Entzweiung bemerkbarmacht. Wie dem immer sei, vorläu-fig weckt das Naturereignis, sowohldurch seine Intensität wie insbeson-dere durch seine Organisation, nebstehrfürchtigem Staunen jenes Beden-ken, das der irdische Selbsterhal-tungstrieb allem Gottgewollten ent-gegenstellt; und legt die Frage na-he, ob der Versuch nicht toller alskühn sei, das Phänomen ins Augezu fassen, daß das Unmögliche wirk-lich wurde und wirkender als jemalsein politisches Absurdum. Ob solchesWagnis nicht bloß dann gerechtfer-tigt und geboten wäre, wenn es dieWirklichkeit zu hemmen vermöchte,anstatt die Ohnmacht geistigen Ein-spruchs vor dem entfesselten und ge-reizten Element zu erfahren; und ob

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nicht Schweigen der Erwartung ziem-te, daß die Richterin Natur den Auf-stand wider sie rächen wird. Stellungnehmen? Entfernung!

Flüchten wir! Kommt alle,kommt!

Niemand, dem das Wunderfrommt.

Gleichwohl hätte keine Räson einerZurückhaltung, die dem Zwang ent-gegenkommt, die Macht, noch ihreigenstes Bekenntnis zu versagen.Gleichwohl wäre der Wille, sich einemÜbel zu stellen, dessen Wesen Ver-hinderung ist, nicht aufhaltbar, wenndieses Wesen nicht, als eine dem Den-ken unnahbare Gewalt, auch die in-nere Verhinderung mit sich brächte,eine gedankliche Lähmung, die sichatmosphärisch auf den Fernststehen-

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den überträgt, nichts gewährend alseben noch ein Bewußtsein des Inkom-mensurablen, das jede Regung geisti-gen Widerstands, jeden Versuch, sichzusammenzuraffen, matt setzt. Dasist in Wahrheit des Gedankens Bläs-se, angekränkelt der angebornen Far-be der Entschließung, und darüberhilft nicht einmal der Zuspruch vonLesern hinweg, deren freundlicherWunsch nach einem Lebenszeichennicht zu Ende gedacht scheint, unddenen es keineswegs zu verargen wä-re, wenn sie das Heft, das sie begeh-ren, nicht zu ergreifen wagten. Undmanche unter ihnen sind doch solcheLosgeher, daß ich vor ihnen mehr zu-rückweiche als vor der Gefahr; dennsie stürmen einen Buchladen und las-sen mit dem Bedauern die Vermutungzurück, daß man »wohl aus Furcht

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nicht erscheint«. Insofern erraten, alsein hemmendes Moment auch das Be-wußtsein ist, in solcher Zeit vor sol-chen Anhang zu treten, und gesichertnur die Erkenntnis von der Kongru-enz der Gefahren. [Und daß ja allesin der Welt geschah, weil in ihr zuwenig Vorstellung von der Welt war.]Wenn ich den Versuch dennoch unter-nehme, weil mich der Mut der Lesernicht beschämen soll; und wenn ichsolche, die gegen Einwurf der Münzedie Abgabe der Meinung erwarten, so-gar in das Innere automatischer Vor-gänge blicken lasse, so kann das Un-ternehmen, gemessen an der Größedes Unsäglichen, kaum mehr ergebenals den Ausdruck der Hemmung, dendürftigen, wenngleich nicht unwür-digen Ertrag des Bemühens, an dieSphäre heranzukommen. Wohl könn-

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te solche Rechenschaft des Zögernsgeradezu einen Antrieb des Begin-nens bilden; und wenn man die Spra-che gewinnt, vermöchte selbst das Er-eignis Hitlers ihr den Gedanken nichtvorzuenthalten. Doch zu jenem »letz-ten Ende« zu gelangen, das schon einDämon in jedes Zeugnis deutscherSchrift und Rede unfehlbar einwirkt,ist schwer.Denn was hier geschah, ist wahr-lich nach dem Plan geschehen, dieMenschheit unter Beibehaltung einerApparatur, die Schuld an ihrer Ent-artung trägt, auf den Zustand vordem Sündenfall zurückzubringen unddas Leben des Staats, der Wirtschaft,der kulturellen Übung auf die ein-fachste Formel: die der Vernichtung;und in das Wunder dieser Simplizitätweiß sich der Zweifler einbezogen, der

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auch einmal ausspannen möchte. Erfühlt, wie mit Unrecht die Gabe sol-chen Erliegenkönnens nur den Gläu-bigen und den Bekehrten zuteil wird,für die es sich doch von selbst ver-steht und welche nicht nur nicht al-le werden, sondern täglich noch Zu-wachs erhalten: die Beneidenswerten,die – nach dem ,Völkischen Beobach-ter‘, dem nichts entgeht –

wie wir al ler Dif ferenziertheit desIntel lekts entsagen lernten, umeinen solchen Führer nicht nur zuverehren, sondern schlechthin zu lieben.

Mögen sie es auch leichter gehabt ha-ben als unsereins – zu solchem Ver-zicht neigt unwillkürlich auch der, dersich aufraffen will, das Errungene zuprüfen. Das ist eine Viechsarbeit, derUntersucher gerät vor dem Schlich-

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testen an alle Probleme der Logik undder Moral, daß ihm der Atem ver-geht, Hören und Sehn, das Lachen,die Lust, und wenn sich die Spra-che findet, vergeht sie sich wiederim Irrgarten tausendfacher Antithe-tik, wo sich die Motive stoßen undein Wort das andere gibt: sie erlebtdie Schmach, sich zu verlieren, unddas Glück, zu sich zu kommen, im-mer hinter einer Wirklichkeit her, vonder sie nichts trennt als das Chaos.Wer sich da einem Führer anvertrau-en könnte! Wer sich da alles ersparenkönnte, um schlicht zu sein wie jene!Denn

das eben ist ja das große Wunder, daß derSchöpfer des neuen Deutschlands

[welches immerhin im Genitiv bieg-bar erscheint]

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die bezwingende Gewalt besitzt, selbstdie kompliziertesten Mitmenschenwieder zur volkhaften Schlichtheitzu formen.

Und ich soll mich in das Problem ver-tiefen, ob sich die ungeheure Erfül-lung des Gebots »Deutschland erwa-che!« so reibungslos vollzogen hätte,wenn ihm nicht die einfachere Wei-sung »Juda verrecke!« angeschlossenund unmittelbar befolgt worden wä-re! Zwar, als ich einst gebannt jenerRuferin im Streite auf den Mund sah,die sich zwischen den bunten Paro-len »Wachsstreichhelza!«, »Bezetam-mittach!« und »Die ersten duftendenFrühlingsboten!« mit »Fridericus! Dereiserne Besen!« durchrang und Bahnbrach mit der unverdrossenen Frage:»Warum vadient der Jude schnelle-

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rundmehr Jeld als der Christ?« – dahatte ich’s, da stieß ich an die Wurzel,da konnte ich ahnen, was zu sagen soschwer ist.

Wie vermöchte ich, was einer Welttrotz allem Anlauf nicht gelingen will!Das Unbeschreibliche, das so schlichtgetan ist und vor dessen Hekatom-ben das menschheitliche Gefühl derWelt schaudert und ins Nichtbegrei-fen flüchtet; woran die Herzenslee-re einer noch geschützten Sprachge-nossenschaft zum Greuel wird; wo-vor eine Solidarität versagt, die sicheinst für den Einzelfall einer Formen-justiz alarmieren konnte: dieses Un-beschreibliche, das die Existenz andie Bedingung knüpft der Annullie-rung geistigen Vorlebens, des bis insdritte Glied rückwirkenden Austrittsaus der Rasse – es beschreiben wol-

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len wäre das Unzulängliche, das nieEreignis würde wie die Tat. Ja, esließe dem polemischen Aufwand mitRecht das Maß praktischer Nichtwir-kung widerfahren, mit dem ihn vonjeher die Zeitlumperei, unüberwind-lich und überwindend, regaliert; sie,die nicht wäre, hätte sie nicht auchdie Macht, des Spötters zu spotten.Soll der, der immer nur niederreißen,und doch grade das nicht konnte, andem gigantischen Fall versagen, wo eswahrhaft gekonnt war? Es waltet eingeheimnisvolles Einverständnis zwi-schen den Dingen, die sind, und ih-rem Leugner: autarkisch stellen siedie Satire her, und der Stoff hat sovöllig die Form, die ich ihm einst er-sehen mußte, um ihn überlieferbar,glaubhaft und doch unglaubhaft zumachen: daß es meiner nicht mehr be-

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darf und mir zu ihm nichts mehr ein-fällt. Denn das Gehirn erwacht nichtwie die Nation, es fühlt die Zurück-setzung durch die Natur, und wenn esvollends die Pflanze um die Lebens-kraft beneidet, der sie auch im unhei-ligen Jahr den Frühling nicht versagthat, so ist es nur des Gedankens fä-hig an die Mitgebornen, die ihn dankeiner Erweckung in Folterkellern ver-bringen müssen. Es ist nicht möglich,Komplizierteres zu denken, man paßtsich an; ja es gehört zum Verhängnisdieses Wunders, selbst den einfachs-ten aller Gedanken nicht so zur Spra-che zu fördern, daß er den tierische-ren Teil der Menschheit zum Mitleidzwänge: die nicht tötet, aber fähig ist,nicht zu glauben, was sie nicht erlebt.

Denn sie können schlafen, wenndie Geister wieder wach werden und

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es eine Lust ist zu leben. Wohl wä-re der Ertrag untätiger Arbeitsnäch-te, da der andrängendste und unfaß-barste Stoff zum Nichtschlafenkön-nen taugt, reich genug, bliebe Schwei-gen der Ausdruck meines Teils, dasich mir zu diesem letzten Ende ge-dacht habe. Doch selbst dieser Aus-druck wäre angemaßt. Denn er wür-de nicht Erkenntnisse bergen, nurden Schrecken des Wiedererkennens:das im Angsttraum einer Kulturver-wesung Geschaute, der Alpdruck inSchwarzweißrot, das pressende Phan-tom aus Papier und Blut, erstehtwieder zu tödlichster Lebendigkeit.Dieses Agnoszieren eines Wahnwe-sens in dem, was sich Zielsetzungnennt, und sie handgreiflich verwirk-licht; der entsetzte Blick in den luft-leeren Raum, wo ein Prokrustes Kräf-

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te und Unkräfte des geselligen Da-seins bettet; das »Dejavu« jener ver-folgenden Unschuld, der Einheit vonSchuld und Lüge, wo die Tat zum Ali-bi wird und der Greuel zur Glorie –»das glaubst du von mir?« fragt derTäter und verfolgt den Zeugen wegenPropaganda –: das ist es, was eine An-näherung des Verstandes an das Pro-blem ohne Hoffnung läßt. Denn wäreer schon nicht dem Wahn preisgege-ben, in dem das Objekt haust, so wäreer doch immer wieder versucht, denFall an den eigenen Wahn zurückzu-leiten, der ihm vielleicht den Wechsel-balg einer Wirklichkeit vorstellt, diees doch kaum auf dem Hundsstern gä-be, wenn er die Tollwut hätte. Nurin Fieberschauern wächst diese Sach-lichkeit aus Dunst, dieser Hang, ausIllusion in Tat zu stürzen, um sie me-

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chanisch wieder aufzulösen, mit Hil-fe eines Dissimulators, den sie Wolff-büro nennen. Sie schaffen es, wenn-gleich sie’s wieder schaffen, von ei-ner Feindeswelt, die Ruhe will, ein-gekreist zu sein. Und es ist wiederbloß der Circulus vitiosus und perni-ciosus, worin die falsche Kausalitätschaltet und waltet, die sich auf sichselbst besinnt, doch niemals auf dieWelt. Dies Labyrinth, wo Centaurensich auf Rasse prüfen, gewährt demDenken, das sich dort verirrte, keinenAusweg.

Welche Lage wäre denn schwierigerals die, in der sich den Zeitumstän-den gegenüber das Gehirn befindet,und wären sie auch nicht durch land-schaftliche Weiterungen verwickelt?Wenn es sich aber vollends um eineshandelt, das sich durch eine Angabe

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von den letzten Tagen der Mensch-heit – im besten Glauben – terminmä-ßig festgelegt hat! Immer noch rezep-tiver als produktiv, empfängt es mitdem Ungeheuren die Überraschungder Wiederkehr, die Gefahr der Stei-gerung, vergebens immer wieder aufdie shakespearesche Formel gestützt,die Schmerz und Trost so schön ver-bindet:

Gott, wer darf sagen: schlim-mer kann’s nicht werden?

S’ ist schlimmer nun, als je.Und kann noch schlimmer

gehn; ’s ist nicht dasSchlimmste,

Solang’ man sagen kann: diesist das Schlimmste.

Und doch macht solches Denken dieWehrlosigkeit mit wie nur eines, das

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nicht einmal diese auszudrücken ver-möchte; es erlebt mit dem Verhängnisder Dinge das ihres Wachstums, denWettlauf der Satire mit dem Stoff, derin triumphaler Ahnungslosigkeit dieForm vollendet und ausspielt, derenNachbildung nicht mehr möglich ist,deren Abbildung nicht mehr geglaubtwird, deren Undenkbarkeit zum Feh-ler des Bildners wird. Solcher Fluchder Empfänglichkeit versagt ein Er-lahmen, gewährt der Vollkraft, täg-lich hundert Reizungen zu erliegen,und verlängert doch nicht den Tag,der täglich den Syllabus sprachlicher,moralischer und sozialer Missetatenverlangte. Imstande sein, am Aus-wurf der Welt ihr Übel zu erfassen,von der unscheinbarsten Oberflächejeweils das letzte Ende tätiger und lei-dender Menschheit – solches Vermö-

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gen erlebt sich als Opfer, solche Fül-le als Mangel; solches Gemüt neidetdem Schlichten die Erlösung, deren ernicht bedurft hat. Abhängig von al-lem Nichts, gebannt von jedem Trop-fen der Sündflut – wie sollte es sichden Wunsch verdenken, einmal wiedie zu sein, die das Sichtbare nicht se-hen, das Unmögliche für unwirklichnehmen, oder doch wie solche, denengegeben ist, nicht zu sagen, was sieleiden! Wäre ihm denn die Notwehrverwehrt, der Hypertrophie dessen,was es schon geschaut und gezeich-net hat: des wortumlogenen Greuels,der Entehrung der Wahrheit im Heili-genschein der entehrten Sprache, derProstituierung von Leben und Todan den Zweck, der täglichen Todsün-de wider Geist und Natur, Schran-ken der Aufnahmsmöglichkeit, Gren-

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zen des Gestaltungswillens zu er-richten? Ich habe durch mein gan-zes Nichtwirken hindurch mich derPresse, der ich doch allen Beweis ge-gen ein von ihr korrumpiertes Da-sein entnahm, als der enthaltsams-te Leser bedient, in Scheu vor jedemAnlaß, ein Leben, genährt im Schoßder impia mater, zu anatomieren –und bewahre hunderttausend Doku-mente ihrer mittelbaren oder unmit-telbaren Schuld: Nachzügler, so bild-fähig für alle Mißgestalt der Zeit wiedie zur Glosse gereiften. Wenn’s miraber gelang, noch den Alpdruck vonTat und Bericht dieser letzten Ge-genwart durchzustehen, dieser letzt-endlichen Gleichschaltung von Unter-gang und Aufbruch, des blutleben-digsten Erfolges der Redensart, derjemals weltgeschichtlich wurde – wie

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wäre ich dem Stoffe gewachsen? Wenner die Gestaltungslust nicht lahm-te, sondern beflügelte – wie vermöch-te sie die Formenfülle dieser drit-ten Walpurgisnacht zu meistern? Daßder Tod, dem Schlagwort entbunden,die erste und letzte Wirklichkeit ist,die das politische Leben gewährt –wie würde dies Erlebnis schöpferisch?Das Staunen vor der Neuerung, diemit der Elementarkraft einer Gehirn-pest Grundbegriffe vernichtet, als wä-ren schon die Bakterienbomben desentwickelten Luftkriegs im Schwange– könnte es den Sprachlosen ermun-tern, der da gewahrt, wie die Weltaussieht, die sich beim Wort genom-men hat? Rings nichts als Stupor, Ge-banntsein von dem betörenden Zau-ber der Idee, keine zu haben. Vonder Stoßkraft, die den geraden Weg

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nahm von keinem Ausgang zu keinemZiel. Von der Eingebung eines Vier-jahrtausendplans, daß das menschli-che Paradies gleich hinter der Höl-le des Nebenmenschen anfängt undalles Leid dunkler Ordnung, mit Be-griffen wie Transfer und Rediskont,sein Ende hat in einem illuminiertenChaos; in dem chiliastischen Traumentfesselter Millennarier: Gleichzei-tigkeit von Elektrotechnik und My-thos, Atomzertrümmerung und Schei-terhaufen, von allem, was es schonund nicht mehr gibt! Rings nichtsals Staunen vor dem Wunder einerStaatswirklichkeit, die bis zum Pa-ragraphen aus dem Rausch geborenward, für die Volkswirtschaft versorgtmit dem Judenboykott und darüberhinaus mit den Weisungen der NorneVerdhandi, welche das Seiende regelt.

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Ich frage mich, wie solche Erhebungnicht deprimieren sollte, was an geis-tiger Entschlußkraft in einem Gemütnoch vorhanden und von den Strapa-zen der Kriegs- und Nachkriegsjahrenicht verbraucht war. Beim Weltun-tergang will ich privatisieren.

Bis er aber vorüber ist, vergeht dieZeit, ich sehe die Entfaltung jünge-rer polemischer Kräfte, die es von mirhaben und behalten, sehe Beweise ei-nes Muts, der anonym bleibt, wenner einen Namen trägt, und delibe-riere wie ein Hamlet, den die Unzu-gänglichkeit des Übels dauernd umdas Stichwort und den Ruf zur Lei-denschaft gebracht hat. Das Stich-wort wenigstens wäre schon in derGelegenheit enthalten, auch Bewei-se eines journalistischen Übermuts

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zu ergreifen, der sich im Vertrau-en auf meine Zurückhaltung hervor-wagt und nichts Geringeres unter-nimmt, als mich, in der Absicht derSchädigung oder gar der Gleichschal-tung, mit der Gefahrenzone zu kon-frontieren. Ein Spät-Abendblatt, dasfrüh genug erscheint, aber doch zu ei-ner Zeit, wo ich schon keinem preu-ßischen Polizeipräsidenten begegnenmöchte – das Blatt, dessen Etatvon jener Schönheitspflege bestrit-ten wird, die keines der schmücken-den Beiwörter braucht, welche sei-ne Theaterkritik verschwendet –, ent-sinnt sich just jetzt meiner Existenz,von der es sonst weniger Aufhebensmachte als vom unscheinbarsten Pro-minenten, und die sich überhaupt imKulturbereich den Anspruch auf Ver-schollenheit erworben hat. Immerhin

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ist von mir noch bekannt, daß ich das,was sich als publizistische Vertretungdes Fortschritts geriert – oder wie esschreibt: giriert – und was ich ihnmit zwei linken Füßen vertreten se-he, nicht gerade für seine beste Er-rungenschaft halte und daß ich vonder Begünstigung der Sorte so weitenAbstand nehme wie von ihrer Gunst.Ich verweile aber gern bei ihrem The-ma, das sie mir als zu geringfügig ver-übelt, denn um zur höchsten Stufeder Weltmisere zu gelangen, diene ichvon der Pike auf. Nachdem man al-so, wenn ich im Rundfunk sprach, sichgenötigt gesehen hatte, die Rubrikausfallen zu lassen – so mitten imKampf gegen die Notverordnung einBeispiel gebend, wie eine freisinnigeRedaktion, um die Meinungsfreiheitzu opfern, lieber dem eignen Trieb ge-

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horcht –, nach diesem harten Schlagwurde mir, der Kummer gewöhnt ist,eine unverhoffte Entschädigung zu-teil: mein Wirken mit den geistigenZielen des Nationalsozialismus ver-knüpft zu sehen. Es handelt sich umeinen Vergleich seines zerstörendenWaltens im Kulturgebiete mit meiner»Demolierten Literatur«, deren An-denken meine satirische Leistung derfolgenden Dekaden in den Schattengerückt hat. Der Vergleich mit demNationalsozialismus fiel ganz zu mei-nen Gunsten aus, indem sich meineDemolierung durch einen »beispiello-sen geistigen Elan« und eine »großar-tige satirische Kraft« von der dilettan-tischen Berliner Literaturzerstörungunterscheiden soll, wiewohl sie dochein wahres Kinderspiel war gegendas, was ich seit damals zur Orientie-

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rung über das Schrifttum beigesteu-ert habe. Daß ich mich schon in je-ner satirischen Anfängerarbeit »zumunerbittlichen Richter in den Dingendes deutschen Geistes und der deut-schen Sprache erhoben« hätte, ist ge-wiß übertrieben, wenn man in Be-tracht zieht, was ich alles seither überein Druckwesen auszusagen wußte,das von Leuten bestellt wird, die bloßwegen Verfehlung anderer Berufe da-zugelangt sind. Aber eben deshalb ge-ben sie der »Demolierten Literatur«den Vorzug, deren Lob das Alibi dervon ihr unberührten Schreibergene-ration bildet; meinen Todfeinden hatsie es angetan und ein Satirenken-ner wie Monty Jacobs fand, daß ichmich seit damals, und zwar durchfünfunddreißig Jahre, ausgeschriebenhabe. Heute glaubt man bei aller An-

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erkennung jenes Standardwerks einGemeinsames mit dem Nationalsozia-lismus darin zu erkennen, daß dieBetroffenen »das Demolierungsurteilüberlebt haben«. Strittig bleibt im-merhin, ob ihre Berufsgenossen auchdas Urteil überleben werden, das übersie in den Jahrgängen der ,Fackel‘ ge-fällt ist. Werde ich nun hier noch zumeinem Vorteil mit Goebbels vergli-chen, was auch nicht angenehm ist,so hat dasselbe Blatt in einem an-dern Artikel das Problem meiner geis-tigen Verbindung mit Hitler von ei-ner andern Seite betrachtet, wobei ichzum Glück nicht ganz so gut davon-komme. Denn hier wird man sich desstärkeren Inhalts einer polemischenLebensleistung bewußt, indem manan jenen Kampf gegen die Presse an-knüpft, durch den ich die Lorbeeren

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meiner Jugendarbeit eingebüßt habe,und ich stehe nun wohl als Vorkämp-fer da, aber als einer, der den Er-folg fremder Tatkraft einheimst. Undzwar in einem Leitartikel, der denEinfluß jüdischer Köpfe auf Hitler aneiner Reihe »seiner geistigen Ahnen«nachzuweisen sucht und sie wie folgtabschließt:

... Unbestreitbar ist, daß die Ideen derArbeitspflicht und der Nährpflicht vonPopper-Lynkeus vorausgedacht waren.Man könnte die Serie der vorausdenken-den Judenköpfe bis auf Karl Kraus wei-terführen, dessen kühnste Wunschträu-me von Hitler erfüllt worden sind. Es gibtin Deutschland keine Journaille mehr,ausgetilgt sind alle Feinde der Fackel vonReinhardt bis Kerr! ...

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Man möchte meinen, daß die Zeit fürneckische Spiele nicht geeignet sei.Darum werde ernstgenommen, wasda ein Journalist schreibt, dem Mutgegen Hitler wie gegen seinen Vor-läufer keineswegs abzusprechen ist.Wird diesem die Priorität der Ideen,jenem das Verdienst ihrer Durchfüh-rung nachgerühmt, so muß ich auchdie Priorität ablehnen, wofern sie aufeine äußere Erfassung der Gefahr ei-ner »Journaille« bezogen wäre, de-ren Terminus mir hier offenbar zu-geschrieben wird. Mit demselben Un-recht wie von der nationalsozialisti-schen Presse, welche ihn selbstlos,wenngleich ohne jede Beziehung aufdie Quelle der ,Fackel‘ verwendet, de-ren Vokabular sie ja auch sonst viel-fach für ihre Zwecke beschmutzt hat– vermöge einer irrtümlichen Gleich-

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schaltung meiner Absichten mit denihren, die nun die liberale Journail-le übernommen hat. Wohl bin ich dieQuelle, jedoch, wie schon seinerzeitfatiert war, leider nicht der Schöpferder genialen Prägung. Ein gelegent-licher, aber eingeweihter Mitarbeiterder Neuen Freien Presse, der viel undklug sprach und aus seinem Herzenkeine Mördergrube machte, doch auchkeine von Henkern der öffentlichenMeinung, Alfred von Berger, ein Au-tor, dem gleichfalls die rassische Eig-nung mangeln würde, mit Quellenan-gabe zitiert zu werden, hat mir dasWort einst mit der Bestimmung, daßihm Flügel wachsen, übergeben. Wasnun mein antijournalistisches Den-ken anlangt, das sich nicht nur inder Verbreitung solchen Ausdrucksbewährt hat, so liegt ja die Priori-

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tät vor dem Hitlergedanken klar zu-tage. Dieser Leitartikler [der immer-hin so heißt, wie sein Blatt geschrie-ben sein sollte] trifft manchmal denNagel auf den Kopf und so auch hier.Aber mit seiner Auffassung, daß mei-ne Wunschträume von Hitler erfülltseien, hat er schon darum Unrecht,weil es ja selbst noch in Deutschland,geschweige in Österreich eine Jour-naille gibt wie je und je und eine weitaktivere als in der maßvollen Ära, derdas Wort entstammt ist. Daß meinKampf gegen sie, der mit der Ent-eignung der Meinungsgeschäfte undderen rassenmäßiger Erneuerung anHaupt und Gliedern nichts zu schaf-fen hat und solche Allotria überdau-ern wird – daß dieser Kampf ein heil-sames Beginnen ist, das dürfte derJournalist, der ihn durch den Ver-

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gleich herabsetzen möchte, wenigs-tens aus der Zeit wissen, als er vomVerlag der ,Fackel‘ Erlaubnis bekam,in deren Jahrgängen den besondernSpuren der Neuen Wiener Journail-le, mit der er Händel hatte, nach-zuforschen. Die Vorstellung, daß »al-le Feinde der Fackel ausgetilgt« sei-en – als ob sie solche zu fürchten hät-te und nicht selbst Feind wäre – unddaß ich nunmehr, da mein Rachebe-dürfnis befriedigt scheint, ruhig lebenkönne, dürfte eher dem Horizont desLeitartiklers als dem des Satirikersangemessen sein. Jener unterschätztdas große Dilemma, worin sich die-ser andauernd befindet, der die Be-seitigung seiner Objekte nicht einmaldann als Erfolg wertet, wenn er selbstmit ihnen fertig würde, geschweigedenn, wenn sie ihm der Tod entrissen

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hat oder der Teufel einer politischenGewalt. Wohl will er Ruhe vor demAnlaß, und der journalistische Zu-fall, der die Gestaltung, die er anregt,auch wieder verwirrt, soll ihm nichtsdiktieren. Daß ihm aber die Gestaltabhanden kommt, ist ein Schmerz,wenn die Entwicklung nicht beendetwar und mit der erschaffenen Formauch das Beispiel zu geistiger und mo-ralischer Anwendung verloren ging.Größer als das Behagen, ein Übel ent-fernt zu wissen, das noch Macht hattegegen die Polemik, ist der Wunsch, eserhalten zu sehen, und nur der Flach-sinn kann glauben, daß der Satirikernicht ehrlich trauert, wenn ihm einMann der Öffentlichkeit auf der Höhegemeinsamer Schaffenskraft entrücktwird. Denn ein anderes ist die publi-zistische Aktion, die eine kriminalis-

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tische zu ersetzen und darum mit Er-folg abzuschließen hat, etwa daß einerhinaus aus Wien kommt – ein anderesdie satirische Beweisführung, daß erder größte im ganzen Land sei. [Wie-wohl es eine Ubertreibung war undwir heute froh wären, beide Kerle zuhaben.] Und nun gar die Möglichkeit,das Niveau der Zeit an einem faulenTheaterzauber, dem sie erliegt, stetsaufs neue darzutun! Die Entmach-tung der Faktoren »von Reinhardtbis Kerr« mag als Resultat erfreu-lich sein; aber ganz abgesehen davon,daß ich es von der schmutzigen Stu-pidität, die es bewirkt hat, nicht ge-schenkt nehme, wird sich schon her-ausstellen, daß mein Verlust größerwar als der, den die Kulturwelt erlei-det. Allein ich sage mir, was Staats-männer nach einem Rückschlag zu

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äußern pflegen: Ich bin Optimist. Ichdenke mir, daß mancher heimfindenwird, der jetzt dem Interviewer versi-chern muß, daß er nicht geflohen, son-dern mit der Eisenbahn gekommensei; ich gebe jedenfalls die Hoffnungnicht auf, daß eine zusammenfassen-de Rückschau auf das, was ich inBerlin zwischen Theater, Presse undJustiz erlebt und schon aufgezeich-net habe, der Nachwelt unverloren,auch der Mitwelt zugänglich werdenkönnte, ja ich glaube, daß trotz Zsol-nays Herabstimmung noch die Zeitkommen wird, wo ich Emil Ludwig inder Perspektive gerecht werden kann,wie er Mussolini und wie er mich ge-schaut hat. Aber in Bezug auf Rein-hardt hege ich eine schier unzerstör-bare Phönixzuversicht. Die Neigungdes Auslands, auf deutsches Kunst-

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gewerbe hereinzufallen, kann durcheine Kulturpolitik, die sich fanatischunter dessen Niveau begab, nur be-stärkt werden; und auch Oxford ent-behrt ja nicht des Ehrendoktorats.[Selbst auf dem Boden ahnungslo-ser Pariser Toleranz können Fakto-ren, denen der von Berlin zivilrecht-lich heiß wurde und die sich darumfür Emigranten halten, Hoffnungenund Notizen aufpflanzen.] Eben dieZeitung, die meine Mission so eng be-grenzt und die mitten in der Schil-derung der Panik noch die Geistesge-genwart hatte, festzustellen, der Ma-gier sei bloß zum Zahnarzt nach Wiengeeilt, sie wird zur Erhaltung seinerErdenspur das Erdenklichste vorkeh-ren. Schließlich hat ja das deutscheAufräumen in seiner ganzen Trostlo-sigkeit noch die Folge, daß der atem-

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raubende Mist unserer Kulissensor-gen sich vermehrt hat, daß die Promi-nenz hochschwillt wie noch nie, unddaß diese Elefantiasis von Mücken,die das tägliche Blattbild erfüllt, ka-tastrophal wäre, wenn nicht kultur-bewußte Trenchcoat-Erzeuger immerwieder bestrebt wären, sie zu bemän-teln.

Nein, so einfach ist dieser Ausgangnicht, daß ich nur mit Schadenfreu-de an ihm beteiligt wäre. Denn ichmuß einen Verlust beklagen, der lei-der nicht unwiederbringlich ist undüber den ich, wenn er es wäre, nichtzu klagen hätte. Es ist also kom-pliziert. Ich kann nicht klagen, daßmir manche Erscheinung des Geis-teslebens verloren ging, weil ich ehr-licherweise nicht sagen könnte, daßich es nicht gewollt habe. Aber ich

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muß mich doch wieder beklagen, weilich es ja wesentlich anders gewolltund vor allem reiflicher erwogen ha-be. Und besonders, weil wie gesagtseinem Naturhang zufolge ein Sati-riker mit der Verminderung seinesBesitzstands nie so recht einverstan-den ist, indem es ihm doch nicht umdie Erledigung des Einzelfalls geht,sondern im Gegenteil um die Bewah-rung des Exempels als eine Möglich-keit, daran das Übel der Gattung dar-zustellen, womit er niemals zu Endekommt noch kommen möchte. Dennsolange ihm zu einem Dummkopf et-was einfällt, solange ein Schwindlervorbildlich wirkt, muß er um die Er-haltung besorgt sein, und man ahntnicht, wie bange Zeiten da unsereinsdurchmacht. Wohl gibt es viele; aberwenige sind auserwählt, und nicht oh-

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ne Grund ist mancher prominent. Wieman den Wisent nicht gern ausster-ben läßt, so ist der Satiriker im Gehe-ge der Politik und des Kulturwesenswachsam. Sträubt er sich schon da-gegen, daß das Exemplar ihm durcheignes polemisches Dazutun abhan-den komme – was heute zum Glückunmöglich und was als seine Absichtoder gar als seinen Wunschtraum zudeuten ein verbreiteter Irrtum ist –,so möchte er vollends seine Objektevor dem Eingriff einer wirksamerenGewalt in Obhut nehmen, die mit Un-recht und von ganz anderswoher dieAversion teilt. Nein, nie sind Morti-mers ungelegener gestorben – Fluchihrem Überwinder! Und aller Undankshakespearescher Könige, die Auftraggaben; denn ich hätte die Opfer nochgebraucht.

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Wäre also der Grund kompliziert,warum ich einen Verlust beklagenmuß, über den ich nicht klagen kannund vice versa, so stellt sich ohne je-des Dilemma heraus, daß ich michüber den Gewinn nicht freue. Ausdem einfachen Grund, weil er keinerist. Es scheint aber doch schwierig, indie Betrachtung dieser Materie einzu-dringen, und man merkt, mit welcherVorsicht ich aus dem Apokalyptischendurch das Journalistische plänkle, umin medias res einer Nichtvorhanden-heit zu gelangen, die in den Annalender deutschen Kulturgeschichte aufleeren und mit Blut verklebten Blät-tern stehen wird. Das erreichte Posi-tivum gibt sich zunächst darin zu er-kennen, daß der grundsätzliche Ent-schluß zur Zerstörung von Lebens-werten dem beseitigten Unwert zu ei-

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nem unrechtmäßigen Martyrium ver-helfen hat oder zu einer sonst uner-langbaren Geltung vor dem Ausland,welches naturgemäß dazu neigt, jedesOpfer deutscher Proskription mit ei-nem Talent oder doch einem Charak-ter zu verwechseln. Was diesen be-trifft, konnte der Irrtum durch dasVerhalten der Betroffenen richtigge-stellt werden; das Staunen war nichtgering, ein wie kleines Geschlecht dergroße Moment der Verbrennung ge-funden hat und wie unwert sich viele,wenn sie sie überhaupt verdient hat-ten, einer Gunst zeigten, die Schrift-stellern der Neuzeit doch so selten wi-derfährt. Sie waren der Ehre nach-her so unwürdig wie zuvor. Ich möch-te ja nicht um einen Nobelpreis mitdem Tucholsky auf einem Scheiter-haufen brennen; aber wenn es je-

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mals ein Schulbeispiel dafür gegebenhat, daß das Glück die Gaben oh-ne Wahl und ohne Billigkeit verteilt,so ist es diese schwarze Liste, beideren Anblick einen der gelbe Neidpackt. Wo bleibt da die Gerechtig-keit, wenn man sein Leben lang zer-setzend gewirkt hat, den Wehrwillengeschwächt, den Anschluß widerra-ten und den ans Vaterland nur zumSchutz gegen das andere empfohlenhat, in der oft [selten mit Quelle]zitierten Erkenntnis, daß dort elek-trisch beleuchtete Barbaren hausenund daß es das Volk der Richter undHenker sei. Und wenn man nun zu-sehen muß, wie so mancher für einenbrennen darf, den man verleitet hat,eben davon zu singen und zu sagen!Aber wer weiß, vielleicht hat sogarder Nationalsozialismus noch ein Ge-

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fühl für die Rechtmäßigkeit von Mei-nungen, oder vielleicht ist sein Zugriffdurch Kenntnis und Mißverständnismeiner Verdienste um die Journail-le gehemmt, durch die Dankesschuldfür eine Befruchtung, die sie selbstmir vorwirft. Denn man könnte doch,was eben sie betrifft, nicht behaup-ten, daß ich da nicht auch zerset-zend gewirkt, daß ich irgendetwas un-terlassen habe, was zum völkischenHerzen spricht, freilich ohne daß ichden Drang hatte, mich hinein zuschreiben. Gewiß, beide Lager kön-nen mir sowohl unzulängliche Gegnerwie mißratene Gefolgsmänner stellen,und daraus mag sich erklären, daßdas Dilemma, worin sich besondersder Nationalsozialismus mir gegen-über befindet, dem meinigen gewach-sen ist. Die Rasse mißfällt ihm; doch

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die Entschiedenheit, die die Verbin-dung nicht achtet, wie irgendwelcheVerbindung, imponiert ihm vielleicht.So wäre es [letzten Endes] angezeigt,aus der Gefahr einer Begönnerungzu fliehen. Aber vielleicht ist wederGunst noch Haß zu fürchten, indemdoch auch die Vermutung Platz grei-fen könnte, daß eine Partei, die grund-sätzlich zum Totschlagen neigt, imAusnahmsfall das Totschweigen fürjene empfindlichere Vergeltung erach-tet, mit der schon die Gegenseite sogute Erfolge erzielt hat. Dazu kämefreilich noch das diabolische Mittel,mein satirisches Wirken zu hemmenund im Keime zu ersticken: durch dieErschaffung einer Geisteswelt, zu dermir nichts mehr einfällt. Nach denTaten heroischen Aufschwungs, diedurch ihre Erstmaligkeit überrum-

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peln, wäre es die bewährte deutscheTaktik, den Gegner zu zermürben undunter langsamer, aber beharrlicherAnödung schließlich zu entwaffnen.Und zwar sowohl durch die Verluste,die man dem Satiriker vermöge Ent-ziehung seiner besten Hilfskräfte zu-fügt, wie noch mehr durch den Ge-winn, mit dem man ihn entschädigt,indem doch für sie ein Ersatz gebotenwird, der jeder Beschreibung spottet,die die Satire davon machen könn-te. Das Resultat wäre, daß die natio-nale Bewegung, geschickt manövrie-rend, bald durch Entrückung von Ob-jekten, bald durch deren Herstellung,dem Satiriker an die Existenz greift,selbst wenn sie willentlich gar nichtnach ihr langte. Indem sie aber sostatt durch die schwarze Liste durcheine weit schwärzere List ihn opfert

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und ein Raffinement betätigt, das ih-rer Schlichtheit nicht zuzutrauen war,würde sie die Mission erfüllen, dieschon so viele Zeiterscheinungen ver-sucht haben: mich durch ihre Wirk-samkeit auszulöschen und quietsch-vergnügt die letzten Tage der Mensch-heit zu überleben.

Unter ihnen befindet sich eineGestalt, die mir erst lange nachdem Weltkrieg genaht ist, eine derschwankendsten, die sich im Vorder-grund deutschen Kulturlebens tum-meln durften und vermöge ihrer Wen-digkeit noch tummeln dürfen. Es istBernhard Diebold, bekannter unterdem Namen Bernardo Dieboldo, dener annahm und hierauf ich ihm ge-macht habe. Er unternimmt in derFrankfurter Zeitung, wirksamer als

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der Wiener Scherzbold, den Versuch,durch Konfrontation meiner Tätig-keit mit dem Nationalsozialismus mirdessen Beachtung zu erringen undmich zu dessen Betrachtung zu er-muntern. Und ich leiste sie so un-gern, weil ich mich im Gegenteil lie-ber mit der deutschen Sprache be-fasse, und weil mich doch die Auf-gabe, diese nach französischen Ver-sen der Offenbachschen Musik an-zupassen, weit mehr beglückt. Dennsolches ist ja, letzten Endes, wichti-ger als sich mit dem zu beschäftigen,was nicht einmal ahnt, wie öde es istund daß selbst der Abgrund gähnt,der einen davon trennt. Aber es freutmich auch immer, mich der Presseals einer Heldenreizerin zu bedienen,die mich zwar nicht liebt, jedoch »zuneuen Taten läßt«, also ungefähr im

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Sinne Wagners, dessen Antithese zuOffenbach eben, wie wir sehen wer-den, Diebolds Sorge ist und sein Mo-tiv, bei Goebbels mich verdächtig undsich lieb Kind zu machen. Doch wares ihm von Natur bestimmt, Anschlußzu finden, denn sie hat ihn ledern er-schaffen und quick zugleich. Seit ichihn kenne einer meiner schwerstenFälle, einer meiner rückfälligsten Pa-tienten, in allen publizistischen La-gen an jener Wut leidend, die manauf mich hat und die als Kritik in Er-scheinung tritt, hat er nun die großeGelegenheit denunziatorischen Dran-ges benützt, um ein Mütchen zu küh-len, das sonst minimal wäre, aber ge-stützt auf die Waffe der populärenStimmung, es selbst mit dem Mut auf-nimmt. Diebold galt lange als füh-render Kopf deutscher Theaterwis-

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senschaft, bis ich ihm dahinterkam,und als er sich, schon unsicher ge-macht, eines Tages gehen und demHumor die Zügel schießen ließ, ergriffich diese und stellte ihn in Original-größe als den Schalk dar, der im Auf-trag eines Reisebüros – welches dieFrankfurter Zeitung für eine Beilagegemietet hatte – deutsche Hochzeits-und Weinreisende mit allerlei Ulk zuritalienischen Topographie versorgte.Ich habe ihm eine Visitenkarte alsEmpfehlung ausgestellt, die schon ei-ne Landkarte war, und während je-ne ihre Freude hatten und am VesuvSpassettln trieben, offenbarte ich derübrigen Geisteswelt den Stiefel, derihr bis dahin hinter kunstphilosophi-schem Geflunker verborgen war. Die-boldo, der schon, öffentlich und pri-vat, seine Beherrschung zu verlieren

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pflegte, sooft nur meine Existenz inden Kreis seiner Vorstellung trat odervon ihm gedrängt wurde, nunmehrauf die Formel seiner Banalität zu-rückgeführt, tat, was alle Hysterikertun, deren Zustand durch ein letz-tes Bewußtsein der Ohnmacht ver-schärft wird: er vergriff sich an ei-nem andern. Er schrieb als Antworteine Kritik gegen Offenbach’s unver-gleichliche »Briganten«, deren Titelnicht erst im heutigen Deutschlandanzüglich wirkt und auf deren Spurein Berliner Regisseur leider durchmich geführt worden war. Es gelangdem Diebold hiebei, eine solche Fül-le von Ignoranz, Verleugnung künst-lerischer und geistiger Sachverhalteund falsch adressierter Gehässigkeitanzubringen, daß nur eine noch grö-ßere Fülle von aktuellem Aberwitz

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mich damals bestimmen konnte, je-ne auf sich beruhen zu lassen; einberichtigendes Schreiben wurde vonder Frankfurter Zeitung ignoriert, diemir einmal versprochen hatte, jedenBesudler Offenbachs zu hemmen, derverdächtig schien, den toten Satirikerfür den lebenden in Strafe zu neh-men. Sie hat sich inzwischen der Vor-schrift, überhaupt keine Meinung zuhaben, anpassen müssen, wiewohl einstarker finanzieller Rückhalt ihr dieförmliche Gleichschaltung zu erspa-ren und ein wenig von jener relati-ven Sauberkeit, die nicht viel wert ist,zu bewahren schien, innerhalb einesMetiers, dessen ersetzbare Gesinnungdurch mein Wirken nicht weltkundigwar. Ist es mir doch beiweitem nichtgelungen, diese so zur Anschauungzu bringen, wie es »schlagartig« der

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kühne Handstreich vermocht hat, mitdem die Erpressung an den Erpres-sern begangen wurde, jener Zugriff,der so manchen Piraten zwang, sichvon den Aktien eines Familienbesit-zes an öffentlicher Meinung zu tren-nen und das Raubschiff politischenKorsaren zu überlassen. Die Frank-furter Zeitung half sich eine zeitlang,wie sie konnte, und sie konnte nichtumhin, die »Verkündigung des Drit-ten Reiches« durch Herrn Johst als et-was zu empfinden, das »an die Herzenschlägt«. Bald erklärte sie offenher-zig, daß sie den Zwiespalt zwischenihrem Freisinn und dem »Lebensstilder Unerbittlichkeit« nicht mehr füh-le, wiewohl sie von einem Stück desDramatikers Goebbels zugeben muß-te:

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Kunst als objektive Lebensbetrachtungim Sinne Goethes ist nicht erstrebt .

Drückte sie sich nun redaktionell umdie Erkenntnis dessen, was eigent-lich von Goebbels erstrebt ist, der jadoch hundert Jahre nach Goethe indie deutsche Kultur trat, so hat siedem Diebold, der ihr anhaftet, er-laubt, sich programmatischer auszu-sprechen. Wenn er sich aber beeilte,der neuen Macht seine Tüchtigkeitdarzureichen, so geschah es nicht sosehr zu dem geringfügigen Zweck sei-ner Selbsterhaltung, als in der sittli-cheren Absicht, ihre Aufmerksamkeitauf einen ihm unbequemen Autor zulenken, dessen erhofftes Schweigenihm das Gefühl der eigenen Sicher-heit noch erhöhen mochte. Er glaub-te, daß er es durch einen Fingerzeig

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festlegen könnte, aber er unternahmdiesen bloß mit dem Erfolg, es zu un-terbrechen. Daß man im neuen Staatentschlossen ist, »dem überhandneh-menden Denunziantentum entgegen-zutreten« wie allen sonstigen Ein-zelaktionen, die man fördert, davonhatte Diebold nichts zu befürchten,als er sich mit dem Artikel einstellte,dessen Titel eine Frage war, die einengewissen Zweifel zu bekunden schien:

Und die Kultur?

Anstatt aber als der Kulturmensch,den er doch immerhin mit der Fähig-keit des ehemaligen Burgtheaterkom-parsen darstellt, die Frage glatt zuverneinen, kam er dem Umschwungmit Erwartungen entgegen, deren lei-se Skepsis höchstens den Schmerz

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hervortreten läßt, daß Reinhardt ge-opfert wurde,dieses theatralische Genie, das die deut-schen Klassiker in vorbildlicher Weiseim Sinne der Dichtung für Generationenneugestaltet hat.

Da diese somit doch versorgt wä-ren, kann sich Diebold den positiver-en Vorzügen der nationalen Kulturre-form hingeben, und da gelangen wirgleich in medias res dessen, was er ei-gentlich auf dem Herzen hat:Der Punkt Reinhardt wird auch durch-aus nebensächlich vor der al lgemei-nen Kulturfrage, die sich in diesenTagen aufrollt. Und wenn der Kom-missar Hinkel »jüdische Karikaturistenund Marxisten« beschuldigt, deutscheGrößen wie Schiller, Goethe und Kantverhöhnt zu haben, so müssen wir uns

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krit isch fragen: ob die Berechtigungzu einer solchen schweren Anschul-digung [unter die aber gewiß nichtnur Juden fal len] sich ohneweiters ab-streiten ließe. Und wenn wir uns dar-an erinnern, wie von gewissen radi-kalen Kreisen ein Gigant wie RichardWagner lächelnd abgelehnt und einJacques Offenbach, der neben jenemnur wie ein witziges Porzel lanfigür-chen dasteht, zum allbeherrschen-den Genie ausposaunt wurde – dannkommt das Problem der kulturel lenVerwirrung dieser letzten Jahre in ge-radezu tragische Beleuchtung.

Daß Herr Reinhardt für Generatio-nen nicht nur die deutschen Klassi-ker neugestaltet, sondern auch Of-fenbach verhunzt hat, und doch im-stande war, eben damit die Pleite,

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die vor dem Falle kam, abzuwen-den, möge nicht weniger nebensäch-lich sein als die Klage um diesen.Aber dafür sei hauptsächlich, wo-durch das Problem der kulturellenVerwirrung Herrn Diebold in gerade-zu tragische Beleuchtung kommt undwelches Symptom ihm den Zugriff zurRettung der nationalen Geistesehrerechtfertigt. Er muß es erschwindeln.Denn niemand in Deutschland hat,nicht einmal ich habe eine Agitationfür Offenbach zugleich mit lächeln-der Ablehnung Wagners betätigt, wie-wohl ich bereit bin, Herrn Diebold zugarantieren, daß eine Generation, dieeinen Wahn zu überleben vermöch-te, dem witzigen Porzellanfigürchen,das der größte Musikdramatiker al-ler Zeiten, ja der Schöpfer einer Büh-nenwelt war, mehr verdanken wird

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als dem Giganten, dem sechs Stundenlauschen zu können die Kulturheuch-ler und nun auch die nationalen Par-venüs behaupten. [Und wiewohl ich,nicht gern auf Nietzsche mich stüt-zend, der Meinung bin, daß selbstdie französischen Texte, die Herr Die-bold verachtet – losgelöst wenig be-deutend, viel vermöge der Unlösbar-keit –, daß sie mehr organisches Le-ben und Fluß enthalten als alles Wa-galaweia und Hojotoho, worin viel-leicht ein Tiefstes geborgen ist, dassich leider der Sprache, der Musik,dem Gesamtkunstwerk versagt, dochgewiß jenes Deutscheste, dem Wag-ners Meisterprosa in Natur und Ten-denz entgegenstrebt.] Wenngleich esaber für mich ausgemacht ist, daß derdeutsche Rundfunk in zwanzig völki-schen Jahrgängen der Nation nicht

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das Entzücken ersetzen wird, das erihr in zweien durch den Offenbach-Zyklus gewährt hat –

eine schönere und wirksamere kulturel-le Demonstration hat der deutsche Funknicht zu bieten

schrieb eine nationale Feder –, sowerde selbst dieser Punkt nebensäch-lich vor der allgemeinen Kulturfra-ge. Nämlich ob der Diebold nicht dieKonjunktur des Schreckens benützenwill, um sich an dem zu rächen, dener als den Träger einer mißliebigenKunstpropaganda meint und den ergar nicht erst nennen muß, um ihnals Objekt einer »schweren Anschul-digung« kenntlich zu machen, unterdie aber »gewiß Juden fallen«. Wir»müssen uns kritisch fragen«, wie derDiebold Kulturkritik treibt und zur

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rechten Zeit anbringt. Denn er weiß,daß Offenbach bei den Völkischen sounbeliebt ist wie ich beim Diebold,und gewohnt, ihn zu treffen, wenner mich meint, treibt er gewisser-maßen zwei Fliegen für den erhoff-ten Schlag zusammen. Umso siche-rer, wenn er mich noch ausdrücklichnennt, um dem Verdacht des Kultur-bolschewismus alles zu geben, was ge-braucht wird. Nie wäre es ihm na-türlich in den Sinn gekommen, Offen-bach zu hassen, wenn er mich nichthaßte, aber jetzt läßt sich einmal auchaussprechen, was sonst nur zwischenden Zeilen Raum hatte, und erinnern,wer eigentlich an der Verbreitung ei-nes Übels schuld ist, das dem Die-bold sonst eher stagelgrün aufläge.Der Umweg freilich, den er zum gutenZiel nimmt, ist langwierig. Da werden

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zunächst alle überstandenen Leidenaufgezählt, die die völkische Seele er-tragen mußte bis zur »gewaltigen po-litischen Umwälzung«, die »notwen-diger Weise auch das Kulturbewußt-sein wandelt«. Diebold gibt ein Bildder Verlotterung, die bis zum erreich-ten Heil »in den Gesellschaftsformen«eingerissen war, nicht etwa in denUmgangsformen [die in Gesellschaftnie hysterisch ausarten sollten], son-dern in den sittlichen Belangen. DerBankrotteur übelster Sorte sei gedul-det worden, einen »bürgerlichen Tod«– Diebold übersetzt gleich, damit dieNazi nicht irregehen: »Mort civil« –den gab es überhaupt nicht; keineSchuld mehr konnte zur Ächtung füh-ren. Lauter goldene Worte über Ver-hältnisse, die zwar nicht direkt aufOffenbach zurückzuführen sind, aber

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einem Mann wie Diebold über dieHutschnur gehen mußten.

Auch im Verhalten des Publikums zurPresse wurde die Gleichgültigkeit zu völ-liger Würdelosigkeit.

Diebold meint da aber nicht etwa dieArschleckerei an maßgebenden Thea-terkritikern, nicht den Respekt, densie auch dann noch genossen, wennsie als Annoncenhumoristen ertapptwaren, sondern er meint bloß die er-presserische Revolverjournalistik, de-ren Blätter »ganz öffentlich am Kioskoder im Café gekauft werden durften,ohne daß die Käufer mehr zu errötenbrauchten«. Aber gab es da keine Ab-wehr? Doch:

Das Gefühl für kulturelle Würde warwohl bei Einzelnen vorhanden.

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Nicht bei allen, denen es eben an ei-nem »gesellschaftlichen Abkommen«[Diebold verdeutscht: »Kon-vention«]gefehlt habe, das ihnen die Weisheitaus dem »Tasso« gesichert hätte: »Er-laubt ist, was sich ziemt«.

Die leidenschaft l ichen Anstren-gungen Einzelner vermochten nur weniggegen die Zersplitterung der sittlichenAuffassungen.

Bis hierher würde man glauben, Die-bold wolle, wenngleich ohne Nen-nung, dem Wirken der ,Fackel‘ ge-recht werden. Aber es stellt sich her-aus, daß er sich selbst als den meint,der Leidenschaft für die Bejahung derWerte aufgewandt hat, während ermich im Gegenteil als den nennt, derdie Schuld an dem Werk der Zersplit-terung trägt, an der Ausbreitung der

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Revolverpresse, an der Duldung derBankrotteure, an der Verhinderungdes Mort civil. Denn unmittelbar an-schließend heißt es:

Opposit ionsl iteraten wie Karl Krausund Tucholsky, die immer nur ein»Nein« gegen andere und nie ein zu-kunftsträchtiges »Ja« aussprachen;Kulturzerstörer wie der undeutlicheDramatiker Brecht konnten weitesteKreise der Gebildeten verwirren.

Und ich dachte, daß meine Faszinati-on nicht über den »Anhang«, den Um-kreis eines »Blättchens« reiche! Aberich und der Tucholsky – ich nie oh-ne ihn. bloß auf dem Scheiterhau-fen er ohne mich –: wie kann mandas nur, vom Talentunterschied ab-gesehn, in der Wirkung vergleichen?Wir zwei, wirklich gepaart, haben

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hier offenbar die Rolle jener »ungefäl-ligen Dämonen« inne, die unserm Die-bold, dieser Jasagenden Elpore, »krei-schen immerfort dazwischen schaden-froh ein hartes Nein«. Was Brecht an-langt – dem ich gleichfalls beim po-sitiven Genius geschadet habe, undder natürlich ein besserer deutscherDichter ist als Johst und sogar alsdie Lieblinge, deren Anlagen Diebolddem Schütze der Nation empfiehlt –, so tritt seine »Undeutlichkeit« klarhervor:

In »Mahagonny« wußte kein Zuhörergenau, ob man seinen Whisky be-zahlen sol l oder ob es »ethischer« sei,ihn nicht zu zahlen.

Dieses Problem scheint den Diebolddurch die ganze Zeit der Kulturver-wirrung mehr beschäftigt zu haben

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als das gleichfalls dort vorkommen-de Gedicht von Kranich und Wolke.Dann gesellt er mir leider noch denBernard Shaw, den ich ja der bürger-lichen Gesittung als vieillard terriblenachempfinde, und resümiert:

Das Unsichere, Relative, Mehrdeutigewurde interessant in Kunst und Leben.

Dieser Richtung, der ich, mit Tuchols-ky, ganz hingegeben schien, ist fer-ner das Überwuchern der »Magazi-ne amerikanischer Art« zuzuschrei-ben, die ich immer mehr die literari-schen Zeitschriften verdrängen ließ.

Ja gewiß: man ging auch in die »Missasolemnis« und feierte Goethe-Jahr undWagner-Jahr.

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Aber natürlich nur so »zwischen zweiKinos«. Diebolds Wirken, zukunfts-trächtig, blieb ohne Wirkung:

unsere Jeremiaden – über eine Ge-sellschaft, die sich zwischen kulturellerGroßtuerei in Goethejahren und einemwürdelosen Krisengewimmer bewegte –sie wurden belächelt – Anarchie derkleinsten Persönlichkeiten zerstörtedie Autorität der wahrhaft Großen.

Die Klassiker hat man entseelt undder Libertinage hat man gefrönt. Aberdieser Vorwurf kann mich nicht tref-fen, der ich doch im Gegenteil ebenso-sehr den Ergötzungen der Bürgerweltan Bekessy entgegentrat wie der Be-schmutzung Goethes, vor allem aberauch der Verwendung von Schillerzi-taten für Italienreisende, freilich aufdie Gefahr hin, die Autorität eines

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wahrhaft Großen, wenn schon leidernicht zu zerstören, so doch zu krän-ken.

Das mußte ein Ende nehmen.

Und Goebbels zur Welt kommen, umdie aus den Fugen geratene Zeit ein-zurichten, mit eigenen Schriften unddenen Johsts, welchem Diebold

seine geistige Art, den künstlerischen Na-tionalismus aufzufassen

zuerkennt. Freilich erlaubt er sich füralles Weitere die Mahnung, das Natio-nale dürfe in der Kunst nicht »mit mi-litärischen und heimatkünstlerischenPhänomenen in Verwechslung gera-ten«:

Die Qualität entscheidet auch inner-halb des nationalen Kunstbereichs.

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Also nicht wie ihr Herrn das viel-leicht meint, bloß Quantität und soSachen. Diebold erwartet von Goeb-bels, dem er nachrühmt, was er selbsthat, einen »vor seiner Partei bemer-kenswerten Mut«: daß nicht bloß nie-dergerissen, sondern auch aufgebautwird und »eigenkräftige Leistungengefördert werden«. Aus der Vergan-genheit – Schwamm drüber – möchteer Piscator mit seinen »Anregungen«herüberretten und selbstverständlichdie »ideelle Zielsetzung« unseres Un-ruh, den man der Frankfurter Zei-tung nun einmal nicht nehmen darf,im ganzen circa fünf Frankfurter vonehrlichem Kulturbewußtsein, welchesaber leider nicht verhindern konn-te, daß der »Mythus« zerstört wurde,der nun in anderer Schreibung mitdem Blut verbunden wird. Anschau-

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lich tritt jedoch die Kulturverwirrung,die geherrscht haben muß, in der fol-genden Beschwerde hervor:

Man hat die Varieté- und Revue-Künsteder Demimuse mit den wahren Musennur allzuoft leichtfert ig gleichgesetzt,obschon man es nicht nötig hatte imAnblick der reinen Kulturgesinnung ei-nes Thomas Mann, der Naturoffenba-rung einer Käthe Dorsch und der reel-len Gestaltung moderner Architek-ten.

In künftiger Zeit aber wird die Kulturnicht mehr mit »ideologischer Rhe-torik, Oppositionskritik und nackterSensation« verwechselt werden. Nursei der Begriff »deutsch« auch aufReinhardt auszudehnen und zu be-achten, daß außer Volkslied und deut-scher Sage »auch jene geheimnisvolls-

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ten Gebilde eines Goethe oder Beetho-ven aus dem Geist der Landschaftund der gemeinsamen Sprache ent-standen« sind. Diebold verlangt vielauf einmal, aber er harrt in Zuver-sicht:Eine Willensbildung, die eine volks-mäßige Kultureinheit erstrebt,braucht nicht auf höchste geist igeFormung zu verzichten.

Wie sie das machen soll, sagt er nicht,aber »der Bart hat’s in sich«, verrietmir einst ein Friseur, der mir auchpolemischen Mut machte durch dasSprichwort: »Gut eingeseift ist halbrasiert«. Und nun gelangt Diebolddorthin, wo er hinaus will, zu Hitlerund gegen mich:Jeder Wille zur Einheit ist fruchtba-rer für die Gesamtheit als jene Art von

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Individualismus, die nur sich sel-ber kennt. Die ganz großen Persön-l ichkeiten denken und wirken immerals die Verantwortlichen für das Ganzeihrer Gemeinschaft.

Schulbeispiel dafür, welches Ge-summs so ein deutscher Kopf machtmit Termini à la Willensbildung,Wille zur Einheit, Kulturbildung,Kultureinheit, geistige Formung undwas es derlei noch gibt, damit letztenEndes ein Tineff herauskommt. Ichmöchte glauben, daß der Wille zurAngeberei dem Diebold noch frucht-barer erscheint, als was ihm sonstvorschweben mag. Mir jedenfallsstärker als die Überzeugung, die ervom Denken Hitlers im Herzen trägt.Aber da nun einmal aus solchemLiteratenwesen Tat wurde, so bleibt

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eine Kulturfrage zu beantworten. Istes nicht eine Zukunftsträchtigkeitsondergleichen, sich so an den Epi-gonen anzuschmeißen, um ihm denVorläufer als den eigentlichen Vertre-ter des Kulturübels zu präsentieren?Und straft Diebold nicht den WienerScherzbold Lügen, der da sagt, daßes in Deutschland keine Journaillemehr gibt? Ist diese Maskierung einerRanküne als öffentlicher Meinungnicht vorbildlich? Sie wird nur durchdie Aufrichtigkeit beeinträchtigt, mitder einer allen Kennern des Fallesverrät, wo der Schuh ihn drückt undwie dieser aussieht: er ist groß, er istein Stiefel, er hat geradezu italieni-schen Umfang. Dieboldo hat mit ihmeinen verzweifelten Schritt unter-nommen, der ihm bloß eine Chanceoffenläßt. Der Oppositionsliterat ist

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nicht immer nur mit einem »Nein«zur Stelle, er kann auch aufbauen. Erhat eine Vakanz zu vergeben. Jenergrößte im ganzen Land, welches erverlassen mußte, er hatte wahrlichkein besseres Verdienst um dieses.Die Denunziation vor dem BerlinerGericht wegen meiner Kriegshal-tung, die Berufung auf den TirolerAntisemitenbund, war eines, dasihm das Verbleiben ermöglicht hätte.Schweres Unrecht ist ihm durch denScheiterhaufen widerfahren, auf dendie ,Fackel‘ offenbar aus dem Grundnicht kam, weil sie seine Kriegsge-dichte enthält. Welch ein Ehrenmannist er doch, verglichen mit der Sorte,die sich dem Teufel verschrieb, damites ihm nicht an Dreck fehle! Dieboldwird nicht fort müssen, wenn er aufseinen Artikel verweist, der die Frage

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»Und die Kultur?« mit Erwartungenallgemeiner und persönlicher Artbeantwortet.Was die persönlichen betrifft, so istbereits ein praktischer Erfolg erzielt:

Offenbach in Deutschland verbo-ten. Die Leitung des deutschen Rund-funks hat die Weisung erhalten, keineWerke von Offenbach mehr zu senden.

Als ob ein Äther, der für eine »zwang-lose Unterhaltung mit Schutzhäft-lingen« Raum hat, solcher Weisungbedurft hätte! Was die allgemeinenErwartungen betrifft, so wäre manschon ein gründlicher Miesmacher,wollte man nicht mit einem zukunfts-trächtigen »Ja« zu ihnen stehen, daman erfährt, daß der durchschnitt-liche Kassenrapport jener »geistigenArt, den künstlerischen Nationalis-

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mus aufzufassen«, nicht weniger alssieben Mark anzeigt. Wie ich mich ei-ner Journaläußerung als eines Leitfa-dens durch die Kulturgeschichte be-diene, so verschmähe ich, um an dasJahrhundert heranzukommen, auchsonst nichts, was der Tag mir zu-trägt und was etwa Kunde bringt,wie eine zielbewußte Theaterpolitikdie Gleichschaltung der Pleite in dieHand genommen hat. Da die Na-tionaldramatik mehr Ehrensache ist,versteht es sich von selbst, daß auf»Ball im Savoy« nicht verzichtet wer-den kann, freilich nicht ohne daß die-se Schöpfung »sowohl musikalisch wietextlich gründlich aufgenordet« wor-den wäre, an Abraham wie an Grün-wald. Wenigstens nach der Versiche-rung eines dieser neuen Intendanten,der aber auch erklärt hat, daß er

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demnächst den »Fliegenden Hollän-der« herausbringen wolle, weil er sichzu ihm »als früherer Seemann beson-ders hingezogen fühlt«. Da er jedochauch die klassische Operette pflegenwill, so könnte den Gefühlen der maß-gebenden Kulturfaktoren in weiteremUmfang Rechnung getragen werden,wenn man sich entschließen wollte,doch auf Offenbachs »Briganten« zu-rückzugreifen, die in der StädtischenOper so große Zugkraft hatten.

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Es geht vorwärts. Die »Zusammen-ballung dessen was den deutschenMenschen bewegt«, von Goebbels aus-drücklich als Inhalt des nationa-len Schaffens vorgeschrieben, beginntsich anzubahnen. Die Führung wargut beraten, als sie sich zum Ministerfür Propaganda einen Mann ersah,der, wie bis dahin nur Diebold, sowohlfür den Reiseverkehr [nach dem jetztwünschenswertesten Ziel] wie für dengeistigen Aufbau zu wirken befähigtscheint. Goebbels ist ein Kenner al-ler einschlägigen Terminologie, de-ren Verwendung dem Asphaltschrift-tum nicht mehr möglich ist. Er hatdie Einstellung wie die Einfühlung,er kennt den Antrieb wie den Auf-trieb, die Auswertung wie die Aus-wirkung, die szenische Aufmachung,

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den filmischen Aufriß wie die Auf-lockerung und was sonst zum Auf-bruch gehört, er hat das Erlebnisund den Aspekt, und zwar sowohl fürdie Realität wie für die Vision, erhat Lebensgefühl und Weltanschau-ung, er will das Ethos, das Pathos,jedoch auch den Mythos, er besorgtdie Einordnung wie die Gliederungin den Lebensraum und den Arbeits-raum der Nation, er umfaßt den Ge-fühlskreis der Gemeinschaft und dieVitalität der Persönlichkeit, er bejahtdas Volksmäßige wie das Übernatio-nale und bevorzugt die Synthese, erverleiht Impulse und gibt Andeutun-gen im Peripherischen, ehe er zur zen-tralen Erfassung gelangt, um das La-tente zu verankern und das Proble-matische im Zerebralen herauszustel-len, er weiß Bescheid um Epigoni-

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sches und um Werdendes, wertet dasWollen, erkennt das Gewollte, wie daßKunst ein Gekonntes ist, würdigt dasGelöste, das Aufgeschlossene, das Ge-formte, und kann zwischen einem Ge-stuften und einem Geballten unter-scheiden, ja ich vermute, daß er so-gar im Kosmischen orientiert ist; je-denfalls sieht er Entwicklungsmög-lichkeiten und bestimmt gefühlsmä-ßig den Typ, der sich zwangsläufig,aber letzten Endes doch in der Ge-schmacksbildung auswirkt, er weiß,daß, wenn die Willensbildung zur Wil-lenseinheit und von hier zur Tat-einheit und Kultureinheit vordringt,Sturm und Rhythmus prominenteFaktoren bilden und daß es dann zwaraufs Ganze geht, aber zunächst aufsStählern-Romantische – kurzum, ihmwird man nichts vormachen, was man

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ehedem in der Kulturkonfektion vonB. T. oder B. Z. gefunden hat und was,ob neudeutsch oder neujüdisch, aufdie Gegend wies, wo kein Gras wuchsaußer jenem, das sie hörten.

Jedem Worte klingtDer Ursprung nach, wo es

sich her bedingt.

Nur daß man jenen eben nie die Ak-tivität zugetraut hätte, deren die Bo-denständigen fähig sind; ganz abgese-hen davon, daß bisher noch kein Jour-nalist einen richtiggehenden Prinzenzum Adjutanten gehabt hat. Diese Fi-xigkeit in dem, was sie »Aufziehn derChose« [oder auch der »Kiste«] nann-ten, setzt die gerissensten Kulturfai-seure in Staunen, die det Kind jaimmer schon geschaukelt haben, be-schämt alle Wunder einer entthron-

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ten Theaterregie, läßt aber auch dieVertreter einer bessern Sache bedau-ern, daß ihr solch eine Kraft als Mi-nister für Greuelpropaganda verlorenging. Und doch hat sich eben im Ton-fall der deutschen Welt nichts verän-dert. Mit den gleichen geistigen Mit-teln erfolgt die Verankerung dessen,was heute zu verankern ist, Vision istPhrase, Rhythmus das alte Überbleib-sel der Syntax, das der Expressionis-mus für kollektives Erlebnis festge-legt hat, und selbst verdrängte Kom-plexe, die doch zweifellos verdächti-ger Herkunft sind, finden Unterkunft.Hat doch sogar der Führer, dessenAusdrucksvermögen keineswegs vonGundolf geschult wurde und dessenWeltbild nicht so sehr durch Freud alsdurch Karl May geformt scheint, be-reits den Minderwertigkeitskomplex

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beklagt, an dem die Nation leide. Wastat aber bisher das Theater?

Es trieb den Individualismus auf die Spit-ze, indem es die verdrängten Komplexeirgendeines kranken Menschen auf dieBühne brachte. Das nannte man l ’artpour l ’art .

Der Kulturbevollmächtigte weiß al-les auf einmal, er ist im ganzen Um-kreis des literarischen Slang zu Hau-se, der Abstrakta, die in Berlin je-de Schreibmaschine von sich gab, under weiß gelegentlich sogar an jenepolemisch-satirische Note anzuknüp-fen, der ich oft das Objekt vorzog,wenn sie etwa »Röllchen« als An-zeichen zivilisatorischer Rückständig-keit geißelte, den »Vollbart« [auch»Würdebart« oder »Rauschebart« ge-nannt] hechelte und »Pathos« ironi-

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sierte, sobald es »sich an die Män-nerbrust schlug«. Es ist die öde Ge-witztheit, die auch »Huschhusch, dieWaldfee!« machen konnte, so daß manselbst diese im Original für das klei-nere Übel hielt; wie alles Unzeitgemä-ße, von dem sie sich mit einem einge-streuten »Heu«, »Ha!«, »Hu!« distan-zierte, mit dem satirischen »traun,fürwahr«, das weit ärger ist als dasernsthafte, oder gar mit diesem ener-vierenden »erschröcklich«, das docherst so den Sinn erfüllt. Dieser Ty-pus Schalk, selbst Inbegriff aller Be-triebsamkeit, durchschaute auch den»Betrieb« und erkannte besonders die,die »in« etwas »machen«, was psychi-scher Natur sein sollte, vor allem »inGesinnung«. Nun läßt sich der Sati-riker Goebbels, der schon »die hoheWissenschaft hinter Aktbündeln ver-

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steckt« sah, das Zugeständnis abrin-gen, niemals dürfe der Rundfunk

nur in Gesinnung machen

oder:

damit wil l ich aber nicht etwa sa-gen, daß Kunst Parademarsch seinmüßte.

Welcher einem dadurch sympathischwird, abgesehen von der Unehrlich-keit, die weiß, daß der Kunst nichtsanderes übrig bliebe, als eben daszu sein und darin zu machen, selbstwenn sie von Natur anders könnte.Noch überraschender, zu hören, daßGoebbels auch den »Hurrakitsch« ab-lehnt, dessen bloße Aussprache durchden Berliner Mund einen der Sachegeneigt macht. Der Zivilisationslite-rat kann aber auf das satirische Kli-

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schee nicht verzichten, obschon es ei-ner Bewegung nahetritt, deren Wesenaus nichts als Kitsch und Blut zusam-mengesetzt ist; denn sein Wesen istnichts als die Unverbundenheit mitallem, worüber er verfügt. So ist zwarnoch keine Parole gegen das Blut aus-gegeben worden, wohl aber gegen denKitsch, in der irrtümlichen Annah-me, daß etwas Besseres herauskom-men könnte. Denn der Mann, dessenZüge faktisch weniger die neue Wirk-lichkeit verbürgen als die ältere Iro-nie und der vielleicht sogar die Gast-wirte und Zigarrenverkäufer durch-schaut hat, die als Cherusker verklei-det durch den Grunewald zogen, gibtdie Hoffnung nicht auf. Er scheint denMosesstab zu haben, der Wasser ausdem Gestein holt. Er läßt Autoren, Di-rektoren und Verleger zu sich kom-

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men, weist ihnen Richtungen, Wegeund Ziele und erschreckt sie durch dieVerheißung, »den schreibenden schöp-ferischen Teilen des Volkes würdenso viele Probleme entgegengeschleu-dert, daß man hundert Jahre daranzu arbeiten habe«. Worauf die Art-fremden nur sagen können: bis inhundert Jahr, und daß, wer früher fer-tig ist, von Glück sagen kann. Inzwi-schen geht die Entwicklung der Le-bensdinge im Sturmschritt, wir habenes, wie die illustrierten Blätter zeigen,binnen zwei Monaten geschafft, daßden Jungfrauen meterlange Zöpfe ge-wachsen sind, und schon hat sich demFührer eine Leibwache gesellt, beste-hend aus »langen Kerls«, 1.95.

Vom frischen Geiste fühl ichmich durchdrungen,

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Gestalten groß, groß die Erin-nerungen.

Wenn demnach Fridericus rex viel-fach wieder zu Ehren kommt – biszum »Inspekteur«, aber ohne denGrundsatz, daß Gazetten nicht ge-niert werden sollen –, so wird dochauch an eine jüngere heroische Ver-gangenheit angeknüpft, die der Ge-danken und Erinnerungen keines-wegs entbehrt. So nannte sich jemandkürzlich einen »ehrlichen Makler« –offenbar ein Hieb gegen jene andern,die auf der Börse in Uniform her-umgehn –; ferner gibt es Ansichts-karten, die ihn neben dem Schöp-fer des vergangenen Reiches zeigen,und der Unterschied dürfte nur sein,daß wir Deutsche zwar auch damalsnichts in der Welt gefürchtet haben,

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aber doch Gott. Dagegen sind Über-treibungen anderer Art ausdrücklichverpönt, wie zum Beispiel die An-bringung von Wahl-Sprüchen auf Ge-brauchsporzellan, oder daß etwa aufder Messe einer Fleischerinnung Hel-denporträts aus Schmalz ausgestelltwerden, wie auch insbesondere dieVerwendung von Papierrollen, derenBlätter einem Mißbrauch von Symbo-len dienen, an Orten, deren Wand oh-nehin damit versehen ist. Es handeltsich eben um

eine durchgreifende geistige Erneuerungdes deutschen Menschen, die das gesamteöffentliche Leben wie auch das Privat-leben jedes Deutschen umfassen soll.

Dieser Tendenz entstammt auch je-ner Kampfruf »gegen den Kitsch«,der aber eigentlich dem »gegen den

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undeutschen Geist« zuwiderläuft, in-dem er vielfach gerade dem echtes-ten Ausdruck volkstümlichen Emp-findens nahetritt. Auch der deutscheFilm, der doch schon von Natur demGebiete des Kitsches zuneigt, wurdeangewiesen, sich »mehr mit den Ide-en der neuen Zeit« zu versorgen alsmit deren Symbolen, wobei allerdingsdie Frage entsteht, woher jene zu neh-men wären, wenn man sich nicht ent-schließen wollte, sie zu stehlen, wasman auch täte, falls es sie gäbe. Wäh-rend nun der Kampf gegen den Kitschweitergeht, wurde für den ersten Be-such des Reichskanzlers im BerlinerRathaus vorgekehrt, daß »zu beidenSeiten des Vestibüls Herolde in his-torischen Trachten Aufstellung nah-men«, eine Neuerung, durch die miteiner alten Tradition gebrochen wur-

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de, der zufolge man sich den Berli-ner Herold nur als den Künder derBotschaft vorzustellen gewohnt war,die mit »Wissen Sie schon« beginnt,um fortzusetzen, daß die Prominen-te Gert Rut Sadinsky kürzlich mitRechtsanwalt Wolf III in einem Ho-tel in der Kantstraße verschwundenist, und was wohl Frau Rechtsan-walt dazu sagt, die ihrerseits zuwei-len mit dem Filmstar Fred Neppke ge-sehen wird. Was die sonstige Produk-tion betrifft, zeigen sich, soweit sichdie schreibenden schöpferischen Teiledes Volkes nicht schon zum Boykott-Tag an jüdischen Schaufenstern aus-gegeben haben, da und dort günsti-ge Ansätze. Das polemische Schrift-tum hat einen frischen Zug bekom-men und das Zeitgedicht, das mit bei-ßender Satire Übelständen an den

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Leib rückt, wird gepflegt. So findetunter dem Titel »Jüdische Kapitals-flucht ins Ausland« das Pasquill ei-nes Edelmanns reißenden Absatz, dasgleich in der ersten Strophe kräftigzupackt, wo verlangt wird, daß mitden Juden endlich reiner Tisch ge-macht werde:

Dieser Bande, die sich so un-glaublich benimmt

Und lügt und hetzt und wühltganz offen

Und im Stillen hier und imAusland und will

Daß sie die Herrschaft wiederzurück gewinnen –

Ihr armen Tore, die ihr sol-ches denkt

Eure Zeit ist vorbei meineHerrn!

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Der freie Rhythmus, mit einer gewis-sen Ungezwungenheit in Syntax undInterpunktion, ist natürlich mehr aufakustische Wirkung abgestimmt. Esist ein Ostelbier, der seinen natürli-chen Empfindungen in der GroßstadtLuft macht beim Anblick

Dieser fremden Rasse, die soartfremd dem Germanen-blut

Diesen Blutegeln, die so un-glaublich das Volk aus-sogen

Hinaus nun mit dem Jud!

Zwar scheinen sie wenig Nahrung ge-funden zu haben:

Diese fremde Herde auf deut-schem Sand

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aber gleichwohl waren sie aller Ortenanzutreffen, wie der einfache Rück-blick dartut:

Überall im deutschenLand es war

Ob Stadt, ob Dorf, ob Palastoder Hütte, man sah

Überall die krummen Nasen....

Überal l an gehobenerStel le in die HöhJuden schnellen.

Mehr als das. Drastisch wird geschil-dert, wie der Arier alle Gelegenhei-ten, zu denen es ihn drängte, immerschon von Juden, die eben schnelle-rundmehr waren, besetzt fand:

Wirtschaft und Geschäft –überall der Jud

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Presse, Theater, Film, blickhin wo du willst

Überall der Jud die Hauptrol-le miemt

Allüberall, ja bald jedesKloset

War von irgend einem Ju-den besetzt

Wo war der Deutsche nochzu finden?

Vixierbild – ja bald war es soschlimm

Da wundert man sich nunheut ’ in der Welt

Daß der Deutsche aufwacht,sich abschüttelt diesePlag

Doch genug jetzt ! nichtmehr weiter so! Welt esvernimm!

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Infolgedessen erhebt sich die Forde-rung:

Aber heraus mit den Ju-den aus den öffentlichenDienst!

Und vor allem:

Keine deutsche Frau einemJuden ihr Geld nochbringt!!

Diese Vermischung ist unstatthaft,wo er es ohnedies u. s. w. Sie sollen’smal draußen probieren:

Wenn es den anderen Völkerngefällt

Dann bitte – schachert dortmit Vergnügen!

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Man kann nicht verkennen, daß hierder jüdischen Kapitalsflucht ins Aus-land doch eine gewisse Nachsicht wi-derfährt. Der Autor erfaßt eben dasProblem von allen Seiten, und daer nur ausdrücken will, wie’s ihmums Herz ist, verhehlt er sich auchnicht, daß hier keine Kunstdichtungim eigentlichen Sinne vorliegt, son-dern daß die pure Indignatio den Versmacht:

Ganz einfach schlicht ichsprech’ es hier aus

So einfach, damit es ein jederkann verstehn

Im deutschen Land ganzbequem und seh’ heut ’nicht viel auf Sti l .

Gewiß wäre es interessant, zu erfah-ren, wie er sonst schreibt. Manchmal

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stellt sich ihm doch auch das Glückdes Reimes ein:

Viel Worte machen und alleswar Mist

Wir reden wieder deutsch wieder Schnabel gewachsenist!

Es wird eben durchaus nicht das ge-schraubte Schriftdeutsch jener ange-strebt, denen der Bescheid gebührt:

Reitet , mauschelt sovielihr wollt mit der Feder

Im Ausland doch da weißes auch bald ein jeder

Daß ihr seid ganz verkom-mene Subjekte

Gewiß könnte aber zur Aufklärungdes Auslands der vorliegende Trutz-gesang noch etwas beitragen, mit des-

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sen Dichter man so recht fühlt, wieihm schließlich die Geduld reißt:

Wir bauen auf! Haben keineZeit

Uns mit der Juden Gewinselzu befassen

Ist Schwindel; es pfeifen esdie Spatzen in den Gas-sen!

Die strenge Forderung Diebolds istnicht erfüllt. Wohl hat man es miteinem heimatkünstlerischen Phäno-men zu tun, aber die Willensbildung,die zweifellos angestrebt wird, setztsich nur mit einem freiwilligen Ver-zicht auf höchste geistige Formungdurch, und die wenigen Interpunktio-nen sind vom Setzer. Ebenso in ei-nem anschließenden Lied, das gleich-falls vom Gebot der Stunde diktiert

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scheint, mit dem Titel und dem Re-frain »Juden raus!«, eine Forderung,die der Tendenz gegen Kapitalsfluchtfreilich durchaus entgegensteht. Hier-in wird das deutsche Volk geradezu

Des Juden Knecht, des Gel-des Fluch

genannt, aber

Der Bauer hinterm Flug willsehn

Wieder hinauf zur Sonne frei!

Er ist natürlich durch keinen Aero-plan behindert, während allerdings

Der deutsche Kaufmannnicht auf mehr kannsehn

Gemeint ist offenbar nicht, daß die-ser nicht auf mehr [Geld] sehen kann,

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weil es doch der Jude usw., sonderndaß er aus dem gleichen Grund nichtmehr auf [hinauf] sehen kann.

Wer will Beweise? – millio-nenfach wir können siezeigen

Juden raus!

Sie haben ja sogar auf die Wortstel-lung des deutschen Dichters abge-färbt, und überhaupt:

Deutsche Kunst und Kul-tur nicht mehr war zusehn

Da gibt es nur eines:

– zum deutschen Geschäfts-mann geh hinein

Soll der kaputt sein, sol l esso sein?

Juden raus!

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Die Sache spricht für sich:

Juda hat uns erklärt denKrieg

Uns dem deutschen 65Mill ionenvolk

Frei wollen wir lebengottgewollt

Juden raus!

In späteren Zeiten wird man Gottdanken,

Daß man endlich der Volks-ausbeuter sich entwandt

Kommen sie »nicht sofort zur Räson«,schließt er,

Dann raus mit dem Jud!

Daß hier noch Unsicheres, Relatives,Mehrdeutiges gegeben sei, wird nie-mand behaupten. Gleichwohl dürfte

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man es nicht mit jenem DieboldschenBegriff von Volkslied und deutscherSage zu tun haben, der mit den Gebil-den Goethes die Sprache gemeinsamhat. Ich glaube nicht, daß der Dichteretwa eine besondere Beziehung zur»Pandora« unterhält, wenngleich eroffenbar eine Faustnatur ist und wohlauch vom Götz wenigstens das Un-entbehrlichste wissen mag. Was abersein Ceterum censeo betrifft, daß dieJuden, wenn sie nicht zur Räson kom-men, raus müssen, so hat es inso-fern seinen Zweck verfehlt, als sieteils schon zu ihr gekommen sind,teils aber keinen Paß kriegen, auchwenn sie die Mittel hätten, raus zukommen. Die Vertreibung dieses ra-dikalen Kampfrufs ist durch unse-re brave SA erfolgt, die seines In-halts nicht vollständig. Selbst in die-

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sem programmatischen Hauptpunktmacht sich ja noch der Zwiespalt zwi-schen Theorie und Praxis geltend, deran den guten Reden so häufig auffällt,wenn sie die munter fortfließende Ar-beit begleiten. Hitler kann den ameri-kanischen Judenschützern leicht ver-sichern:

Wir würden jedem Einzelnen ein Freibil-let und einen Tausendmarkschein alsTaschengeld mitgeben, wenn wir sie los-werden können.

Er hat sich wohl nicht den Andrangderer vorgestellt, die da Topp! sa-gen würden [oder auch »Gemacht!«]und die einen deutschen Mann beimWort nehmen wollten, nichts ande-res wünschend, als draußen dafürzu sorgen, »daß das falsche Geredevon Barbarei und Terror verstumme«.

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Schön war’s ja, wenn zum Beispieldie Ausreise nach Österreich den Tau-sendmarkschein, den sie kostet, ein-trüge. Jede Kreatur möchte frei le-ben gottgewollt, aber sie kann haltnicht immer, selbst wenn sie sich nochin keinem Konzentrationslager befin-det. Die Lieder, die dem Befreiungs-gedanken Ausdruck leihen, waren inBerlin stark begehrt, als die Gemü-ter noch von der Genugtuung jenesBoykott-Tages erregt waren, dessenvolkswirtschaftlicher Erfolg an denmoralischen nicht hinanreichte. Da-mals fanden auch noch die parteioffi-ziellen Ansichtskarten Nachfrage, dieetwa die Szene vorführten, wie derbrave SA-Mann in Ausübung seinerharten Pflicht vor dem Laden stand,auf dessen Fenster geschrieben war:

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Dir Judensau sollen die Hände abfaulen!

Oder wie ein invalider Arbeiterführer,Herzensgüte, Scham, Angst und Er-gebung im Gesicht, gefolgt von zivi-lem und bewaffnetem Janhagel, in ei-nem Hundekarren geführt wird. Oderwie ein Münchner Anwalt, der bei derPolizei wegen der Verschleppung sei-nes Klienten angefragt hatte, mit ab-geschnittenen Hosen und einer Tafelan der Brust:Ich bin Jude, aber ich will mich nicht überdie Nazis beschweren

von radfahrenden Spukgestalten es-kortiert wird. [Ins Konzentrationsla-ger, wo dann die Erschießung aufder Flucht erfolgte.] Seitdem insbe-sondere diesem Bildnis im Ausland– welches ihm den Titel gab: Re-tour au moyen age – die Werbe-

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kraft des Gruppenbildes derer um denBattisti-Leichnam zuerkannt wurde,soll die Schaustellung nationaler Tro-phäen gehemmt worden sein, in-dem sich doch die Erkenntnis einerMitschuld an der Greuelpropagandadurchrang. Es heißt, daß nicht nurmit dem Kitsch aufgeräumt wird, son-dern auch mit den seriösen Erzeug-nissen der photographischen Aufnah-me von Einzelaktionen, die geeignetwären, der Außenwelt ein falschesBild zu vermitteln. Formulare fürdie Bestätigung, daß einem Gefolter-ten nichts passiert sei, sind noch inGebrauch und liegen ordnungsgemäßfür jeden, dem es gelingt, ein BraunesHaus zu verlassen, in der Anstalt auf.

Was den literarischen Ausdruck derZeitstimmung betrifft, der in so vehe-

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menten Kundgebungen wie jener ge-gen Flucht und Verbleib der Judenvorliegt, so ist gewiß nicht zu leugnen,daß ein wenig über die Galgensträn-ge geschlagen wurde. Gleichwohl hatdas Wort nicht geringern Anspruchals die Tat, mit der Nachsicht beur-teilt zu werden, die den Sturm undDrang einer jungen Bewegung vonderen Wertgehalt unterscheidet. Mandarf an dem, was man ihr zugutehal-ten muß, nicht das Gute übersehenund muß auch hier den Standpunkteiner Führung anerkennen, von derman ja immer wieder die ausdrückli-che Mißbilligung von Übergriffen ver-nommen hat, die sie gutheißt. Dennman könnte doch im Ernst nicht an-nehmen, daß Worte, die so brüsk denTatendrang bejahen, dem Geschmack

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eines Mannes gemäß seien, von demKube, selbst ein Ästhet, gesagt hat:

Es ist der Wille Adolf Hitlers, daß derpolitische Kampf . . geadelt sei durchdie Pflege deutscher Kunst. Wir enge-ren Mitarbeiter wissen, daß er der fein-sinnigste Kunstkenner ist , der je ander Spitze einer großen Nation ge-standen hat. Ich erinnere mich, wieer vor dem großen Entscheidungs-kampf um das Kabinett Schleicher sichan die Stufen des Pergamonaltars be-gab, um an seiner gewaltigen Schönheitdie eigenen inneren menschlichenSehnsüchte wieder aufzufrischen.

Und nach den rauhen Kampftagensolle sich das deutsche Volk wiederauf seine Seele besinnen, denn »see-lische Erneuerung tut not«. Die mu-sische Seite, die eigentlich die stärke-

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re ist, wurde bisher viel zu wenig be-achtet, und selbst der Fachmann wür-de staunen über die geheimen Sehn-süchte eines Tatmenschen, von demsein eigenes Blatt, das doch gewiß in-formiert ist, unter dem Titel »Wenndie Künstler wüßten ...« das Bild einesMäcenas entwirft, wie ihn der Horaznicht geträumt hat:

Wenn die Künstler ahnen würden,wie sehr Adolf Hitler den Inbegrif f desmusischen Menschen verkörpert, sohätte er unter ihnen keine Gegner – die-ses Wort, in den Zeiten unserer schwers-ten Kämpfe von Baidur von Schirachgeprägt, es hat uns wie ein Stern derVerheißung selbst die dunkelsten Stun-den hell und licht gemacht.

Also nicht erst die Erscheinung alssolche, nein schon wie Schirach sie

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sah, Schirachs Wort war aufrichtend.Selbst wenn wir schier ach verzagenwollten –dieser Talismann der Hoffnung feiteuns gegen jedes Erlahmen: Wenn dieKünstler wüßten. . .

Ein Stein, der die geheime Kraft hat,bei Gott und Menschen unbeliebt zumachen? Nicht doch, der ,VölkischeBeobachter‘ bestätigt die Erkenntnisjenes Sehers, dessen Name schon wieeine Mischung aus Edda und Penta-teuch klingt:Wenn sie wüßten, was zu erlebenschon früh unser Schicksal wurde,daß ein politischer Führer keineswegsnaturnotwendiger Weise amusi-schen Charakters sein muß, sondernsehr wohl mit der Härte einer heroi-schen Oberzeugung und der Unerbittlich-

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keit des Befehls Aufgeschlossenheitfür al le künstlerischen Verklärun-gen des Daseins haben kann – siewürden, dessen waren wir von jehergewiß, zur Heerschar derjenigenstoßen, die wie wir

»aller Differenziertheit des Intellektsentsagen lernten«, um ihn »schlecht-hin zu lieben«.

Wenn sie wüßten – dieser Gedanke be-mächtigte sich unser mit fast quä-lender Gewalt .

Man kann sich denken, was die vom,Völkischen Beobachter‘ gelitten ha-ben; es grenzt an Dachau. Aber:

Sie sol len es wissen, sie müssen es wis-sen!

Zu diesem Behufe werden »diekünstlerisch-schöpferischen Persön-

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lichkeiten der Theater- und Filmwelt«an den Kaiserhof, der ein Hotel ist,berufen:

Jetzt so, mit ungeheuremStreben,

Drang aus dem Abgrund ichherauf,

Und fordre laut, zu neuem Le-ben,

Mir fröhliche Bewohner auf

und es ergibt sich, ganz im Concor-diastil, da man die Staatskunst mitder Muse plaudern sah, ein zwang-loser, aber reger Gedankenaustausch.Mancher, dem ich Talent beigebrachthabe, ist dabei und sonnt sich. Mansieht, wie Willy Fritsch beim Hände-druck am Ziel ist, wie die Paudler [de-ren Gleichschaltung mich gleichfallskalt läßt] ins Dritte Reich eingeht,

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man hört wie die Liane Haid ausruft:»Großartig hab’n S’ das g’macht, HerrHitler, nur so weiter, toi, toi, toi!« undimmer lachend Goebbels unter denLamien:

Wie sie dem Satyrvolk beha-gen;

Ein Bocksfuß darf dort alleswagen.

Und nun:durchzuckt uns nicht mehr jenesschmerzl iche: Wenn sie wüßten,sondern beglückt uns die Gewiß-heit : Jetzt wissen sie !

Von da ist im Musischen nur nochein Schritt zu der Feststellung der so-genannten »Dötz«, das Publikum ha-be dem Komponisten einer Goethe-Symphonie, die dem Führer gewidmetist, zugejubelt, denn es grüßte

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mit dem Meister die großen Geister,denen sein Werk dient: Goethe undAdolf Hitler.

Der Musikkritiker, der es schrieb,heißt Damisch.

So nur kann, so muß es sein

schloß treffend der völkische Kollege,als es die Künstler endlich erfahrenhatten.

Überall regt es sich. Dichter emp-fangen Winke, von den kunstsinnigenFührern nach dem Kaiserhof beschie-den:

Apollen hält ein froh Verwei-len

Dort nun mit seliger MusenChor

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woselbst, wie es ferner bei Nestroyheißt, man den Musen und dem Teehuldigt. Bald springt denn auch einVerslein von den Lippen, und es zei-gen sich die ersten Triebe einer Pro-duktion im Volksliedhaften, die nichtnur der heroischen, sondern auch deridyllischen Neigung der Tage gerechtWird:

Unter der Birke standenzwei,

Ein Blonder und eine Blonde,Der Himmel lag blau und es

war MaiUnd Sonne die Welt umsonn-

te.

Und wie nun »zwei blonde Herzen zit-terten heiß« und

Im Wipfel da sang ein Singvö-gelein

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Und nickte froh mit demKöpfchen,

Es stürmte das Blut demMägdelein

Bis unter die blonden Zöpf-chen

– da geht wohl auch der Unbeteilig-te mit, und wenn der ,Völkische Beob-achter‘ solche Beschränkung des Blut-mythos auf das Allgemeinverständli-che als »Kitsch« ablehnt, so beweister nur, daß er den Umfang arteige-ner Möglichkeit unterschätzt und dieWiederbesinnung auf die Urinstinktevielleicht zu sehr auf das Maß Billin-gers einschränkt. Es ist nicht wahr,daß sich die deutsche Seele am Kämp-ferischen genugtut; per aspera gehtes immer auch ad astra, und derkulturelle Aspekt dessen, was errun-

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gen wurde, verheißt den Aufschwungvon der Stofflichkeit eines Höllen-breughel zu Herzblättchens Zeitver-treib. Die völkische Literatur wird,wenn erst einmal die Schlacken abge-worfen sind, sich der Zielsetzung, dieim Hotel Kaiserhof besprochen wur-de, würdig erweisen, und man gehtgewiß nicht fehl, wenn man ihr eineEntwicklung voraussagt, die im Aus-druck des Wehrwillens bis zu Körner,in der Bejahung der Genuß rechte zuBaumbach vorwärtsdringt. [Die Ver-bindung der Elemente erfolgt im Mili-tärschwank.] Dem Mägdelein werdendie Zöpfchen noch wachsen, die Lore-lei wird ihr goldenes Haar kämmen,und man wird keines drin finden, dasvon Heine ist, noch auch die Leichenim ruhig-fließenden Rhein. Die Abklä-rung vollzieht sich stürmisch. Nach-

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dem man die Spreu vom Weizen ge-sondert, diesen verbrannt und mitder Wurfschaufel Juden totgeschla-gen hat, wird man ihre hinterlasse-nen Sprachschätze als Schmückedein-heim behalten.

Daß für den Aufbau und insbeson-dere den »ideologischen Überbau« ei-nes Lebens, das schon Seneca gemeinthaben muß, wenn er »vivere est mi-litare« erkannte – daß für derlei diePhilosophie nicht müßig zu sein hat,versteht sich von selbst, und so leichtwie eine, die zu einer richtiggehendenWalpurgisnacht gehört,

Denn wo Gespenster Platz ge-nommen,

Ist auch der Philosoph will-kommen.

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Aber wie macht er es, und vor al-lem: wie findet man ihn? Es magja an und für sich schwer sein, mitdem, was man von den Circenseshört, die andauernd in den Kasernenund Lagern geboten werden, solangedas Problem der Panis-Beschaffungnoch nicht gelöst ist: mit der An-wendung von Stahlruten und Nil-pferdpeitschen, mit Gelenksübungenfür Gelähmte, mit der Verwandlungnackter, auch weiblicher Körper inblutige Fleischklumpen, mit Proze-duren, die nicht selten unter fröhli-chen Marschgesängen der Tätigen vorsich gehen, unter Sprechchören derBetroffenen oder unter dem ZwangBlutsverwandter, zu assistieren oderaufeinander loszuschlagen, kurzummit Dingen, für die nicht die Taten-welt der Königsdramen und keine Re-

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volution ein Vorbild hatte – es mußdoch schwer sein, mit so etwas einenGedanken zu verknüpfen oder ihn garbei Schriftgelehrten als eine förmli-che Anweisung für so etwas aufzufin-den. Denn wenn sich schon die Federsträubt, diese Dinge abzuschildern,wie es das Andenken all der Mär-tyrer erfordern würde und auch dasGedenken jener, die bloß Todesangstzu bestehen hatten und den bestiali-schen Hohn der vorgehaltenen Waf-fe [»Jud, fürchst’ dich?«]: das Hinrich-tungsspiel mit dem Versprechen fürmorgen – wenn schon die Beschrei-bung unmöglich ist, so kann man sichdoch völlig nicht vorstellen, daß sicheine Feder auftreiben ließe, die mitethischer Verantwortung an dem Le-bensrecht der Menschheit solche Mit-tel zur Purganz eines Volkskörpers

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befürwortet hätte. Gewiß, um nichtan der Kosmosreinheit des Menschenzu verzweifeln und zum Schutz voreigenem Wahnsinn möchte man sichan einen Sinn klammern, der denBegebenheiten innewohnt. Aber dieNeigung, ihn von der Philosophie zubeziehen, ließe sich doch selbst nuraus der Erkenntnis pathologischenZusammenhangs begreifen. Denn daßdie Blutberauschung einer erweck-ten Betriebswelt natürlicherem oderheroischerem Drange als dem despervertierten Geschlechtswesens ent-stammen sollte; daß die Bluthochzeitund ihre Paarung mit Schmutz, daßder hinter allem Ideenbehang nack-te Aufbruch zu wirtschaftlicher Sät-tigung in anderen Urinstinkten wur-zeln könnte als in denen der Macht-gier und Sklavenlust, der Habgier

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und des Neides; daß viehische For-men der Entschädigung, in denen sichnie zuvor die Lebensnot einer Ge-meinschaft, selbst nicht Panik desHungersterbens ausgerast hat, ver-möge der Besonderheit nur von einemübersinnlichen Punkt erfaßbar wären– das müßte schon eine Philosophiesein, reif zu der höchsten Steigerungs-stufe von »deutsch«, die sich diesesVolkstum für alles, was ihm eigen, vorallen andern Volkstümern vorbehal-ten hat. Es kommt eben damit, wieauch sonst, mit den eigenen Reprä-sentanten seiner bessern Beschaffen-heit in Konflikt. Goethe war dagegen,er wurde dem Unvergleichlichen mitder Bemerkung gerecht:

Eine Vergleichung des deutschen Volkesmit andern Völkern erregt in uns pein-

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liche Gefühle, über welche ich auf jeg-liche Weise hinwegzukommen versuche.Ist denn wirklich das Volk erwacht?

Und Wagner will von dieser deut-schesten Tugend, die sich selbst an-spricht und zwar unaufhörlich, schongar nichts wissen; von einem Hang,der, seitdem er besonders den Ätherzu Hilfe nimmt, die anderen Natio-nen erst auf die Idee gebracht hat,sich als Franzosen, Engländer, Italie-ner, Tschechen und nun insbesonde-re auch als Österreicher zu fühlen.Freilich würde heute Bayreuth in seinProgrammheft nicht die Meinung auf-nehmen, daß, je mächtiger ein Volksei, desto weniger es darauf zu gebenscheine,

seinen Namen mit dieser Ehrfurcht vorsich selbst zu nennen. Es kommt im öf-

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fentlichen Leben Englands und Frank-reichs bei weitem seltener vor, daß manvon »englischen« und »französischen« Tu-genden spricht; wogegen die Deutschensich fortwährend auf »deutsche Tiefe«,»deutschen Ernst«, »deutsche Treue« unddergleichen mehr zu berufen pflegen.Leider ist es in sehr vielen Fällenoffenbar geworden, daß diese Be-rufung nicht vol lständig begründetwar.

Was würde ein hoher Gast vollendsdazu sagen, wenn er dort die Meinunganträfe:

Während Goethe und Schiller den deut-schen Geist über die Welt ergossen, ohnevom »deutschen« Geiste auch nur zu re-den, erfüllen diese Spekulanten alle deut-schen Buch- und Bilderläden, alle soge-nannten »Volks-«, das heißt Aktienthea-

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ter, mit groben, gänzlich schalen undnichtigen Bildungen, auf welchen immerdie anpreisende Empfehlung »deutsch«und wieder »deutsch« zur Verlockungfür die gutmütige Menge auf gekleckstist. Und wirklich sind wir so weit ,das deutsche Volk damit bald gänz-l ich zum Narren gemacht zu sehen:Die Volksanlage zu Trägheit und Phleg-ma wird zur phantastischen Selbst-gefal lsucht verführt; bereits spielt dasdeutsche Volk zum großen Teil in derbeschämenden Komödie selbst mit, undnicht ohne Grauen kann der sinnendedeutsche Geist jenen törichten Fest-versammlungen mit ihren theatra-l ischen Aufzügen, albernen Festre-den und trostlos schalen Liedernsich zuwenden, mit denen man dem deut-schen Volke weismachen will, es sei etwas

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ganz Besonderes, und brauche gar nichterst etwas werden zu wollen.

Aber man hat immerhin für Bayreuthangeordnet, auf das Horst Wessel-Lied zu verzichten, das ja doch auchunvereinbar wäre mit einer Gesin-nung, die zu finden gewagt hat:

daß das einfache Angstgefühl derje-nigen Völker, welche sonst der deut-sche Geist beeinflußte, es ist, was diesejetzt gänzlich von uns abgewendetund der vollen Hingebung an die fran-zösische Zivilisation zugeführt hat .. dasie sehr richtig wenigstens die echte Wareder gefälschten vorziehen.

Daß das Bekenntnis zu einem, der soetwas geäußert hat, nun gar obligat,ja in das Vaterlandsgefühl einbezogensein soll, ist umso schwerer vorstell-

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bar, als er dieses selbst angezweifelthat:

Wie der Patriotismus den Bürger für dieInteressen des Staates hellsehend macht,läßt er ihn noch in Blindheit für das In-teresse der Menschheit überhaupt ....

Auf der Suche nach einem philoso-phischen Treuhänder des nationalso-zialistischen Gedankens wäre somitWagner vorweg abzulehnen. Es wirdsich überhaupt schwer so etwas fin-den lassen, und mehr dem Werden-den vorbehalten sein, dem Schoß derGeistigkeit eines Lebens, das in allemOrganischen die Fabriksgeburt offen-bart. Lange schon zeigte sich, daß dasneudeutsche Sortiment nichts Gu-tes im Schilde führe wie im Schau-fenster: lauter Tat und Wille, nichtsals Blut und Erde, jedes Schlag-

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wort eine Handgranate, Volltreffer je-der Blick aus diesen Einheitsgesich-tern von Autoren, die wie ihre Le-ser ausschauen; der trostlose Opti-mismus einer Generation, die etwasvon »Dem Tod ins Auge gesehn ha-ben« gehört hat und sich dadurch zunichts verpflichtet fühlt als zur Wie-derholung und zur Vergewaltigungder Mitmenschheit. Betrieb einer Bü-romantik von Befreiungskriegen zumZweck der Sklaverei. Gewimmel vonVerwendbaren: Belletristen, Gesund-beter und nun auch jene Handlan-ger ins Transzendente, die sich in Fa-kultäten und Revuen anstellig zeigen,die deutsche Philosophie als Vorschu-le für den Hitler-Gedanken einzurich-ten. Da ist etwa der Denker Heideg-ger, der seinen blauen Dunst dembraunen gleichgeschaltet hat und klar

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zu erkennen beginnt, die geistige Welteines Volkes sei

die Macht der tiefsten Bewahrung seinererd- und bluthaften Kräfte alsMacht der innersten Erregung undweitesten Erschütterung seinesDaseins.

Ich habe immer schon gewußt, daßein böhmischer Schuster dem Sinndes Lebens näherkommt als ein neu-deutscher Denker. Warum das Volkdurch seine erd- und bluthaften Kräf-te erregt und erschüttert sein mußund wie es dadurch auf einen grü-nen Zweig kommen könnte, das zusehen ist natürlich mehr Sache desGlaubens als der Beweisführung; im-merhin fühlt man sich an den Ein-wand bei Gogol erinnert, der ge-gen einen aufgeregten Schulmeis-

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ter vorgebracht wird: Gewiß, Alex-ander der Große war ein großerMann, aber warum gleich Sessel zer-trümmern? Heidegger, der zeitgemäß»Wehrdienst des Geistes« traktiert,unterläßt ja keineswegs, zu sagen,wie man handeln soll:

Man muß handeln im Sinne des fra-genden, ungedeckten Standhaltensinmitten der Ungewißheit des Sei-enden im Ganzen.

Zum Glück gibt die Zeitung, die eszitiert, auf der Stelle einen Anhalts-punkt:

Prüfe und behalte das Beste: Berna-Käse.

Gleichwohl tappt man. Das Bekennt-nis zu Blut- und Erdverbundenheit,mit dem sich jetzt diese abgründigenWorthelfer der Gewalt beeilen, könnte

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vielleicht an jene Gefahr der Verbin-dung denken lassen, die zwar nichtin der Philosophie, aber in der Me-dizin als Tetanus bekannt ist, undso wäre die Psychose auf einen na-tionalen Starrkrampfanfall zurückzu-führen, dem alles ausgesetzt ist, wasexerzieren und dozieren oder beideszugleich kann. Aber was nützte solcheErkenntnis, da die Bewegung nichtgeheilt, sondern geheiligt sein will?»Hinein da möcht’ ich mich nicht wa-gen«, bekennt man,

Nur, um dir’s im Vertraun zusagen:

Zwei Philosophen bin ich aufder Spur,

Ich horchte zu, es hieß: Natur!Natur!

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Nietzsche? Nicht doch, doch nicht!Er wäre, trotz aller Schwankungzwischen den Kulturen, für unter-menschliche Methoden, zur Natur zu-rückzufinden, für eine Grausamkeit,die zugleich unappetitlich ist, ver-möge seiner Hinneigung zu romani-schen und semitischen Lebensformenkaum heranzuziehen. Wohl hat es ihnnach den »Barbaren des zwanzigs-ten Jahrhunderts« verlangt, welche eraber doch wieder in ihrer Vorhanden-heit nachdrücklichst abgelehnt hat.Wohl hat er mannigfach auch mit demHammer Thors philosophiert und vielUnheil angerichtet durch jenen Über-menschen, den er »euch lehrte«, der– selbst auf die Sicht der Äonen, indie er sein Denken projiziert hat –ein Entwurf bleibt und dem in seinernunmehrigen Vollendung der Geist

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wie dem Faust [von dem er stammt]zuriefe:

Welch er-bärmlich Grauen

Faßt Übermenschen dich!

Denn wirklich:

Wo istder Seele Ruf?

Wo ist die Brust, die eine Weltin sich erschuf,

Und trug und hegte, die mitFreudebeben

Erschwoll, sich uns, den Geis-tern, gleich zu heben?

Solche Gleichschaltung wäre also vor-beigelungen, und Nietzsche, welcherZuchtwarte abgelehnt hat, hätte ander Anwendung des Axioms, daß derMensch etwas ist, das überwunden

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werden soll, wenig hellenische Freu-de. Denn was der Affe für den Men-schen ist und der Mensch für denÜbermenschen sein soll, »ein Geläch-ter oder eine schmerzliche Scham«:eben das ist heute der Übermenschfür den Menschen, und hinter der»prachtvollen, nach Beute und Sieglüstern schweifenden blonden Bes-tie«, mit der eine Literaturgenerati-on geweidet hat, würde er nichts wie-derfinden als eben die »Herdentiermo-ral«, die er verpönte und die sich nunmit höchster Subalternität am Macht-gedanken gütlich tut. Ist es die Er-füllung, daß dieser des Schutzes derLüge bedarf, um die Beute zu de-cken, und daß der Kopfjäger als Skalpden Posten davonträgt? Ließ jener dieBestie solchermaßen schweifen:

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Der jüdische Apotheker Georg Grünwaldhatte seinen Laden in der Prenzlauer-Allee im Norden von Berlin. Eines Ta-ges, bald nachdem der Brand im Reichs-tag ausgebrochen war, etablierte sich ge-genüber dem Laden ein anderer Apothe-ker.Mitte April stürmte ein Trupp Braun-hemden in das Geschäft. »Jude, laß dieRollbalken runter und sperre deine Buti-ke oder es könnte dir schlecht ergehn!«Grünwald erwiderte, er sei seit zwanzigJahren als Apotheker auf dem Platze,nicht er sei daher der Konkurrent, son-dern jener.In der Nacht nach dieser Auseinanderset-zung verschwand Georg Grünwald spur-los aus Berlin. Seine Frau alarmiertedas nächste Polizeirevier. Zwei Tage ver-gingen. Am dritten Tag rief das Revierdie Wohnung der Apothekersfrau an. Sie

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könne sich den Leichnam ihres Mannesin der städtischen Leichenkammer zurBeerdigung holen. Die Frau lief auf dasPolizeirevier. »Was ist meinem Manne zu-gestoßen?« Achselzucken... Frau Grün-wald dachte an den neuen Apotheker...Zwei Privatdetektive legten sich auf dieFährte der Mörder. In derselben Nachtwurde Frau Grünwald in ihrer Wohnungvergiftet aufgefunden. Der Polizeiberichtsagte: Selbstmord. Für das Polizeirevierwar der Akt geschlossen.In der Prenzlauer-Allee gibt es jetzt nurnoch einen einzigen, deutschen Apothe-ker.

Und tritt etwa hier »das frohlockendeUngeheuer in die Unschuld des Raub-tiergewissens zurück«:

Aus dem Reisebericht eines Schweizers:Ich kam nach Hessen. In einem alten

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Gasthaus erzählten mir ein paar behäbi-ge Kirchengänger lachend, wie sie am Ta-ge des Boykotts ihren Spaß gehabt hättenmit einem Krämer, den zwei SA-Männermit vorgehaltenen Karabinern auf denDorfplatz trieben. Der Jude hätte umsein Leben gefleht und gewinselt, weiler dachte, seine letzte Stunde wäre ge-kommen. Da hätten sie ihn laufen las-sen. Jetzt kaufe niemand mehr bei ihm.Ein anderer jüdischer Krämer, den derBerichterstatter aufsuchte, erzählte, daßes noch gute Nachbarn gebe, die ihmnachts Eßwaren bringen, damit er undseine Kinder nicht verhungern.

Vielleicht hätte sie der Antichrist je-nen vorgezogen. Oder sind die Aufse-her der Konzentrationslager Vertre-ter der Herrenmoral? Erlöst sich die»vornehme Rasse« auf solche Art aus

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dem Zwang der Gemeinschaft, daßsich feige Unholde für ihr erotischesHauskreuz rächen? Sie waren zumWeibe gegangen, und können die Peit-sche nicht vergessen:

Das Lager war in verschiedene Klasseneingeteilt. Am schlechtesten hatten es dieKommunisten und radikalen Sozialistenin der dritten Klasse. Die Juden wurdenzwar von der jüdischen Gemeinde verkö-stigt, mußten aber die niedrigsten Diens-te verrichten, die Klosette reinigen, denSA-Leuten die Stiefel putzen, auf Befehldie Füße küssen oder die Stiefel le-cken. Wollten sie nicht, so half der Gum-miknüttel. Ich sah, wie ihnen die Haa-re ausgerissen wurden, daß Stücke derKopfhaut mitgingen. Sie wurden auch ge-zwungen, sich selbst in das Gesicht zuschlagen oder gegeneinander zu boxen:

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»Haut euch, Hunde!« Sonst tat der Knüt-tel seine Arbeit, bis das Blut spritzte. Vie-le bekamen Nervenzusammenbrüche, an-dere wurden krank. Ärztliche Visite warwöchentlich einmal. Es ging aber nur im-mer: Der nächste, der nächste, ohne je-mand anzuhören. Jemand neben mir sag-te: »Die Lunge ist nicht in Ordnung, ichspucke Blut«; die Antwort war: »Rizinus-öl«.

Nein, das kann kein Philosoph ge-wollt haben.

Hast du, o Thaies, je in einerNacht,

Solch einen Berg ausSchlamm hervorgebracht?

Oder erstand Nietzsches Gedanke,der für Abirrungen untergeordneterOrgane nicht verantwortlich zu ma-chen wäre, in dem Verhalten jener

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Gewalthaber, die ihr Wort, und jenerWorthaber, die ihre Gewalt verleug-nen? In der Tatkraft avancierter Fe-memörder, in der Wortkraft der Poli-zeipräsidenten, die für den Eventual-fall als Sicherheitsmaßnahme »einenPogrom, wie ihn die Welt noch nichterlebt hat«, in Aussicht stellen, »Bar-tholomäusnächte« verheißen, denen»Tage der Auferstehung« folgen sol-len, »Stunden einer Vergeltung«, ge-gen die die erlebte ein Kinderspielsein wird?

Nie war Natur und ihr leben-diges Fließen

Auf Tag und Nacht und Stun-den angewiesen;

Sie bildet regelnd jegliche Ge-stalt,

Und selbst im Großen ist esnicht Gewalt.

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Hier aber war’s!

Etwa in dem literarischen Bekenntnisjenes Killinger, der nicht nur so heißt,sondern handelt, und der unter demTitel »Ernstes und Heiteres aus demPutschleben« das Heitere wie folgt be-sorgt hat:

Ein Weibsbild wird mir vorgeführt. Dastypische Schwabinger Malweibchen. Kur-zes, strähniges Haar, verlotterter Anzug,freches, sinnliches Gesicht, wüste Augen-ringe. »Was ist mit dir los?«

Sie ist renitent und spuckt, mit Recht,einem der Ritter ins Gesicht.

»Fahrerpeitsche. Dann laufen lassen«, sa-ge ich kurz. Zwei Mann packen sie. Siewill beißen. Eine Maulschelle bringt siezur Räson.Im Hof wird sie über die Wagendeich-

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sel gelegt und so lange mit Fahrer-peitschen bearbeitet, bis kein weißerFleck mehr auf ihrer Rückseite war.»Die spuckt keinen Brigadier mehr an.Jetzt wird sie erst mal drei Wochenauf dem Bauche liegen«, sagt Feldwe-bel Herrmann ..

Getan und beschrieben von einem derhöchsten Würdenträger einer Staats-gewalt, die Greuelmeldungen mitZuchthaus bestraft. Faustnatur, magsein; doch Übermensch? War schondie Einführung Hitlers in die WeltWagners ein Mißgriff, so ist es viel-leicht eine noch größere Fahrlässig-keit, daß man ihn auf die geistige Ver-wandtschaft mit Nietzsche aufmerk-sam gemacht hat, ja geradezu einfaux pas, ihn im Weimarer Kreise ne-ben der Büste zu photographieren. Ei-

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ne französische Zeitung hat die Auf-nahme veröffentlicht und ein engli-scher Gelehrter weist auf das Unpas-sende der Verbindung mit einem Au-tor hin, der gerade mit dem Deutsch-tum seine bedenklichsten Wortspieletrieb, wie jenes »Horneo und Borneo«zum Rassenproblem, und der gerade-zu als »Maxime« aufstellte:

Mit keinem Menschen umgehen, der andem verlogenen Rassenschwindel Anteilhat!

Ja der in »Ecce homo«, das freilichselbst einer psychopathischen Regi-on nahesteht, auf seine Art über dieJahrtausende verfügt, indem er sienicht nur für die Geltung seiner Ge-danken in Anspruch nimmt, sondernauch behauptet:

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Alle Verbrechen gegen die Kultur in denletzten vierhundert Jahren haben dieDeutschen auf dem Gewissen.

Und von dem der Satz stammt:

Die Deutschen sind Canaillen – ein Mannerniedrigt sich, wenn er ihre Gesellschaftfrequentiert.

Ein Jahrtausend Konzentrationsla-ger in ihrer Gesellschaft wäre diesenBekenntnissen gesichert.

Welche Wohltat ist ein Jude unter Deut-schen

meint Nietzsche.

Einem Juden zu begegnen ist eine Wohl-tat, gesetzt, daß man unter Deutschenlebt. Die Gescheitheit der Juden hindertsie, auf unsere Weise närrisch zu werden,zum Beispiel »national«.

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Mehr als das:

Ich mag sie nicht, die neuesten Spekulan-ten in Idealismus, die Antisemiten, wel-che heute ihre Augen christlich-arisch-biedermännisch verdrehen und durcheinen jede Geduld erschöpfenden Miß-brauch des wohlfeilen Agitationsmittels,der moralischen Attitüde, alle Hornvieh-elemente des deutschen Volkes aufzure-gen suchen.

Ein Satz, der dabei vorbildlich fürdeutsche Polemik ist. Und dieserNietzsche wird geradezu persönlich:

Pfui über die, welche sich jetzt zudring-lich der Masse als ihre Heilande anbie-ten!

So spricht die Büste auf der Photogra-phie. Was ist dem Weimarer Kreis nureingefallen? Wie konnte Goebbels den

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Führer so irreführen, daß er ihm sol-ches Nebenbild empfahl? Da hat manin Genf mehr Takt und Sinn für An-ordnung bewiesen, als man jenen hin-ter den Großrabbiner von Australiensetzte.

Mit Nietzsche ist’s nichts. Geeig-neter zur philosophischen Stützungdürfte schon der zweite sein, demich auf der Spur bin: Spengler, derda gemeint hat, es gebe »dem Ty-pus Mensch einen hohen Rang, daßer ein Raubtier ist«, ja der den Vor-gängen in Dachau und Sonnenberg, inder Hedemannstraße und Papestra-ße unmittelbar die gedankliche Basisschuf: durch das Lob der Fähigkeit,sich »aktiv klug« auf den Schwäche-ren zu stürzen, und durch die Bestär-kung der Seele, die

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den Rausch des Gefühls kennt,wenn das Messer in den feindlichenLeib schneidet, wenn Blutgeruch undStöhnen zu den triumphierendenSinnen dringen. Jeder wirklicheMann noch in den Städten später Kul-turen fühlt zuweilen die schlafendeGlut dieses Urseelentums in sich.Nichts ... von den zahnlosen Gefühlendes Mitleids, der Versöhnung.

Ja, dem ist zu glauben, wenn er be-kennt:Niemand konnte die nationale Umwäl-zung dieses Jahres mehr herbeiseh-nen als ich.

Man hat ihm die Lehrkanzel in Leip-zig angeboten. Er versteht die Un-tergangster des Abendlandes, und sieverstehen ihn. Seine einfache, mitder Beschwerde über zu harte Frie-

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densbedingungen vereinbare Anlei-tung für menschlichen Verkehr recht-fertigt schon ein Erwachen des Ur-seelentums, das ohne Beispiel ist.Von den Lebenden taugt sonst kei-ner; Spengler wäre der Richtige. Lei-der soll auch er enttäuscht haben,da er zwischen »Rasse, die man hat«und »Rasse, zu der man gehört« unter-scheidet und nur jenes dem »Ethos«zuordnet, dieses aber der »Zoologie«.

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Bleibt Gottfried Benn. Er ist ersthinterdrein zur Bewegung gestoßen,hat die vollkommene Wendung vonlinks nach rechts durchgemacht undwurde darum von emigrierten Intel-lektuellen angefochten, über die ichmir ja selten im Zweifel gewesen bin,während er mir immer verdächtigwar. Aber ein Neophyt leistet nochwertvollem Dienst als der Philosoph,der sich schon vor dem Durchbruchdes Gedankens angestrengt hat, undsein Bekenntnis ist nicht nur für denNationalsozialismus als Beweis derBekehrungsgewalt erheblich, als Sa-crificium intellectus, als Dokument ei-ner Ungeistesgegenwart, die der La-ge gewachsen ist, sondern auch fürden Außenbetrachter als Beispiel des-sen, was Literaten imstand sind. Daß

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sie bei arischer Herkunft noch mehrleisten, ist eine alte Erfahrung, aberman wird sehen, daß Benn trotz radi-kaler Abkehr von intellektuellen Le-bensinhalten die formale Schulungnicht verleugnet, sondern unversehrtins neue Haus bringt. Die Rede, zuder er gestellt wurde, hat er im Ber-liner Rundfunk zwischen Gebell ge-ballt und in der ,Deutschen Allgemei-nen Zeitung‘ veröffentlicht, welche be-kanntlich manchmal wider den Sta-chel locken konnte und an der Spit-ze derselben Nummer »den gestirntenHimmel über uns und das moralischeGesetz in uns« als Motto führte, nachder Weisung Kants, der durch einbedauerliches Mißverständnis gleich-falls zur philosophischen Stütze desDritten Reiches berufen wurde, sichaber den Imperativ ganz anders ge-

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dacht hat als »Juda verrecke!« Oderselbst nur als Verordnung der Gau-leiter, beim Horst Wessel-Lied »wäh-rend des ersten und vierten Versesden rechten Arm zu erheben«, weilsonst der Schnellrichter drei Mona-te gibt. Kategorischer als Immanu-el Kant tritt Gottfried Benn auf denPlan. Er liefert das Äußerste, wasWortverfügung, die sich dem Furoranpaßt und nun vielleicht wirklichvon ihm hin- und von der eigenenSpur weggerissen ist, zu bieten ver-möchte; und wenn der »Mordsturm33« das, was ihm hier zur philosophi-schen Deutung seines Tuns gebotenwird, nur annähernd so gut verstehtwie Goebbels, so ist, falls der Lyri-ker des Siebenten Ringes zu dem desDritten Reiches emporsteigen sollte,Benn dessen Prosaiker, echter als Die-

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bold, stärker als Mirko Jelusich, des-sen »Weltruf als Dichter« neulich vonunserer »Dötz« festgestellt wurde undder ja, nach einem Roman zu Mus-solinis Ruhm und einer Novelle zuDrehers Bier, jedenfalls »der größ-te Schriftsteller Österreichs« ist. DaßBenn in polemischer Hinsicht selbstden Autor von »Juden raus!« hintersich läßt, springt vielleicht aus demGrund nicht in die Augen, weil er doch»viel auf Stil sieht« und die gedank-liche Substanz ungleich nuancierterdarbringt, nicht ohne sich mit einemreichen Vorrat an philosophischem,geschichtlichem, ja geologischem Wis-sen eingedeckt zu haben. Eine soli-dere geistige Basis und eine schmu-ckere feuilletonistische Form für das,was die Männer der Tat einstweilenverrichten, wird sich kaum auftreiben

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lassen. Benn ist sich ja keineswegsim Unklaren darüber, daß er es vorder Partei, deren Geistigkeit er ver-tritt, als Intellektueller nicht leichthat, aber er scheint von der Hoff-nung durchdrungen, daß entschlosse-ner Fanatismus den Mangel wettma-chen könne. Er geht denn auch gleichscharf ins Zeug, indem er es ablehnt,mit Flüchtlingen, die ihm Abtrünnig-keit vorwarfen, »über die deutschenVorgänge zu sprechen«, weil man sol-ches nur mit solchen dürfe, die sieinnerhalb Deutschlands selbst erlebthaben.

Nur die, die durch die Spannungen derletzten Monate hindurchgegangen sind,die von Stunde zu Stunde, von Zeitung zuZeitung, von Umzug zu Umzug

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– gemeint ist der der Massen undnicht der Einzelnen, die in Angst vorden Aufbrechern jede Nacht ihr Quar-tier wechselten –

von Rundfunkübertragung zuRundfunkübertragung alles diesfort laufend

– gemeint ist: ausharrend –

aus unmittelbarer Nähe miterlebten, Tagund Nacht mit ihm rangen,

nur solche zählen mit, nur mit solchenkann Benn reden. Aber mit Flüchtlin-gen nicht! Denn die [und nun redet er]haben

die Gelegenheit versäumt, den ihnen sofremden Begriff des Volkes nicht ge-danklich, sondern erlebnismäßig,nicht abstrakt, sondern in gedrunge-ner Natur in sich wachsen zu füh-

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len, haben es versäumt, den ... Begriff»das Nationale« in seinen echten über-zeugenden Ausdrücken als Erscheinungwahrzunehmen, haben es versäumt, dieGeschichte form- und bilderbeladenbei ihrer viel leicht tragischen, aberjedenfalls schicksalsbestimmten Arbeitzu sehen.

Aber natürlich haben sie die Gelegen-heit versäumt, darin besteht ja ebendie Eigenart dessen, der es vorgezo-gen hat, Flüchtling zu sein. Die sienicht versäumt haben, die erlebnis-mäßig dabei waren, wurden von dergedrungenen Natur bei Nacht aus denBetten geholt; wenige haben noch diebilderbeladene Geschichte in der ,Ber-liner Illustrierten‘ zu Gesicht bekom-men, viele die tragische Arbeit mit-gemacht, manche wissen nichts mehr

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davon. [»Das Nationale« ist bei unsnoch ein Polizeibegriff.] Benn meintaber die andern, die »wenngleich an-fangs widerstrebenden Betrachter«,welchedie schöpferische Wucht zu einer weiter-treibenden menschlichen Gestaltungführte.

Das eben ist sein Fall, während je-ne nur weitergetrieben wurden, unddarum kann er sich mit ihnen kaumverständigen. Er deutet an, daß er imProblematischen immer schon ande-rer Meinung war als sie. Nämlich we-gen des Begriffes Barbarei. Er sagt ih-nen klipp und klar:Sie stellen es so dar, als ob das, was sichheute in Deutschland abspielt, die Kulturbedrohe, die Zivilisation bedrohe, als obeine Horde Wilder die Ideale schlecht-

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hin der Menschheit bedrohe, aber, undso lautet meine Gegenfrage, wie stellenSie sich zum Beispiel das 12. Jahrhun-dert vor, den Übergang vom romani-schen zum gotischen Gefühl, meinenSie, man hätte sich das besprochen? ..Man hätte abgestimmt: Rundbogen oderSpitzbogen; man hätte debattiert über dieApsiden: rund oder polygon?

Mit nichten; und die Intellektuellensollten sich bemühen,nur das Elementare, das Stoßartige,das unausweichliche Phänomen zu sehen

und nicht so, wie ihr »bürgerli-ches 19. Jahrhundert-Gehirn« die Ge-schichte betrachtet. Benn deutet al-so an, daß Blut fließen muß, damitendlich architektonische Fragen ge-löst werden können, welche freilich,wie von kunsthistorischer Seite ein-

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gewendet wird, auch schon in jenerZeit auf Konzilen zu ruhiger Aus-sprache gelangt sind und vor allemnach den Plänen schlichter Bauhütt-ler, die noch nicht einmal das schwie-rige Rezept Uhlands befolgt haben,»Herzblut« [und fremdes] »in den Mör-tel zum Bau der deutschen Freiheitzu mischen«. Wenn wir nun nochden kulturhistorischen Einwand ab-weisen, daß eine unblutige Weltbe-trachtung vielleicht auch eine Errun-genschaft sei, die das bürgerliche 19.Jahrhundert-Gehirn einer Revoluti-on verdankt, obschon einer französi-schen, so möchten wir Herrn Benndoch immerhin eines zu bedenkengeben: die architektonische Entwick-lung mag wie alle Lebensdinge vonUmsturz, Krieg und Pestilenz beein-flußt sein, und wenn es Ruinen gibt,

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so zuweilen auch neues Leben, dasaus ihnen blüht; aber ebenso gewißist, daß uns ein künftiger Baustil,und einer, vor dem der Genius derMenschheit vermutlich schon heutesein Haupt verhüllt, um den Preisso vieler wertvoller Menschenleben –und ich weiß von etlichen – denn dochzu teuer erkauft wäre. Sein Glau-be an eine geschichtliche Zwangsvoll-streckung, die in Wahrheit so dis-ponibel ist wie das Wort des Lite-raten; sein Vertrauen in eine Not-wendigkeit, die nicht so unabwend-bar scheint wie der durch Organisa-tion entfesselte Zufall – solches Zu-rechtlegertum ist wohl mehr Sachedessen, der sich einen freien Kopf be-wahrte, weil ihn der Ziegelstein nichtgetroffen hat. Er wird es einst mit sei-nem Gewissen auszumachen haben,

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ob der Unterschlupf auch die Gele-genheit war, geschichtsphilosophischauszuschweifen, und ob der, der mitdem Chaos paktiert hat, berechtigtwar, dessen Initiatoren, Persönlich-keiten vom Format der Berchtoldund Hindenburg junior, für Werkzeu-ge der Vorsehung auszugeben. Selbstwenn wir dem Feuilletonredner biszu dem übersinnlichen Punkt folgenkönnten, wo die Dinge wieder einenSinn bekommen, entginge der Glau-be doch nicht der Gewißheit, daßdie Kultur, soweit sie erhaltenswertwar, heute einigermaßen bedroht ist,wie dem Zweifel, ob das 12. Jahr-hundert mit aller Aversion gegen dieJuden erworbenen Geistesbesitz biszur Mißhandlung wissenschaftlicherWohltäter preisgegeben hätte. Bennmeint freilich nicht, daß durch sol-

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ches Verfahren just wieder ein Pro-blem wie Rundbogen oder Spitzbogenbewegt werden soll, sondern: ein nochweit größeres. Denn die Geschichteplant nicht weniger, als »einen neuenmenschlichen Typ« – also schon ganzim richtiggehenden Sinn der BerlinerLiteratur –

aus dem unerschöpflichen Schoß der Ras-se zu schicken, der sich durchkämpfenmuß, der die Idee seiner Generation undseiner Art in den Stoff der Zeit bauenmuß, nicht weichend, handelnd und lei-dend, wie das Gesetz des Lebens es be-fiehlt.

Vorläufig sind wir nur mitten drin inder literarischen Konfektion, die ja al-lerdings starke Beziehungen zu Wortund Tat der Stürmer und Drängerunterhält. Seine »Auffassung der Ge-

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schichte«, sagt Benn, sei eben nichtaufklärerisch und nicht humanis-tisch, »sondern metaphysisch«. Jenesstimmt, dieses bleibe dahingestellt.Und er nimmt den. Vorwurf der Intel-lektuellen auf sich: er »kämpft für dasIrrationale«. [Merkwürdig, daß die-se Deutschen, noch wenn sie denken,kämpfen müssen: daß sie kämpfen,ist glaubhaft.] Endlich haben wir denSchlüssel. Denn:

irrational heißt schöpfungsnah undschöpfungsfähig.

Sie dort, ruft er jenen zu, »verstehenSie doch endlich dort an Ihrem latei-nischen Meer« [minderwertige Land-schaft]:

Es handelt sich

– bei den Vorgängen in Deutschland –

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um das Hervortreten eines neuen bio-logischen Typs, die Geschichte mutiertund ein Volk wil l s ich züchten.

Züchten? Halt! Ich bin überzeugt, daßes so manche, die dabei tätig sind,nicht nur praktisch, sondern auch ety-mologisch mit Züchtigen verwechseln– wie man einst in Wien, als Pest-gefahr drohte [aber bloß durch einMalheur im Laboratorium] Politikerdavon sprechen hörte, es sei nichtgut, Bazillen zu züchtigen. [Und wieich auch vermute, daß viele, die derBücherverbrennung zustimmten, dasAutodafe vom Autor ableiten, wennnicht vom Auto. Selbst das Irrationa-le könnten sie als kränkenden Vor-wurf auf fassen.] Was nun die mutie-rende Geschichte anlangt, so scheintsie mir auf einem Greuelbild ver-

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anschaulicht: durch jenen machtha-benden Buben, der wirklich so aus-sieht wie das, was man sich unterdem Typ Rotzlöffel vorstellt, und derdoch in der Szene groß photogra-phiert ist, wie er Maul und Karabi-ner sieben kalkweißen Männern vor-hält, welche stundenlang mit erhobe-nen Armen an der Wand stehen müs-sen: ehe sie durch ein Spalier prü-gelnder Amtswalter treppauf treppabgejagt wurden, bis sie blutüberströmtzusammenbrachen. Wenn die grausi-ge Trophäe im Verhältnis der Zahl dieWehrlosigkeit eines Volkes vor seinerbewaffneten Minorität symbolisiert,dann wahrlich hat dieser Gottfriedmit seiner Auslegung Recht, daß essich um das Hervortreten eines neu-en biologischen Typs handelt. Nichtskönnte so hervortreten wie das mutie-

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rende Gespenst dieses photographi-schen Alpdrucks: Phantom von einemFant, der deutsche Männlichkeit ent-mannt hat ... Der Züchtungsidee je-doch, meint er, liege die Auffassungzugrunde, daß der Mensch »zwar ver-nünftig« sei,

aber vor al lem ist er mythisch undtief.

Man denke »hinsichtlich seiner Zu-kunft« so,

daß man ihn unten am Stamme oku-l ieren muß,

denn er sei »älter als die französischeRevolution, schichtenreicher als dieAufklärung dachte«. Und nun folgtein intellektuell-mythischer, abgrün-dig seichter Schmus: man empfinde

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»sehr weitgehend ihn als Natur, ihnals Schöpfungsnähe« undman erlebt ja, er ist weit weniger ge-löst , viel wundenvoller an das Seingebunden, als es aus der höchstenszweitausendjährigen Antithese Ideeund Realität erklingt.

Noch jüngern Datums ist die derunerlebten Zeitungsmetaphern. Wiesich aber der Typ dennoch entbundenund gelöst hat, wie wundenvoll es da-bei zuging, das konnte man gleichfallserleben. Doch Benn denkt ja nicht so,sondern irrational:Eigentl ich ist er ewiges Quartär,schon die letzten Eiszeiten feuil -letonist isch überladener Horden-zauber, diluviales Stimmungsweben,tertiäres Bric & Brac, eigentlich ister ewiges Urgesicht: Wachheit, Tagleben,

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Wirklichkeit locker konsol idierteRhythmen verdeckter Schöpfungs-räusche.

Aber so etwas hat man noch nicht er-lebt! Da staunt der geologische Fach-mann und selbst der Laie wundertsich, der mit Recht vermutet, daßIrrnationales gezeigt wird. Denn werhätte ahnen können, daß in Schöp-fungsnähe schon der Waschzettel ei-nes Berliner Verlagshauses zu spre-chen anfängt, mag es auch heute ver-kracht oder gar gleichgeschaltet sein!Und alles das, um Greuelpropagan-da zu entkräften? Welch eine Ideo-logie der Abmurksung, die keinemam lateinischen Meer Gehörnen ein-fiele, dort wo man zur Erklärungder Vorgänge bloß »Retour au moy-en age« annimmt! Wie irrational doch

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der Mensch zu denken vermag, wenner ein Deutscher ist; wie weit er indie zeitliche Ferne schweift, ohne denso nahe liegenden Schwindel zu krie-gen! Ein Philosoph der Walpurgis-nacht rät:

Gib nach dem löblichen Ver-langen,

Von vorn die Schöpfung anzu-fangen!

Zu raschem Wirken sei bereit!Da regst du dich nach ewigen

NormenDurch tausend abertausend

Formen,Und bis zum Menschen

hast du Zeit .

Nun, es hat ja manches für sich, zurErklärung der Vorgänge auf den ho-mo primogenitus zurückzugehen und

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noch für die eigene Person selbstlosden Ansprüchen des homo sapiens zuentsagen. Das ist jetzt so der Brauch,und da der Intellekt sich nicht be-währt hat, hält man sich an die Vor-schrift, das Kind mit dem Bad aus-zuschütten. Benn gewinnt das phi-losophische Rennen: er ist nicht po-pulär, aber er ist mythisch und tief;er ist der wahre Deuter der Din-ge. Man hätte Keyserling befragenmögen [Telegrammadresse: Weisheit-ling], der sich denn auch schon ge-regt hat, aber für die Fortbildung derdeutschen Kultur bloß um rund tau-send Jahre zurückgehen will. Mit sol-chen Lappalien gibt sich Benn garnicht erst ab. Er läßt sogar das Diluvi-um hinter sich [aprés lui]; denn wennman einmal im Erkennen der Zusam-menhänge so weit hält, kommt es auf

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Zwischenstadien nicht an, und da sichdie Bewegung sowieso auf Jahrtau-sende einrichtet, kann man die absol-vierten dazuschlagen. Bezüglich einerVergangenheit, für die ein ohnediesfragwürdiges Wissen nicht zu habenist, verläßt man sich am besten aufden Glauben. Benn vermutet, daß je-nes Quartär, dessen Fortwirkung erfür die deutsche Gegenwart annimmtund für die deutsche Zukunft erhofft,hinter »den letzten Eiszeiten« gelegenist, an die man sich noch erinnernkann und deren Genossen er bereitsfür ausgewachsene Schmöcke zu hal-ten scheint. Und erst recht hinter demTertiär, wo bekanntlich die Mastodon-ten erwacht sind. Soweit sie schonRundfunk hören und Zeitung lesen,fällt ihnen nichts auf, wiewohl sichdie ungefähre Reihenfolge dieser Pe-

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rioden bereits herumgesprochen hat,während man hinsichtlich der Gegen-wart noch im Dunkeln tappt. WiewohlBenn jedoch nicht zuverlässig aussa-gen könnte, ob es in dem Zeitraum,den er mit dem avancierten Quar-tär verwechselt, schon Deutsche ge-geben hat, ja nicht einmal bestimmtzu wissen scheint, was ein bric àbrac bedeutet, das eben keine boden-ständige Bezeichnung ist, so dürfteder Hordenzauber der Eiszeit, die erdem Quartär nachstellt [während dasdiluviale Stimmungsweben ihm tat-sächlich folgte], doch an feuilletonisti-scher Uberladenheit nicht mit der Ärazu vergleichen sein, wo Wirklichkeit-locker konsolidierte Rhythmen ver-deckter Schöpfungsräusche zur Ver-klärung von Vorgängen herangezogenwerden, gegen die es in Chicago Poli-

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zeischutz gibt. Benn scheint tatsäch-lich mehr in der Eiszeit als im Quar-tär zu wurzeln, wenn er sie nichtetwa mit der Eisenzeit verwechseltund diese wieder mit der Periode, inder man Gold dafür gab und Blut zuFeuilletons münzte. Wie immer demsei: wenn der Ullmann die Geologieverschluckt hätte, käme in Bezug aufdie Grundlage des Dritten ReichesSolideres heraus, und noch die Aus-kunft des Astrologen Knieriem gäbebessere Gewähr für die Entwicklung.Es scheint also etwas wie ein Ger-manimathias vorzuliegen, wie ihn so-gar das postdiluvianische Schrifttumselten aufweist. Unsereiner, der vor-sichtshalber im Konversationslexikonnachschaut, bevor er sich mit so uner-forschten Zeiten einläßt, denkt zwarauch hinlänglich irrational und wür-

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de für das Verständnis von Dingen,die [letzten Endes] unfaßbar sind,wenn’s sein muß bis zu den Troglo-dyten mitgehn – doch bis in’s Ne-andertal zieht sich der Weg, sobaldes nämlich nicht bloß schöpfungsnahvorgestellt sein soll, sondern auchmit allem Komfort der Neuzeit ausge-stattet, inklusive Radio. Benn freilichgeht noch weiter und gelangt zu einerHypothese. Die Gegner sollen »end-lich doch verstehen«:

es handelt sich hier gar nicht um Regie-rungsformen, sondern um eine neue Vi-sion von der Geburt des Menschen.

Ja werden denn, seit die Kugel derMenschheit beim andern Ohr hinausging, alle Motive der Kriegszeit leben-dig? Sind ’s Träume, sind ’s Erinne-rungen? »Es handelt sich in dieser Re-

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volution – « »Jawohl, es handelt sichin dieser Revolution!« Also um eineneue Vision von der Geburt des Men-schen, um nichts Geringeres. »Viel-leicht um eine alte«, ergänzt Benn,der mit sich handeln läßt. Wie immerdem sei, jedenfalls erklärt sich dieEinstimmigkeit des Entschlusses, mitdem sich soeben die Hebammen desReichs hinter Hitler gestellt haben.Die Totengräber noch nicht, aber jeneentschlossen sich wohl nicht nur we-gen der vielfachen eugenischen Mög-lichkeiten, die jetzt eröffnet sind, son-dern auch wegen des Verbots der An-kündigung von Schutzmitteln, für de-ren verläßlichstes immer noch dieHaft anzusehen ist. [Die einzige Re-form übrigens, in der sich das Bru-derland gleichgeschaltet hat, weil esmit Recht will, daß noch mehr Öster-

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reicher nicht angeschlossen werden.]Benn aber, der zu wissen scheint, daßeine Geburt wie aller Anfang schwersein kann, verspricht sich von der desMenschen katexochen Außerordentli-ches, indem er in der Verheißung des-sen fortfährt, worum es sich handelt:

viel leicht um die letzte großartigeKonzeption der weißen Rasse, wahr-scheinl ich um eine der großartigs-ten Realisationen des Weltgeistsüberhaupt, präludiert in jenem Hym-nus

»Juden raus«? Nicht doch:

Goethes »An die Natur« ....

Denn das ist ja das Erschütterndean dem Ereignis, daß es ganz wie je-ner Weltkrieg nicht nur die schüch-tern Idioten berauscht, sondern auch

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die Intellektuellen um den Verstandgebracht hat. Zufrieden bemerkte derdeutsche Pressechef:

Vorgestern waren in Berlin alle Fahnenausverkauft und das ist wohl ein Beweisdafür, daß wir nun das ganze Volk hinteruns haben.

Noch beweiskräftiger ist der Ausver-kauf der Worte. Gewiß, kein Begriffwäre zu hoch und kein Wert zu heilig,um nicht heutigen Schreibern zumOrnament wofür immer zu taugen;aber diese Schwärmerei der Köpfe fürdie Kopfjäger grenzt schon an inne-res Erlebnis! Benn, der mit Zungenredet, möchte auch jene hinreißen,die vor dem Hordenzauber der Gegen-wart, der ihm bloß die Vision über-mannt hat, ausgerissen sind. Eksta-tisch predigt er den Flüchtlingen, wel-

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che einer der großartigsten Realisa-tionen des Weltgeists überhaupt ausdem Weg gingen, die Geburt des Men-schen versäumt haben und vielleichtzum Tod zurecht kommen. Er sagt ih-nen, daß »über diese Vision kein Er-folg entscheidet«, denn

wenn zehn Kriege aus dem Osten undaus dem Westen hereinbrächen, um die-sen deutschen Menschen zu vernichtenund wenn zu Wasser und zu Lande dieApokalypse nahte, um seine Siegel zu zer-brechen, der Besitz dieser Menschheitsvi-sion bliebe vorhanden, und wer sie ver-wirklichen will, der muß sie züchten. . . .

Mit einem Wort, wir nähern uns end-lich der Auffassung, daß der Abschlußdes Weltkriegs – der zivilrechtlicheAbschluß einer Strafsache vor demWeltgericht – nichts genützt hat, weil

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er einer aufs Emblem gerichtetenDenkart kein Sinnbild des Ausgangshinterließ, kein Denkzeichen, um siezu sich, zu ihrem Wert, zu ihrer Spra-che zu bringen. Denn es war kein vor-stellbarer Sieg, es war keine sichtbareNiederlage mit moralischer Wirkung.Mit »Reparationen« – Rechnungsle-gung in einem Wahnraum, den auchdie andern bezogen – sollte ein irrepa-rables Tun getroffen werden; es wur-de ein irreparables Fühlen gezüchtet.Der prinzipielle Sieger mußte sich be-trogen wähnen; an eine Niederlage,die er nicht sah, nicht glaubend, ver-half er wenigstens jenem Geist zumSieg, der den Substituten der Schulderfand: von den Erklärern des Kriegswar sie abgewälzt auf die Unterzeich-ner des Friedens. Der Revanchekriegnach innen war eröffnet, den die Sozi-

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aldemokratie in dem Maß nicht abzu-wehren vermochte, wie sie den Krieggefördert hat. Die Schuld am Kriegvon denen geleugnet, die ihn eröff-net hatten – was Schuld des Kriegswar, als die des Friedens beglaubigt.Der Außenfeind hatte jenen, der in-nere diesen verschuldet. Nichts konn-te den Nachgebornen besser einleuch-ten als der »Dolchstoß«, da außen kei-ne Entscheidung sichtbar war, innenaber die Niederlage fühlbar als Not.Das Luftgebilde von Reparationen,die niemals an den realen Schadenhinangereicht hätten: Arsenal der Lü-ge, daß noch die reduzierteste Leis-tung den Staatshaushalt in Ketten le-ge. Aber in keine geologisch ermeß-bare Ferne reicht der Gedanke andie Bedingungen, die ein deutscherSieg der Welt, materiell und gar kul-

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turell, auferlegt hätte; denn er wä-re ein Endsieg gewesen, und ihm wä-re der Schlußpunkt Paris gesetzt wor-den. Jetzt freilich ist ein Volk Op-fer des satanischen Humbugs, der dieallverderbliche Kriegsfolge zur Frie-densfolge zugerechnet hat, deren Här-te den unterlegenen Staat doch selbstdann träfe, wenn er mit Recht seineHistoriker mobilisierte, die Kriegsun-schuldlüge auszuarbeiten. Diese Wis-senschaft ist, schon über die Erkennt-nis hinaus, daß die andern begonnenhaben, bis zu dem Standpunkt vor-gedrungen, daß der verlierende TeilOpfer für ihren Gewinn gebracht ha-be und darum Anspruch habe aufKriegsentschädigung. Den Fehler derSiegermächte, zwischen Verbrechernund Verführten nicht zu unterschei-den – wie den Glauben, daß die

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Macht der Länderverteilung von völ-kerkundlichem Wissen enthebe –, be-kam eher Österreich-Ungarn zu spü-ren; mehr als durch feindliche Willkürleidet Deutschland durch die ideolo-gische Zurechtmachung, die den In-nenfeind erfand und noch den gutar-tigen Volksteil betört hat. [Nicht oh-ne Englands nun bereute Förderung;nicht ohne daß der Kriegsgeist sichauf westliche Vertreter der Mensch-heitsidee stützen konnte.] Trostlos, zudenken, daß jene etwas versäumt ha-ben; trostloser, daß diese es nachho-len wollen! Der Nationalismus, nie ei-ne geistige Nachhilfe, lehrt hier wahr-lich die Nation, durch Schaden dummzu werden, und was er ihr vermacht,ist die irreparable Verkehrung vonallem Heil, das er ihr zuruft. Dennvon Sieg, Größe, äußerer Einheit ge-

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deiht nicht jedem Volke die Kultur,und es ist ein Bekenntnis zu diesem,wenn ein österreichischer Politikersagt, Deutschland, das immer großgewesen, habe »seine höchste Blüteentfaltet, wenn es unterdrückt wur-de«. Solche Anschauung zum Heil derbesondern und der weitern Mensch-heit – konform der Meinung, daßSiege erlitten, Niederlagen errungenwerden; daß den Österreichern Kö-niggrätz besser bekam als den Preu-ßen, welchen vollends ein kulturellesSedan bereitet ward –, solches Den-ken ist nun geschlagen von der Aus-sicht, daß selbst eine Wiederholungund Steigerung des Unheils von 1914nichts nützen würde. Denn sogar beieintretender Apokalypse – deren Rei-ter bereits da und dort gesichtet wer-den – wäre doch keine Spur jenes letz-

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ten Endes zu erhoffen. Das eben ist,Gott sei’s geklagt, die Geistigkeit, dieschon einst so genannte »Mentalität«,deren Sporn und Stachel jetzt wiederein gesitteteres Deutschtum zu spü-ren bekommt und gegen die es sichkürzlich mit einer erstmaligen Ein-sicht gewehrt hat. Man muß nicht insQuartär, von welchem ich abschwei-fe, doch bis zum Kriegsbeginn zurück-gehen, um des Kontrastes habhaft zuwerden, den eine Äußerung erkennenläßt wie diese:

Der Geist dieses himmelstürmendenKraftbewußtseins, der da aus den Re-torten der Gelehrtenstuben geborenwurde und in Büchern und Reden seinenNiederschlag fand, hat nicht zuletzt jeneunheilvolle Vorstellungswelt in Europahervorgebracht, die dem Ausland das

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Wesen des deutschen Volkes in einerganz wahrheitswidrigen Verzerrungzeigte und aus diesem schrecklichenIrrtum den Weltkrieg entspringenließ.

Wenn es – auch in einem umgängli-chem Deutsch als es der nationalenPresse eignet – heute die ,Reichspost‘sagt, die den Weltkrieg teils als dieösterreichische Initiative der Vergel-tung, teils nibelungentreu als Untatder Einkreiser kommentiert hat, sowird es zur vollen Wahrheit, falls sieauch sagen will, daß der schrecklicheIrrtum, der ihn entspringen ließ, derIrrtum jener war, die die Verzerrungbewirkt haben, indem sie den krie-gerischen Geist in der kriegerischenLiteratur und diese im kriegerischenTun den Niederschlag finden ließen,

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und falls sie darin die Tragik erkennt,daß es nicht gelungen ist, noch die-sen niederzuschlagen. Unerschüttertvon der Assoziation, die der zermür-bende, ermüdende, vampyrhaft Euro-pa belagernde Begriff dieses ewigenSiegfriedwesens längst mit einer be-zogenen Siegfriedstellung eingegan-gen ist, wünscht sich solche Welt eineKomplettierung mit Teufeln, als wä-ren ihrer nicht genug auf Erden. Lebtnoch immer in der Fibelvorstellung,daß viel Feind’ viel Ehr’ bedeutet, alsob es sich von den gesellschaftlichenUsancen des isolierten Raufbolds aufdie Wirtschaftsbeziehungen der Völ-ker übertragen ließe. Die Mensch-heit verwundert sich eines Bestand-teils, dem die Isolation unentbehrlichist, splendid nur in dem Sinne, daßsie auf allgemeine Kosten erfolgt. Da

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wirken alle diplomatischen Vorkeh-rungen, auch diese schon mehr ko-mischen Konferenzen, die sich durchfortwährenden Wechsel der Lokalitäteinen Fortschritt erhoffen, wie derHalm des Pygmäen gegen den stahl-harten Wahn, der die Entwicklung ei-nes politischen Körpers vom Quar-tär ableitet und auf Äonen bemißt.Was sollen die Normen der Mensch-heit? Es ist irrnational! Nun, das Pro-blem der »Einrechnung der Hilfspoli-zei« verschwindet wohl vor der Frage,ob nicht mit jedem deutschen Zivilis-ten das Kontingent überschritten sei,und diese Frage ist keine Übertrei-bung, wenn man die »Zehn Gebote desWehrkatechismus« liest, der auf demGrundsatz aufgebaut ist:

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Jeder deutsche Mann muß moralisch undphysisch vorbereitet sein, um für die Ver-teidigung des Vaterlands zu den Waffenzu greifen.

Schon das erste Gebot geht aufs Gan-ze:

Du mußt imstande sein, dreißig Kilo-meter mit einem schweren Tornister amRücken ununterbrochen zu marschieren.

Dies unbeschadet der Möglichkeit,daß die Schöpfung mit deinem Le-ben ganz andere Absichten verbun-den hätte. Immerhin ist aber auchschon eine strategische Eventualitätvorgesehen:

Du mußt dich in der Kunst des Lau-fens und des Schießens vervollkommnen.

Die musischen Führer, die die schö-nen Künste vorläufig noch in dieser

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Reihenfolge fördern, wollen allerdingsmehr:

Du mußt dich dauernd auf dem Lau-fenden halten

nämlich darüber, was in den Armeender Nachbarländer vorgeht. Mit derGeneralstabskarte in der Hand »sollstdu unsere Grenzgebiete durchwan-dern«, du mußt Karten lesen können,und wenn du im Auslande bist,

den Manövern der betreffenden Staatenzu folgen trachten.

Es handelt sich also in der Tat umeine Vision, aber auch um eine Kon-zeption und Realisation, denn es wirdeinfach die Ertüchtigung zur Spiona-ge angestrebt. Die Hauptsache aber:

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Du mußt jährlich mindestens ein kriegs-wissenschaftliches Werk lesen und auf ei-ne Wehrschrift abonniert sein.

Kurzum, zehn Gebote, die offenbarder Herausgeber einer solchen ver-faßt hat und die mit dem einen: »Dusollst nicht töten« in einigem Wider-spruch stehen. Wenn man aber dazunoch liest:

Die Behauptung, daß Deutschland füreinen Krieg vorbereitet ist, ist grotesk

und daß die Verantwortung auf jenefalle

die gegen ein Volk, das der Welt nichts zu-leide tut, mit solchen Mitteln kämpfen

so möchte man glauben, daß eigent-lich schon mit den Geboten auszu-kommen wäre: »Du sollst nicht lügen«und »Du sollst kein falsches Zeugnis

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geben wider deinen Nächsten«, aberauch nicht fälschlich behaupten, daßer es tue. Freilich wird ja die Unstim-migkeit gleich wieder durch die Beru-higung ausgeglichen, die einer jenerStatthalter uns erteilt hat, die sichvon ihrem früheren Beruf eine gewis-se Aktivität bewahrt haben:

Unsere SA sind mit dem Grenzschutz ver-traut.

Und insbesondere durch die Rede je-nes unvergleichlichen Papen, der jaschon während des Krieges auf sei-nem Washingtoner Posten die neuenGebote befolgt hat [wenngleich nichtdas mit dem Tornister], durch jeneunvergeßliche Kundgebung, worin erder Welt auf »den schönsten Tod derWelt« Gusto und aus dem »altgerma-

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nischen Abscheu vor dem Strohtod«kein Hehl gemacht hat:

Als ob eine Friedensleiche ästheti-scher wirken würde, als ob es nichtvielmehr darauf ankäme, in welchemGeist der Mensch stirbt, als wie seineÜberreste aussehen.

Es mußte aber vollends beruhigendauf das Ausland wirken, wie er demFührer den Ruhm vorbehielt, er wer-de

am Ende seines Lebens sagen dürfen: Ichhabe deutsches Soldatentum in sei-nen unsterblichen Eigenschaften wiederin den Mittelpunkt des Denkens derdeutschen Nation gestellt.

Und vor allem die präzise Feststel-lung, Deutschland habe

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seit dem 31. Jänner 1933 den Begriff desPazifismus aus seinem Wörterbuchausgelöscht.

Das wäre zwar nicht so erstaunlich,da er ja ein Fremdwort ist, aber tat-sächlich findet sich in diesem Wör-terbuch auch nicht die Friedenslie-be, dort wo Franck, Frick, Freißlerund sonst allerlei fröhlich und freivorkommt. Freilich [um gleich anzu-schließen] machte sich dann der inter-essante Widerspruch, der die Bewe-gung allenthalben begleitet und dernicht nur zwischen Taten und Reden,sondern auch zwischen diesen zumVorschein kommt, schon am nächs-ten Tage geltend, als der Führer je-ne eindrucksvolle Erklärung verlas,in der die feierliche Wiedereinset-zung des Pazifismus in das deutsche

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Wörterbuch vorgenommen wurde undder Mittelpunkt des Denkens aus-schließlich fürs Zivil reserviert erschi-en. Dies bis zu dem Grade, daß dieSA und die SS auf den »Rang einerFeuerwehr oder Wach- und Schließ-gesellschaft« verwiesen wurden, wie-wohl doch die Feuerwehr nachweis-lich noch niemals Rizinus ins Feu-er gegossen hat und die Wach- undSchließgesellschaft nicht so sehr denGrenzschutz als den der Gewölbe in-nerhalb des Landes besorgt. Gewißwürde auch keiner der beiden Mann-schaften der Ruhm gebühren, denderselbe Mund kurz vorher [oder auchgleich darauf] der SA in Kiel zuge-sprochen hat:

Ihr stellt die größte Organisation dar,die Deutschland je gekannt hat, und nicht

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nur eine Organisation des Willens, son-dern eine der Kraft und der Gewalt.

Auch hat sich bestimmt noch keinPastor gefunden, der die Feuerwehrund die Wach- und Schließgesell-schaft als »Träger des Staates« an-gesprochen hätte, die »wieder spürenmüßten, daß das Christentum ein he-roischer Glaube sei«. Wir leben, wieman sieht, in einem ewigen Zirkulusund die Welt kennt sich nicht aus,wiewohl sie leichter das Wehrhafteals das Wahrhafte erkennt, vor allemin den Reden rein pazifistischen In-halts, hinter denen sie den Gedankenvermutet: Si vis bellum, para pacem.Sie weiß es sich darum zu schätzen,wenn es schließlich wieder Papen ge-lingt, die divergierenden Standpunk-

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te in der glücklichen Formel zu ver-söhnen:

Man muß von einem völkertrennen-den Nationalismus zu einer völker-verbindenden Sicherung der Volks-tümer kommen.

»Das ist es«, wie weiland Kerr zusagen pflegte, der auch ein tüchti-ger Januspolitiker war. Leicht hatman’s gewiß nicht, und dieser Pa-pen, der nunmehr noch den Natio-nalismus aus dem deutschen Wörter-buch gestrichen hat, in das er dochwie in kein anderes hineingehört,der Staatsmann, dem unleugbar dergrößte Treffer der Weltgeschichte ge-glückt ist, verdient sich seine Posi-tion im Schweiße seines Angesichts.Ein gewisses Wissen aber, hauptsäch-lich um die Geschichte der Bewe-

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gung seit dem Reichstagsbrand, er-möglicht es ihm, allen Unbilden zumTrotz durchzuhalten. Denn mancheÄußerungen der Verbündeten mögenja ein bißchen rauh klingen, wie et-wa jenes Einst wird kommen derTag, »wo mit diesen Burschen aufge-räumt wird,« oder wenn ihm als Prä-sidenten des Gesellentages die Zusa-ge, die Pfaffen umzubringen, gegebenund auch teilweise ausgeführt wird;und nie ist die Lage dessen benei-denswert, der einen Gefangenen ge-macht hat und von ihm ins Konzen-trationslager geschickt werden könn-te. Wenn die Anteilnahme, die sichin der Formel »Weit gebracht« aus-prägt, jemals menschlichem Schicksalmit Recht gebührt hat, so dem dieserBarone, vor allem auch dieses schwerrobottenden Neurath, der kriminel-

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len Angelegenheiten den Weltschliffzu besorgen hat. Und ganz und gardem Pech eines »Stahlhelms«, unterdem heute, wie in allen Erscheinun-gen des Staatswesens, schon verkapp-te Kommunisten vermutet werden.Hier ist die jüdische Anekdote vondem Knaben, der um jeden Preis Sol-dat werden will und dem der besorg-te Vater einen vorbeigehenden preu-ßischen General zeigt: »Siehst du,das wird dein Soff sein!« – tragischeWahrheit geworden. [»Soff« bedeutetso viel wie letzten Endes.] Gewiß wardes den Gardekürassieren und Jun-kern nicht an der Wiege gesungen,daß sie einst, und gar nach einemDiktat österreichischer Herkunft, vorLandsknechten stramm stehen wür-den. Und gar dieses Oberhaupt: wel-che Abdikation des Marschallstabes

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vor dem Tornister! Aber ist es nichtdoch wieder schön, wenn Prinzen Se-kretäre von Männern sein dürfen, diesich aus eigener Tüchtigkeit empor-gearbeitet haben? Goebbels hat einenSchaumburg-Lippe, der ihm nicht nurAdjutant, »sondern auch feurigsterAnhänger« ist; Göring, Zar aller Preu-ßen, lebt schon ganz in der Traditi-on dynastischer Verknüpfung, näm-lich durch einen Hessen, dessen Bru-der der Schwiegersohn des Königs vonItalien ist.

Am Telephon meldet er sich nie andersals: »Hier Vorzimmer des Herrn Mi-nisters.« Nicht ein einzigesmal Nameoder Rang. Die Söhne dieser historischenGeschlechter sind eben fanatisch stolzdarauf, nichts anderes zu sein, als die Se-

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kretäre im Vorzimmer eines nationalso-zialistischen Ministers.

Nein, das Vorzimmer selbst! Doch Hu-genberg, der von der ersten Walpur-gisnacht kam, der harzburgischen, er-lebte die Enttäuschung Mephistos anden Schwierigkeiten der klassischen:

Da muß ich mich durch steileFelsentreppen,

Durch alter Eichen starreWurzeln schleppen!

Auf meinem Harz der harzigeDunst

Hat was vom Pech und dashat meine Gunst;

Zunächst der Schwefel ....

Wiewohl’s den auch hier gibt, aber:

Man denkt an das, was manverließ,

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Was man gewohnt war, bleibtein Paradies.

Ja, man irrt in der Wirrnis; so geht’sauch mir, dem, noch ganz andersals im Weltkrieg, stets »Geröll ent-gegensteht«, und vielleicht ist, wäh-rend ich mich durchtappe, schon al-les nicht mehr da und selbst Papen,lange nach Befreiung von der Wür-de, nicht mehr im Amt, sondern ir-gendwo festgehalten am obern Penei-os. Vielleicht jedoch geht alles gutaus, indem die vom Herrenklub nochden Adel behalten dürfen mit Nach-sicht der Taxe, die sie jüdischen Da-men verdanken. Schließlich bleibensie, vielleicht vermöge dieser Verbin-dung, doch etwas, was auch nicht ge-rade ihre starke Seite war: Verbin-dungsoffiziere mit der »Welt«, die auf

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Formen welcher Art immer Wert legt,wenn es nur Formen sind; und so magselbst die Sicherung der Volkstümergelingen, die bisher nicht ihre größ-te Sorge gebildet hat. Sie leitet sach-te über zum Weltbürgerlichen, hin-ter dem sich das Deutschstämmige,Deutschbewußte ungehindert ausle-ben kann. Der Kern ist rauh, aberdie Schale ist gut. Die Revolution,die aus den Begleiterscheinungen be-steht, mag sogar erheischen, daß »In-toleranz befohlen« wird; umso not-wendiger, daß alles richtig dosiert seiund zum Mund der Feinde gespro-chen, die wieder zu heucheln begin-nen. Denn nun entrüsten sie sichgar darüber, daß im Dialog unseresNationaldramatikers Stellen vorkom-men wie diese:

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»Die Sache, die die Brüder da auf-gezogen haben, die Sache von Welt-gemeinschaft und Humanität . . vonVölkerfrieden und so weiter – diese Rech-nung stimmt nicht.«

»Das Volk schreit nach Priestern, die denMut haben, Blut, Blut , Blut zu vergie-ßen, nach Priestern, die schlachten.«

»Wir müssen einen Keil zwischendie Verständigung treiben. . dannkann man den Franzosen Ameisen indie Hosen setzen.«

[Die gibt’s auch schon in der klassi-schen Walpurgisnacht.]

»Recht oder Unrecht – das ist mir dochalles scheißegal ! Ich bin Soldat und ichbleibe Soldat!«

»Nein, zehn Schritt vom Leib mit demganzen Weltanschauungssalat – hier

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wird scharf geschossen! Wenn ich Kul-tur höre – entsichere ich meinenBrowning!«

Und das wagen sie mit dem vonuns ausgesprochenen Friedenswillenzu kontrastieren! Und das nennen sie»ein erschreckendes Bild vom geisti-gen Zustand Deutschlands«! Sind esnicht Pharisäer? Aber man hat sie er-kannt:

Völkerbundrat enthüllt seinwahres Gesicht!

Alle Staatenvertreter für dieJuden!

Ja, so sind sie, und finden es am En-de ungemäß, daß die Rede Papens,mit der er dem Nationalismus ab-schwor, im Teutoburger Wald gehal-ten wurde, von welchem sie geglaubt

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hatten, daß er gar nicht mehr beste-he, sondern längst zu Zeitungspapierverwandelt sei. Dem ist aber nicht so,denn im Gegenteil halten sich dortnoch Buschräuber auf, die, sooft sichder Wanderer zur Wehr setzt, »fairplay« verlangen. Wenn der sich dannvollends nicht auskennt, so greift derKultusminister ein, jener Rust, der imAusbruch der Begeisterung das Vater-land von der Wissenschaft befreit hat– und der nun

sich mit aller Schärfe gegen den Pa-zi fismus wandte und unter großemBeifal l erklärte, daß die internatio-nale Atmosphäre niemals sauberer seinkönne, als wenn die einzelnen Völkermit Hochachtung vor den gegensei-t igen Lebensrechten einander ge-genübertreten.

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Aus dieser glücklichen Verbindungder Kontraste zu einem Dilemmagelingt es dann wieder der ,Vossi-schen Zeitung‘ den Ausweg zu finden:Deutschland wünsche

selbst vaterländisch und nationalbewußteingestel lt , seine recht-verstande-ne Weltbürgerl ichkeit zu erhalten,die fr iedl iche Gemeinschaft der Völ-ker höherstellt als alle Bestrebungen, dienur aus blindem Machthunger ei-ner Nation entspringen.

Man muß es nur recht verstehen,und vor allem begreifen, daß das Auf-ziehn des Weltanschaulichen bei ei-ner Staatsgründung keine so einfacheChose ist, besonders wenn die Kompe-tenzfrage wie überall so auch hier aufSchwierigkeiten stößt und die Zeitun-

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gen nicht wissen, wann und von wemsie sich ihren Fußtritt zu holen haben.

Während es aber die Entwicklungdem Journalismus noch erlaubt, vonseiner angebornen Fähigkeit, nichtFisch und nicht Fleisch zu sein, je-nen Gebrauch zu machen, der demErfordernis des Weltbürgerlichen ent-spricht, hat sich die sonstige Juden-schaft bereits vielfach einem intran-sigenten Deutschtum hingegeben, dasbei den Zuchtmeistern gar keinenDank und nur geringen Anwert fin-det. Das Erstaunlichste an diesemPhänomen ist das völlige Außeracht-lassen der Erwägung, daß man, woUnterwerfung ohnedies nichts nützt,eigentlich auch schon Mut habenkönnte; ein völliges und im Grun-de artfremdes Unvermögen des Be-

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rechnens der Rentabilitätsgrenze derFeigheit. Gewiß, jede Einzelaktion derSalvierung mag als erpreßt auch dortnoch entschuldigt sein, wo Furchtder Drohung zuvorkam; und manchesZeugnis individueller oder allgemei-ner Wohlfahrt wäre vielleicht, überden tragischen Beweis der Bedräng-nis hinaus, sogar als Ausdruck al-truistischer Sorge zu deuten. Aber isteine Solidarität der Erbärmlichkeitvorstellbar wie die von deutschna-tionalen Juden, also Trägern einerMission, die doch schon in Friedens-zeiten ein Oxymoron war, gleich jenerFinsternis, da der Mond so helle schi-en und ein schneller Wagen langsamdurch die Straßen fuhr? Sie nennensich, um sowohl dem Deutschtum ge-recht zu werden wie den eigenen Be-langen einer verkehrten Lesart: »na-

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tionaldeutsche« Juden, und sie habengleich mehrsprachig ein ganzes Buchunter dem Titel

Die Greuelpropaganda ist eine Lü-genpropaganda!

erscheinen lassen, welches denn auchvom ,Großdeutschen Pressedienst‘ als»Erfüllung einer natürlichen Ehren-pflicht« anerkannt wird:

soweit man überhaupt von Ehre beiJuden reden kann.

So objektiver Würdigung verstehensie mit der Ausdauer zu begegnen,die ihnen vermöge ihrer Zugehörig-keit zum Deutschtum eignet und diedas Angespucktwerden den Unbildender Witterung zuzählt. Sie haben aberauch – und was wäre in einem Toll-haus nicht möglich, wo der Insasse

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den Pfleger überfallen kann, um balddarauf Ministerpräsident zu werden–, sie haben den Ausspruch einesUngetüms vernommen, daß »die jü-dischen Ärzte die Inkarnation derLüge und des Betruges« seien. Vorsolcher Orgie moralischer Begriffs-verkehrung und angesichts des Um-stands, daß schon mancher jüdischeArzt manchem arischen Morphinistendas Leben gerettet hat – welches Ver-halten empfiehlt da der »geschäfts-führende Vorstand« der Nationaldeut-schen?

Wir dürfen uns dadurch, daß wir heutevon unseren deutschen Volksgenos-sen nicht jüdischen Stammes

[die wir als gleichberechtigt geltenlassen, denn wir sind nicht so]

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in einer Weise behandelt werden, die wirals schweres Unrecht empfinden müssen,nicht von dem geraden Weg abdrän-gen lassen, und dieser Weg ist die Ent-wicklung ins Deutschtum.

Mitten hinein! Doch mit Gewalt dürf-te bei der SA nichts zu richten sein,und die Lage der reicheren Judenzeigt ja auch, daß man solche Mittelgar nicht nötig hat. Der gerade Wegerschwert immer das Entgegenkom-men, und Beharrlichkeit dürfte dortwenig Eindruck machen, wo die Fest-stellung:

Die Erfindungen des Mikrophons, der Ra-dioverstärkerröhre, die Stickstoffgewin-nung aus der Luft, die Entdeckung desLungenentzündungserregers, des Gono-kokkus, die Syphilisbekämpfung, die Ge-fäßunterbindung, die experimentelle Pa-

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thologie, die Kinderheilkunde, die Ent-deckung der Kathodenstrahlen, die Gal-vanoplastik, die individuelle Behandlungder Geisteskrankheiten usw. usw. sindJuden zu danken

scheißegal ist. Wo namentlich die Be-handlung der Geisteserkrankungenfruchtlos blieb, ja durch den Ausbauder Radiotechnik vielfach behindertwurde. Wo die Bekundung der An-sicht, daß das jüdische Genie nichtanders als das deutsche außer undüber der Rasse geboren sei, beideverdächtig machen könnte. Wo derStandpunkt lebensgefährlich ist, daß,wenn jemals in einem Lebensbelangdie Weisheit zutraf, dem Reinen seialles rein, dies von der Rasse gelte, diees kaum physisch gibt und deren Be-griff im menschlichen Denken keinen

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Raum mehr hat. Wo die Meinung le-tal verliefe, daß jenen Gesichtern, diesich heute in den illustrierten Blät-tern spiegeln, etwas Mischung garnicht schädlich wäre, weil dann viel-leicht einmal Besseres herauskommt.[Wiewohl sie den Kaschuben und Obo-triten, den Polaben und Sorben, denWenden und Wilzen und andern sla-wischen Stämmen keineswegs gut ge-tan hat, da ihnen ja eben das preu-ßische Geblüt entstammte, das heu-te so strenge Anforderungen an Ras-se stellt. Doch man darf bekanntlichnicht generalisieren, und wem fiele esein, die Rassentheorie aus dem Grun-de zu bejahen, daß vielfach eine Ver-unreinigung jüdischen Blutes vorge-kommen sei, wenn doch die Mischungnachweislich auch die geistigsten undschönsten Menschenexemplare erge-

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ben hat.] Aber Juden, die den Dranghaben, nationaldeutsch zu sein, stel-len die Verbindung zweier Komplexevon Minderwertigkeit dar, die zu ver-drängen wären. Sie machen im Ber-liner Tageblatt – dem Toleranz be-fohlen wurde [wenngleich nur aus-nahmsweise] und das fürs weltbür-gerliche Bedürfnis sogar die Leistun-gen jüdischer Gelehrter hervorhob –die Offerte,

durch Annäherung an den deutschenVolkscharakter Eigenschaften zu ent-wickeln, die ureigentl ich nicht zumErbschatz ihrer Rasse gehören,

also etwas zu leisten, wozu sie ei-gentlich gar nicht verpflichtet wären.Aber es wird nicht verlangt, nicht be-gehrt, nicht gewürdigt, und darumsollte sogar noch die Eigenschaft der

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Zudringlichkeit abgelegt werden, wel-che ja eher den Verdacht erweckt, daßsie zum Erbschatz gehöre. Es ist einstarkes Stück, sich an einen Volks-charakter annähern zu wollen, des-sen Vertreter entweder: »Juden raus!«rufen oder dem Versuch der Befol-gung an der Landesgrenze entgegen-treten, indem sie häscherhaft, wie aufder Spur eines frisch entdeckten Ver-brechens, mit dem Alarm ins Kupéstürzen: »Sind Sie Jude?« Wenn ja,so hat man dort zu bleiben, wo Aber-kennung der Staatsbürgerschaft undetwa noch Entziehung von Lebens-mitteln erfolgt. Die Erbötigkeit, danoch etwas zu »entwickeln« und an-deres als Abscheu und Scham für ei-ne entehrte Menschheit, macht denPetenten fast der Behandlung wür-dig. Die Einrichtung einer besondern

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Badezeit – abgesehen von der Ge-meinsamkeit des Blutbads – hat aberden »Ehrenvorsitzenden« der Natio-naldeutschen vielleicht in der Ein-sicht bestärkt, es handle sich um

Sonderaktionen irgendwelcher einzel-nen Leute, wie sie sich in jedem Vol-ke und in jeder Organisation finden,die die Gelegenheit benutzt haben,persönliche Rachegefühle gegen ein-zelne jüdische Personen, mit denen sieaus irgend einem Grunde Differen-zen hatten, in ihrer Weise zu erledi-gen. . . Jedenfalls haben wir deutschenJuden, und zwar ohne jeden Unter-schied der besonderen Gefühlsrich-tung, durchweg die Überzeugung,daß auf Seiten der Regierung und der Lei-tung der NSDAP der ernste Wil le be-

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steht, Ruhe und Ordnung aufrechtzuer-halten.

Er möchte noch »ausdrücklich her-vorheben«, daß der Protest gegen dieGreuelpropaganda

nicht etwa unter irgendeinemZwang, sondern aus eigenem An-trieb

erfolgte

weil wir überzeugt waren, daß durchdiese Hetze unserem Deutschlandschwer geschadet wird und geschadetwerden sol l. Ferner, weil nebenher – ichhebe ausdrücklich hervor, daß die-ser Gesichtspunkt für uns nur se-kundärer Natur ist – auch uns inDeutschland lebenden Juden durch die-se angeblich in unserem Interesse ver-

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übte Hetze ein ganz außerordentl ichschlechter Dienst erwiesen wird.

Ist es das Dokument einer Gesin-nung, das Ergebnis der raffiniertes-ten Vergewaltigung, oder beides zu-gleich? Wenn es ein jüdisches Doku-ment ist, so ist es doch auch ein deut-sches Kommuniqué: die Kunstfertig-keit, Sachverhalte aufzuklären, bisdas Gegenteil einleuchtet, Tatbestän-de im Wortschleim zu ersticken, Un-recht zurechtzumachen, den Elephan-ten zur Mücke, den Mord zur Mei-nungsverschiedenheit und den Ein-bruch bayrischer Nationalsozialistenzu einer Schießerei, die nach Wolff

aus bisher nicht bekannter Ursache ander deutsch-österreidiischen Grenze zwi-schen österreichischen Heimwehran-

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gehörigen und einer Gruppe bisher nochunbekannter Personen entstand.

Kaum ermeßbar, was dieser Typusleistet, wenn er die Belagerung ei-nes Landes als »interne Angelegen-heit« vor der Welt zu vertreten hat. Esist die Methode des Generalstabs wiedie der Redaktion; so sprach der Ber-liner Anwalt über »Literatengezänk«,so spricht der Lügner vor dem Welt-gericht über die Schießerei und derjüdische Ehrenvorsitzende über Diffe-renzen. Er legt ausgerechnet noch ei-ne Lanze für das »bodenständige Bay-erntum« ein und versichert schließ-lich, er habe sich

stets dagegen gesträubt, wenn HerrProfessor Einstein durchaus zumdeutschen Gelehrten gestempeltwerden sol lte.

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Immer schon habe er erklärt,

die deutschen führenden Judenwürden es begrüßen, wenn erseinen Schreibtisch und seineSternwarte nach Jerusalem oderirgendwo nach Amerika verlegen wollte,da die Wissenschaft durch diesenOrtswechsel nichts verl ieren unddas Deutschtum nur gewinnenkönnte.

Naumann heißt er und hat es im Neu-en Wiener Journal gesagt. Den Anti-semitismus, den es nicht wahr habenwill, rechtfertigt es zehnfach. Die Er-kenntnis, daß die Greuelpropagandaeine Lügenpropaganda sei, bleibt un-bedankt, mag sich in ihr die Assimi-lation an eine Moral, die die Wahr-heit zur Lüge stempelt, an die Spiel-art des Doppellügners, auch als noch

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so gelungen zeigen. Aber der mesqui-ne Typus, der zu eigener Sicherungdas Leid des andern verleugnet, ge-hört dieser Region und dieser Zeit.Er läßt nur noch eine Hoffnung, diein einer letzten Entschuldigung be-ruht: daß die französischen Bischöfedas Zeugnis deutscher Juden nicht alsEntkräftung werten, sondern als Be-stätigung einer Not, die sich noch ih-ren Widerruf erpressen ließ, ja desseneigenen Antrieb dazu.

Hierzulande, wo sie noch nicht mitsolchem Zwange wirkt, lassen sie essich nicht nehmen, über die momenta-ne Schwierigkeit hinaus, den Kampfder liberalen Seele »um Großdeutsch-land« fortzusetzen. Man sieht, wieweit ich vom Quartär abgeschweiftbin, wenn ich frage: Was sagt man zur

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Neuen Freien Presse? Zu einem Un-ternehmen, dessen Aktien auf 25 Gro-schen gesunken waren und das plötz-lich von irgendwoher Zuschuß an na-tionaler Lebenshoffnung bekam. Wirstehen ja noch nicht vor der Überga-be, aber eine Verträglichkeit machtsich bemerkbar, als hätte ein unwi-derstehlicher Schnurrbart den Vorzugvor der Nase der Kleopatra, die doch,wie man sich vom Weltkrieg her erin-nert, eine ihrer größten Schönheitenwar. An der natürlichen Verworfen-heit des Neuen Wiener Journals, andem Hang, Tatbestände zu verleug-nen, zu verschweigen, im Notfall zuverfälschen und schon im Titel um-zulügen, muß man nicht Anstoß neh-men. Aber was sagen die Glaubensge-nossen, für die sie die Bibel war, zuden Einzelaktionen der Neuen Frei-

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en Presse? Sie spielt Prävenire, in-dem sie schon jetzt alle vier von sichstreckt. Es soll sie nicht überraschenwie die Kolleginnen in Berlin. Sie istnoch eine von der alten Garde, diesich ergibt, aber nicht stirbt; und be-vor noch gekämpft wird. Sie war es,die die Versicherung, daß im DrittenReich »Ruhe und Ordnung herrscht«und »jeder deutsche Staatsbürger jü-dischen Glaubens seinen Geschäftennachgeht«, allemal und noch nach deroffiziellen Erledigung der jüdischenÄrzte und Anwälte gedruckt hat; dieam 31. März, am Vortag des Boykotts,die Feststellung einer Firma brachte,daß im Bereich ihrer Organisation,

die sich über das ganze Reich erstreckt,nicht ein einziger Fall von Verfolgungenoder Angriffen auf Andersdenkende oder

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Angehörige fremder Staaten, bestimm-ter Rassen oder Religionsgemeinschaftenvorgekommen sei.

Ja, noch am 2. April verzeichnete sie»eine so große Anzahl von Telegram-men und Briefen«, daß sie nicht in derLage war, sie zu veröffentlichen, aberdoch der Erklärung Raum gab,

daß die Geschäftstätigkeit in Deutsch-land bis jetzt an keiner Stelle eine Un-terbrechung oder Behinderung erfahrenhat im Zusammenhang mit der politi-schen Umwälzung. Auch die jüdische Ge-schäftswelt konnte bisher unbehell igtihren Geschäften nachgehen.

Dem Freimut der Bekenner, der nichtunterdrückt werden sollte, widerfuhrallerdings die witzige Einschränkung:

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[Diese Mittei lungen stammensämtlich aus der Zeit vor der Ver-hängung des Boykotts.]

Ist jemals zu einem Nichtschaden sa-tanischerer Spott gefügt worden alsdurch das Dazwischentreten dieses 1.April? Doch, durch die symbolischeKlammer seiner Konstatierung! Eswaren Telegramme vom 31. März: alsder Boykott längst angesagt war. Abertatsächlich mußten solche Dokumen-te gerade nachher verfertigt werden,nur daß selbst die Neue Freie Pressenicht mehr die Schamlosigkeit hatte,den Hohn zu drucken. Immerhin hat-te sie sie am Vortag aufgebracht zuder Verkündung, mit der der Leitar-tikel schloß:

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Die Greuelpropaganda wird vonselbst in Nichts zerfal len durch dieKraft der Wahrheit .

Wie die Verkünderin diesen Begriffvon Wahrheit taxiert, der so datum-haft begrenzt ist, zeigte der Beginneines Leitartikels, den sie kurz zuvorhatte, das Unbezahlbarste, das sie je-mals gedruckt hat:Was wir gestern schrieben, erweistsich als völ l ige Wahrheit .

Sonst aber läßt sie noch den »Kultur-bund« erklären, daß den ihm naheste-henden »geistigen Persönlichkeiten«nicht das geringste geschehen sei;den Touringklub, wie gut es den Ju-den speziell in Chemnitz geht [wo al-le schon im Braunen Haus waren];Greuel meldete sie als zivile Mord-fälle ohne Andeutung des Milieus

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und so, daß die Mörder nicht »SA-Männer« waren, sondern schlecht-hin »Männer«; Delinquenten in Öster-reich kommen mit dem Anfangsbuch-staben davon; die Zentrumsmißhand-lungen merzt sie aus, als wäre ich dasOpfer; im Chaos blutiger Schuftereitadelt sie die Absetzung des Dresd-ner Dirigenten; eine Fälschung desWolffbüros nennt sie ganz richtig ei-ne »Abschwächung«; nach einer Hit-lerrede betont sie »Einmütige Zustim-mung der deutschen Presse« und so-gar des ,Völkischen Beobachters‘; undkann sich nicht genug tun, jenem zusagen, wie viel er doch schon erreichthabe und daß er doch jetzt schon einwenig großmütig sein könnte. Golde-ne Worte jedoch, wenn sie schreibt:

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Es gibt in dieser stürmischen Zeit nichtnur Äußerungen der Schwäche, derServi l i tät , der raschen Wandelbarkeit,über die man gern, wenngleich mitschmerzl ichen Empfindungen, zurTagesordnung übergehen möchte,sondern auch Kundgebungen, die wah-ren Mannesmut verraten. . . .

wiewohl sie nicht etwa die Fällemeint, wo sie die eigene Stimme, denOrkan übertönend, zu Protesten er-hob wie solchen:[Dieser Preußengeist hat keineswegsDuldsamkeit ausgeschlossen. Anm. d.Red.][Solche Angriffe sind auf das tiefste zu be-dauern. Anm. d. Red.]

Aber die jüdische Red ist doch etwaskurz für den deutschen Wahn, undder Leitartikel, der nur im Sprach-

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lichen eine gewisse Absage an dasDeutschtum verrät, läßt die Gedan-kenflucht, auf der sich BenediktsStimmungen immer befanden, als Pa-nik erscheinen. Diese äußert sich frei-lich nicht lärmend, jedoch betamt. DieSprache geht sammetpfotig um denBrei, der nicht so heiß gegessen wird.Bombenattentate sind der nationalenSache abträglich; die Rundfunkpro-paganda stört das brüderliche Ver-hältnis, anstatt Sympathie und Zu-neigung zu wecken; wird sie trotz Ver-sprechungen fortgesetzt, so kommt esdarauf an, die Erwartung nicht gänz-lich zu enttäuschen, daß neue Anlässezu Streitigkeiten vermieden werden,denn die Empfindlichkeit ist ange-wachsen; Schmähschriften, aus Flug-zeugen herabgeworfen, sind höchstunnütze Nadelstiche. Auf solche Art,

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fürchtet sie, werden die Ziele der Na-tionalsozialisten in Österreich nichtgefördert, sondern nur jene unter-stützt, die Deutschland Mißtrauenentgegenbringen und die Friedlich-keit seiner Politik in Zweifel ziehen.Zu solchen möchte sie um keinenPreis gehören; auf die Gefahr hin,daß sich die alte »Laienfrage« erhebt,ob hier nicht das Angenehme mitdem Nützlichen verbunden werde. Siewagt ein Bedauern,

daß die populäre Agitation weit über dieStränge schieße.

Nie schlägt sie selbst übers Ziel; undbis heute hält sie an der Version fest,es werde vermutet, daß der Ermor-dung Theodor Lessings politische Mo-tive zugrundeliegen. Die Absage Tos-caninis gibt ihr: zu denken. Solches

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auch vielen Abonnenten, die stutzigwerden und sich fragen, warum sienicht gleich die »Dötz« halten sol-len, die ja auch nicht deutsch kann,aber doch weit mehr Greuelpropagan-da treibt. Und dabei kommen sie ihrgar nicht auf die versteckten Gau-nereien, die sie verübt, um längerals Lippowitz im Dritten Reich ge-duldet zu sein. Mit Recht verwahrtsie sich gegen die »Falschmeldung«,daß sie »in einer speziellen Auflagefür Deutschland Meldungen, die dortAnstoß erregen könnten, wegläßt unddurch andere ersetzt«. Das besorgt sieschon in der Auflage für Österreichund nicht bloß dadurch, daß sie solcheMeldungen wegläßt, sondern auch so,daß sie sie in Falschmeldungen ver-wandelt. Was zum Beispiel macht sieaus dem Satz der ,Times‘:

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In Großbritannien hat es niemals einesehr starke öffentliche Meinung für diemögliche Verschmelzung des österreichi-schen und des deutschen Volkes gegeben...

Das Gegenteil in Sperrdruck machtsie daraus:

Es habe in England niemals einestarke Gegenbewegung um dieFrage einer möglichen VereinigungDeutschlands mit Österreich be-standen.

Die Fortsetzung:

Die Gewalttaten und die Außeracht-lassung der guten Umgangsformenauf deutscher Seite und der beton-te Widerstand der österreichischen Re-gierung haben die britischen Sympathienauf Seite Dollfuß’ vereinigt...

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mäßigt sie für das Bedürfnis der Ber-liner »City«:

Die Einstel lung in Deutschland unddie zu verstehende Opposit ion derösterreichischen Regierung haben dieenglischen Sympathien auf Dollfuß’ Seitegebracht.

Die Rede des früheren Unterstaats-sekretärs Dalton auf der Pariser so-zialistischen Konferenz fälscht sie so,daß sie aus der Stelle:

Die Verachtung, die die Hitler-Regierung in ganz England finde, seiunvorstellbar groß. In dieser Fragegebe es in England trotz den sonstigenschweren Gegensätzen der Parteien undder Klassen nur eine Meinung, nur einegemeinsame Stimme des Abscheus

den schlichten Satz formt:

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Die Hitler-Regierung finde in ganz Eng-land Verurtei lung.

Aber sie wird der richtigen Lesartso wenig entgehen wie die Hitler-Regierung. Bestimmt sie der Wunsch,gleich den deutschen Juden unbe-helligt ihren Geschäften nachgehenzu können? Ohne Zweifel; aber dochauch jene Gesinnung, mit deren Aus-druck meine Kommerzialräte denWeltkrieg begleitet haben: »Man hatscho genug von die Graiel«.

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Es ist die Beschwörungsformel, diesich niemals gegen die Täter, eher ge-gen die Opfer, immer gegen die Bo-ten der Tat wendet, und die dem vor-waltenden Gesellschaftsbedürfnis derPhantasiearmut gerecht wird. Hatman doch wieder den größeren Greuelmitmachen können, daß sie »es nichtglauben« und daß sie nur jenen glau-ben, die von einem zufälligen Stand-ort aus einen Komplex beurteilen, der,mag er auch noch so umfänglich sein,doch gewiß nicht, und vollends nichtgleichzeitig, den ganzen Raum einerÖffentlichkeit auszufüllen vermöchte.Unerschütterlich blieb der Kredit derDeutschland-Reisenden, die von demFaktum, daß sie »nichts gesehen ha-ben«, darauf schließen, daß nichts ge-schehen sei und alles in Ordnung. So

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einer war ja wirklich bei mancher Un-terlassung dabei, über welche er nunaus eigener Wahrnehmung glaubhaftauszusagen weiß, und daß er nichtsgesehen hat, können wieder anderebestätigen, die in der gleichen La-ge waren. In solchen Zeiten verfängtnicht die primitivste logische Erwä-gung: ob das, was geschieht, überallund überhaupt sichtbar sein müßte;geschweige denn die sittliche: ob esnicht umgekehrt richtiger wäre, einenFall geflissentlich zu verzehnfachen,wenn es nur so gelänge, die Aufmerk-samkeit auf ihn zu lenken, das Ge-wissen auf die Möglichkeit, und wennes doch mit der Überzeugung unter-nommen würde, daß faktisch zehn-mal mehr geschehen ist. Genügt dennnicht zur Vergewisserung ihres Tuns,was sie reden und wie sie leugnen?

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Haben die Greueltäter nicht die Greu-el, die sie in Einem photographiertenund dementierten, als »Folge der Pro-paganda« zugegeben? Wird nicht min-destens nachträglich wahr gemacht,was zuerst »gelogen« war? [Und nach-träglich fast die Greuelpropagandades Weltkriegs beglaubigt.] Als könn-te überhaupt so viel gelogen werden,wie da wahr ist, und als wäre Lü-ge ein Vorwurf, den die Systemati-ker der Lüge gegen andere erhebendürften! Welche prinzipielle Unsau-berkeit, das Dementi einer Ermor-dung, die bloß schwere Körperverlet-zung war, als Grundlage generellerEntkräftung zu offerieren! Und wel-che Erbärmlichkeit die Bereitschaft,es als Grundlage der Beruhigung hin-zunehmen: weil es doch zeige, wie diegute Sache verleumdet wird, wenn

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man ihr Opfer als tot ausgibt, das ent-setzten Augenzeugen »wie tot« dazu-liegen schien! Als gäbe es ein Proto-koll der Panik oder auch nur die Mög-lichkeit von »Information« bei einerGewalt, die die Grabesstille, zu der sieMenschen verurteilt, noch von derenMüttern und Gattinnen erpreßt.

Am 16. d. M. ging mein lieberMann still dahin.

Das Begräbnis wurde in allerStille durchgeführt.

Durch ein Mißverständ-nis wurde mir mein Mannentrissen.

Um stilles Beileid bittet – –

Unsagbarer Jammer! Kann »Über-treibung« einer Sphäre nahetreten,

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wo Aussage, Teilnahme und Nachfor-schung verwehrt ist und dem Terrornur die Furcht begegnet, Leiden zuvermehren und die Ansteckung die-ser absurden Gefahr zu verbreiten?Könnte es denn, wo nur der leises-te Verdacht auf »Greuel« besteht, einsittlicheres Tun geben als »Propagan-da«, eine lügenhaftere, nichtswürdi-gere Fiktion als deren Vorwurf? Na-türlich ist es »nicht zu glauben« undalles klingt erfunden; sei der greuli-che Inhalt nun simpel oder raffiniert.Doch mit Namen, Ort, Zeit und jegli-chem Umstand wird beglaubigt, waszu einfach für die Erfindung wäre:

Ein Hochofenarbeiter sollte aus der Woh-nung geholt werden. Die Frau bittet, ihndaheim zu lassen und hier auszufragen.Zwei Ohrfeigen strecken sie auf die Die-

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le. Die Kinder, ein elfjähriger Knabe undein neunjähriges Mädchen, kommen her-zu, knien nieder und heben die Hände bit-tend für Vater und Mutter. Ein SA-Mannnimmt den Gummiknüttel und schlägtauf die Kinder ein.

Wie unglaubwürdig erst der Bericht,wenn der Vorgang der erfinderischenPhantasie von Menschenquälern ent-stammte:

Ein unscheinbarer Jude ernährt durchLumpenhandel seine fünf Kinder. Zu ihmkommen SA-Leute und verlangen fünf-hundert Mark. Er kann sie nicht geben,weil er sie nicht hat; er hat wohl nie-mals soviel Geld auf einmal gesehen. Sieschlagen ihn, daß er wimmernd auf demFußboden liegt. Endlich stöhnt er: »In derKommode sind 30 Mark für die Mietra-te.« Sie nehmen das Geld. Dann gießen

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sie ihm einen vollen Liter Rizinusöl ein,stecken ihn in einen Leinensack, bindenbeim Hals zu und schleifen ihn in denKeller. Das Öl wirkt, der Mann kauertbuchstäblich in Kot und Urin vier Tage.Sein Schreien hört man in der Straße. EinMetzger befreit ihn. Als das Opfer ausder Badewanne steigt, ist sein Leib vomSchmutz angefressen, als wäre er stun-denlang gefesselt in einem Ameisenhau-fen gelegen.

Nur einer der Fälle, wo es noch gestat-tet ist, einen Wirtschaftsfaktor »in derFreiheit der Entschließungen zu be-hindern«. Einer der tausend Fälle, wokein Metzger, sondern die europäi-sche Polizei einzuschreiten hätte. Ei-ner der tausend Fälle, über die nichtnur der Saal, der es hörte, sonderndie Menschheit aller Rassen und Re-

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ligionen in gellende Pfuirufe ausbrä-che, und erst dann hätte der VermerkGewicht:

Viele Frauen weinen.

Aber die andern glauben es nicht, unddie es für möglich halten, beruhigensich bei der Aufklärung des Ehren-vorsitzenden, es handle sich um dieDifferenz einzelner mit dem einzelnenLumpenhändler, die sie eben in ih-rer Weise erledigt haben. Und es wä-re auch ihm erspart geblieben, wenner mit solchen Lumpen Handel getrie-ben hätte, denn dann hätte er mehrals dreißig Mark in der Kommode.»Ohne jeden Unterschied der beson-deren Gefühlsrichtung« – als hättensie Gefühl und Richtung – bekennensie, daß die Greuelpropaganda eineLügenpropaganda ist, und vertrauen

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auf eine Ruhe und Ordnung, nach-dem deren höchster preußischer Ga-rant die Erklärung abgegeben hat:

Jeder Schuß eines SA- oder SS-Mannesist ein Schuß von mir!

Doch ärger als Mord ist Mord mit Lü-ge, am ärgsten die Lüge des Wissen-den: Vorwand eines Unglaubens, derdie Tat nicht glauben will, aber derLüge; Willfährigkeit, sich so dumm zustellen, wie die Gewalt ihn machenwill; grausame Idiotie. Nein, Verloge-neres und Stupideres als diesen Be-griff »Greuelpropaganda« kann es garnicht geben, und sooft er auftaucht,sei man sicher, daß kein Greuel soschlecht erfunden sein könnte wie die-se Abwehr eines schlechten Gewis-sens, an Schmählichkeit nur übertrof-fen von jenem Drang, nicht zu glau-

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ben, was man weiß, von dem Vorsatz,das Unvorstellbare auch für unwirk-lich zu halten und noch den Rest vonEmpfänglichkeit einem Mechanismusder Titellettern zu opfern, der die-se Aushöhlung verbrochen hat. Undsolche Gemütsart, vom Klischee ansUngeheure gewöhnt, befestigt wie-der den Gebrauch seiner Disponen-ten, und so können sie für die Wahr-heit eine Fassung finden, die sie vorihr verlieren müßten:

Man kann ruhig sagen, daß Millionenvon Menschen in Deutschland vor demHungertode stehen.

Wie sollte freilich jener Rest vonEmpfänglichkeit noch vorhanden seinzur Vergegenwärtigung eines män-nermordenden Waltens, dessen Be-richt von Verheißungen einer »Femi-

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na« durchquert wird? Wie wäre ihmdie Vorstellung erlangbar einer Blut-orgie johlender Landsknechte, auf de-ren Stichwort förmlich die Rehabi-litierung eines Nachtlokals einsetzt,von dem – und im Kontrast einer SA-Kaserne mit Recht – gerühmt wird,es sei »kein Sadistenkabarett«! Wiesollte die Hörerschaft dieser zügel-losen Berichterstattung den Tortu-ren eines alten Rabbiners Mitleid zu-wenden, wenn auf demselben Blattdie Wonnen eines jüngeren Generaldi-rektors Ablenkung gewähren. DiesemZeitungsbegriff einer Humanität, diedas Unglück zum Marktschrei prosti-tuiert und die noch lügt, wenn siedie Wahrheit sagt, entspricht vollaufder Habitus einer Leserschaft, dieerst, wenn sie ein Tausendstel zuspüren bekommt von dem, was sie

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nicht glaubt, die Verbindung mit derMenschheit wieder aufnimmt. Hiebeim Zweifelsfall, damit sie an Gewaltglauben!

Und solcher Beschaffenheit durch-aus angepaßt ist die der Kulturfak-toren, die alles das, was sie nichtselbst betrifft, nicht zu ihrer Sachemachen, um diese nicht zu gefähr-den; und die sich gegen das, wassie schon betroffen hat, in der Er-wartung wehrlos halten, es werdedoch wieder gut ausgehen. Gegen-über den leiblichen Maßnahmen ei-ner erpresserischen Gewalt, die denWegwurf der Ehre erzwingt, schienja in den Maßen dieser politischenWelt kein Aufstand vorstellbar: we-der von den nominellen Vertreterneiner aufgelösten bürgerlichen Ord-

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nung, noch von einer Sozialdemokra-tie, die, in Ausübung einer Macht hin-fällig und verächtlich, heute Mann fürMann Anspruch auf Erbarmen hat.[Gleichwohl gibt es eine Differenz derAusnahmen: zwischen Arbeitern, dieeinen Qualentod sterben, bevor sieein Lippenbekenntnis abgeben, undFührern, die im Ausland »kämpfen«.]Gegen die Kasernierung der publi-zistischen Prostitution war von de-ren Angehörigen kein Widerspruchzu erwarten; warum sollte sich et-was, das nicht vorhanden war: Gesin-nung, nicht »gleichschalten« lassen?Gegen die Unterwerfung eines be-trächtlicheren Geisteslebens hat sichmancher Protest erhoben, eindring-lich genug, wenigstens das Schwei-gen zu beschämen; gegen die Tob-sucht, die die Universität als Schieß-

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stätte und Antiseminar reklamiert,sind Gelehrte wie Frank und Stein,Planck und Koehler mutig aufgestan-den; gegen den Auftrag einer heroi-schen Orientierung der Musen habensich Künstler wie Liebermann undRicarda Huch gewehrt. Ein Beispielbleibt auch Th. Th. Heine, der sicheiner an allen Zeitwenden bewähr-ten Verächtlichkeit des Milieus end-lich entzog, nachdem diese gezeich-nete Bande von Kunstkameraden dieMacht gegen ihn herbeigewinkt hat-te. [Dem Gulbransson hat es nicht ge-frommt, »Alexas wurde treulos .. fürdiese Müh’ hat Cäsar ihn gehängt.Canidius und die andern haben Kostund Löhnung, nicht ehrendes Ver-traun.«] Herr Furtwängler, der sei-ne Auslandsmöglichkeit sichern woll-te, indem er mit dem Zwingherrn

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der Musen einen Gedankenaustauschpflog, zählt nicht und ist Staatsratgeworden. Gerhart Hauptmann sollsich jenem ohne alle Strapaze anver-traut haben und nun gefaßt der Even-tualität entgegensehen, daß der Mau-rer Mattern Oberpräsident von Schle-sien wird. Aber die Literatenforde-rung, daß die Vertreter des geistigenDeutschland gegen die Mißhandlungder Berufsgenossen protestieren, ent-stammt einer Überschätzung der Li-teratur in deren ethischen Belangenund der Unterschätzung eines Un-heils, dessen Eingriff in den Bücher-markt doch den geringsten seiner Ef-fekte bedeutet. Nicht gegen das, wasdem schreibenden Menschen, sonderngegen das, was dem Menschen wi-derfuhr, war zu schreiben oder zuhandeln: mit dem Bekenntnis eine

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staatliche Würde abzulegen, die zubehalten der menschlichen entgegenist. [Wie bedaure ich es heute, daßich nicht in die deutsche Dichteraka-demie aufgenommen wurde!] Wenn»Hauptmann schweigt«, so ist es im-mer noch besser, als wenn Großmannspricht; aber ein Schritt von dem We-ge, der ihn mit dem Bereich solcherOffizia verbindet, war Von ihm zuerwarten, damit er nicht offiziös er-scheine. Um des Geistes willen; magauch dessen Ausrottung in nicht all-zu vielen Berufsfällen wahrzunehmensein. Denn sie wird durchaus betä-tigt, obschon in der Literatur wenigerdurch Niederreißen als durch Aufbau.Der Geist hatte, jenseits der Gefähr-dung des Berufs, gegen ein Waltenzu stehen, das mit grausamem Dilet-tantismus in die Region des Mensch-

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seins langt. Was soll das Journalisten-geschrei über die Schwierigkeiten ei-ner Kulturvertretung, die ja beweist,was sie wert war, da sie sich weder fürihre noch für die höhere Sache rührt,weder für die Interessen des Schrift-tums noch für die Wohlfahrt der Men-schen, die nicht bloß der Lektüre be-raubt wurden. Mancher hat nur soseinen Mann gestanden, daß er sichdurch Blutleere des Worts von der Un-tat abhob. Es bedeutet ferner nochkeine Höchstleistung von Bekenner-mut, wenn jetzt pünktlich jeder dieserVerbannten sich als Nachfolger Hei-nes, der auch schon kein echter war,empfiehlt, obgleich es gewiß sympa-thisch berührt, daß auch Großmann,der eher ein Heimkehrer ist, die Sehn-sucht nicht aus dem Innern treibenkann:

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und ich murmele zuweilen die Versedes größten deutschen Emigranten vormich hin:

Denk ich an Deutschland inder Nacht,

Bin ich um meinen Schlaf ge-bracht.

Zum Glück habe ich den Boden Öster-reichs nie ganz unter meinen Füßen ver-loren ....

Auch der Boden weiß es sich zu schät-zen, obschon nicht ohne Neid gegenden deutschen, welcher manchen Fu-ßes entbehrt, der auf ihm nichts zusuchen hatte. Aber so war es nichtzu machen und nicht nach Reformvon Höhlenbewohnern. Und wenn derKulturverlust vor allem nicht mitMenschenleben erkauft wäre! Das ge-ringste, ja nur eine Menschenstun-

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de, dem ärmsten Dasein entrissen,wiegt eine verbrannte Bibliothek auf.Der bürgerliche Geistbetrieb machtsich noch im Zusammenbruch einenSchwindel vor, wenn er seinen spezifi-schen Einbußen mehr Zeitungsraumoffen hält als dem Martyrium derAnonymen, als den Leiden einer Ar-beiterschaft, deren Daseinswert sichunzerstörbar in Kampf und Hilfe be-weist, neben einem Betrieb, der So-lidarität durch Sensation ersetzt undder, so wahr die Greuelpropaganda ei-ne der Wahrheit ist, noch mit die-ser zu lügen vermag. Der Journalis-mus, welcher den Raum der Lebens-erscheinungen falsch dimensioniert,ahnt nicht, daß die letzte Privatexis-tenz als Gewaltopfer dem Geist nähersteht als alles ruinierte Geistgeschäft.Und vor allem derjenigen Pleite, die

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bis zur Heroisierung von Theater-schiebern, ja bis zur psychologischenTiefbohrung an Geldgebern nunmehrden Horizont unserer Kultur Jour-nalistik einnimmt. Das 6 Uhr-Blattringt um die Befreiung Österreichs,aber weiß man denn, was im Herbstunter Preminger sein wird? Vor demHöllenrachen erhebt sich die Frage,ob das Pallenberg-Gastspiel perfektwird, und zwischen Folterkammer-spielen die Gestalt Robitscheks. DaßReinhardt, der dauerhafte Fetisch derAufklärung, stärker denn je blendetund betäubt; daß um den Hokuspo-kus eines Nichtssagers das Geraunevon »Führergenialität« immer brüns-tiger wird, mag auf den Drang zu-rückzuführen sein nach einem Er-satz für das, was der arische Glau-be in der Hitlerregie gefunden hat.

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Aber daß von eben deren Wirkun-gen durch solchen Plunder abgelenktwerden kann, ist gleichwohl tragisch.Jetzt hat die Kulturschmockerei ei-ne lohnende Nebenbeschäftigung be-kommen, indem es ihr gelang, dieSphären zu verbinden und den Kulis-senschmus unter den politischen Ge-sichtspunkt einzuordnen. Die Über-wertung dieses Lebensgutes, die manschon im Zenith aller Möglichkeitenangelangt glaubte, erfolgt noch extradurch die Probe auf das Dritte Reich:wer dort einging, geht der Überschät-zung seines Talents verlustig, und dieverkehrten Rassenwarte sind auchnicht von Pappe. So läßt Herr WernerKrauß, Magus aus dem Norden, wo-hin er gehört, mittelstarker Dämon,von dessen Wiener Presseruhm hun-dert Mitterwurzer Größenwahn be-

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kommen hätten, etwas zurück, was inder Sprache unserer Korybanten alsknurrend ekstatische Enttäuschungzum Ausdruck kommt. Dieses Verfah-ren einer Journalistik, deren Eigen-art mit nichts gleichzuschalten wäre,ist bis zur Eingeweihtheit in schmie-rigsten Konkurrenzbelangen und biszur Anspinnung jener Geschäftska-balen entwickelt, die sonst erst hin-tendrein zu unsrer geistigen Diät be-stimmt waren. Doch ganz abgesehendavon, daß es zum Kotzen ist, blie-be eine charakterologische Betrach-tung der Umstände, in denen sich dieTheaterwelt befindet und die oft auchandere sein können, selbst dann un-ergiebig, wenn der existentielle Druckin Berlin nicht den Grad der Erpres-sung erreicht hätte, zu welcher nun-mehr noch die kritischen Repressali-

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en in Wien dazukommen. Das Promi-nente, das dort unterkriecht, wo esGage und Kritik findet, wechselt kei-ne Gesinnung, sondern empfiehlt sichder, die seine direktorialen und jour-nalistischen Vorgesetzten annehmen;und sicherlich hat der Umsturz derTheaterverhältnisse, neben der einstvon der Presse, jetzt von der Rasse ge-stützten Mittelmäßigkeit, neben demPack, das sich jetzt schon bei Tag ko-stümiert, um Kollegen Rollen wegzu-schnappen, auch solche angetroffen,die mehr Mut und Hilfsbereitschaftzeigten als manche Träger des Berufs,der von ihren Sorgen lebt. Der Jour-nalismus wäre, selbst wenn ihm einekühne Entschlußkraft nicht die Titel-wirkung geraubt, sondern in zehnfa-cher Größe erlaubt hätte, keiner Ka-tastrophe gewachsen, denn er ist je-

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der verwandt. Seine Reklamierung ei-nes beschädigten Kulturbestands, diedurchaus von der Hauptsache ab-lenkt, erfolgt aus dem Begriff einerSolidarität, in der die Menschlichkeitauf die Angehörigkeit reduziert ist. Erhält sich Instinkten verpflichtet, fürdie es keine Unterscheidung der Le-benswerte gibt und keine Ehrfurchtvor dem Unglück; und so kann er in-nerhalb des Grauens, das er der Vor-stellung eröffnet, immer noch Raumfür »pikante Details« haben, wie etwafür den Umstand, daß ein unbegab-ter, aber tüchtiger, linksschaffener Li-terat »ohne Zahnbürstchen« davonge-kommen ist. An dem Maß des Unheilsjedoch, das über die Teilnehmer pro-blemfreierer Berufe hereinbrach, vorNot und Tod, vor der Austilgung sovieler sozialen und körperlichen Exis-

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tenzen verschwindet der Kulturscha-den, welcher erst wieder beträchtlichwird durch Methode und Aufschwungder Überwinder, durch die Greuel derEntschädigung in diesem Aufstandder Komparsen und Dilettanten. Wasbedeutet denn gegen die Nationalfei-er des Boykott-Tags jener Mummen-schanz der Bücherverbrennung, demja ein europäischer Lacherfolg sicherwar, mochte er ihn mehr dem Mitteloder dem Mißlingen verdanken, mehrder Barbarei der Täter oder der Re-klame für die Opfer! Wohl war er ge-eignet, das Pathos der Berufsgenos-sen und gar der Betroffenen anzu-sprechen. Die Art jedoch, wie die ge-rettete Literatur von der Panik profi-tierte; wie sie durch den Schaden derandern klug ward; wie sie alles dar-an setzte, um in Unehren zu beste-

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hen – das könnte den Instinkt derVandalen, wäre er nicht so gottverlas-sen wie naturnah, auf den Verdachtbringen, daß er die falschen erwischthat. Was die Geistigen gegen das Un-heil, das weit mehr als sie selbst be-traf, zu dokumentieren wagten, warnichts als die Furcht des gebranntenKindes oder des noch nicht gebrann-ten. Die Persönlichkeiten, die von be-rufswegen öfter eine Gesinnung äu-ßern als haben, nahmen immer schoneinen breitern öffentlichen Raum ein,als dem sozialen Bedarf entsprochenhat.

Verdrießlicher wird es, wenn dieÄußerung selbst dort, wo sie unerläß-lich wäre, unterbleibt, wenn sich dieVermutung heimlicher Befangenheitund öffentlicher Feigheit vordrängtund hinterdrein Aufklärungen not-

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wendig werden, die das Zweideutigeverwirren. Man errät, daß ich von denPenbrüdern spreche, welche der Füh-rung ihres Salten nach Ragusa ge-folgt waren, der kurz vorher für diedeutsche Geistesfreiheit eine Tombo-la mit anschließendem Tänzchen ge-wagt hatte:

Mit großer Spannung wurde demWalten Fortunas entgegengese-hen. Mitglieder des Damenkomiteesentnahmen dem Glücksrad die Trefferund der Jubel der Glücklichen, dieeinen der schönen Treffer ihr Eigennennen konnten, war groß. Aber auchdiejenigen, die Nieten besaßen, l ießensich die Laune nicht verderben. . . .

Mit einem Wort, das Milieu, aus demsich der mannhafte Protest gegendie moralische und körperliche Miß-

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handlung von Berufsgenossen erhe-ben sollte. »Schöpfer berühmter Tier-geschichten«, der sich der Kreatur er-barmt, wenn er nicht auf die Pirschgeht, hatte sich der Ehrenpräsident»vor einigen seiner Jagdtrophäen« il-lustrieren lassen, ferner »am Schreib-tisch« und mit einer Wage in derHand, deren Zweck die Inschrift ver-deutlicht:

»Jedes Wort eines Dichters soll auf ei-ne Goldwage gelegt werden können«, sagtFelix Salten zu seiner Gattin.

Weshalb er es vorzog, in Ragusa kei-nes zu sprechen, und allfälligen Wün-schen mit dem Einspruch zu begeg-nen:

Ich bin Jude, und ich bin in Deutschlandnoch nie darnach gefragt worden!

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Also etwa die Kehrseite der Medail-le, die manch einer, der weniger Glückhatte, auf der Brust tragen mußte.Doch auch dieser Felix will sich offen-bar nicht über die Nazis beschweren.Er mischt sich nicht in die Innern An-gelegenheiten Deutschlands, wie die-ses bisher nicht in seine; er will sich inkein Gedränge einlassen, wo es selbstArthur Schnitzler übel erging, dener durchs Leben geleitet hat; er hatsich gegen Brandschaden assekuriert.Aber man fragte besorgt, ob es aucheine Versicherung gibt, daß die Poliz-ze anerkannt wird. Und ob es nichtwenigstens einen Index der Kultus-gemeinde gibt und was denn die Ge-nossenschaft eines Glaubens sagt, zudem der Faiseur sämtlicher Bekennt-nisse immer gehalten und der sichnoch die dichterische Berufung eines

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Teppich-Rekommandeurs einbezogenhat. Sie war wohl beruhigt, daß er»schließlich für die schärfere Resolu-tion stimmen mußte«. Wie das kamund was bis dahin vorgegangen war,kurzum: »Die Wahrheit über den Pen-Club-Kongreß«, war aus den hundertKlarstellungen zu dem Thema schwe-rer zu entnehmen als der Kern einerDebatte, die die Fischweiber von Ra-gusa abführen und zu der sie vermut-lich mehr Haltung, Logik und sprach-liche Fertigkeit von ihrem Beruf mit-bringen. Klar war nur, daß auch die»schärfere Resolution« das Gedenkenjener Schriftsteller ausdrücklich ver-mied, die für ihre Überzeugung Tor-turen erdulden müssen, während an-dere für das Gegenteil nach Ragusafahren können. Beide Gruppen in ih-rer Art für den Rat empfänglich, den

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Herr Salten, kaum heimgekehrt, mitGoethe erteilt hat:

»Selig, wer sich vor der Welt ohne Haßverschließt...« Sich vor der Welt, vor derjetzigen Welt verschließen, mindes-tens zeitweil ig, zur Erholung, umein besseres Besinnen, um ein wenigAtempause, um eine Spur von Mut zugewinnen, immer wieder sich verschlie-ßen, das bleibt wichtigstes Gebot.Und: ohne Haß. Vor allem ohne Haß!Darauf zumeist und zunächst kommt esan.

Ich weiß schon, daß es sich aufmich bezieht, aber wichtiger ist, daßdie gewonnene Spur von Mut zudem Entschluß geführt hat, »sichan einer Debatte gegen Deutschlandnicht zu beteiligen«, sondern viel-mehr eine »Plattform« zu suchen we-

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gen Schicksalsgemeinschaft, unauf-löslicher Brüderlichkeit, Sprachver-bundenheit und dergleichen, was esvon Walter von der Vogelweide biszur Urbanitzky gibt, der vielgenann-ten Mitstreiterin von Ragusa, die da-vongestürmt ist, um den Anschlußzu vollziehen. Salten fiel um und ge-wann Mut. Aber wiewohl man jedesDichterwort auf die Goldwage legenmuß, so bleibt das Gestotter, mit demdann versucht wurde, noch Ehre auf-zuheben, ein Dokument der mora-lischen und stilistischen Verfassungdes Schrifttums, dem der Goethe-mensch präsidiert. Erschütternd mußsein Ausruf gewesen sein:

Das ist der Tod des Pen-Clubs!

Haste Verlust! hätte Altenberg geant-wortet [den er der Welt geschenkt

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haben will, mit dessen Andenken eraber nur als stiller Kompagnon Be-kessys verknüpft bleibt]. Denn manhat bis heute nicht erfahren, wemdurch die Bankette des Pen-Clubs ge-holfen wird, wie sich seine Mitglie-der von den Rotariern unterscheidenund diese wieder von den Schlaraf-fen, von welchen man jetzt wenigs-tens hört, daß sie der Gleichschaltungverfallen, so daß künftig nur ein Ari-er lu-lu sagen darf. Was den Pen-Clubanbelangt, so liegt immerhin die An-erkennung der »Dötz« vor, daß

der Vorsitzende der Wiener Gruppe, Fe-lix Salten, obwohl Jude, gegen die Be-handlung Deutschlands auftrat . . . .

Dafür scheint er die Sozialdemo-kratie, die den Schöpfer der volks-tümlichen Mutzenbacher zum Bürger

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Wiens, und die Literatur, die ihn zuihrem Wortführer erkor, enttäuschtzu haben, wie so mancher, dem jetztmit Unrecht vorgeworfen wird, daßer seine Gesinnung hingegeben ha-be. Vollkommener ist noch kein Be-weis von Daseinsüberflüssigkeit einerRepräsentanz ausgefallen als bei Ver-einsmeiern, die zum ersten und wohlletzten Mal vor der Aufgabe stan-den, die Güter, deren Vertretung siesich anmaßten, zu verteidigen, unddie im Gedränge und Geschiebe derVerlegenheit zwar zu einer »Resolu-tion« kamen, aber heilfroh waren, ei-ne Stellung nicht nehmen zu müssen,die ihnen von Natur nicht zukommt.Wie verloren wäre das Ansinnen, daßdergleichen nur gegen die Einkerke-rung der Männer des Rundfunks auf-stehe, jener Flesch und Braun, ge-

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gen die sich hinterdrein der Verdachtdes Europäertums verdichtet hat unddenen der sieghafte Dilettantismusdas Bewußtsein kulturellen Kontras-tes nachträgt. Welches Pendant vonBildern: die Plattformsucher von Ra-gusa und die sechs Gequälten, um-stellt von Wölfen des Konzentrati-onslagers, Trophäe einer schmutzigenGewalt, mit der jene paktierten. Wiewird das ganze Wort- und Kunstge-lichter der Freiheit, das die Gestürz-ten umschmeichelt hatte, durch dieTat dieses Herrn v. Bredow beschämt,der mit einem Satz das Deutschtumrehabilitiert hat, indem er in Verbun-denheit mit ihnen seine Person derBarbarei darbot, die es entehrt. Daßsie nicht erschüttert, sondern belus-tigt war; daß Herr Goebbels einenWitz von sich gab, gehört wohl zu der

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schwarzen Messe, deren fassungslo-se Zeugen wir sind, macht es aberschwer, sich vor der Welt ohne Haß zuverschließen. Sei dem wie immer, esgibt Leute, die ihr sprachverbundenbleiben; und der Teutoburger Wald,von dem ich in diesem weiträumi-gen Erlebnis abgeschweift bin, wirdseltsame Jagdgäste beherbergen. WasBenn betrifft, den ich in einer nochälteren Periode des Deutschtums zu-rückließ, wo es noch nicht einmal dieBärenhäute gab, auf welchen jetztdie Flüchtlinge herumliegen, und woeinem noch nichts von Philosophenaufgebunden wurde, so wird es ihmschließlich selbst zu dumm und ersagt:

Aber verlassen wir die Philosophie undgehen wir zur Politik über ...

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Doch da kommt auch nichts Vernünf-tiges heraus, wiewohl er ausdrück-lich entschlossen ist, sich von der Vi-sion ab- und den Tatsachen der Er-fahrung zuzuwenden. Auch hier über-treibt er, indem er zwar eingesteht,daß die innere und äußere Lage desStaates schwer sei, jedoch meint

daß es Iliaden und Aeneiden bedürfte, umsein Schicksal zu erzählen.

Das mag sein, fraglich ist aber, obsie entstehen werden. Und nun, ange-sichts aller Schwierigkeiten der Lage,gewinnt Benn einen Herzenston, in-dem er den Vaterlandslosen vorhält,daß sie dem in jene geratenen Staat

vor dem ganzen Ausland Krieg wün-schen, um ihn zu vernichten, Zusammen-bruch, Untergang.

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Und doch:

Es ist die Nation, deren Staatsange-hörigkeit Sie besitzen, deren SpracheSie sprechen, deren Schulen Sie besuch-ten ... deren Industrie Ihre Bücherdruckte, deren Theater Ihre Stückespielte ... und die Ihnen auch jetzt nichtviel getan hätte, wenn Sie hier ge-bl ieben wären.

Höchstens Verletzungen leichterenGrades, nicht der Rede wert, und aufdie Sicherheit hin, die Benn nachträg-lich bietet, und in die die Staatsan-gehörigkeit sie leider nicht gewiegthat, wären sie ja vielleicht geblieben.Wenn sichs aber vom sichern Port,worin sich einer befindet, gemächlichraten läßt, so ist es zweifellos nochfeiger, ihn dem andern zu widerra-ten. Benn scheint der Anschauung zu

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sein, daß die Flüchtlinge aus puremÜbermut dem Berliner Wohlleben denHunger in Paris vorgezogen haben.Man muß nicht gerade die des HerrnGoebbels teilen, daß das Emigranten-dasein »schimpflich« sei. Ehrenvollerals der Tanz nach seiner Pfeife, ist esgewiß nicht beglückend für solche, dieim taktvollen Mitleid noch die Aver-sion gegen ihre Heimat zu spüren be-kommen. Denn leider verhält es sichso, daß das Ausland sie nicht bloßals die Opfer einer politischen Unter-drückung, sondern vielfach auch alsdie Vertreter einer ethnischen Beson-derheit ansieht, und man kann sichimmerhin vorstellen, daß es manchenunter ihnen gelingen mag, das Vorur-teil gegen diese zu befestigen, indemsie schon durch ihr Auftreten die Pro-paganda besorgen, die den Interessen

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Deutschlands zuwiderläuft und vonihm verpönt wird. Es dürfte ja glaub-haft sein, daß sich Berliner Literatenauch in Paris übernehmen und demEdelmut der Gastgeber die Bezeich-nung »les greuel« abnötigen. Man er-fährt zum Beispiel von Vergleichenmit »unserer Wohnbaukultur«, bei de-nen die des Gastgebers »schlecht ab-schneidet«, und für die Wirkung aufdie Außenwelt wäre es unter allenUmständen günstiger, niemals solcheLebensverhältnisse zu schaffen, dieeine Auswanderung zur Folge haben,da es doch gerade genügt, daß siedurch die etwaige Einreise informiertwird. Mag sich aber die Folgen derFlucht das Inland selbst zuzuschrei-ben haben – daß sie individuell be-gründet war, steht außer Frage. DasArgument der Bücher, deren Herstel-

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lung die deutsche Industrie besorgthat, ist insofern nicht ganz glücklich,als sie ja auf den Index kamen odergeradezu verbrannt wurden, worindie Urheber zwar einen gewissen An-sporn zur Dankbarkeit wegen der Re-klame, aber doch keinen zum Patrio-tismus fühlen müssen. Die deutscheIndustrie aber hätte sich nicht sosehr über den Undank der Emigran-ten zu beschweren als über ein Vorge-hen der Patrioten, durch das ihre Er-zeugnisse zerstört und ihre Verdienst-möglichkeiten beeinträchtigt wurden.Was die Identität der Sprache an-langt, so könnte Benn insofern Rechthaben, als die Flüchtlinge nicht an-ders schreiben als die Zurückgeblie-benen oder sagen wir Daheimgeblie-benen sprechen, indem ja die deut-sche Schriftsprache mit der deutschen

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Umgangssprache die geringe Bezie-hung zur Sprache gemeinsam hat. Ichglaube, daß ich viel besser in der La-ge wäre, eben aus dieser Erscheinungdas Wesen des deutschen Umsturzeszu erklären, als Benn mit geognos-tischen, ja geomystischen Schmonzesund mit dem Versuch, äußerst kör-perhaften Dingen metaphysisch bei-zukommen.

Vielleicht würde ein Literat, der sichder Sprache immerhin bis zum Orna-ment genähert hat, es sogar verste-hen und schließlich glauben, daß inder journalistischen und rednerischenBekundung des neuen Denkens bis-her auch nicht ein deutsches Wortge-bilde sichtbar oder hörbar gewordenist, nicht eines, das den deutschen In-halt nicht Lügen strafte. Die Spra-

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che verdankt freilich dem Umsturz,der wohl schon im Grundwort »Na-zi« sich als Realisation des Weltgeis-tes andeutet, manche neuen Bildun-gen, und solche, die man eben vor demAufbruch des neuen Wesens unmög-lich hätte erringen oder durchdenkenkönnen. Damit sind nicht etwa aparteFormen gemeint, wie man sie auch inder jüdischen Presse antrifft, die prin-zipiell jedes Wort, das ihr nur unterdie Hände kommt, krumm biegt undschwer beugt; nicht der falsche Dativ,der durchweg als der einzige Kasusanerkannt ist: »belli«, des Kriegsfu-ßes, auf dem alle deutsche Publizistikmit der deutschen Sprache lebt; nichtdie Unfähigkeit, den simpelsten ge-danklichen Inhalt logisch zu stilisie-ren und die einfachste Konstruktiondurchzuhalten; nicht anderseits die

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Konsequenz, mit der sich alles Groß-deutsche die Einmischung des Aus-lands »verbietet«. Nicht einmal derUmstand, daß die nationalsozialisti-sche Presse Deutschlands die Mah-nung erläßt:Deutscher, lese nur arische Zeitungen!

Denn:Vergeß nicht, daß du ein Deutscherbist!

Also die Erinnerung an ein Ideal, demsie schulbeispielhaft, doch ohne Bei-spiel der Schule entgegenwirkt. Nichtdas Scherflein, mit dem das österrei-chische Bruderblatt Anschluß findet:Liest euch die Weisungen genauerdurch!

Daß sich wegen solchen Eifers, dersich leider auf kein Lehrbuch der

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deutschen Grammatik erstreckt, diedeutschbewußte Journalistik vonden prominentesten Analphabetender andern verhöhnen lassen muß,ist gewiß beschämend; aber derleiwird als zum täglichen Hand- undMundwerk gehörig nicht leicht zuvermeiden sein, solange vor allem derImperativ in Geltung ist:

Hält eure Fäuste bereit!

wiewohl doch einer der Feuersprüchebei der Bücherverbrennung gelautethat:

Gegen Verhunzung der deutschen Spra-che! Für Pflege des kostbarsten Gutes un-seres Volkes!

Leicht gesagt, schwerer getan. Hätteich Mut, würde ich mutmaßen, daßeine Prüfung auf Sprachgefühl und

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grammatikalisches Wissen der Leute,die durch die Forderungen »Deutsch-land erwache!« und »Juda verrecke!«zu Macht und Vermögen gekommensind, schon bei der Frage nach derKonstruktion jener auf Schwierigkei-ten stößt [oder stoßt, wie sie grund-sätzlich sagen und schreiben]. Siewissen bestimmt nicht, daß da einKomma hineingehört, weil die je-weils genannte Nation, die doch an-geherrscht werden soll, sonst nichtdie zweite, sondern nur die drittePerson vorstellt und die verlangteTätigkeit: erwachen oder verrecken,nicht die Befehlsform, sondern bloßdie Wunschform annimmt, die ja na-mentlich im Fall Juda nicht ange-bracht wäre. Wenn zum Beispiel dassinnverwandte »Verderben, gehe dei-nen Gang!« [Schiller] ohne Komma

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dastünde, so würde nicht das Ver-derben angerufen, sondern etwa einFührer, dessen Gang es folgen möge.Das Ausrufzeichen sichert noch nichtden Befehl, sondern könnte eine Ver-stärkung des Wunsches sein. Freilichmuß man in dem Zitat, das Deutsch-land und Juda betrifft, den Fehlerübernehmen, der insofern nicht un-eben ist, als so brüske Forderungdurch Sorgfalt des Ausdrucks abge-schwächt würde. Schließlich standendie Cäsaren immer über der Gram-matik, und besser autarkisch nichtdeutsch können, als Fremdwörter ge-brauchen, von denen man doch niewissen kann, was sie bedeuten. [Et-wa: »dynamisch« oder »Synthese«.]Gerade ihr Ersatz hat zu einer Berei-cherung des deutschen Sprachschat-zes geführt, um die uns die Natio-

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nen beneiden. Sie verdankt sich aberauch den erweiterten Bedürfnissendes Handelsverkehrs, und diese Ent-wicklung rechtfertigt – letzten Endes– die treuherzige Übernahme jüdi-scher Bräuche, die Bewahrung einerInflation der Schiebersprache, der dasSchrifttum der Republiken Raum ge-währt hat und die heute das erwachteUrseelentum in allen Varianten »hun-dertprozentig« beglaubigt, so daß mansagen kann: »geht in Ordnung«. DasBesondere ist aber die Fähigkeit, ineben diesem Geiste schöpferisch fort-zusetzen und zu arteigener Neubil-dung zu gelangen, welche die Spra-che dem Bedürfnis einer tiefen Un-ehrlichkeit anpaßt und dem Hang zurScheinheiligung, zur Verschleierungschmählicher Sachverhalte gerechtwird. Kaum eines dieser Kommuni-

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qués, das nicht Zuwachs in derleiHinsicht brächte, wenn Gewalttätig-keit sich in Normen kleidet und etwader Einbruch in eine Wohnstätte als»Überholung« bezeichnet wird. Oderwenn Mißlingen die Promptheit desErfolgs darstellt und von einem Pro-krustes der Dinge und der Worte einKampfbund »auseinandergegliedert«wird. [Auch ich bin dazu genötigt,wenn täglich neue Greuel an Wortund Tat einzubetten sind, wie soebendie »Reichskulturkammer« und die»Gaukartei«, die »Reichsschaft« unddie »Fachschaft« mit dem »Reichsfach-schaftsleiter«, der »Gaukulturwart«,der »Werberat« und alle Ränge bishinunter zum »Blockwart«. Nun, ichsage mir – immer mit Goethe –:

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Bist du beschränkt, daß neu-es Wort dich stört?

Willst du nur hören, was duschon gehört?

Dich störe nichts, wie es auchweiter klinge,

Schon längst gewohnt derwunderbarsten Dinge.]

Und gibt es nicht, in diesem großenBereich halluzinationaler Errungen-schaften, vor allem so vieles, das »ge-tarnt« ist, und wenn es nicht aus-gerechnet der Verbergung treudeut-schen Wesens diente, von eben des-sen Bekennern auf einen TarnopolerUrsprung zurückgeführt würde? Undhaben wir nicht dieses überraschen-de, ja niederschmetternde »schlagar-tig«, womit sowohl das Einsetzen wieder Abbruch eines Boykotts bezeich-net werden kann, je nachdem? Und –

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daß wir die Hauptsache nicht verges-sen – diese noch trostlosere »Gleich-schaltung«, die nicht einmal die Aus-sicht bietet, daß uns das Prominen-te abhanden kommt? Wohl hat Go-ebbels, der gründliche Kenner jour-nalistischer Mundart, in einem Er-laß verboten, über Regierungsfeste inAusdrücken zu berichten, »die in ei-ner vergangenen Zeit angebracht wa-ren«, also etwa von den »Spitzen derGesellschaft« zu sprechen, durch wel-che die soeben Emporgelangten pi-kiert sein könnten. [HauptsächlichGoring, der sie eben darum immerwieder gebraucht.] Aber die Gleich-schaltung, die sich auf die Reporter-sprache erstreckt, wird für so etwas,das doch einst deliciae generis huma-ni war, kaum Ersatz gewähren. Ge-wiß, sie bedeutet für alle Belange des

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Daseins einen imponierenden Eingriffin die Natur, die das Ungleiche sichgern gesellen läßt, eine schöpferischeVollmacht wie nur jene, die dem Welt-krieg das »Menschenmaterial« zuge-wiesen hat. Doch ihr Verfahren, dasmit diesem noch weit kürzern Pro-zeß macht, greift schon auf die Syntaxüber und auf jegliche Stilistik der Ge-danken, aus deren Inhalt sich solchesGewaltwesen zusammensetzt. Vor al-lem natürlich auf die Nomenklatur,die dem Drang, Zeit zu sparen undRaum zu gewinnen, angepaßt wird.Jener Umsturz der Sprache, jene Be-reicherung durch Abkürzung, die unsdiese Lautphantome wie Hapag undWipag, Afeb und Gesiba, Kadewe undGekawe und all die Zauberformeln be-schert hat, diktiert von dem Gesetz,nach dem nun Osaf und Gausaf an-

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getreten sind; man weiß schon nicht,was ominöser ist: wenn die Gestapo,die Fepo oder die Uschla eingreift,wenn die NSBO aufbegehrt oder derDHV sich unterwirft; und das MeneThekel Upharsin, welches jenes letz-te Ende verkündet, könnte nur einFilm der Metufa sein. Seitdem es aberSA und SS gibt, bleibt uns nichtsübrig als ein SOS bis nach USA.Das sind Formen der Ausschaltungeiner Sprache, die, solange sie sichnicht vollends auf Zeichendeutung re-duziert, hinreichend Spielraum fürGleichschaltung gewährt. Es ist zu-weilen aber so, als ob deutscher Wil-le noch den Anspruch erhöbe, fürden deutschen Sinn annexionistischden Sprachraum zu erweitern, gera-dezu die Grenzen des Sprachdenkenszu verrücken. Man kann sich vor-

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stellen, daß dieser WortimperialismusFormen widerstrebt, die ihm etwasvon der Fügsamkeit und Umgäng-lichkeit der ihm verhaßten »âme la-tine« zu enthalten scheinen, welcheja seit dem Krieg durch unerbittli-che »Eindeutschung« bestraft wurde.Der Monsieur als Titel ist eo ipso aufden Herrn herabgesetzt; aber in rau-herer Zeit wurden Gelegenheiten, dieauch den Kundgebungen einer âmelatrine vorbehalten sind, für »Män-ner« und »Frauen« bestimmt. [Daß ichhier wie auch sonst die Vorstellungvon Nietzsches »Männlein und Weib-lein«, die nicht minder deutsch ist,ablehne, ist meine persönliche Idio-synkrasie – wie etwa gegen Hojotohound Wagalaweia.] Doch wo sie sich öf-fentlich versammeln, hat man immernoch, gemäß den »Mesdames et Mes-

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sieurs«, die Ansprache an »Meine Da-men und Herren« gepflogen. Diesem»mein« liegt das gelinde Gefühl einerBeziehung zugrunde, keineswegs dieAbsicht der Besitzergreifung. Sie hatsich erst im Deutschen Reichstag voll-zogen, als wir – schlagartig – die nichtdurchdenkbare Formel empfingen:

Meine Männer und Frauen!

Da insbesondere meine Frauen, we-nigstens im Abendland, sich alsVielheit schwerlich der normalerenBesitz-Vorstellung anpassen, so kannnur die einer Gefolgschaft von Man-nen und Männinnen Platz greifen,wie sie dem Begriff des Führertumsja tatsächlich entspricht. Nennen wires Expansionsdrang oder Wortgewalt– sprachliches Neuland wäre erobert.

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Benn könnte aber der Meinung sein,daß man in Zeiten, wo man mit demFeind wieder deutsch spricht, ebendies nicht müsse, indem man auchmit der Sprache nicht viel Federle-sens machen soll, und er schließt sichvielleicht dem bedeutenden Grund-satz an, den ein linker Geist neulichaufgestellt hat:

Der Glaube an die unwandelbare Heilig-keit des Wortes, an die Unantastbarkeitder Sprache

[wird nicht verkündet, sondern]

scheint mir ein Vorurtei l, das – umden Dichter als Lebensgestalter auszu-schalten – von der jeweilig herrschendenOrdnung begünstigt wird.

Ich denke zwar nicht, daß irgendei-ne der herrschenden Ordnungen mit

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meinem Begriff von Sprache etwasanzufangen wüßte, und denke im Ge-genteil, daß eine Lebensgestaltung,die allen zuwiderläuft, sich dem Glau-ben an die Unantastbarkeit der Spra-che verdankte; aber ich gestehe zu,daß die Journalisten ihn für ein nochgrößeres Vorurteil halten müssen, alsdie Eigentumsverbrecher das Gesetz.Das Unglück ist nur, daß dort nichtwie hier dem Vorurteil ein Urteil folgt,weil die jeweils herrschende Ordnungbei weitem kein so großes Interesseam geistigen Gut hat wie am materi-ellen. Wie wäre man als Gutsbesitzeranerkannt und geschützt, wenn derStaat es beherzigte:

Geist ist nichts Metaphysisches. Geistentspringt der Realität.

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Ein Gedanke, der doch sein Geld wertist. Ich vermute, daß Benn, wenn ichihn auf eine Fehlkonstruktion auf-merksam machte, gleichfalls dem Vor-urteil abwinken und bloß die Lebens-gestaltung, wie er sie intendiert, beto-nen würde. Ich könnte ihm aber sogaraus syntaktisch unbedenklichen Sät-zen die Widerlegung seines Denkensdurch seine Sprache angedeihen las-sen. Es ist unecht bis zu den Schre-cken der Apokalypse.Darum läßt er sich auch den Kitschlandsmännischen Gemütstons nichtentgehen, indem er den an der Küs-te gelagerten Flüchtlingen die folgen-de Perspektive eröffnet:

Da werfen Sie nun also einen Blickauf das nach Afrika sich hinziehendeMeer, viel leicht tummelt sich gera-

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de ein Schlachtschiff darauf mit Neger-truppen aus jenen SechshunderttausendKolonialsoldaten der gegen Deutsch-land einzusetzenden berüchtigten Forcesd’outremer, vielleicht auch auf den Are detriomphe oder den Hradschin, und schwö-ren diesem Land, das politisch nichts willals seine Zukunft sichern .. Rache.

Er meint natürlich – und hat’smit dem »vielleicht« nur falsch an-geschlossen –, daß wieder andereFlüchtlinge auf den Are de triompheblicken und andere wieder auf denHradschin, was man ja bloß bei Sha-kespeare bequem vom Meer aus tunkann. Wie dem immer sei, so läßtsich, vielleicht, selbst für den krie-gerischen Umgang mit jenen Neger-truppen mehr Sicherheit garantieren,als Benn sie hinterdrein den Flücht-

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lingen bietet, welche Bedenken we-gen Dachau hatten. Was aber die ak-tive Behandlung von Negern anlangt,so mag man mit einer gewissen Zu-versicht in die Berliner Kolonialschaublicken, die soeben unter der Deviseeröffnet wurde:

»Deutsches Land in fremder Hand!« Stetsdaran denken – stets dafür wirken, waswir verloren haben.

Erinnerungen sind da aufgestellt aneine heldenhafte Schutztruppe und»ihre braven schwarzen Askaris«, diejetzt in fremder Hand verwildern. Esgilt:

unsere Jugend im kolonialen Gedan-ken zu erziehen. Zum würdigen Nach-wuchs, unserer alten Pionier- und Far-mergarde, deren Arbeit und Schaffen

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[mit Hintansetzung des Gedenkensan das berühmte Schlagwort »Putka-merun«]

fleckenrein und vorbi ldl ich in derKolonialgeschichte der Völker dasteht.

Denn die Selbstgerechtigkeit funktio-niert trotz einer Justizreform; und dieKolonialschau ist

ein Denkmal, das den Besuchern zuruft:Wir vergessen euch nie – wir müsseneuch wiederhaben!

Woraus freilich nicht klar hervorgeht,ob nur die Deutschen die Koloni-en oder die Kolonien auch die Deut-schen wiederhaben wollen. Um dem-nach auf die Sprache zurückzukom-men, glaube ich, daß sie, wenn schonnicht in den französischen Koloni-en, so doch im Stammland und des-

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gleichen auch unter dem Hradschinbesser kultiviert wird als von deut-schen Zeitungen und ihren Lesern,gleichviel welchem politischen Idealsie anhängen; die Sprache dieser Na-tionen, aber zuweilen selbst die deut-sche. Daß das Land, wo diese behan-delt wird als wäre sie in Schutzhaft,nichts will als seine Zukunft sichern– was den Flüchtlingen ihrerseits un-möglich schien –, es klingt freilich be-scheidener, als daß eine der großar-tigsten Realisationen des Weltgeistsüberhaupt geplant sei. Doch Bennist sogleich wieder in prähistorischerFerne, denn die Argumente der Geg-ner klingen ihm »wie aus einem ande-ren Erdzeitalter«, womit sie ihm abereigentlich näher gerückt wären. Wasnun die soziale Gegenwart anlangt,

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zu der er zurückfindet, so hat er sichsagen lassen, und kann

es darum bestätigen: daß es dem deut-schen Arbeiter heute besser geht als zu-vor.

Benn kann es nicht oft genug wieder-holen und wiewohl er nicht ausdrück-lich von der Ernährung spricht, versi-chert er, die Arbeiter hätten jetzt

ein sich bewegendes Lebensgefühl.

Das ist zwar ein Feuilletonbegriff,durch den das Fett nicht billiger wird,aber er bittet die Gegner, fest über-zeugt zu sein, daß die Eroberungweiterschreitet, denn die deutscheVolksgemeinschaft sei etwas, was ichzu allerletzt vermutet hätte, nämlich

kein leerer Wahn.

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Ja, er versteigt sich zu der Beteue-rung, dieses Jahr 1933 habe

einen Teil der Menschenrechte neu pro-klamiert

was insofern glaubhaft ist, als ja die-ser Teil die Vernichtung des andernTeils erlaubte. Er führt noch die Geg-ner in dem Punkte ab, wo sie ansein »radikales Sprachgefühl« appel-liert haben, was ich noch wirksamermit dem Hinweis auf den Satz besor-gen könnte, mit dem er es tut. Dannwendet er ein von Herrschaften abge-legtes Pathos, das aber heute selbstder alte Attinghausen verschmähenwürde, an sein Volk, das sich hier sei-nen Weg bahne:

Wer wäre ich, mich auszuschließen, weißich denn etwas Besseres – nein!

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Ich kann das nicht nachempfinden, sovertraut ich mit der Sprache seinesVolkes bin. Er jedoch »dankt« sie sei-nem Volk, aus dem die Ahnen stam-men, zu dem die Kinder zurückkeh-ren; er wolle es nach Maßgabe seinerKräfte leiten und wenn’s ihm nicht ge-länge, es bliebe sein Volk:

Volk ist viel!

Denn es gebe Augenblicke, wo diesganze gequälte Leben versinkt, undnichts ist da als:

Volk.

Ganz schön, nur der Ergänzung ent-behrend, daß es auch noch andereVölker gibt und daß wenn sie sich al-le für auserwählt halten wollten, dieApokalypse ein Kinderspiel wäre ge-gen das dicke Ende, das als das letz-

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te nachkommt. Aber was macht sichBenn schon aus Europa! Einen Hohn:

Dies Europa! Das hat wohl Werte – wo esnicht bestechen und schießen kann, dasteht es wohl recht kläglich da!

Darum eben muß jeder Deutscheschießen lernen. Benn vergleicht nochHitler mit Napoleon und zieht je-nen vor, da man ihn von seiner Be-wegung nicht unterscheiden könne,während dieser bloß ein individuel-les Genie war. Er läßt sich in eineCharakterologie der großen Männerein, welche »die abnorme Leichtigkeitin allem, namentlich auch den orga-nischen Funktionen« gemeinsam ha-ben. Dann beruft er sich darauf, daßdie »Grundlagen seiner Darstellung«dieselben seien wie bei Fichte, Burck-hardt und Nietzsche, nicht ohne auch

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an Hegel anzuknüpfen, vor allem aberan die eigene »fanatische Reinheit« zuerinnern, an die auch die Flüchtlingeappelliert haben. Wie lange er mit ihr,wie insbesondere mit der intellektu-ellen Zurüstung, als Kämpfer für dieSache durchhalten wird, weckt Span-nung. Doch nicht ohne Interesse läßtsich auch das Blatt, in dem er auf denPlan tritt, wenden, und da gesellt sichder irrationalen Zuversicht und demEinblick ins Quartär die redaktionel-le Mahnung:

Man sol l in der Politik auch die Dingedes tägl ichen Lebens, die das Volk un-mittelbar berühren, nicht unterschät-zen.

Gewiß soll man nicht, aber wir habendoch gehört, daß sich das Lebensge-fühl des deutschen Arbeiters bewegt

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und daß es ihm heute besser geht alszuvor? Haben wir, jedennoch:

Während der letzten Wochen ist im Zu-sammenhang mit der Margarineverord-nung eine starke Preissteigerung für alleFette zu verzeichnen gewesen. Der But-terpreis stieg von einem Tiefstand von 84Mark auf 120 Mark für den Zentner.

Beispiele der »Auswirkung« für denKonsumenten folgen.

An einzelnen Plätzen, namentlich in Süd-deutschland, sind die Preise noch stär-ker gestiegen; in München haben etwa200 Händler den Weg nach Dachau indas Konzentrationslager antreten müs-sen, und zwar, weil man ihnen Preiswu-cher zum Vorwurf machte.

Dieses »und zwar« steht lapidar dawie jenes in Kants »Zum ewigen Frie-

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den«; aber die Methode erinnert mehran den Herrscher bei Shakespeare,dem der Zorn hochschwillt und seinNarr die Abhilfe empfiehlt:

Ruf ihm zu, Gevatter, wie die alberne Kö-chin den Aalen, als sie sie lebendig in diePastete tat; sie schlug ihnen mit einemStecken auf die Köpfe und rief: Hinunter,ihr Gesindel, hinunter! Ihr Bruder war’s,der aus lauter Güte für sein Pferd ihmdas Heu mit Butter bestrich.

Die könnte er aber jetzt nicht er-schwingen, auch wenn schon sämtli-che Händler in Dachau mit dem Ste-cken behandelt wären. Denn der Ab-bau der Butter- und Milchpreise wirdsich kaum mit dem Erfolg erzielenlassen, mit dem bisher der Abbauder Konsumenten angebahnt wurde,ja sogar eine gewisse Verminderung

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der Arbeitslosigkeit, von der es offizi-ell heißt:

Die Lösung des Arbeitslosenproblems,auf die heute alle Kräfte konzentriertwerden müssen, ist für das Gelingender deutschen Revolution letzten En-des ausschlaggebend.

Auch sollen bereits nordische Fischer[die die salzgebeizten Arbeitshändeineinanderlegten, um ihrem Gott zudanken, der dem Reich in seiner Noteinen Herzog sandte] über einen Ta-gesverdienst von 20 Pfennig klagen.Die ,Deutsche Allgemeine Zeitung‘aber führt noch sonst ungemäße Er-scheinungen der Volkswirtschaft an,die sie – schon am 25. Mai – zu derEinsicht bestimmen, es sei notwendig,

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daß die Maßregeln, die getroffen werden,nach der fachlichen und psychologischenSeite hin durchschlagen.

Und nicht bloß nach derjenigen, diedie starke Seite der Bewegung ist.Benns Grundlagen sind wieder mehrphilosophischer und geologischer Na-tur. Mir aber würde seine Darstel-lung, die ja wie kein zweites Doku-ment Aufschluß gibt, vollauf genügthaben, wenn das Erlebnis nicht diewechselvolle Fülle von Formen undFratzen in sich begriffe, deren Andeu-tung den notwendigen Versuch zumUnmöglichen vorstellt.

Am liebsten bezöge ich sie von einerVision, die, dank jenem schon eröff-net, zwar nicht die Geburt des Men-schen betrifft, jedoch den Untergang

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der Sprache, als des wahren Seins,welches Macht hat, diejenige zu ent-larven, die das Volk heute sprichtund die man einst dem Volk verdan-ken wird. Von welcher Welt Geistsie statt vom Weltgeist herstammt,es ließe sich leichter feststellen, alsdurchs Rassenamt: »ob noch jüdischesBlut vorhanden ist«. Bis in alle Ba-stardierung durch den Kommerz undbis in den Betrug der alten Meta-pher durch eine neue Wirklichkeit.Und welche Enthüllung für den, derder Sprache nahekam, wäre überra-schender, welcher Anblick schlagarti-ger als der der Worthülse, die sichwieder mit dem Blute füllt, das einstihr Inhalt war? Beglückend, wenndies Blut nur metaphorisch wäre: dasBlut des Gedankens, der die Echtbür-tigkeit des Wortes beglaubigt. Gorgo-

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nisch, da es der Aufbruch physischenBlutes ist, das aus der Sprachkrus-te zu fließen beginnt. [Es ist – imneuen Glauben, doch ohne daß er’snoch ahnt – das Wunder der Trans-substantiation.] Wie doch die Erneue-rung deutschen Lebens der alten Re-densart zu ihrem unseligen Ursprunghalf – bis sie ihrer Verwendbarkeit imübertragenen Wirkungskreis verlus-tig wurde! Denn dem wahren philo-sophischen Sinn des Ereignisses: daßsich hier zum erstenmal, seit es Poli-tik gibt, der Floskel das Wesen ent-band, und daß nun etwas wie bluti-ger Tau an der Redeblume haftet –solchem Sinn gehorcht auch die Meta-pher, die man in ihre Wirklichkeit zu-rückgenommen sieht. Wenn diese Po-litiker der Gewalt noch davon spre-chen, daß dem Gegner »das Messer

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an die Kehle zu setzen«, »der Mundzu stopfen« sei, oder »die Faust zuzeigen«; wenn sie überall »mit harterFaust durchgreifen« wollen oder mit»Aktionen auf eigene Faust« drohen:so bleibt nur erstaunlich, daß sie nochRedensarten gebrauchen, die sie nichtmehr machen. Die Regierung, die »mitaller Brutalität jeden niederschlagenwill, der sich ihr entgegenstellt« – tutes. »Ausstoßen aus der Deutschen Ar-beitsfront« läßt das Brachium erken-nen, mit dem deren Machthaber an ei-ner Kehlkopfverletzung beteiligt war;und vollends erfolgt die Absage an dasBildliche in dem Versprechen einesStaatspräsidenten:

Wir sagen nicht: Auge um Auge, Zahn umZahn, nein, wer uns ein Auge ausschlägt,dem werden wir den Kopf abschlagen,

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und wer uns einen Zahn ausschlägt, demwerden wir den Kiefer einschlagen.

Es geschieht aber auch ohne die Vor-bedingung. Und diese Revindikationdes Phraseninhalts geht durch alleWendungen, in denen ein ursprüng-lich blutiger oder handgreiflicher In-halt sich längst zum Sinn einer geis-tigen Offensive abgeklärt hat. Kei-ne noch so raffinierte Spielart könn-te sich dem Prozeß entziehen – selbstnicht das entsetzliche: »Salz in offe-ne Wunden streuen«. Einmal muß esgeschehen sein, aber man hatte esvergessen bis zum Verzicht auf je-de Vorstellung eines Tätlichen, biszur völligen Unmöglichkeit des Be-wußtwerdens. Man wandte es an, umdie grausame Erinnerung an einenVerlust, die Berührung eines Seelen-

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leids zu bezeichnen: das gibt’s immer;die Handlung, von der’s bezogen war,blieb ungedacht. Hier ist sie:

Als sich der alte Genosse beim Kartoffel-schälen einen tiefen Schnitt in die Handzufügte, zwang ihn eine hohnlachendeGesellschaft von Nazi, die stark bluten-de Hand in einen Sack mit Salz hinein-zuhalten. Das Jammergeschrei des altenMannes machte ihnen großen Spaß.

Es bleibt unvorstellbar; doch da esgeschah, ist das Wort nicht mehrbrauchbar. Oder: »mit einem blau-en Auge davonkommen«. Nicht allenist es jetzt im uneigentlichen Sin-ne gelungen; manchen im eigentli-chen. Es war eine Metapher gewe-sen. Es ist nur noch dann eine, wenndas andere Auge verloren ging; oderauch dann nicht mehr. Und etwas,

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was wie die Faust darauf paßt, undwas dem Maß der Menschenwelt ab-handen kam, ist wieder Erscheinung,denn die Faust hat so oft aufs Au-ge gepaßt, daß es nichts Ungemä-ßes mehr bedeutet. Die Floskel be-lebt sich und stirbt ab. In allen Gebie-ten sozialer und kultureller Erneue-rung gewahren wir diesen Aufbruchder Phrase zur Tat. Sie hat im Wi-derstreit mit dem technischen Fort-schritt einen Weltkrieg durchgehal-ten, zu dem man das Schwert zog, ummit Gas bis aufs Messer zu kämpfen.Die Verluste dieser Revolution wirdsie nicht überstehen.

Darum gibt es nur eines: Kampf bisaufs Messer. Wir können noch weitereNadelst iche vertragen.

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Jener sollte den deutschnationalenVerbündeten gelten und ist als solcherlängst keine Metapher mehr. Diesesind noch eine, denn die Prozedur, diewohl auch vorkommen könnte, bleibtdem Peiniger erspart. Die Spießrutenjedoch wie insbesondere den Pranger,der seit dem Mittelalter vollends zumBlatt Papier zusammengeschrumpftwar, haben sie allerorten in ihre Rea-lität eingesetzt. Sie schreiten überLeichen. Alles ist da, nur was wieein Bissen Brot fehlt, ist ein BissenBrot. Sonst kann man sie getrost beimWort nehmen; sie halten es. Die Les-art freilich, daß »keinem Juden einHaar gekrümmt wurde«, konnte sichbehaupten, weil es nachweislich dieeinzige Form von Behandlung ist, dienicht geübt ward, während bei man-chem die Kopfhaut mitging und man-

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cher geschoren wurde, zwecks Ein-brennung des Zeichens, in dem dieIdee gesiegt hat. Auch jene staats-männliche Phantasie, die in dem rei-chen Vorrat von Greueln, die sie er-sonnen hat, ausgerechnet die Mög-lichkeit negierte, es sei einem

ein Fingernagel abgehackt oder ein Ohr-läppchen abgezwickt worden

dürfte kaum mit der Wirklichkeitin Widerspruch geraten. Ja für denNachweis der Fälle, wo es geschah,konnte getrost »ein Preis ausgesetzt«werden. Er dürfte so wenig zu ge-winnen sein, wie der der Olympiadefür ein Gedicht auf Freiheit, Liebe,Schönheit und Gott.

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Gleichwohl, der Boden ist vorberei-tet, die Scholle gelockert, der Asphaltentfernt. Und nicht zu verkennen,daß die Richtlinien einer Säuberung,die entschieden angestrebt wird, voneiner fachwissenschaftlichen Kompe-tenz bestimmt sind, in der sich dasMißvergnügen verrät, das der Bartelsan der Epoche hat und das auf Gegen-seitigkeit beruht. Das Ereignishaftein allen Wirtschaftsphären der Bewe-gung: daß die Faust aus dem Sackhervorgeholt wird und mit oder ohneSchlag nach der freigewordenen Gele-genheit greift, tritt als tragische Dro-lerie in ihren kunstpolitischen Maß-nahmen hervor. In den Laubenkolo-nien, Schrebergärten und Siedlungenspielt sich täglich das Schicksal vonPhilemon und Baucis ab, und die Ent-

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eignung des Gütchens im Zeichen derdrei Gewaltigen vollzieht sich im lega-len Wege des Rechtsbruchs oder kur-zer Hand. Doch auch sonst gestattetdie Regel der Anordnung die Ausnah-me, daß das Metaphorische mit demEigentlichen übereingeht, indem derDilettant sich die Lorbeern, die ihnnicht schlafen ließen, mit Hilfe einerSA-Kolonne holt. Auch in der Litera-tur waren Fälle von Schmutzkonkur-renz mit blutigem Ausgang zu ver-zeichnen. Was da mit zwei tüchtigenEllbogen, manchmal physisch, demÜbelstand, daß der Jude schnelle-rundmehr Jeld verdient entgegenzu-wirken trachtet, nennt sich nicht oh-ne Berechtigung »Kampfbund«, undganz walpurgisgerecht vollzieht sichdiese Neuordnung:

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Als, angesichts der höchstenAhnen,

Der Nacht, des Chaos ichmich stark betrug.

Und, in Gesellschaft von Tita-nen,

Mit Pelion und Ossa als mitBallen schlug:

Wir tollten fort in jugendli-cher Hitze.

Bis überdrüssig, noch zuletztWir dem Parnaß, als eine

Doppelmütze.Die beiden Berge frevelnd

aufgesetzt.

Blutige Dilettanten: auch sie habendie Phrase effektuiert. Die »Schwar-ze Liste« verfolgt den Zweck, den Bü-chermarkt endlich für jene frei zu ma-chen, die aus dem Umstand, daß sieihn bisher nicht gewinnen konnten,

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ihre Berechtigung und Berufung her-leiten, was freilich ein noch verhäng-nisvollerer Trugschluß ist als der deranderen, die sie aus der Zulassungzu schließen gewohnt waren. Der Vor-satz, dieser Illusion zu begegnen undjener zu genügen, erschuf eben dieSchwarze Liste, den Index der vonder Schwelle des Dritten Reichs ge-wiesenen Literatur, welchen man sichaber nicht etwa als einen Leviathanvorstellen darf, der sämtliche Judenverschlungen hat. Es handelt sichvielmehr um eine Zusammenstellungvon Glückspilzen, unter denen wie-der diejenigen mit einem Stern be-zeichnet sind, die verbrannt wurdenund darum als Sehenswürdigkeitenerhalten bleiben. Doch auch verirrteArier haben in der Liste, in der ichbloß 191 Autoren und zwei Anthologi-

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en zähle, Unterschlupf gefunden, undvon manchen sind wieder bestimm-te Werke ausgenommen, die mithinder Vergessenheit anheimfallen sol-len. Selbstverständlich beunruhigt esmich, warum von Bonsels, der sichmit dem Anschluß übereilt hat, »al-les außer« der Biene [nebst zwei ande-ren Schöpfungen] verschont wird, undwarum von Werfel ausgerechnet dieBarbara zugelassen ist, was wiederdie Undset mißverstanden zu habenscheint, die ihr Wohlgefallen an derAktion ausgesprochen hat. Daß vonLernet-Holenia die »Gedichte« erhal-ten bleiben, sei nicht ohne Schaden-freude vermerkt. Ehrliche Befriedi-gung gewährt dagegen der Umstand,daß Ewers [HH!] trotz seinem HorstWessel die Alraune nicht hinüber-bringen konnte, nachdem schon die

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französische Presse triumphiert hat-te:Un auteur pornographique dictateur lit-téraire du troisième Reich!

Er bleibt mit seinem Besten und ins-besondere mit dem, was ihn mit Ma-gnus Hirschfeld verknüpft, auf denösterreichischen Büchermarkt ange-wiesen. Ich könnte, die Gelegenheitergreifend, wo Denunzieren Nutzenbringt, ihm noch durch die Enthül-lung schaden, daß er einst das Ju-dentum und insbesondere HeinrichHeine verherrlicht hat, dem soebeneine Straßentafel in Chemnitz aber-kannt wurde mit der ausdrücklichenBegründung:.. Es dürfte angebracht sein, die Öffent-lichkeit darauf hinzuweisen, daß Hein-rich [Harry] Heine [1798–1856], nach

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dem diese Straße bisher benannt war,ein deutschfeindlich eingestellter jüdi-scher Dichter gewesen ist. Heine warder Begriff »Ehrfurcht vor allem Hohenund Heiligen« .. stets unbekannt .. Auchdas Deutschtum an sich zog er in denSchmutz!

während Ewers behauptet, daß dasHerz dieses Dichters nichts andereswar als

Eine singende Laute! – Warein Gralsjuwel,

Das auch heute noch und inferne Zeiten

Leuchtend singt von der Weltund all ihren Herrlichkei-ten.

Und nicht genug an dem, ich könnteauch noch verraten, daß er aus dem

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Jiddischen einen förmlichen Fluch ge-gen Judenverfolgungen nachgedichtethat:

Wohin nur des Juden Schrittesich lenken,

Stets wird er, o Rußland, derBlutschuld gedenken,

Wir beten, daß Gott dir nichtsmöge schenken!

Drum weh jedem Volk, das dirtritt zur Seite,

Und Schmach jedem Manne,der für dich streite!

Wie man aber sieht, zeige ich’s bloßwegen des schlechten Konjunktivs an,der da für eine gute Sache verwen-det wird. Und außerdem bezieht sich’sdoch auf Rußland:

Ein Fluch aus Schmerzen undStöhnen und Klagen –

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Der Fluch soll dich treffen –und er wird dich erschla-gen!

Doch könnte freilich er sich wiederauf Platen berufen, der ja ein nochbesserer Dichter und Deutscher warund nicht bloß nachgedichtet, sonderngedichtet hat, was zwar nicht den Ju-den gilt, aber sich gleichfalls auf Ruß-land bezieht:

Mag zu Staub uns auch zer-schmettern

Jener Sklaven Legion,Unter morscher Särge Bret-

ternKeimt die neue Blume schon!Wenn das letzte Schwert zer-

brochen,Laßt zu Grab uns freudig

gehn,

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Aber einst aus unsernKnochen

Wird ein Rächer aufer-stehn!

Wie gut hier das »exoriare ex ossi-bus ultor« zum deutschen Reim wur-de! Doch mehr als das:

O, kommt im Verein,Ihr Männer, o kommt!Vernehmt, was alleinDen Geächteten frommt!

Zieht aus von dem LandDer Geburt, zieht ausUnd schleudert den BrandIn das eigene Haus!

Also ganz die Gesinnung, die Benn sotadelnswert findet. Und so sprechendie Flüchtlinge:

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Aus den Hütten, die derSchnee bestiebte,

Sammelt euch um diesesFeu’r, Geliebte,

Laßt in freien Worten Trostuns suchen,

Unsern Würger im Gesangverfluchen.

— — — — — — — — — — —— — — — —

Kranz des Ruhms, von Väterneinst erworben,

Bist du wirklich völlig abge-storben?

Baum der Freiheit, den wireinst begossen,

Wirst du nie mehr aus der Er-de sprossen?

Waren nicht auch wir einVolk, wie eines,

Sind wir würdig schon desLeichensteines?

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Darf der Unhold uns zu Grabesenden,

Unsre Habe wie ein Dieb ent-wenden?

— — — — — — — — — — —— — — — —

Schuldbewußt verdammt derÜberwinder

Selbst die junge Wißbe-gier der Kinder;

Daß sie nicht im Ehedem sichspiegeln,

Läßt er selbst der BücherSchatz versiegeln.

— — — — — — — — — — —— — — — —

Doch zum Himmel steigenunsre Klagen,

Fern hinab durch alle Zeit sietragen

Werden Dichter einst, durchalle Lande:

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Ewig währt, o Wütrich, deineSchande.

Trüge nicht des MenschenSeele Waffen,

Hätte Gott die Welt umsonstgeschaffen,

Und der Erdball, über den wirschleichen,

War’ ein Spiel für dich unddeines Gleichen!

Doch es wird’s der Sohn, derEnkel büßen,

Was wir ächzen unter deinenFüßen:

Kommen wird ein Leu mitgoldner Mähne,

Der zerbricht dem Krokodildie Zähne!

Und dies:

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Wie Mancher wähnt denFeind zersplittert.

Indes die Nemesis umwittertDes Siegers Zelt.Triumphe sind wie Niederla-

gen:Wenn ihre Frucht besteht in

Klagen,Im grenzenlosen Haß der

Welt .

Und dies:

Bricht dir nicht entzwei dieSchulter,

Nicht entzwei die mürbeSchulter?

Ganz Europa’s Haß belastetDeine Schulter, Autokrator!

Und das:

Den Gott zu spielen,

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War Der im Stand,Der, vor so VielenGeehrt und prächtig,So viel vermochte;Doch unterjochteEr jedes Recht:Er war allmächtigUnd war so schlecht!Er baute TempelDem Teufel selbst:Nun soll den StempelEr auch empfangen,Der große Quäler:Es sei’n die MälerIhm aufgebrannt;Er hat’s begangen,Er ist erkannt.— — — — — — — — — —Von Schmach und GräuelEntwirrt sich ihmEin langer Knäuel.Doch kein Verbrecher

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Ist ihm vergleichbar,Dem unerweichbarDer Busen schwoll.Geuß ihm den Becher,Megära, voll!

Daß es deutsche Sprache ist, die sol-che Empfindungen tragen kann, wirdselbst Benn nicht leugnen, wiewohlhier die Sache Polens gegen Rußlandgeführt wird. Aber an Kraft verwandtist ihr der Text, den ein französischesBlatt als die Widmung wiedergab, mitder ein amerikanischer Offizier Lili-en auf ein von Fremden vielbesuchtesGrab in London gelegt hatte:

Si le soldat inconnu anglais pouvait pa-rier au poilu américain, il lui dirait qu’ilpréfère cette simple fleur à la couronned’un dictateur assassin qui souille ce mé-morial.

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Der deutsche Dichter jedoch fühlte zuZeiten, daß Schweigen die noch stär-kere Antwort ist, wenn es den Eige-nen galt:

Zusammen pack’ ich meineHabe,

Und was im Busen mir ge-dieh;

Denn länger nicht mehrfrommt die Gabe,

Die mir ein milder Gott ver-lieh.

— — — — — — — — — — ——

Im Dunkel muß der Geist sichbergen

Damit’s die Blöden nicht ver-stehn,

Dann mag er mitten durch dieSchergen

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Wie ein erhabnes Wesengehn.

Der mörderische Censor lüm-melt

Mit meinem Buch auf seinenKnien,

Und meine Lieder sind ver-stümmelt,

Zerrissen meine Harmonien.

So muß ich denn gezwungenschweigen.

Und so verläßt mich jenerWahn:

Mich fürder einem Volkzu zeigen,

Das wandelt eine solcheBahn.

Doch gib, o Dichter, dich zu-frieden,

Es büßt die Welt nur wenigein,

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Du weißt es längst, man kannhienieden

Nichts Schlechtres, als einDeutscher, sein.

Sein Vaterland hat ihm trotz der Ras-se jenen Heine vorgezogen, der ihnmit der Schmach belud, daß er ihmeine heute normhafte Arteigenheitnachsagte, aus der sich vielleicht dasschwüle Ineinander von Mystik undManneszucht erklärt. Platen beschei-det sich in einem seiner edlen Sonet-te, daß »man Bessere bekröne« [unterdie er freilich jenen nicht gezählt hat],ihn aber ziehen lassen möge:

Ja, daß man mir mein Vater-land verpöne!

Und er fragt:

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Was habt ihr denn an euremRhein und Ister,

Um neben dem Hellenenvolkzu thronen?

Journale, Zeitungsblätter, Re-censionen,

Tabak und Bier und Polizei-minister?

Die nie ihr kanntet jene zweiGeschwister,

Freiheit und Kunst, die dortin schönern Zonen

Aufs Haupt sich setzten derVollendung Kronen,

Ihr haltet euch für Griechen,ihr Philister?

Kulturstand derer, die »gestümpertnach vielen Seiten haben«:

In einem Ozean von Albern-heiten

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Erscheinen ein’ge genialeSchwimmer.

Er weiß wie Goethe um die Entfer-nung, die die deutsche Sprache vonder Sprache der Deutschen trennt,das Volk der Dichter von eben diesen.Er kann es mit der Sprache sagen, alsderen Patriot, der nicht Kompatriotist:

Wo mir zerrissen sind die letz-ten Bande,

Wo Haß und Undank edle Lie-be lohnen,

Wie bin ich satt von meinemVaterlande!

Er kennt die Gegend, wie Hölderlinmit seinem Fluch: »Barbaren von al-tersher, durch Fleiß und Wissenschaftund selbst durch Religion barbari-scher geworden«:

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Dies Land der Mühe, diesesLand des herben

Entsagens werd’ ich ohneSeufzer missen,

Wo man bedrängt von tau-send Hindernissen

Sich müde quält und dennochmuß verderben.

— — — — — — — — — — —— — — — —

Doch wer aus voller Seelehaßt das Schlechte,

Auch aus der Heimat wird esihn verjagen,

Wenn dort verehrt es wirdvom Volk der Knechte.

Weit klüger ist’s, dem Vater-land entsagen,

Als unter einem kindischenGeschlechte

Das Joch des blinden Pöbel-hasses tragen.

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Hundert Jahre später bilden deut-sche Professoren Spalier, wenn derBücher Schatz versiegelt wird, undfolgen dem Kommando zum Fest desVolks der Knechte:

UniversitätJohann Wolfgang Goethe,Frankfurt.

Frankfurt, den Mai 1933Das Studentenfreikorps lädt dieGesamtheit des Professorenkol-legiums zu der Verbrennung dermarxistischen und korruptionistischenSchriften ein, die Mittwoch abend, den10. Mai auf dem Römerberg stattfindenwird.Die Studenten würden es im Hin-bl ick auf die große symbolischeBedeutung dieser Zeremonie be-grüßen, die Gesamtheit der Profes-

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sorenschaft dort zu sehen. Ich ladedaher die Kollegen ein, zahlreichdaran tei lzunehmen.Abmarsch: von der Universität auf denRömerberg Mittwoch abend um 20 Uhr,mit Musik. Die Korporationen werden inUniformen daran teilnehmen, ebensodie SA-Batai l lone.

Der Rektor: Krieck.

Wie sagt doch Nietzsche? »Ein Zeit-alter der Barbarei beginnt, die Wis-senschaften werden ihm dienen!« Und»die Wendung zum Undeutschen« sei»immer das Kennzeichen der Tüchti-gen unseres Volkes gewesen«. SchonPlaten war dahin entschlossen; und ersprach wie Hölderlin »für alle, die indiesem Lande sind und leiden, wie ichdort gelitten«. Sein Abmarsch vollzogsich so:

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Ihr, denen Bosheit ange-frischt den Kleister,

Um Unverstand mit Unge-schmack zu kitten,

Bei denen bloß der Pöbelwohlgelitten,

Der täglich toller wird undtäglich dreister:

wenn »einst der Unfug dieser Lügen-geister jedwedes Maß phantastischüberschritten«, zu spät würden sieihn, dessen Seele sich abgewendet,zurückbitten:

»Nie wird er mehr die Alpenübersteigen,

Und sein Geschäft ist unteruns vollendet!«

Ja, meine ganze Rache sei dasSchweigen!

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Man kann aber nicht annehmen, daßer heute schweigend in der Akademieausgeharrt hätte!Von Ewers jedoch, der gleich ihm derEmpörung gegen Tyrannei Ausdrucklieh, wenngleich er anders zu Hei-ne steht, heißt es in dem Vorwort zujenem Kriegsbüchlein, das seine Be-kenntnisse enthält:Er, der alte Haudegen, der schon alsKorpsstudent eine gefürchtete Klingeschlug, ist von Natur aus der vorbi ldl i -che, begeisterungsfähige, kräft ige,hochgewachsene, blonde, blauäugi-ge, stets hil fsbereite, gütige, fastweise

[die Puste geht aus!]Germane, der sich im Augenblick, indem das Recht mit dem Unrecht, woWahrheit mit Lüge und Heuchelei

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in Kampf gerät , wie ein Hüne auf-reckt und mit Überzeugung, Leiden-schaft und Begeisterung voll Todes-verachtung zum Schwerte greift .

Wegen dieser Eignung, einer von Hit-lers langen Kerls zu sein, bedurfte esdamals – er weilte in Amerika –flehentlicher Bitten seiner Mutter undFreunde

– das Deutsch der Sprache ist nicht sovorbildlich wie das der Gesinnung –ihn von einem tollkühnen, aussichtslo-sen Versuche, die Meerfahrt anzutre-ten, um die Heimat zu erreichen, ab-zuhalten.

Denn nicht nur diese drei Infinitive,sondern auchdie Säbelhiebe aus seinen Studentenjah-ren hätten den wachsamen Briten nur

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zu leicht die wahre Nationalität desPseudoamerikaners verraten.

Und doch hätte er skrupellos dieFahrt gewagt, wenn er nicht die tat-kräftige Propaganda, in Wort undSchrift, an Ort und Stelle vorgezo-gen hätte. Gegen die Greuelpropagan-da, die sich schon damals bemerkbarmachte. Er trat ihr entgegen, indemer sang:

Im Blut müssen wir stehn,Im Blut müssen wir gehn,Bis über, bis über die Schuh!

Speziell:

Nun zittre, Brite!

Also der vor ihm und nicht umge-kehrt.

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Nun duld ich die Lügen unddulde den Trug

Nimmer und nimmermehr!

Wie eben der Deutsche zur Welt zusprechen hat; aber auch in New-Yorker Versammlungen »ist es si-cher«, nämlich daß, sooft ein Ameri-kaner, Engländer, Belgier oder Fran-zose einen deutschfeindlichen Vortraghält,

ein hochgewachsener, blonder Herr intadellos sitzendem Frack [nicht jederDeutsche weiß, daß in Amerika darinmehr als eine Äußerl ichkeit l iegt]

sich erhebt, der schon manche Redner»abgestochen« hat. Wie wenn er alsodoch im Feld wäre, aber zugleich alsdie Erscheinung, die auch im Hinter-land der Heimat in effigie vertreten

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war, indem man ja noch zu Kriegsbe-ginn unter der FrageWarum pflegen Leute mit Kultur ihrHaar mit Javol?

Bild und Bescheid eines Dichters le-sen konnte:

»Javol« bereitet mir viel Be-hagen.

Ich brauch es schon seit vie-len Tagen

Zu stärken meinen blondenSchopf

Zu erfrischen meinen Dichter-kopf

Und überhaupt, weil es sehrgut

Dem Haar, der Haut, demKopfe tut.

Jawohl, das ist der Dichter, der, mitNachsicht der Alraune, die geistige

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Pforte zum Dritten Reich bewacht. Erist aber auch Aufsichtsrat der Berli-ner Wäschefabriks-AG geworden, undnicht jeder Deutsche weiß, daß darinmehr als eine Äußerlichkeit liegt.

Daß so mancher Einlaß fand, selbstAusländer, die doch von Natur ver-dächtig sind, hat seinen guten Grund:

Nicht jeder russische Schriftsteller istKulturbolschewist. Dostojewski und Tol-stoi gehören nicht auf den Index [ohneDostojewski kein Moeller van denBrück!]

Der Mann hat also seine Meriten.Der Kommentar zur Schwarzen Lis-te jedoch, der vom Preußischen Minis-terium für Wissenschaft, Kunst undVolksbildung »anerkannt und für diestaatlichen Buchberatungsstellen auf

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dem Lande verbindlich erklärt wor-den ist«, stellt sogar ausdrücklich fest,daß »nicht jeder jüdische Schriftstel-ler ein Asphaltliterat« ist. Man wür-de nun – und jetzt erbitte ich Span-nung – unmöglich erraten, welcherSemit, auserwählt, als der einzigeaus der Sündflut gerettet zum Vor-schein kommt. Bin Gorion! Ein Na-me, den noch wenige Teilhaber derMitwelt vernommen haben. Die Ar-che Noah hat ihre Notbesatzung ver-loren, aber einer steckt den Kopf her-aus und ruft hinüber zum Ufer dererstaunten Nachwelt: »Bin gerettet!Bin Gorion!« »Wer sind Sie?« fragtman, da man den Vorgang nicht gleichversteht. Doch »Bin« ist ein Vorna-me, und der amtliche Kommentar, derda wirklich nötig ist, erklärt, daß dieKritik, die Bin Gorion, Zionist, »stets

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an den literarischen Assimilationsju-den geübt hat, das jüdisch-völkischePrinzip vertritt«. Da man auch denZunamen zum erstenmal hört undetwas nicht Seiendes, wirklich nochnicht Dagewesenes nunmehr existentwird, bin ich genötigt, stolz zu be-kennen, daß zu den literarischen As-similationsjuden, an denen Bin stetsKritik geübt hat, vor allem ich gehö-re, hoffend, daß ein Bröserl Beach-tung nun auch für mich abfallen wird.Endlich muß ich nun auf die »Pole-mik« hinweisen, die er mir widerfah-ren ließ, die Gänsefüßchen sträubensich, aber die Hühner des Morgen-landes, soweit sie von ihr Kenntniserhielten, verdanken ihr ein fröhli-ches Viertelstündchen. Die des Drit-ten Reiches, die keinen Humor haben,bleiben todernst. Es ist ein Essay, den

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ich – jetzt hilft kein Leugnen mehr– zwar nicht in meiner Bibliographieangeführt habe, weil ich eigenem wiefremdem Ehrgeiz widerstrebe; den ichauch sonst nicht gewürdigt hätte, weilich Versuche, sich auseinanderzuset-zen, grundsätzlich gewähren lasse;der aber in einer Vorlesung aus »Eige-nen Schriften« ein Kabinettstück wä-re, wenn ich mich hinreißen ließe. Ge-schähe es, so ertönte wohl der verhal-lende Ruf des abgehenden HöflingsAlvarez aus dem »Blaubart«: »Bin ver-loren!« Doch nun ist ein Arrivée er-folgt, das aus der Literaturgeschich-te nicht mehr wegzudenken sein wird,ausgerechnet bei Göring ist Gorionangekommen, und wenngleich die Ge-fahr besteht, daß man einst Benn mitBin verwechselt, so ist es doch erfreu-lich, daß für so etwas die großartigste

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Realisation des Weltgeists überhauptRaum hatte. Die Kulturgeschichtewird ihren Anteil verlangen. Denndie Vorstellung, daß die namhaftestenGlaubensgenossen verfehmt und ver-brannt, tausende, die ein nützlichesund ehrenhaftes Gewerbe betriebenhaben, mißhandelt, ruiniert oder um-gebracht sind, dieser eine aber, dessenBeziehungen zur deutschen Sprachenur den Sinn einer Repressalie habenkönnen, ausgerechnet Bin Gorion alsStandarte im Kampf gegen den un-deutschen Geist vorangetragen wird –solcher Vorstellung sich hinzugeben,grenzt schon an Greuelpropaganda!Wie dieser Fernhintreffer, dieser Ter-no, den das Dritte Reich gemacht hat,beschaffen ist; wie der Ausnahmsfallaussieht, von dem ich totschweigen-der Totgeschwiegener nicht geträumt

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hätte, ihm noch einmal und an sol-cher Weltwende zu begegnen – wie erdenkt und schreibt, das zu erfahrenmuß jetzt jeder nachholen, der bisherahnungslos war und der die Strapa-ze nicht fürchtet, sich aus einer deut-schen Schrift das Alphabet zusam-menzustellen. Bin Gorion! Es bleibtnur die Vermutung, daß die nationa-len Studenten ihn für den einzigenAutor halten, der nicht mehr aus demHebräischen übersetzt werden muß.

Da ich mir nun vor diesem Unmaßim Positiven und Negativen, man-cher Verdienste in beider Hinsicht be-wußt, schon wie das reine Nullerl vor-kam, ergriff ich gern eine sich bieten-de Gelegenheit, mich, wenn auch nurindirekt, der Instanz zu empfehlen,der nunmehr alle Prüfung deutschenSprachwerts anvertraut ist. Mit dem

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Berliner Rundfunk verbindet michnichts mehr, nämlich zwei Kontrakte:Offenbachs »Reise in den Mond« zu in-szenieren und Goethes »Pandora« vor-zutragen. Wegen einer gewissen Un-sicherheit, die sich in der deutschenRechtspflege bemerkbar machen soll,indem als Rechtsgrundsatz noch be-steht, daß das Interesse der Nationihn aufhebt, würde es schwer sein,gegen den auch in völkerrechtlichenFällen wirksamen Einwand aufzu-kommen, daß ein Vertrag ein FetzenPapier sei; doch im Allgemeinen dürf-te ja nunmehr eine Reise nach Berlinutopischer sein als die in den Mond,und selbst Pandora nicht entrückterder Sehnsucht als die Möglichkeit,sie heute in Deutschland vorzutragen.Da sich die offizielle Rechtsauffas-sung, nach Gesichtspunkten, die von

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hohen Richtern in juridischen Fach-zeitschriften festgelegt wurden, derTendenz zuneigt, Messerstechern undBombenwerfern das nationale Motivnicht nur als Grund der Strafaus-schließungoder Abolition anzurech-nen, sondern auch der Einsetzung instaatliche Würden nebst lebensläng-licher Verköstigung im Prytaneum,so könnte die Geltendmachung ei-nes kulturbolschewistischen Rechts-anspruchs auf besondere Schwierig-keiten stoßen. Ich stelle mir vor, daßman in einem Zivilprozeß mit seinenAnsprüchen auf den Strafrechtswegverwiesen und gleich vom Gerichts-diener verhauen wird. Umso überra-schender war mir darum der Ent-schluß des Kölner Rundfunks, sichmit mir einzulassen; sympathischschon durch den Umstand, daß der

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Ort die Geburtsstätte Offenbachs undder Wolter ist, zweier bühnenbeherr-schenden Genies, deren jüdische Ab-kunft – sicher im Fall des großen fran-zösischen Musikers, vielleicht auchin dem der großen deutschen Tragö-din – dortselbst bekannt sein dürf-te. Die Einladung des Kölner Rund-funks bezog sich auf seinen bemer-kenswerten Wunsch, die kurz vorhererschienenen Sonette eines Englän-ders, nachgedichtet von einem Juden,in einer Vortragsreihe »Die Welt imBuch«, welche jetzt etwas eingeengtist, besprechen zu lassen. Sie trafjust in den Tagen ein, da die Ber-liner Studentenschaft jenen Kampfgegen den undeutschen Geist bahn-brechend eröffnet hatte, der auf ei-ne klare Unterscheidung deutschenGeistesguts von solchem hebräischen

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Ursprungs abzielt. Dazu nun kammir, der zwar den Zufall für denwahren Diktator des Weltgeschehenshält, aber von einem Glauben an Zu-sammenhänge nicht abzubringen ist– dazu kam mir in den Sinn, daßdie Nachdichtung der Shakespeare-schen Sonette, die, nach vielen »Über-setzungen«, zum erstenmal in deut-scher Sprache erfolgt, eigentlich auchdas letzte Werk in dieser sei, indemsie doch in den Tagen des Reichs-tagsbrands in eine aufgewühlte Welttrat und, als die Ordnung herein-brach, in einem schon völlig nazifi-zierten Buchhändler-Börsenblatt an-gezeigt erschien, gleichsam als derletzte und wohl unzeitgemäßeste Er-trag einer Geistesarbeit, für die eskeine Verwendung mehr gab. Da al-so das Buch ohnedies dem Brand

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des Reichstags zum Opfer fiel, muß-te es nicht mehr auf den Scheiter-haufen kommen, der zugegebenerma-ßen von nationaler Seite angezündetwurde. Vielleicht hätte es jedoch garnicht der Ablenkung durch die Er-eignisse bedurft, damit die deutschenBuchhändler und die deutschen Li-teraturzeitschriften, Kunden und Le-ser, kein Interesse für ein Werk ih-rer Sprache zeigten, gleich den lite-rarischen Kreisen Österreichs, welchegeradezu erbittert waren, weil stattder Fackel Sonette erschienen, undsich durch die Aufklärung, die ich ih-nen durch einen Buchhändler erteilte:daß bei Shakespeare schon alles Ak-tuelle wie auch meine Stellungnahmevorkomme, keineswegs irreführen lie-ßen. Köln aber zeigte das Bestreben,den Sonetten eine Welt im Buch zu

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eröffnen. Das ließ ich mir, der selbstschon nach einem Lebenszeichen vonsich verlangte, nicht zweimal sagenund trug zur Diskussion wenigstensdieses Scherflein bei:

21. April 1933An den

Westdeutschen Rundfunk, G. m. b. H.Köln

Auf Ihr freundliches Ersuchen, Ihnenzwei Exemplare unseres Verlagswerkes:Karl Kraus, »Shakespeares Sonette«zur Besprechung in Ihrer Vortragsrei-he »Die Welt im Buch« zur Verfügungzu stellen, möchten wir mit unserembesten Dank zunächst antworten, daßwir Freiexemplare zu Rezensionszwe-cken grundsätzlich nicht ausliefern.Abgesehen davon jedoch würden wiruns im gegebenen Falle für verpflich-

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tet halten, Sie vor einem Mißgriff zubewahren, der Sie in Widerspruch zuden in Deutschland geltenden Richtli-nien der kulturkritischen Betrachtungbringen könnte. Wir machen Sie daraufaufmerksam, daß die Nachdichtungder Shakespeareschen Sonette vonKarl Kraus zwar in deutscher Spracheerschienen ist, aber ohne den erforderli-chen Hinweis, daß es sich eigentlich umeine Übersetzung aus dem Hebräischenhandelt, und Sie müßten wohl, wennSie eine unmittelbare Übertragung insDeutsche vorziehen sollten, mit dervon Stefan George vorlieb nehmen,falls Sie es überhaupt für angebrachthalten, den englischen Originalautor inIhrer Vortragsreihe zu berücksichtigen.

Mit vorzüglicher HochachtungDer Verlag der Fackel

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Doch das sind Sticheleien, wie derLeitartikler in großer Zeit zu bemer-ken pflegte. Damit wird man demKampf gegen den undeutschen Geistund seiner tiefern Perspektive nichtgerecht. Zu untersuchen wäre viel-mehr, wie weit dieser Kampf deut-schen Geistes ist. Mein von Schwach-köpfen mißdeutetes »Gebet an dieSonne von Gibeon«, 1916 erschienen,stellt das Absurdum einer Macht-welt aus der unheimlichen Identitätheraus, die sich zwischen der pan-germanischen Gegenwart und einerGreuelpartie des alten Testaments er-gab. Die Betrachtung »von der Sinai-Front«, 1917, verwies auf die Überein-stimmung zweier ethnischen Charak-tere, wie sie sich in der Ansicht Scho-penhauers bekunde von dem Volk,»das sich einen Gott hält, der ihm die

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Nachbarländer schenkt«. Und solltesich nicht heute die schon im Welt-krieg vollzogene Gleichschaltung je-ner Ideologien auserwählter Völkerin dem unablässig wiederholten Mo-tiv einer »Ausrottung bis in die letzteWurzel«, einer Vergeltung bis ins drit-te Glied [wenngleich rückwirkend!]als total erweisen und deutlich her-ausstellen? Wenn im deutschen Lehr-plan die Geschichte der OpferungIsaaks als undeutsch gestrichen wird,das Buch Josua dürfte aus diesem Ge-sichtspunkt unbeanstandet bleiben.Und könnte sich die nationale Er-hebung, die sich auf Schopenhauerals Wegweiser verlassen kann, nichtvollends auf den deutschen DenkerLichtenberg berufen? Natürlich nichtauf sein Angebot:

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Ich möchte was drum geben, genau zuwissen, für wen eigentlich die Taten ge-tan worden sind, von denen man öffent-lich sagt, sie wären für das Vaterland ge-tan worden.

Er stellt sich nur so, er scheint es ge-wußt zu haben, daß sie für die Ta-sche einer Minorität von Spitzbubengetan wurden, in die diese zuvor eineMajorität von Dummköpfen gesteckthatten. Auch sein Vorschlag kommtnicht in Frage, »die Regenten über ei-ner Pulvertonne schlafen zu lassen,um die Kriege zum Aufhören zu brin-gen«. Doch ein Übersetzungsversuch,den er unternommen hat, empfiehltsich der Beachtung; denn mit ihmwird er ganz und gar der Forderunggerecht, im Sprachbereich bis zum he-bräischen Ursprung vorzudringen:

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Es macht den Deutschen nicht viel Eh-re, daß anführen so viel heißt, als einenbetrügen. Sollte das nicht ein Hebra-ismus sein?

Und wie verlockend wird diese Deu-tung, wenn man bedenkt, daß einähnliches Bekenntnis eines Anfüh-rers vorliegen soll, freilich nur inder ersten Auflage seines Bekennt-nisbuches und kaum wiederzubringenvon jenen Anhängern, denen kürzlichnachgerühmt wurde, sie könnten somanches rekonstruierenwas ihm selbst entfallen ist oder waser wenigstens in seiner Autobiographienicht erwähnt

von der schon so viele Auflagen er-schienen sind. Jenes Bekenntnis inder ersten, betreffend den »Schwin-del«, der nötig sei, um die Masse

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zu gewinnen, dürfte sich jedoch aufdie Kommunisten bezogen haben undeben im Lauf der Zeit mißdeutbar ge-worden sein. Eindeutiger ist, wennein Unter-Anführer die Programm-gläubigen mit den Worten abführt:

Da kommen sie daher mit ihrem Par-teiprogramm und mit dem Hitler-Buch»Mein Kampf« und fragen: Warum ist dasnoch nicht durchgeführt? Warum sind dieBanken noch nicht sozialisiert? und mei-nen, damit können sie uns imponie-ren!

Doch völlig klar ergibt sich aus derFeststellung:

Wer der Regierung unterstel lt, sie wol-le Zinsen und Renten rauben, lügt

daß jene lügen, die an eine Wahr-heit geglaubt haben, wenn sie etwa

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leugnen wollten, daß jetzt 20 Prozentgenommen werden. Als ob die Erlö-sung aus der Zinsknechtschaft dar-um kein Ideal wäre, weil sie nichterfolgt ist! Doch erst recht! Als obdas Versprechen, die Warenhäuserzu sperren, seine Wirkung verfehlthätte, weil sie jetzt saniert werden,und als genügte es nicht, daß über-all dort, wo Juden raus sind, vorerstmal Bonzen drin sind. Toren, die ih-ren Sinn an den Wert einer Erfüllunggehängt haben und in deren Ausblei-ben den Reiz der Abwechslung ver-kennen! Sie könnten, die da meinten,es werde etwas geboten werden, unddie nicht sehen, daß dafür etwas ge-boten wird, sich über Wesen und Auf-gabe des Anführertums Belehrung beieinem Dichter holen, dem, falls über-haupt einem, die Eigenschaft, deutsch

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zu sein, wirklich im Superlativ zu-kommt. Wenn 500.000 Bauern ausge-rechnet in Hameln hinters Licht von50 Scheinwerfern geführt werden sol-len und zu diesem Zweck sogar einBergplateau gleichgeschaltet wird, sodarf doch Eichendorff teilnehmen:

Der neue RattenfängerJuchheisa! und ich führ’ den

Zug,Hopp, über Feld und Graben.Des alten Plunders ist genug,Wir wollen neuen haben.

Was! wir gering? Ihr vor-nehm, reich?

Planierend schwirrt die Sche-re,

Seid Lumps wie wir, so sindwir gleich,

Hübsch breit wird die Misere!

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Das alte Lied, das spiel’ ichneu,

Da tanzen alle Leute,Das ist die Vaterländerei,O Herr, mach uns gescheite!

Nicht zu machen, solange der Zau-ber fortwirkt, der im Wechsel beruht.Keine der tausend Aufklärungen dertausend Handlungen, die den tau-send Versprechungen zu widerstrei-ten schienen, ließ diesen geistigenWesenszug vermissen von einem ge-wissen Etwas, das immer auch einanderes ist, fließend und flimmernd,gleitende Relativität am laufendenZungenband, umso reizvoller, als siedoch das Absolute bejaht, ja aufs Gan-ze geht, das sogar das Totale ist. Einauf Sachverhalte Dringendes und aufkeinen Festzulegendes einer schwan-

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kenden Gestalt, die sich besonders je-nen wieder naht, die sie in der loka-leren und unblutigen Diktatur Bekes-sys präformiert fanden. Ganz in die-ses Ressort einer mehrfachen Buch-haltung und der Usance, dem Ver-stand Tonfallstricke zu legen, gehörendoch vor allem die kulturpolitischenVerbiegungen dessen, was sonst un-grad wäre. In der Fähigkeit, Unsinn,zu dem Vernunft ward, wieder alsdiese erscheinen zu lassen, Blamagein Effekt umzuwechseln, kurz darin,was man früher Blödmachen nann-te, ist das nationalsozialistische Kom-muniqué vorbildlich. Man denke etwaan den Bescheid, den auf die AbsageToscaninis jener »Kampfbund« erteilthat, der die Kultur auf Gedeih undVerderb in Angriff nahm:

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.. Der Kampfbund für deutsche Kultur,der sich von jeher Schutz und Förderungdes deutschen Kulturgutes in Bayreuthin jeder Form angelegen sein ließ, stel ltfest, daß keine seiner kompetenten Stel-len jemals sich gegen eine künstleri -sche Betätigung Arturo Toscaninisaussprach und daß insbesondere derpreußische Landesleiter Reichstagsabge-ordneter Kinkel –

Dieses »von jeher« erklärt sich den-krichtig aus dem Umstand, daß indrei Monaten so viel gelogen wur-de wie vorher in drei Jahrhunderten.Aber auch das Ganze ist plausibel undkein Deutschbewußter zweifelt mehr,daß alles in Ordnung geht und so-gar dem Fremdblütigen freie Bahneröffnet wurde, während der zu Lo-gik Inklinierende, der nicht erfährt,

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daß Toscanini abgelehnt hat, weilandern die künstlerische Betätigungverwehrt ist, sich den Sachverhalt et-wa so rekonstruieren muß: jener hatsich beworben und streut nun aus, ersei abgelehnt worden; oder: er wur-de eingeladen und fürchtet unfreund-lich empfangen zu werden. Denn dar-auf würde niemand kommen, daß daeinem, der aus Abscheu vor dem Ge-ber die Gabe verschmäht hat, die Ant-wort zuteil wird, man habe sie ihmdoch geben wollen, worüber beklagter sich also? Der Empfänger einesFußtritts stellt reinen Gewissens fest,daß er keinen ausgeteilt hat. Er ver-schluckt die Prämisse, um irgend et-was folgen zu lassen, was hinter ihrliegt – das bekannte Kleingeld, dasfür die verfolgende Unschuld in al-len Lagen herauskommt. Es ist die

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Aufnordung der Petite, an der abernicht so sehr Baidur als Loki betei-ligt sein dürfte, der ihn letzten En-des zu Falle gebracht hat. Daß dieGabe, die Toscanini empfangen soll-te, im höchsten Maße der Gewinndes Gebers wäre – indem doch Bay-reuth ohne ihn so »bankrott von obenbis unten« ist wie heute Deutschlandnach dem Ausspruch eines bayrischenStaatsministers – wird dort, wo manden Fußtritt zwar spürt, aber nichtzugibt, gar nicht berührt. Die sympa-thische »Dötz«, die freilich schon überden Verlust Bruno Walters als deneines »groißen« Dirigenten hinwegge-kommen war, fand den Trost:

... Das deutsche Volk wird aus ei-gener Kulturkraft deutsche Diri -genten hervorbringen, die das An-

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denken Toscaninis vergessen machenwerden.

Eine eugenische Hoffnung, bis zu de-ren Erfüllung Bayreuth zugesperrthaben dürfte. Prompt ist einstwei-len nur Herr Richard Strauß auf die-se Welt gekommen. Doch wenn eroder Herr Furtwängler den rechtenArm emporhebt, so merkt man nichtgleich, daß sie dirigieren wollen. Aberdie »Dötz« weiß, daß im Dritten Reichauch diese Dinge ihr beschleunigtesTempo haben, und fährt fort:

Die deutsche Kulturpolitik wird raschdafür Sorge tragen, daß die Unter-drückung deutscher Dirigentenbegabun-gen durch die jüdische Presse und ihreKreise wettgemacht werde, und es wirdsicherl ich ehestens dazu kommen,daß die deutsche Musik über genügend

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viele ganz große Dirigentennamenverfügt, um alle Aufgaben, die die neueaufstrebende deutsche Kunst stellt, erfül-len zu können.

Nun, da dürfte eher noch die Befrei-ung von den Schweißfüßen gelingen,in deren Tradition so lange das Bo-denständige verankert war. Was hatdie »Dötz« nicht alles getan, um demzähen Festhalten an diesem Aber-glauben entgegenzutreten, und man-ches, was uns heute auffällt, könnteja darin seine Erklärung finden. Nochin der Stunde der Erhebung, am Tageder Reichstagswahl, mußte sie einenSektierer beruhigen:

Schweißfüße. Das können Sie beiuns unmöglich gelesen haben, daß dasVertreiben von Schweißfüßen andereKrankheiten macht, denn solchen

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Unsinn schreiben wir nicht. Und daß Siedurch das Vertreiben Ihrer Schweißfüßeeine multiple Sklerose bekommen ha-ben, ist unmöglich.

Es war ihr letztes Wort. Sie mag heutebedauern, daß eine so klare Einsichtin die Realität bloß auf den einen,wenngleich wesentlichen Belang be-schränkt geblieben ist.

Man soll aber nichts übers Kniebrechen, und die Erfolge im Gebietder Kulturpolitik können sich un-möglich so rasch einstellen wie diewirtschaftspolitischen und vor allemdie diplomatischen. Die Begeisterungdes ,Völkischen Beobachters‘ über denViermächtepakt läßt sich nachemp-finden, wenn man die relativ kurzeZeit berücksichtigt, in der die außen-politischen Gebote der Partei verwirk-

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licht wurden. Es sind freilich nur sie-ben, aufgestellt vom Staatsmann Ku-be, der ein schwärmerischer Freundder schönen Künste ist:

1. Sämtliche Deutschland aufgezwunge-nen Verpflichtungen des Schandvertragesvon Versailles werden aufgehoben.2. Der französische Raubstaat verpflich-tet sich, für seine von seinen weißenund farbigen Horden im Rheinland, imRuhrgebiet, in Oberschlesien und sonstbegangenen Schandtaten Reparatio-nen an Deutschland zu zahlen.3. Die deutschen Minderheiten in Polen,der Tschechoslowakei , Dänemark,Belgien, Ital ien und Jugoslawienerhalten das Recht, sich durch Volks-abstimmung zu Großdeutschland zubekennen.4. Deutschösterreich, Elsaß-Loth-

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ringen, die deutsche Schweiz,Liechtenstein, Luxemburg, Danzigund das sogenannte Memelland wer-den entsprechend der Zusammensetzungihrer Bevölkerung, mit Deutschlandwieder vereinigt.5. Das niederdeutsche Flandernwird von den romanischen Wallo-nen getrennt und erhält das Recht,sich Holland anzuschließen.6. Den Vorsitz in diesem europäischenStaatenbund übernimmt das Volk, dasauf Grund seiner Zahl, seiner Ge-schichte und seiner Kultur al lein denAnspruch darauf erheben kann:Deutschland.7. Der Dawes-Plan wird mit sofor-tiger Wirkung aufgehoben und dieDeutschland von den sogenannten»Siegerstaaten« [besser Raubstaaten] ab-

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gepreßten Beträge werden Deutschlandzurückgezahlt.

Diese Gebote fürs Äußere, oder sagenwir Äußerste, sind der zusammenfas-sende Ausdruck der innern Sehnsüch-te des Führers, der sie vermutlich amPergamonaltar beschworen hat. Na-türlich konnte, da sich hart im Raumdie Sachen stoßen, vorläufig nicht al-les erfüllt werden, aber wenn man dieWirklichkeit bemißt und die Möglich-keit kubiert, so kann man doch sa-gen, daß einer der wesentlichen Par-teigrundsätze sich durchzuringen be-ginnt:

Wir lehnen es ab, wie andere Par-teien tun, aus Zweckmäßigkeitsgrün-den unser Programm den sogenanntenVerhältnissen anzupassen. Wir werdeneben die Verhältnisse unserem Pro-

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gramm anpassen, indem wir die Ver-hältnisse meistern.

Mit einem Feder-Zug; und nun wardder Schreiber zur Meisterung so rea-ler Verhältnisse wie der wirtschaftli-chen berufen. Jedem, der danach nocheine Frage haben wird, kann allen-falls mit dem Bescheid gedient wer-den, daß er lüge. Und wenn er dannnoch nicht zufrieden ist, so hat manneben dem Zitat, das in allen Situatio-nen schlagartig wirkt, das völlig um-werfende Bekenntnis:Die Stärke der nationalsozial ist i -schen Bewegung ist bisher ihre Pro-grammlosigkeit gewesen, die sich ausdem Ethos ergibt.

Und dieses ist so stark, daß mandas eigene Wort als üble Nachredeempfindet, wenn’s ein anderer glaubt.

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Gewiß, im vierten Gebot wollen wirauch die deutsche Schweiz, aber daskommt uns so absurd vor, daß nur einGedankenstrich am Platz ist, der unsvon solchem Gelüste trennt:

So hat sich vor kurzem eine Pressepole-mik entwickelt, in der in allem Ernstbehauptet wurde, Deutschland betrei-be eine Agitation in der Eidgenossen-schaft, die den – Anschluß der Schweizzum Ziele habe. Es ist wirkl ich heutenichts phantastisch genug, was nichtverbreitet oder geglaubt würde, wenn esnur gegen das neue Deutschland Verwer-tung finden kann.

Die Sache ist viel zu ernst, als daßsich die Hölle zu einem Hohngeläch-ter entschlösse. Es ist wahr,

siegreich wollen wir Frankreich schlagen

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aber Goebbels kann nicht verstehen,weshalb uns das Ausland kriegerischeBestrebungen vorwirft, nachdem derKanzler unumwunden erklärt habe,daß wir nicht die geringste kriegerischeAbsicht haben; und »wir sagen dem Aus-land die Wahrheit«.

Offenbar verwechseln die Böswilli-gen Pläne, deren Durchführung demnächsten Jahrtausend vorbehaltenwird, mit dem, was sofort zu gesche-hen hat. Wohl hat der Führer [früher]in Aussicht gestellt:48 Stunden nach der Machtüber-nahme durch den Nationalsozialismusliegt der Versailler Vertrag zerrissenvor den Füßen des französischen Volkes.Insbesondere wird der § 231, der vonDeutschlands Schuld am Kriege sprichtund der die Grundlage des Versailler

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Vertrages bildet, sofort für ungültig er-klärt. Eine Selbstverständlichkeit, zu derdas »System« sich nicht aufraffen kann,weil es zu feig, zu pazifistisch ist, oderzu der es sich nicht aufraffen will, weiles, von Frankreich bestochen, zusam-men mit dem landesverräterischen Mar-xismus internationale, statt ausschließ-lich nationale Interessen verfolgt.

Also sprach Hitler. Doch was beweistdas? Höchstens, daß die Machtüber-nahme noch nicht erfolgt ist, weil esdoch sonst selbstverständlich schonerfüllt wäre. Punkt Eins des Partei-programms lautet ja doch:

Wir fordern den Zusammenschluß al-ler Deutschen auf Grund des Selbstbe-stimmungsrechtes der Völker zu einemGroß-Deutschland.

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Für »unabänderlich« erklärt. Alsosprach Hitlers Stellvertreter:

In einigen Teilen des Auslandes hatsich die gegen Deutschland gerich-tete Propaganda neuerdings der un-wahren Behauptung bemächtigt, dieNSDAP erstrebe die Einverleibungvon Teilen der Schweiz, Hollands,Belgiens, Dänemarks usw. So un-sinnig diese Unterstel lung ist, sofindet sie doch hie und da Glauben.Die Reichsleitung legt daher Wert aufdie Feststel lung, daß kein ernst-hafter Mensch in Deutschland dar-an denkt, die Unabhängigkeit andererStaaten auch nur anzutasten!

usw. sind vermutlich Österreich unddie Tschechoslowakei. Jedenfalls wür-de daraus folgen, daß der NSDAPkein ernsthafter Mensch in Deutsch-

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land angehört – oder doch – odernicht –. Und also sprach Goebbelszum Vertreter der Schweiz in Genfund Neurath »pflichtete lebhaft bei«:

Die Doktrin und die Politik der Deut-schen Regierung richten sich keines-wegs gegen die Schweiz. Das Reichwürde die größte Abenteurerpol it ikbetreiben, die es in einen Konflikt miteiner großen Zahl von Staaten bringenwürde, wenn es den Anspruch darauferheben wollte, s ich alle Bevölkerun-gen deutscher Rasse und Zunge einzu-verleiben.

Also sind die Urheber des unabänder-lichen Programms die größten Aben-teurer – oder nicht – oder doch –»ah was, Rotzbua jüdischer!« schnittder Komiker Gottsleben den Dialogab, als ihm der Partner das täg-

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liche Extempore vorweggenommenhatte und er nun in der Verwir-rung nicht mehr ein noch aus wuß-te. Notwehr gegen Logik. Außenpo-litischen Querelen läßt sich einfachdurch den Hinweis abhelfen, daß mansich im Innern »umso mehr zusam-menschweißt«, und wer dann nochimmer nicht Ruh gibt, kann dorthinkommen, wo sich Marxisten und But-terhändler zusammenfinden; gegenMiesmacher sind bereits Vorkehrun-gen getroffen. Als ob nicht der intelli-gente Propagandaminister ausdrück-lich erklärt hätte, daß alle Versuche,dem Neuen mit dem Intellekt beizu-kommen, verfehlt seien, da jetzt nurSeele am Platz ist und vorerst malder Gefühlsraum einzunehmen, bevorman sich Gedanken macht. Sonder-bar genug, daß es die Intellektuellen

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eher kapiert haben als die Schlichten,die immer nachgrübeln müssen. BeiUllstein beten sie schon:

Wir wollen wieder ganz einfach undmenschlich werden. . Wir wollen dieÜberlastung durch das Intel lektu-el le über Bord werfen.

Nichts will man mehr, als, jeglicherChuzpe entsagend, schlicht und einreiner Chammer sein. Andere Freige-borne hatten’s ja leichter. Wie der Ro-mantiker Benn sich entschlossen zumCredo quia absurdum bekannt hat,so tastet sich ehrfürchtigen SchrittesBinding [den etwas doch von Bin un-terscheidet] zum Ideal der braunenBlume hin. Ich habe bisher nur seinelinke Seite gekannt und insbesonde-re seinen Versuch, mir das Triptychonjenes Sonetts der Louize Labé nachzu-

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bilden, wobei er sich namentlich dendritten Teil zum Vorbild nahm, be-günstigt von der großen jüdischen Zei-tung, die nun auch zum Rechten sieht.Er antwortet Herrn Romain Rolland,der von Deutschland enttäuscht ist.Jetzt, jetzt endlich müßte sich doch ei-ne Stimme für dieses erheben, meinter, jetzt dürfe nicht länger geschwie-gen werden, und er wolle »frei überdie deutschen Dinge reden«. Er er-innert in dumpfem Ringertum undVolksbesessenheit an Benn, kommtaber fließender heraus:

.. Wir verleugnen nichts, noch verleug-nen unsere Führer .. irgend etwas wasSie aufzählen. Wir leugnen nicht »die ei-genen Erklärungen, die Aufreizungen zuGewalt .. die Verkündigungen des Rassis-mus, raus, der andere Rassen, wie die Ju-

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den, verletzen muß; die Autodafés der Ge-danken, die kindlichen Scheiterhau-fen von Büchern, die Eindrängung .. derPolitik in die Akademien und Universitä-ten« – wir leugnen nicht Auswanderun-gen und Verfemungen.

Nun also, fragt man, was bleibt danoch, um das Opfer des Intellekts zurechtfertigen, das Binding dem Va-terland gebracht hat? Was trieb ihnzur Unterwerfung unter seine Füh-rer? Gewiß, die Scheiterhaufen sindein Kinderspiel gegen das Sonsti-ge; wenngleich der Claudius-Sinn vonEinfalt, fromm und fröhlich sein, viel-leicht doch etwas anderes ist als der»SA-Geist«. Indes, der Glaube ist im-mer stärker als die Erkenntnis, undein Intellektueller kann alles preisge-ben, ohne den Trumpf zu verlieren:

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Aber alles das, so furchtbar es ausse-hen und so entscheidend es den Einzel-nen oder viele treffen mag, sind

Unliebsame Zwischenfälle? Unver-meidliche Begleiterscheinungen derRevolution? Einzelaktionen unterge-ordneter Organe? Unbefugte Eingrif-fe unverantwortlicher Stellen, wie-wohl es keine verantwortlichen gibtund nichts Befugtes geschieht? Sonstderlei, was die hirnzermürbende Tak-tik der Lüge erfand? Der Literat hateine neue Formel:Randerscheinungen, die die eigent-l iche Souveränität, den Kern, dieWahrheit des Geschehens gar nichtmehr anrühren.

Binding, der vom Rand zum Kern vor-gedrungen ist, braucht nicht zu leug-nen, um zu bejahen. Er begehrt so-

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gar auf. Das heutige Deutschland ver-leugne das wahre Deutschland, meintRolland? Das sehe ja fast so aus,

als ob Sie Adolf Hitler und der ganzenNation erst beibringen müßten, was ei-gentlich deutsch sei. Goethe, den Sie ..als einen der großen Weltbürger anfüh-ren .., ist so verflucht deutsch wieGöring oder Goebbels oder der SA-Mann Müller oder ich – obgleich wirrecht verschieden sind.

Am verfluchtesten deutsch dürftedoch wohl er sein, der Binding sol-cher Gestaltenreihe. Vielleicht weißer aber noch nicht, daß die Schriftlei-ter der Sache, der er sich ergeben hat,so verflucht deutsch schreiben, daßdas Wiener Organ zum Abgang Ein-steins kurz und schlagartig bemerkenkonnte:

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.. So hätten wir wieder einen unange-nehmen Hebräer los.

Egal, wenn wir ihn nur los sind, aberdas los haben, worauf es nach Bindingankommt:Die Welt kann diese Revolution in ihrenTiefen gar nicht rel igiös genug auffas-sen: mit Umzügen und Zeichen, mit Fah-nen und Treugelübden, mit Märtyrernund Fanatikern bei Groß und Klein bis zuden Kindern, mit Verkündungen und Ver-heißungen, mit einem unverrückbarenGlauben und einem tödlichen Ernst desVolkes. O, wir wissen sehr wohl um dieÄußerlichkeiten .. Aber ein Volk glaubtan sich, das nicht mehr an sich glaubte.Und sein Glaube macht es schön.

Dem Binding werden die Ungläu-bigen keinen Schwindel vormachen!Der konsequente Wirrkopf hat be-

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reits, wie er betont, 1915 »eine Religi-on der Wehrhaftigkeit« erstrebt, undzwar »für alle Völker«, was zur Folgehätte,

daß keine Nation, auch kein Zusam-menschluß von Nationen uns gewachsenwäre. Geheiligt würde die Wehrhaftigkeiterstehn.

Mit einem Wort, ein deutscher Dich-ter. Jetzt erlebt er die Erfüllung. Erweiß, daß zunächst die dringendenAngelegenheiten des Blutes zu besor-gen sind, nicht des zu vergießenden –das sind Randerscheinungen –, son-dern des eigenen, welches den Kern,die Souveränität anrührt. Da gibt esSorgen, die man früher gar nicht ge-ahnt hätte. Während die »Rasseprü-fung von 350.000 Postbeamten sich imvollen Gange befindet«, glaubt viel-

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leicht mancher Staatsbürger, an die-sen vitalsten Dingen vorübergehen zukönnen. Das wird aber nicht gelingen,wie uns der ,Berliner Lokalanzeiger‘belehrt:

Die nationale Erhebung des deutschenVolkes hat aus begreifl ichen Grün-den auch ein starkes Wiederauflebendes Sinnes für Familienforschung ge-bracht. Viele Hunderttausende müs-sen sich – namentlich seit dem Ge-setz über die Wiederherstellung des Be-rufsbeamtentums – über die Frage Re-chenschaft ablegen: Wer waren ei-gentl ich deine Vorfahren, und wel-cher Rasse gehörten sie an? – Viele sit -zen schon bei der [heute besonderswichtigen] Frage fest : Wie hießeneigentl ich deine Großmütter mit ih-rem Mädchennamen?

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Sonderbare Beschäftigung für eineNation, deren Führer wohl der Mei-nung sein müssen, daß es mit denButterpreisen zusammenhängt. EinGran Verstand wäre doch höchstensin der Hoffnung zu erkennen, daßman einer jüdischen Großmutter aufdie Spur kommen wird, ein Glücks-fall, der dieser Generation noch einigeAussicht offen ließe. Nur ungemisch-tes Blut heckt solchen Alfanz aus,der ein Volk dem Spott der Nachbar-schaft preisgibt; und was für eine klu-ge und kultivierte Frau, so im Berlinder Sechzigerjahre lebend, muß jenegewesen sein. Nein, als Schandfleckder Familie hat sie dazustehn, undweh dir, daß du ihr Enkel bist. Um ih-rer Existenz willen verliert man sei-nen Posten, doch zu diesem Zweckmuß man sie erst suchen; manchem,

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der sie schon hat, ist man noch nichtdahintergekommen, aber die Bürokol-legen munkeln bereits. Früher oderspäter kommt’s ja doch heraus, undder Lokalanzeiger, der diese Suchemit einer »Schnitzeljagd« vergleicht,leistet gute Dienste. Er zeigt dem, derden kostspieligen Weg zum Genealo-gen scheut, einen Ausweg:

Zuerst die Tanten. . .

Die wissen viel und haben man-ches aufgehoben. Auf diesem Weg istWahnsinn, meint Shakespeare? Nein,die Sache wird faustisch:

Göttinnen thronen hier inEinsamkeit,

Um sie kein Ort, noch weni-ger eine Zeit;

Von ihnen sprechen ist Verle-genheit.

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Nur daß es nicht die Mütter sind, son-dern eben die Tanten.

Nach ihrer Wohnung magstins Tiefste schürfen;

Du selbst bist schuld, daß ih-rer wir bedürfen.

Kurzum:

Hier wittert’s nach der He-xenküche,

Nach einer längst vergang-nen Zeit.

Aber wiewohl das Schaudern derMenschheit bestes Teil ist, werdenvielleicht manche ihrer Führer nochbesser tun, den Weg zu den Tanten zuvermeiden, etwa die Herren Goebbelsund Ley, für deren Namen sich ein Vo-kal und ein Konsonant finden könn-te, die jene in Obhut hatten. Apropos

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Tanten: das neue Deutschland, dasden Lokalanzeiger liest, und insbe-sondere die jüngere Generation, ver-bindet mit dem Begriff eine wesent-lich andere Vorstellung, als die hierzweckdienlich wäre, eher die von On-keln, welche jedoch, ohne in einemVerwandtschaftsverhältnis zu stehen,über ein solches auch nicht Auskunftgeben können, indem sie mehr dieRolle eines zärtlichen Mentors in-nehaben. So kommt es sehr häufigvor, daß ein Jüngling, der zu krie-gerischer Hantierung neigt, zwar ei-ne Tante hat, diese aber keinen Nef-fen. Das sind so deutsche Speziali-täten, die mit dem Absonderlichen,das jetzt die Welt in Staunen setzt,irgendwie zusammenhängen mögen,und soweit Politik Menschliches birgt,könnte es sich offenbaren, daß es häu-

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fig über Hintertreppen und Zwischen-stufen zu hohem Rang emporführte.

Möglicherweise erklärt ja eben die-se Erscheinung auch die Geistigkeit,die zwischen Tat und Verantwortungden arteigenen Wahrheitsbegriff ge-stellt hat, der für jegliche Schuldfra-ge, von der des Weltkriegs bis zumalltäglichen Raufhandel, über jeneentwickelte Technik der Abwälzung,der femininen Umkehrung disponiert.Die Schwierigkeit, etwa bei »Studen-tenüberfällen« zwischen dem tätigenund dem leidenden Teil zu unterschei-den, erleichtert schon durch die Wort-konstruktion die Klarstellung, daßNationalsozialisten von Juden geprü-gelt wurden, was ja insofern nichtganz unglaubhaft ist, als es in der Ju-dengasse tatsächlich einmal der Fallwar. Daß jüdische Studenten im Ana-

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tomischen Institut lernwillige Haken-kreuzler mit Totenschädeln beworfenhaben, mag etwas übertrieben klin-gen, aber man erfährt jedenfalls, wes-sen sich eine friedfertige Mehrheitin der Verteidigung zu versehen hatund welche Wurfgeschosse es sind, de-nen sie die Bomben vorzieht. Der Na-tionalsozialismus hat überhaupt kei-ne andere Waffe als den umgekehr-ten Spieß, mit dem der Bürger dieOrdnung verteidigt. Der Titel »Heim-wehrüberfall« ermöglicht es geradezu,die frivole Behauptung, Heimwehr-leute seien überfallen worden – eineAussage, die auf den bloßen Anscheinvon Knochenbrüchen hin erfolgte –,eine Lüge zu nennen, denn überfal-len wird stets der Täter und mindes-tens wäre er schon darum das Opfer,weil ihn der andere zu einer Gewalt-

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tat genötigt hat. Immer nach Nestroy:»Mama, ich komme die Constanze zuverklagen, sie hat mich durch ihr Be-nehmen gezwungen, sie eine dum-me Gans zu heißen.« Die Unbefan-genheit, die sich hier zum Bekessy-Gedanken einer verkehrten Kausali-tät bekennt, stellt voll und ganz denBegriff der deutschen Ehrlichkeit wie-der her, wenngleich vom andern En-de. Wie tief muß eine Sittlichkeit fun-diert sein, die »für die besten undzugkräftigsten Falschmeldungen einePrämie von 200 Schilling« ausgesetzthatte, mochte es die Verbreitung ei-ner Wirtschaftspanik gelten, ein Fal-sifikat oder auch nur eine jener Greu-elmeldungen, mit denen die Gegensei-te ihre berüchtigte Propaganda ver-richtet. So eine österreichische Füh-rerschule, in der die fröhliche Wissen-

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schaft getrieben wurde, zaubert sienicht das Bild jener besseren Tagevor den Sinn, die die Redaktion un-serer ,Stunde‘ gesehen hat? Freilichmit dem Unterschied, daß die Bübereiin den Dienst einer heroischeren Er-pressung gestellt erscheint. Es ist re-spektgebietend, wie eine Welt von Fe-lonie, Meuchlertücke und autorisier-tem Denunziantentum sich mit jegli-chem Habitus unanfechtbarer Wahr-haftigkeit, mit allen Insignien einersittlichen Glorie umgibt und, letztenEndes, die totale Deckung findet in je-nem ehrwürdigen Symbol der Treue,mit dem verglichen Schober ein Sinn-bild des Wankelmutes war, indem eruns ja längst dahin geführt hätte. [Er-schien doch jüngst in diesem Welts-puk, der einem kein Phantom vor-enthält, sein Schatten zwischen der

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Steffi Richter und dem Lord Rother-mere, der ihr den Korridor zu Fü-ßen legen wollte. Jener fürwahr hät-te die Treue, die er der Demokra-tie gelobt hatte, eisern dem Natio-nalsozialismus gehalten.] Welch einMenschliches muß zur Abklärung ge-langen, bevor die Persönlichkeit zurBriefmarke reift! Daß eine schwarzeMesse zur Andacht ruft, ist das Uni-kum der Kulturgeschichte, gestütztvon der Unerschütterlichkeit einesGlaubens, dessen Hohepriester ein-ander vor der Gemeinde des Verratsbezichtigen, um sich in gegenseitigerEhrerbietung so auszugleichen, daßdie allgemeine komplett wird.

Reichspräsident v. Hindenburg hat denDipl.-Ing. Gottfried Feder zum Staats-sekretär des Reichswirtschaftsministeri-

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ums ernannt. – Feder ist ein Feind Hin-denburgs. Bei der Präsidentschaftswahl-kampagne erregte er durch eine in Kas-sel am 12. März, dem Tag vor dem erstenWahlgang, gehaltene Rede Aufsehen, in-dem er Hindenburg sechs Treubrüchevorwarf: bei der Entlassung Ludendorffs,bei der Flucht Wilhelm II. nach Holland,beim Munitionsarbeiterstreik, durch dieAbsage eines Besuches bei Ludendorffam Tannenberg-Tag 1925, durch die Un-terzeichnung des Republikschutzgesetzesund die Verweisung des Exkaisers undschließlich dadurch, daß er 1925 bis 1932sein Amt nicht im Sinne seiner Wählerausgeübt hatte [was übrigens auch für dieZeit nach der zweiten Wahl gilt]. Federschloß damals, man könne nie alt genugsein, um die Treue zu halten.

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Ich zähle sieben. Aber zusammen sindsie wieder die Treue:Der Reichspräsident Hindenburg und derReichskanzler Adolf Hitler haben durchihr in Neudeck besiegeltes Vertrau-ensverhältnis dem ganzen deutschenVolke ein leuchtendes Beispiel der Ei-nigkeit gegeben, das alle Deutschen ver-pflichtet, ihnen nachzueifern im Diensteam neuen Staat und in der Treue zu de-nen, die zu seiner Führung berufen sind.

Nach einer detaillierteren Darstel-lung:.. Schließlich wurde der Empfang vonHindenburg in brüsker Weise plötzlichabgebrochen. Kaum hatte sich aber Hit-ler aus dem Arbeitszimmer des Reichs-präsidenten entfernt, als dieser offen-bar unter dem Eindruck der Aufregun-gen dieser Audienz ohnmächtig zusam-

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menbrach. Es trat ein ärztliches Konsili-um zusammen, und dieses beschloß, Hin-denburg den dringenden Rat zu ertei-len, sich sofort auf sein Schloß nach Neu-deck zurückzuziehen. Nach sicheren In-formationen ist dieser Ratschlag auf denausdrücklichen Wunsch Hitlers den Ärz-ten anbefohlen worden. Seither ist Hin-denburg in Neudeck der Gefangene derHitler-Regierung.

Wie sagt doch –?

Mit diesen hast du dich verei-nigt,

Mich hat’s die ganze Zeit ge-peinigt.

Das Gaukeln schafft kein fes-tes Glück.

Was die Treue anlangt, so war nochvor kurzem die Version verbreitet:

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Der Reichspräsident v. Hindenburg, derden Satz prägte: »Die Treue ist das Markder Ehre«, hat noch niemandem die Treuegehalten.

Ein Mann ein Wort; aber nur keinFremdwort mehr, sie wollen es nichtlassen stan:.. Träger der Staatsgewalt, beziehungs-weise der Reichsgewalt ist der Füh-rer, der wahrscheinlich Reichsführer hei-ßen wird. Das fremdsprachige WortReichspräsident wird später ver-schwinden.

Die Reichspresse- und Propagandas-telle des Reichseinheitsverbandes desdeutschen Gastgewerbes veröffent-licht am gleichen Tag eine Mahnung,die sich gegen die Verwendung vonFremdwörtern auf den Speisekartenwendet. Das Wort ist neu, die Speise

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bleibt, der Mann ist schon verschwun-den. Ein Fremdwort geworden. Wieunbegründet aber das Gerücht ist, dieUnterhaltung mit dem Reichskanz-ler habe eine ungünstige Wirkungauf den Reichspräsidenten ausgeübt,beweist die Lesart der ,Norddeut-schen Allgemeinen‘, die noch heuteden Ruf eines Sprachrohrs bewährt,»Äußerungen Hindenburgs über Hit-ler«, welche ihr von einer Leserinübermittelt wurden, die in Deutsch-land gewiß nicht Blaschke heißt:

»Die Zusammenarbeit mit dem neuenReichskanzler ist mir tägl ich von neu-em eine Freude. Das Verhältnis zwi-schen mir und Hitler ist so schön, wie eszwischen einem Großvater und ei-nem Enkel nicht schöner sein kann.Rührend ist die Fürsorge, mit der er

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mich alten Mann umgibt. Immer ist erbemüht, mir irgendwie behil fl ich zusein, beim Setzen, beim Aufstehen,wo es nur sei. Ich staune immer wiederüber die umfassende allgemeine Bil -dung, die er sich angeeignet hat. Er istein Mann, der mit großen Geistesga-ben ausgestattet ist. Daneben ist er eintief rel igiöser Mann und mit viel Her-zensgüte, der in schlichter Bescheiden-heit immer der Mann aus dem Volk blei-ben wird.«

Wie sagt doch –?

Mir schaudert vor dem garsti-gen Kunden

Und seiner Rabentraulich-keit.

Nein, nichts mehr ist erstaunlich;höchstens daß Übermenschen selbst

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noch das Maß von Gut und Böse ver-wenden. »Was haben wir zu fürch-ten, wer es weiß? Niemand zieht uns-re Macht zur Rechenschaft. Doch werhätte gedacht, daß der alte Mannnoch so viel Blut in sich hätte?« »DieseTaten wollen nicht so ergrübelt sein,sonst macht’s uns toll«, sagt MacbethsSpornerin; damals nahm man’s, wennes durchzustehen galt, nicht so ge-nau. Auch unterm spätrömischen Im-perium nicht, wo brandgestiftet undauf die Christen abgewälzt wurde;wo Symbolgläubigkeit noch der Er-nennung eines Pferdes zum Konsulstandhielt; wo das letzte Ende ein Ab-tritt war, in dem der Herrscher imFrauengewand von Prätorianern er-mordet wird.

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Der Unterschied liegt nur in ei-ner ethischen Instrumentierung, de-rengleichen nicht bekannt war, alsjener Macbeth den Schlaf gemordethat. Erschüttert und gespannt ver-folgt die Welt, die noch in Denkfor-men läuft, diesen Wettkampf der Wor-te mit den Taten, der Taten mit denWorten, des Ausgangs harrend. Hältsie sich mehr an die Worte und de-ren kriegerischen Sinn, so wird ihr dieAntwort, man müsse das Reich mehrnach den Taten beurteilen; verweistsie auf diese, so wird die Reichstagsre-de zitiert. Beruft sie sich auf den Wi-derspruch, so sind es Begleiterschei-nungen, die den Kern der Revolutionnicht berühren können, welche legalans Ruder gelangt ist; überdies sei ei-ne Evolution in Aussicht genommen,

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denn die Revolution ist abgeschlos-sen und ihre gewaltigen Erfolge ge-bieten Ehrfurcht, aber sie steht erstan ihrem Anfang und was bis heu-te geschehen ist, ist bloß ein Kinder-spiel, vorerst müssen die Kommissa-re weg, und wenn verantwortungslo-se Elemente eingreifen, so geht unsaus dem Wege, sonst räumen wir euchaus dem Wege und übernehmen da-für auch die volle Verantwortung. Un-ter solchen Umständen zieht es dieWelt wieder vor, sich an die Worte zuhalten, und begnügt sich, um für dieGreuelpropaganda hinreichend infor-miert zu sein, mit deren jeweiligerAufklärung wie insbesondere mit derVersicherung, daß die Partei bisherGroßmut bewiesen habe, die von denGegnern als Schwäche ausgelegt wur-de. Die Taten, die nun folgen, sind

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bloß die begreifliche Reaktion auf dieBesorgnis der Welt wegen der Taten.Dadurch ergeben sich neue Mißver-ständnisse, welche einige Verwirrunghervorrufen, die aber schließlich docheine gewisse Übersicht gewährt, um-so leichter als täglich Richtlinien aus-gegeben werden. Das geht so von derFeststellung an, daß alles was gesch-ah zur Rettung vor den Kommunis-ten geschah, angefangen vom Reichs-tagsbrand, der durch sie geschah. Eserfolgen die Warnungen vor den Ein-zelaktionen, von denen die Führer ab-rücken, zu deren Urheberschaft siesich bekennen und die von den Geg-nern unternommen werden. Sieht dasnicht alles nach satirischer Verkür-zung aus? Aber sie stammt von derWirklichkeit, durch welche der Tat-

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gedanke, morphinistisch befeuert, insolchen Sätzen jagt:

Wenn jetzt viele sagen, ich hätte in mei-ner Essener Rede

wo jeder Schuß autorisiert wurde

das Signal gegeben zur Disziplinlosig-keit, ja sogar das Signal, plündern zudürfen oder ähnliches mehr, so verwah-re ich mich dagegen. Aber ich binnicht so feige gewesen, abzurückenvon dem, was sie getan haben, sondernich habe es gut geheißen. Und wennsie im Überrausch der Ereignisse ge-fehlt haben, so haben wir Führer dieSchuld. Denn wir haben das so gepre-digt. Wir werden weiter säubern, uner-bittlich! – – ausrotten – –

Und kein Haar gekrümmt! Es kom-men die Streifzüge der Braunhem-

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den, bei denen Braunhemden erbeu-tet werden, die jene anlegen, umStreifzüge unternehmen zu könnenund wohl auch jeweils den, der dieEntdeckung ermöglicht. Es kommendie Greuel, die durch Trophäen offen-bart werden und eben jene Propagan-da zur Folge haben, deren »heute fest-stellbares Ende« an dem Tag wahrge-nommen wird, wo sie beginnt. Verwir-rung der Sinne, Verwirrung des Ge-fühls, das den Boykottag als Tag dernationalen Ehre empfindet und selbstnicht den Abbruch als Schmach. Undvon jeglicher Niederlage bis zum Tri-umph der Sinnentäuschung – immerdie gleiche Antinomie der Erschei-nungen, die sich aber gerechterm Er-wägen und tieferm Eindringen un-schwer als Polarität des Wesens her-ausstellt, an dem die Welt zu gene-

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sen fürchtet. Kein Zweifel, zwischender handelnden und der redendenFunktion des Deutschtums bestehtkein Verdacht einer Mitwisserschaft,ja selbst innerhalb der Rede keineVerabredungsgefahr. Es liegt im We-sen, es ist weltanschaulich und kanndurch Einwirkung von Morphiumoder Alkohol höchstens in den Formenbeeinflußt werden. Diese eigenartige,weil arteigene Stellung zur Tatsäch-lichkeit, identisch mit der schon imWeltkrieg beobachteten »Mentalität«,die so zum Dementieren des Hand-greiflichen neigt, sie wäre vom Au-ßenstehenden gar nicht zu erfassen,wenn er sich scheute, das Irrationa-le heranzuziehen und dessen Veran-kerung im Quartär für einzig richtig-gehend zu halten. Solcher Denkart,die selbst durch ihr Handeln nicht so

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verblüffen kann wie durch die Gleich-zeitigkeit der Abrede, in die es ge-stellt wird, ist im weiten Umkreis ih-rer Schrecken ein einziger Widerparterstanden. Einer hat gegen die kör-pernahe Drohung der Lüge Tat undWitz ausgespielt. Der unbekannte Zi-vilist:

Auf dem Kurfürstendamm drangen die-ser Tage in ein bekanntes Geschäft SA-Leute ein. Sie benahmen sich äußerst ge-fahrdrohend und der Sohn des Besitzerslief, während sein Vater im Laden fest-gehalten wurde, um Polizeischutz. Er riefder Schupostreife zu, in seinen Laden sei-en Kommunisten eingedrungen. Vor denSA-Leuten wiederholte er, er halte siefür verkleidete Kommunisten und Pro-vokateure, da sich, wie aus den amtli-chen Berichten hervorgehe, die SA gesit-

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tet und gesetzmäßig benehme. Nach län-geren Verhandlungen blieb der Schuposchließlich nichts übrig, als die SA-Leuteaufs Polizeirevier zu bringen.

Nie gab es bessere Geistesgegenwart.Hätten alle den Einfall gehabt, dar-auf zu bestehen, daß Lüge Wahrheitsei, die deutsche Welt sähe andersaus und den Gläubigen des Irrational-sozialismus würde nicht die nieder-schmetternde Enthüllung, daß ihreWahrheit Lüge war. Und erspart blie-be uns der Erdendreh, der sich vongestern auf heute vollzieht: von derVerklärung des Schlachtentodes zuder Ansicht, daß »jeder Krieg Wahn-sinn« sei; von dem total unblutigenVerlauf einer Revolution, von demProtest gegen das »falsche Gerede von

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Barbarei«, zu der authentischen Les-art:

Wenn’s Judenblut vomMesser spritzt ,

Geht ’s uns noch mal sogut.

Es hat sich zwar als Trugschluß her-ausgestellt, ist aber als Marschliedmit ausgesprochener Coué-Wirkungerhalten geblieben und dürfte dieQuintessenz dessen darstellen, was,als »SA-Geist« berufen, teils als Cha-risma, teils als Lebensgefahr gedeu-tet, teils von Wehrlosen, teils vonMachthabern gescheut wird und Reli-gionsphilosophen wie Benn und Bin-ding interessiert, aber nicht fesselt.Daß die, die es singen, noch mitder Prämisse flunkern sollten, wennschon der Schluß nicht eintrat; daß

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es nur eine harmlose gefährlicheDrohung wäre, indem es uns zwarnicht noch mal so gut, aber den Ju-den nicht schlimmer geht; ja un-sere Notlage geradezu ein Beweis,daß das mit dem Messer nur Auf-schneiderei ist – für solche Lügner,die so wolffbüromäßig eine Parole er-klären sollten, kann man die Betro-genen denn doch nicht halten undden einzigen Punkt des nationalso-zialistischen Programms, der ehrlichund konsequent verwirklicht wur-de, nicht auch noch in Zweifel zie-hen. Die Betrüger freilich möchtengerade ihn vor der Welt verleug-nen, der sie »Krokodilstränen« [diein Hitler-Versammlungen wirklich ge-sehen wurden] um »das hundertfachverdiente Verbrecherschicksal einerkleinen Minderheit« vorwerfen, der

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Welt, die sich aber aufheiterte, als sie– am 6. August – zugleich die Versi-cherung empfing:

Bei der nationalsozial ist ischen Re-volution sind noch keine 20 Men-schen ums Leben gekommen.

Wenn das wahr ist, wäre die Paro-le Lüge und die wirtschaftliche NotDeutschlands erklärt. Da ich aberallein von einer Familie weiß, diemit fünf Mitgliedern, also mindestensdem vierten Teil, zu diesem Gesamt-verlust beigetragen hat und noch et-wa zehn Einzelfälle kenne, so würdesich – ohne Vermutung weiterer Mög-lichkeiten und vorausgesetzt, daß dieoffiziellen Angaben [Wolff und »Con-ti«] Greuellügen waren wie daß keinesder tausend Todesfakten, die via Lon-don etc. gemeldet wurden, wahr ist, ja

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daß nicht einmal das Blutbad von Kö-penick stattgefunden hat, das als sol-ches schon die Zahl erreicht – so wür-de sich mein Wissen annähernd miteiner Tatsächlichkeit decken, die eineNation umfaßt. Schwerer als ich hates Amerika mit der Kontrolle der An-gabe, die es vom Führer empfangenhat und die bloß die Sicherheit au-toritativer Bürgschaft bietet. Leichtdagegen könnte es die Verläßlichkeiteiner anderen gegenständlichen Ver-sicherung prüfen, die keine Tatsa-che betrifft, sondern ein Versprechen.Der Führer, an dem nunmehr auchein katholischer Geistlicher die gött-liche Sendung erkannt hat und demman zwar den Irrtum einer Anga-be – falsche Information durch unter-geordnete Organe –, aber doch kei-ne unwahre Zusage imputieren könn-

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te, hat sich schon einmal den Ameri-kanern gegenüber bereit erklärt, rei-sewilligen Volksverderbern die Tau-sendmarktaxe draufzuzahlen; diesehaben jedoch, offenbar am oder imVaterland hängend, keinen Gebrauchgemacht. Nun hat er, abermals in ei-nem Interview, an die völlig einleuch-tende Formulierung, daß die Haltungder Außenwelt gegenüber Deutsch-land diesem so unverständlich sei,»wie es Deutschlands Wiedergeburtder Außenwelt zu sein scheint«, dieerweiterte und offenbar bindende Er-klärung geknüpft:

ich sage noch einmal, wir zahlenFracht und Spesen und geben einkleines Bankkonto dazu, wenn ihr siehaben wollt!

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Das Problem der Emigration machtden Staaten über alles hinaus zuschaffen, was Menschlichkeit vor dererwürgten Existenz von hunderttau-send leiblich Geretteten zu leistenvermag. Werden sie es verschmähen,die Großmut des Würgers beim Wortzu nehmen? Sie könnten es mit gutemGewissen tun, da das kleine Bank-konto in vielen Fällen von einem zu-rückbleibenden größeren abgezogenwürde. Man darf nicht zugeben, daßvon der konkreten und feierlichen Zu-sage, ein Entkommen statt zu hin-dern noch zu fördern, nichts als dieAusflucht dessen bleibt, der sie ge-macht hat, und daß Hoffnung nur derHohn des Unglücks war. Die Außen-welt mag Deutschland verstehn odernicht verstehn – sie darf es nicht dul-den, noch in ihrem eigenen Rayon

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belogen zu werden. Was nicht durchWolff gesprochen wurde, hat wahr zusein! Heraus mit Fracht, Spesen undkleinem Bankkonto! Juden raus! Me-tapher werde Wirklichkeit – umge-kehrt wird nicht gefahren! Die Weltnimmt beim Wort, wenn es ihr direktgesagt war. Freilich, unser Bundeslei-ter Proksch, der ohne Bankkonto ent-kam, hat den Kernspruch geprägt:

Worte, durch die Tat auf ihren Ge-halt geprüft , erweisen sich nichtimmer als der Ausdruck der Wahr-heit.

Und mit dem Gehalt geht oft noch diePension verloren. Doch warum machtman nicht wenigstens beim HerrnLey die Probe, der zwar ein Mannder Tat ist, aber in Genf auf den An-wurf, daß »zehntausende deutsche Ar-

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beiter in Gefängnissen und Konzen-trationslagern schmachten«, zu erwi-dern wußte, er lehne es ab, »auf ein soniedriges Niveau herabzusteigen«, je-doch insofern in die Materie einging,als er sagte:

Man kennt Deutschland nicht. Ichlade darum gern die ganze Gruppe aufmeine Kosten nach Deutschland ein,um sich die Konzentrationslager anzuse-hen und sich ein Bild von Deutsch-land zu machen.

Warum geht man auf so etwas nichtein, natürlich unter der Bedingung,daß die Inspektion ohne Ansage er-folgt? Gewiß, auch Gauleiter sindWürdenträger, die zur Tagesordnungschreiten, und angesichts der Chan-ce, die jener Marschgesang eröffnet,können sie indigniert sein, wenn sich

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der Gegner »zu der Behauptung ver-stieg, daß in deutschen GefängnissenBlut fließe«. Doch Worte sind nichtwie Taten abzuleugnen, bei denen derPartner nicht dabei war; der Rede, diees versuchen wollte, kann das Zitatantworten. So wäre die Ausflucht derUnblutigen vielleicht durch dieses zuhemmen:

Unsere Bewegung hat Tod, Blut, Wundenund Tränen gebracht. Laßt sie nicht imKitsch verkommen.

Wie das siebente Gebot gegen diesenlautet. Aber nein, es ist nicht das Ge-ständnis nationaler Mörder, sondernbloß das Bekenntnis nationaler Mär-tyrer, daß sie nicht deutsch können;denn sie meinen wohl nicht das Blut,das die Bewegung »gebracht«, son-dern das sie gekostet hat. Wie immer

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dem sei, sie rühmen sich auch dessen,was sie leugnen, und auch Schießenist ein Gebot.

Denn unbezähmbar ist der Drangnach Erneuerung der Gebote, ge-gen den die alten nichts mehrauszurichten vermöchten; undfata-morganahaft lockt der Heili-genschein, der im Blutdunst ersteht.Daß sich die Gleichschaltung vonNibelungen und Hunnen unter derSonne vollziehen kann, verhindert sienicht, trotz allem, was sie sieht, zulachen. Denn der Versuch, noch Tagund Nacht gleichzuschalten, kommtihr untunlich vor, wie etwas, demzum Hirn-Gespinst etwas fehlt. Dochdie Erdenwelt tut unrecht, wenn siedem, was sich in ihrer Mitte abspielt,mit Skepsis begegnet. Geschieht esnicht zum erstenmal, daß das dunkle

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Wort »fröhliche Urständ feiern« an-schaulich wird? Bedarf ’s noch einerUrsache für das, was Ursache selbstist? Die Welt verwundert sich desVolkes: kein Wunder, daß sich dasVolk der Welt verwundert. Stellt siedie Täter vor die Tat, so machen siegroße Kinderaugen, wie der Wolf, demman das Märchen vom Wolf erzählte.Denn sie haben, was sie Böses taten,doch so gut gemeint und können nichtfassen, daß man sie so arg verkennt.Auf die Gefahr hin, ihrem Bekenntnisuntreu zu scheinen, dessen Parole»Juda verrecke!« mindestens alsWunsch aufgefaßt wurde, beteuernsie, nichts dergleichen sei geschehen.Es war eine Lüge, jetzt sprechen siewahr. Gewiß, es muß ein Mißver-ständnis sein, und vielleicht wäre esdurch die Erkenntnis zu beseitigen,

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daß sich hier eben mit schrankenloserOffenheit ein Wesen kundgibt, dasvon Natur nicht schlecht ist, nur mitspezifischen Sinneswerkzeugen seinTun verrichtet und verantwortet.Daß der Volksgenosse die Dinge nichtglaubt, von denen er vielleicht einmalhört, mag noch durch die Absper-rung zu erklären sein, die sich imUmschwung der Lebensverhältnisseals notwendig herausgestellt hat.Daß er aber auch die Dinge nichtglaubt, die er sieht, ja nicht einmaldie, die er tut; daß er nicht weiß, waser tut, und sich darum gleich selbstvergibt, das zeugt von einem Gemütohne Falsch, dem die Andersgear-teten wohl ausweichen, aber nichtmißtrauen sollten. Da ihm die Gabeward, nicht lügen zu können, undweil es doch auch unmöglich wäre,

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so viel zu lügen wie der Tatbestanderfordern würde, so kann nur einmediales Vermögen im Spiele sein,das solchem Wesen die Dinge, dieaus Illusion erschaffen sind, wiederdurch Illusion entrücken hilft. Schondie konsequente und auf den erstenBlick etwas stupide Vergeltung politi-scher Ansichten, deren Zurücknahmekeinen Pardon gewährt, und garvon Tatsachen der Geburt, die durchnichts gutzumachen sind, und wenneiner auch noch so sehr bereute, Judezu sein – schon solche Unversöhn-lichkeit beweist doch, daß kein Planam Werke ist, sondern etwas wie einvages Sehnen, irgendwo hinaus zuwollen, vermutlich um einen Platz ander Sonne zu gewinnen, den man demandern nimmt.

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Diese UnvergleichlichenWollen immer weiter,Sehnsuchtsvolle Hungerlei-

derNach dem Unerreichlichen.

Und dann wieder diese rührende In-konsequenz, nicht nur in den Richtli-nien, sondern auch in der Befolgung:wenn zum Beispiel ein Jude auf derSpandauer Brücke geprügelt wird,weil er die Fahne nicht gegrüßt hat,und ein anderer Jude in der NeuenFriedrichstraße geprügelt wird, weiler durch seinen Gruß das Deutsch-tum beleidigt hat. Konsequent nurdas Staunen, daß, wie man’s macht,es nicht recht sei. Ein SA-Mann prü-gelt auch im Ausland:

Der Täter wurde sofort ergriffen undins Gefängnis gesteckt. Als ihn die Poli-

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zei festnahm, war er außerordentl ichverwundert, da er doch nicht andersgehandelt habe, als das in Deutsch-land üblich sei.

Daheim werden Diplomaten geprü-gelt und gefragt, »was sie denn alsAusländer in Deutschland zu tun hät-ten«. Triebhaft ist es, nicht geplant.Das wäre ja eine primitive Psycholo-gie, welche dem Traumleben, das dieMaße verschiebt, Berechnung unter-stellte. Durch die ganze Reihe der Ge-sichte, die so vom Reichstagsbrand biszu den erfolgreichen Missionen Ro-senbergs und Habichts vor uns an-rückten, den Versuchen, England zugewinnen und Österreich zu erobern,hat doch jeder Tag den Eindruck vonetwas noch mehr Sonderbarem alsSchrecklichem hinterlassen, zu des-

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sen Erklärung nichts übrig bleibt als:Ehrlichkeit. Wenn die Umwelt, diesich der Armeniergreuel erinnert [ge-gen welche sie eingreifen konnte], anTorturen Anstoß nimmt, deren Ersin-nung weit mehr Phantasie gebrauchthat als zu ihrer Erfindung nötig wäre,so bekommt sie zu hören:

Glauben Sie uns, es tut uns allen weh,auf welches Unverständnis manch-mal unsere Maßnahmen stoßen.

Sie meinen’s nicht so; sondern im-mer nur anders. Sie fühlen die Ver-gewaltigung, wenn man ihnen Hand-lungen zutraut, die sie begehen. Sol-che Handlungen pflegen sie dann als»angeblich« zu bezeichnen, eine kur-ze, aber gute Formel des Entschlus-ses, sich auf so etwas gar nicht ein-zulassen, bezogen von der Unanfecht-

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barkeit einer Staatsmoral, die sichauf die Angeberei dessen gründet,was nicht geschehen ist. Um für denUnbefähigten eine Funktion freizu-bekommen, beschuldigen Taschendie-be den Funktionär der Gewinnsucht,und indem man einer gerichtlichenÜberführung die ins Konzentrations-lager vorzieht, wird der Verdacht er-härtet, daß er wie zum Amt zu al-lem fähig war. So wird das Angebli-che wirklich und das Wirkliche an-geblich; und das eben bedeutet dengroßen Durchbruch zum »neuen Zi-vilisationstyp«, dessen Begriff die Li-teraten beistellen: daß der Mörder,wenn er dazu noch lügt, nicht ge-mordet hat und daß die Feigheit desMords ihm ein Heroenmaß leiht. Esist die prinzipielle Tarnung, die sichdurch das Wörtchen »angeblich« voll-

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zieht, welches wir im Kommentar derBegebenheiten immer wieder auftau-chen sehen. Daß es Greuel gibt, derenGeruch zum Himmel dringt, weiß dieWelt natürlich längst und erträgt sol-ches Wissen. Aber sie genießt offen-bar auch das Schauspiel einer mora-lischen Ausdauer, die ihr noch heu-te »angebliche Greuel« offeriert, oh-ne die Antwort zu empfangen: Schluß!Weg! Hinaus aus dem Planeten!

Im Gegenteil, sie protestieren sel-ber, und zwar gegen »österreichischeGreuel«. Gegen die Art und Weise,wie man hier ihren agent inspecteurbehandelt hat. Gegen die Polizeistra-fen, die hier ihre Getreuen erduldenmüssen. Sie erbringen photographi-sche Beweise, wie wirklich und nichtetwa angeblich Verhaftungen erfolgt

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sind. Sie beschweren sich im Rund-funk, daß man einen deutschen Jour-nalisten die Zelle eines österreichi-schen Homosexuellen teilen ließ [washier vielleicht noch als Courtoisie be-schönigt wird]. Man verfolgt Bomben-werfer, die doch nur Kurse abgehal-ten haben; Idealisten, die praktischnichts getan haben als Schwefelsäurein Postkasten und Dreck in Automa-ten. Darum wehren sie sich mit demAufschrei:

Und da schweigt das Weltgewissen?

Mit dem Tonfilm:

Erschütternde Bildervon der Not eines geknechteten

Volkes.

Und darum haben sie sich nicht an-ders helfen können als mit der Ab-

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sperrung der Grenze, mit der Ausrei-sebewilligung für Attentäter, mit derAufstellung einer Legion, mit der Re-voltierung eines Landes, von dem ge-sagt werden kann:

Die Polit ik der österreichischen Re-gierung hat zu einer al lgemeineninternationalen Beunruhigung ge-führt.

Man darf aber nicht glauben, daß esim Handumdrehn gelänge, das kunst-volle Netz dieser Kreuzspinne zu ent-wirren, und daß Entwirrung die Flie-gen, die sie fing, zu sich brächte. Hun-dert Maschen greifen ineinander zuLug und Trug: Man weiß von nichtsund redet von etwas anderm; manhat nichts getan, aber der andre istdran schuld; es ist nichts geschehnund er hat es getan; man bezichtigt

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den, der die Wahrheit sagt, der Lüge,auf der man ertappt wurde. Man fin-det was man tut, tadelnswert, sobaldes der andre tut, oder wenn man’sbloß selbst tut. So kann man in derTelephonzentrale politische Gesprä-che ausspitzeln und in der Zeitungden »zunehmenden Unfug der Ab-horchung« beklagen; man kann »denFeuerüberfall aus sicherem Versteckfeigen, gemeinen Meuchelmord« nen-nen, und ihn ausführen. Was du nichtwillst, daß man dir tu, erlüg und fügdem andern zu: Flugzeugpropagan-da. Der Einbruch in Österreich isteine innere Angelegenheit Deutsch-lands und »die Verschlechterung derenglischen Stimmung ist wohl dar-auf zurückzuführen, daß die englischeÖffentlichkeit die Absichten Deutsch-lands gegenüber Österreich nicht ver-

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steht«; infolgedessen gibt es einenangeblichen deutsch-österreichischenKonflikt und eine angebliche Ein-mischung Deutschlands in österrei-chische Verhältnisse durch angeb-lich erfolgte Abwerfung von Flug-blättern auf österreichischen Boden,während die wirkliche auf deutschenBoden zu einer angeblichen Aufrüs-tung Deutschlands auf dem Gebietder Luftfahrt beigetragen hat, wor-aus sich die angebliche Demarche derMächte erklärt. Daß die Unabhän-gigkeit Österreichs gesichert werdenmuß – erklärt das Wolffbüro demSchafbüro –, ist klar, aber ihre Verlet-zung geht weiter und der angeblicheWortbruch wird nicht auffallen, wennman noch das Kommuniqué des Ver-sprechens fälscht. Will uns die Weltdann noch immer nicht verstehen, so

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wird sie gefragt, »ob denn die großeFriedensrede des Reichskanzlers vomMai schon vergessen« sei. Gleichzeitigverlangt der General Epp die Koloni-en und ergänzt die pazifistische Ein-sicht, daß die Regierung wegen Ver-sailles diesen Kampf nicht unterstüt-zen könne, durch die Feststellung:

Die nationalen Verbände sind aber an dievorsichtige Behandlung der Fragedurch die Regierung nicht gebun-den.

Wenn nun die bayrische Staatsregie-rung zu der ihr noch näherliegendenösterreichischen Frage erklärt, daßihr wie der SA-Führung von Schwie-rigkeiten an der Grenze »nicht dasgeringste bekannt« ist und daß »nie-mand in Bayern daran denkt, sichin die inneren Angelegenheiten Öster-

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reichs einzumischen«, so ist es wiedereine vorsichtige Behandlung, an diedie nationalen Verbände nicht gebun-den sind. Nicht einmal ein bayrischerMinister, jener Frank II, der von al-lem Anfang an dem Terror der öster-reichischen Regierung den Entschlußentgegengehalten hat, »die Sicherungder Freiheit unserer deutschen Volks-genossen in Österreich vorzunehmen«und durch eben den General Epp»Ordnung machen zu lassen«, derzwischen den Vertragspflichten einerRegierung und der nationalen Not-wendigkeit zu unterscheiden weiß.Der Welt geht es durcheinander. Daßsie die Taten, die seit einem hal-ben Jahr vollbracht wurden, hinge-nommen hat, liegt wahrscheinlich ander lähmenden Wirkung des Entset-zens. Wie aber kam sie an den Worten

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ohne Gehirnkrampf vorbei? Und im-mer noch folgt Fortsetzung. WährendHinterlist das Mittel der Offenheitnicht verschmäht, bietet das Schuld-bewußtsein dem Ankläger die Stir-ne. Das spielt sich in den schlichtes-ten Formen einer Frechheit ab, überdie eine Dialektik der Gewalt ver-fügt, wirkt aber gerade dadurch ver-blüffend und entzieht sich der Erfas-sung. [Wir wollen dieses Verfahren»Uschla« nennen und behalten unsdie Erklärung des nicht minder rät-selhaften Ausdrucks vor.] Auf öster-reichischem Terrain ist es eine Argu-mentation, die so ins geistige Bruder-land entwischt, wie der Täter, den siedeckt, ins geographische. Flucht undAusflucht im Vertrauen auf ein Ge-setz der Trägheit, das aber zum Glückdurch Notverordnung ersetzt wurde.

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Hier konnten Mitwisser von Bom-benwürfen ein Spiel der Versionenaufführen: von der konkreten Anga-be, daß es Kommunisten waren, wel-che »Matuschka-Methoden anwand-ten«,bis zu der grausen Mutmaßung,daß sich jener unglückliche JuwelierFutterweit aus Parteihaß, Reklame-sucht oder Hysterie selbst zerrissenhabe:

Hat man Angst, einen zweiten Meiler-Skandal heraufzubeschwören, bei demstatt eines Küchenmessers einigeBomben Anwendung fanden?

Konnte der Satiriker der Bomben-presse fragen, eine Persönlichkeit,von der sich später herausstellte, daßsie, fern jeder Fiktion, für Einbruch,Diebstahl, Betrug und Veruntreuung

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mit vier Jahren schweren Kerkersvorbestraft ist; und griff zum Pathos:

Wir haben die Wahrheit nicht zufürchten. Wir werden sie selbst su-chen helfen und keine Mühe scheu-en, die wahren Täter zu entlarven.

Die Begründung dafür, daß es nichtNationalsozialisten sein konnten, ent-behrt nicht des ethischen Beisch-macks:

Es ist nicht unsere Art, durch Bom-benwürfe auf jüdische Geschäftsin-haber arische Käufer oder unschul-dige arische Straßenpassanten zugefährden.

Da die Überführung parteigenössi-scher Meuchelmörder bevorsteht, soerscheint die Bevölkerung

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von unverantwortl ichen Elemen-ten, deren Persönlichkeit nochimmer unaufgeklärt ist, begreifl i -cherweise sehr beunruhigt.

Als, ohne jegliche Mühe der Mitwir-kung, die wahren Täter entlarvt wa-ren:

Solange die Polizei nicht die Namender Verhafteten veröffentlicht hat, istes unmöglich, die Gerüchte und Be-hauptungen zu kontrol l ieren.

Da sich herausstellte, daß die meistenentwischt waren [was jener wußte]:

In sage und schreibe fünf Fällen ist esder Polizei nicht gelungen, einen ein-zigen Täter zu erwischen ... Wo sinddie Täter, die nach Steidle schossen? Wodie Täter, die eine Höllenmaschine insPortal des Einheitswarenhauses auf der

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Wieden legten? Wo die Täter, die denSprengkörper in der Produktenbörse de-ponierten?

Der eine schrieb aus Bayern, er habejetzt einen fabelhaften Trainer,

entweder ich trainiere oder ich faulenzeund bade.

Einen kriegte man erst, als er mitfalschem Paß zur Reprise heimkehrte.Die vollkommene Überführung par-teiamtlicher Bombenwerfer aber –was bedeutet sie?

Keine Betei l igung der NSDAPan den Bombenattentaten

nachzuweisen.

[Uschla!] Seit jener Weltkriegsszenehat Wagenknecht die UnterweisungSedlatscheks fortgesetzt, welcher nun

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nicht mehr bloß aus linguistischemInteresse fragt: »Herr Oberbomben-werfer, derf ich jetzt eine Bombenoberwerfen?« Soweit man der Schülerhabhaft werden konnte, äußert sichdie Verantwortung in einem Gebildeaus angelernter Dementiersucht undbodenwüchsiger Verlogenheit, jargon-mäßig gemischt aus diesem grauen-haft stereotypen »Ja-woll!« und »I waßvon nix«, »I hab nix tan«; sie könnensich an nichts erinnern und sie ha-ben sich beim Rauchen einer Zünd-schnur nichts gedacht; erst aus denZeitungen haben sie erfahren, daßes eine Höllenmaschine war. Alleinnicht die Anschauung des Auswurfs,dem die nationale Praxis vorbehal-ten ist, sondern das Bild der geis-tigen Schmiede, das die Dokumenteder ,Reichspost‘ enthüllt haben – das

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ist es, was das Unglück erst fühl-bar macht, daß ein Staat an so et-was seine Sorge und Wehrkraft wen-den muß; und was die Vergeblichkeiteiner satirischen Erfassung zeigt, deres Hohn spricht. Gräßlich diese aus-führenden Proleten, gräßlicher dieseMittelstandsmachiavells. Bevor mander Lebensgefahr staatsmännisch ge-rüsteter Kriminalität bewußt wird,fühlt man sich schon ins Gehirn getre-ten von der Vorstellung, daß eine Ge-sellschaft von Postenfanatikern, miß-vergnügten Philistern, die sich mitScherznamen anrülpsen, von »Flatte-rern« und Gatterern, von »Schweins-köpfen«, die einander vor dem Futter-trog auffressen, daß solche Sorte dasMittel hat, an dem die Welt genesensoll. Es ist so beschaffen:

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Zugegeben sei, daß diese dritte Möglich-keit ein sogenannter »jüdischer Dreh«ist. Aber gesetzlich ist er zulässig undunanfechtbar ... Das Blatt muß zur Er-bauung unserer Parteigenossen dienen... Ein Evangelium muß sonach ver-kündet werden. – Immer und immerwieder. Das kann nicht konfisziert, nichtunterdrückt werden, besonders wennman es vornehm, kurz so hält, wie ei -ne Predigt in der Kirche sein sol lte.. So kann man sich mit einigem Ge-schick eine Anzahl von Wochen, viel-leicht sogar von Monaten durchlavie-ren. Das aber ist in der gegebenen Situa-tion die Hauptsache – Erbauung brau-chen unsere Leute: dann werden siedie jüdische Presse nicht lesen .. DerChefredakteur müßte eben zu diesem undzu jenem Minister sich hinbegeben, mitihm einige freundliche Worte reden, ihn

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daher einschlummern und auf die-se Art täuschen. Denn ums Täuschengeht es anfänglich. Daß man diese Tä-tigkeit auf das Glänzendste mit ei -nem sehr nützl ichen Kundschafts-dienst verbinden kann, sei nur ne-benbei angedeutet.

Aber es genügt, um die bekann-te Kulturmischung von Schokolademit Knoblauch, Gurgelabschneidermit Treublick, Gangster mit Heili-genschein zu agnoszieren. Dazu ge-hört natürlich ein Braunwelsch, ausdem sich zur Not entnehmen läßt,daß der Habicht den Proksch umdie Ecke bringen wollte, denn dieserhatte zwar Erlaubnis von Motz undRohm [»mit« einer der Besten, die wahaben], aber:

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Darauf hat man seitens Habicht ge-wartet, um ihn mittels Uschla-Ver-fahren außenpolitisch kaltzustellen.

Es bedeutet also, außer schlech-tem Deutsch in jeder Letter, einen»Untersuchungs- und Schlichtungs-ausschuß«, der sich wohl nicht so sehrmit Sprachproblemen als mit Feme-mord befaßt. Damit aber auch garnichts mehr fehlt: noch etwas vomWolffbüro, nämlich daß es nicht wahrist, daß man von nichts weiß, miteinem Wort daß sich unter den Do-kumenten angebliche Briefe des Au-ßenpolitischen Amtes befinden. Mandenkt nicht daran, das Tor Öster-reichs mit List oder Gewalt aufzu-sprengen, i wo! Keine Spur von ir-gendwas, kein illegaler Kurierdienst,keine Wirtschaftssabotage, wir ste-

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hen nicht »mit Siemens wegen ei-ner Verschärfung der Lage in Verbin-dung«, keine getarnte Presse, keineMinisterialspionage, keine Verschwö-rung gegen Österreich, keine Legi-on vor dem Tor. Wie konnte so einMißverständnis entstehen! Es kannnur versichert werden, daß »von ei-nem deutschösterreichischen Konfliktselbstverständlich nicht die Rede seinkann«, außer etwa der im Rundfunknoch zu hörenden. Die Deutsche Ge-sandtschaft eine Agentur für Hoch-verrat an Österreich? Bitte: die Doku-mente sind von ihr

im Benehmen mit dem Bundeskanzler-amte einer Prüfung unterzogen worden.Der Gesandte stel lte dabei fest

daß er von nichts weiß, und wie sichder Partner benahm, fragt man dann

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gar nicht, weil es die deutsche Spra-che in sich hat, die deutsche Sa-che glaubhaft zu machen. Uschla! Al-les glaubhaft, nichts mehr überra-schend, ja, wenn Österreich nicht Ru-he gibt, so ist Deutschland imstandund bringt es vor den Völkerbund!Es ist die ultima ratio – Habicht hatgewarnt. Diesmal ging’s noch. Ber-lin kann »feststellen«, es sei »erfreuli-cherweise rasch und vollständig Klar-heit geschaffen worden«; freilich mußhinzugefügt werden:

Es ist aber nach wie vor bedauer-l ich, daß man in Österreich zu solchenMitteln gegen einen stammverwand-ten Staat greifen zu müssen glaubt.

Will denn Österreich noch immernicht Unruh geben? Der Böseste kannnicht in Frieden bleiben, wenn es dem

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frommen Nachbar nicht gefällt, undwenn er sich immer wehrt! Wie oft hatHitler Dollfuß gemahnt, daß »sich mitGewalt in der Politik nichts ausrich-ten lasse«! Nein, eine Grenze hat Ty-rannenmacht und der ,Völkische Be-obachter‘ bricht aus:

Mögen die verantwortlichen Männer inder Regierung weiterhin die Rechte desVolkes mit Füßen treten; ein furcht-bares Erwachen wird ihnen am Tageder kommenden Erhebung die Gewißheiteinhämmern, daß man mit Wil lkür undVerboten nicht straflos ein Volk re-gieren kann.

In Deutschland bekommt ein Aus-länder für einen Brief, worin er»Maßnahmen der Regierung gegendie Juden« mitgeteilt, sich also des»schwersten Mißbrauchs der Gast-

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freundschaft« schuldig gemacht hat,bloß zwei Jahre Gefängnis, und die-selbe horrende Strafe wird in Öster-reich dem Volksgenossen zuteil, dernichts als den Versuch unternommenhat, ein Judenviertel in die Luft zusprengen. Und welch ein Kontrast:Während Deutschland unter der Herr-schaft Adolf Hitlers einem wirtschaftli-chen Aufschwung entgegengeht, geht Ös-terreich unter der Gewaltherrschaftdes Herrn Doll fuß zugrunde.

Uschla. Alles wird eulogisch. Immer-hin, ein Stachel bleibt. Resignati-on des Bruders, dessen Liebe kei-ne Landesgrenze kennt; Staunen undSchmerz:daß harmlose Touristen in einemBruderstaat einer derartigen Behand-lung ausgesetzt sind.

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Man weißdaß es keinen wahrhaft Deutschen gibt,der Österreich und sein Volk nicht wiesein eigenes Volk l iebt.

Daß noch der steckbrieflich Verfolg-te aufgenommen wird, als wäre er zuHause. Man weiß,Österreich ist von jeher die Sehnsucht al-ler Deutschen,

welcher selbst eine Taxe von 1000Mark kein Hindernis bedeutet unddie ihre Erfüllung nötigenfalls nochmit weiteren Repressalien durchset-zen wird, dennRhein und Donau sind im Range völliggleichwertig.

Was aber selbstverständlich nicht dieentsprechende Schaltung erfordert,da im Gegenteil

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das, was der Deutsche an Österreich undan seinen Bewohnern liebt, was ihn im-mer wieder an die Donau zieht, ja geradedie Eigenart des Österreichertums ist.

Da freilich dem Setzer dieser Umhal-sung, die den Titel führt:

Österreich über al les; NotwendigeKlarstellungen

die Sache etwas verdächtig war, sostellte er sie noch klarer:

Deutschland will mit Österreich, mit demes durch unlösbare Banden des Blutesverbunden ist, zumindest innerlich ver-bunden bleiben. Das ist al les.

Und mehr kann man schon nicht ver-langen. Bereits im Juni hat Goebbelserklärt, daß sich die Reichsregierunggegenüber Österreich »von keinerleiParteirücksichten leiten« lasse

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sondern nur von dem Wunsche, Zwi-schenfäl le zu vermeiden, die dasVerhältnis zwischen Österreich undDeutschland stören könnten.

Hat denn Österreich »ein Interessean einer Verschärfung der Beziehun-gen«?Von deutscher Seite, das dürfte kei-nem Zweifel unterl iegen, werde dasGegentei l angestrebt.

Zweifelt man aber auch noch, daßmeine Erfassung des Typus »verfol-gende Unschuld« schon im Weltkriegden Schlüssel zum Verständnis gebo-ten hat? Wenn »der Viermächtepaktkeine geeignete Plattform« ist, dieseFormel ist eine! Und eine noch bes-sere die Wahrnehmung: sie schaltennicht so sehr gleich wie um; sie über-wälzen; sie machen Untersuchungs-

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und Schlichtungsausschuß. Was sietun, ist handgreiflich, aber da sie’sfaustdick hinter den Ohren haben,wird es angeblich; sie machen einenWirbel, und es ist in Ordnung, sie trü-ben das Wasser und schaffen Klar-heit; sie machen Uschla:

Was ist denn eigentl ich gesche-hen? Flugzeuge nicht erkennbarerHerkunft haben Flugblätter über ös-terreichischen Orten abgeworfen, diesich gegen die jetzige österreichischeRegierung wendeten.

Das ist alles.Doch an einem heuchlerischen

Weltgewissen, das Deutschlandgrundsätzlich mißversteht und beijeder Lappalie Lärm schlägt, istHopfen und Malz verloren. Wie man’smacht, ist’s nicht recht. Als eine Frau

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Jankowski unter der Behandlungdurch SA-Männer zusammenbrach –was doch kein Wunder ist, wenn einDutzend Bewaffnete einer einzigenFrau gegenüberstehn –, da rührtesich die ,Times‘ mit einem Artikel.Aber von der Aufklärung durch einMitglied des Reichspresseamtes:

»Die Jankowski hat ihren Lohn empfan-gen. Sie können ruhig sagen, daß ich eserklärt habe!«

nimmt sie nicht Notiz. Auch nichtdavon, daß man, weil sie dauerndesSiechtum vom Schauplatz trug, gegensie die Untersuchung wegen Greu-elpropaganda eingeleitet hat. Wannwar es jemals bei einer Revolutionder Fall, daß man sich zu jeder un-vermeidlichen Begleiterscheinung umAufklärung bemüht hat? Und wel-

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che Regierung hätte so offen und be-harrlich gegen Einzelaktionen Stel-lung genommen, welche sie wie denBissen Brot braucht, den sie den Ein-zelakteuren nicht bieten kann? DieVerkennung der Schwierigkeiten istum so befremdender, als sich doch imKleinen wie im Großen die Tendenzzum Einlenken bemerkbar macht, jaselbst ein leichter philosemitischerAnhauch, und ohne die Besorgnis, daßhier Großmut für Schwäche gehaltenwerden könnte. Außen und innen ge-schieht genug, um den Eindruck zuerwecken, daß Berserker mit sich re-den lassen, man gewahrt von Versail-les abwärts die Bereitschaft zu Kon-zessionen, und wenn sich der Mostauch ganz absurd gebärdet, gibt eszuletzt doch die Möglichkeit, daß dasMenschenleben durch einen Hundert-

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markschein gerettet wird, währendman anderseits doch mit der größtenEnergie Eingriffen ins Wirtschafts-leben entgegentritt. Der wenngleicherfolglose Versuch, sich’s mit denAntwerpener Diamantenhändlern zurichten, ist ebensowenig unbemerktgeblieben wie das gelungene Arran-gement mit den Leipziger Pelzjuden.Besuchern der Messe aber wird ei-ne Vergünstigung in Aussicht gestellt,sie können sich davon überzeugen

wie das ganze deutsche Volk nur das einehohe Ziel kennt und erstrebt: in Friedenund Freundschaft mit allen Nationen zuleben ....

Juden ’rein? Doch nicht nur auslän-dische, nein auch inländische sindwillkommen. Wohl kann es passieren,daß das Landgericht Berlin einen jü-

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dischen Kaufmann, der vor den Au-gen der Polizei ausgeplündert wurde,mit der Begründung abweist, er ha-be es sich selbst zuzuschreiben, denner mußte sich darüber klar sein, daßsein Betrieb zufolge seiner Abstam-mung »eine außerordentliche Provo-kation der überwältigenden Mehrheitdes deutschen Volkes« vorstelle, al-so von vornherein mit der Möglich-keit der Zerstörung rechnen, eine Ge-fahr, die eben in das Unternehmerri-siko einzukalkulieren sei. Ja, es ist so-gar möglich, daß derselbe Mann vomSondergericht eingesperrt wird, wenner behaupten wollte, »den Juden inDeutschland gehe es nicht gut«, dennes wäre eine Meldung über angeblicheGreuel. Aber daß er auf der BraunenMesse willkommen geheißen wird, istdoch auch möglich. Es wird zwar von

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den Ausstellern der Nachweis ver-langt, daß es sich um deutsche Fir-men handelt. Aber

damit sollen zweifel los auch soge-nannte »nichtarische Firmen« alsAussteller angeschlossen sein. Einkäu-fern aber solle ohne Rücksicht auf Na-tionalität und Rasse Gelegenheit ge-geben werden, sich von der Leistungsfä-higkeit und den bodenständigen Ei-genarten der deutschen Industrie durcheigene Anschauung ein Bild zu machen.

Uschla. Die einzige Schwierigkeit be-steht, namentlich für die ausländi-schen Juden, die noch nichts davonwissen, in dem Badeverbot, das inzwi-schen erlassen wurde [und zwar mitder Begründung, daß aus dem Was-ser zeitweise Knoblauchgeruch aus-strömt]. Aber erstens kann man es

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als Lüge darstellen und zweitensläßt sich in besonders berücksich-tigenswerten Fällen eine Ausnahmemachen. Der Plan, auf den Reichs-bahnen Judenwaggons einzuführen,wurde ventiliert, aber zurückgestellt.Auch sonst hat das Wirtschaftsle-ben gewisse Opfer im Ideellen erfor-dert. So haben die leitenden Stellendie untergeordneten Organe, die imStaatsleben so häufig Verwirrung an-richten und besonders bei einer Re-volution in überschwänglicher Ver-kennung des Unterschieds zwischenMein und Dein wie leider auch Armund Reich, alle Juden über einenLeisten schlagen, ausdrücklich dar-auf hingewiesen, daß es sich nur dar-um handeln könne, jüdische Ange-stellte um ihre Posten zu bringen. DieBeschaffungsstellen sollen »sich jeder

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Schnüffelei enthalten«. »WeitläufigeUntersuchungen nach der Ariereigen-schaft«, die »namentlich bei Aktien-gesellschaften fast undurchführbar«sind, müssen unter allen Umstän-den vermieden werden; »ausschlagge-bend ist, ob deutsches Personal be-schäftigt wird«. Man kann nicht im-mer feststellen, ob »das Kapital ei-ner Unternehmung deutsch sei odernicht«, und man soll gar nicht fest-stellen, »in welchem Umfang nich-tarische Persönlichkeiten vorhandensind, da dieser ganze Fragenkomplexnicht so einfach ist« und »durch un-bedachte Maßnahmen manchmal ei-ne Störung des gesamten Wirtschafts-lebens erfolgt«. Ferner ist für dieAdolf Hitler-Spende, deren Freiwillig-keit in umfassender Weise durchge-führt wird, eine großzügige »Betei-

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ligung insbesondere auch jüdischerUnternehmungen grundsätzlich vor-gesehen« [denen »hieraus Vorwür-fe und Nachteile nicht erwachsensollen«], widrigenfalls diese Firmenden Ausweis nicht erhalten könntenund »demzufolge vor weiteren Einzel-sammlungen nicht geschützt« wären,welche oft nicht unbedenklich verlau-fen. Wie man sieht, leben die Judenunbehelligt, solange man nicht ih-ren Geschäften nachgeht, und das Be-wußtsein, als gleichberechtigt in einSystem der Erpressung einbezogen zusein, das die ganze Nation umspannt,bietet doch eine gewisse Genugtuung.Alles vollzieht sich in den Riesenma-ßen des Brillantfeuerwerkes, das vonder irdischen Krise den Blick zum Fir-mament zieht: Piraten lenken pyro-technisch ab, das Volk ohne Unter-

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schied der Rasse schaut zu und sieht,was ihm für sein Geld geboten wird.Die Kurierung des Wirtschaftslebensaus dem Punkt der Rasse hat gewis-se Reibungen hervorgerufen, aber er-staunlich ist auch wieder, wie einfa-che Auswege sich finden lassen. Einoptisches Wunder hat sich bei derAllgemeinen Elektrizitätsgesellschaftbegeben, wo es gelungen ist, Judenunsichtbar zu machen und doch zu be-halten. Dieser Gesellschaft hätte wohlkaum der Umstand geholfen, daß sievon Rathenau gegründet wurde; inBerücksichtigung dessen jedoch, daßfünfzig Prozent der Produktion sichauf Länder erstrecken, die dem Ju-denboykott abhold sind, ließ sich, mitHochachtung vor den gegenseitigenLebensrechten und unter völkerver-bindender Sicherung der Volkstümer,

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eine Verständigungsformel finden, diefaktisch als recht verstandene Welt-bürgerlichkeit anmutet, eine Lösung,die geradezu eine Plattform ist. Siewird im Rechenschaftsbericht der Ge-sellschaft ausdrücklich als solche be-zeichnet und wie folgt hingelegt:

.. Man glaube nun eine Lösung gefundenzu haben, die den inländischen Inter-essen Rechnung trägt, ohne das Aus-land vor den Kopf zu stoßen. DieseLösung bestehe darin, daß der wesent-l iche Teil der jüdischen Herren imBetrieb verbleibt, aber aus dem Ver-kehr mit dem inländischen Publi -kum zurückgezogen wird. Auf Grunddieser Absprachen habe die NSDAPdie AEG nunmehr als nichtjüdischeund nicht überfremdete Firma aner-

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kannt. Sie werde nicht anders behandeltals andere deutsche Unternehmungen.

So etwas von Uschla, zwischen idea-ler Forderung und Realität, war nochnicht da. Ei des Kolumbus, faul abernahrhaft. Das Ausland, das dem Vor-urteil huldigt, an dem Moment derRasse uninteressiert zu sein, soll sei-ne Juden, zum wesentlichen Teil, be-halten, für das Inland bleiben sie ge-tarnt. Nun, es ist keine hundertpro-zentige »Meisterung der Verhältnis-se«, keine Anpassung der Verhältnis-se an das Programm, doch ein Aus-gleich zu 50, den da die NSDAP mitder AEG., aus Zweckmäßigkeitsgrün-den, getroffen hat, und er bedeutetin seiner Einfachheit zugleich die Lö-sung der Judenfrage. Es ist nichtSchuld der NSDAP, die mit so glück-

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licher Hand Schwierigkeiten unter-sucht und schlichtet, wenn darausneue entstehen und eben das, was soeindeutig am Tage liegt, die Mißdeu-tung vermehrt. Denn in allen Gestio-nen, des Angriffs wie des Entgegen-kommens, will doch die übelwollendeWelt eine Denkart verkennen, die biszur letzten Konsequenz ohne Ahnungihrer selbst und ihrer Wirkung bleibtund mit totaler Naivität Handlungensetzt, die man sonst erst als Karika-tur erfinden müßte, um sie ad absur-dum zu führen, also dorthin, wo siesind. Es ist ein Spaß, wie wenn Feen»ein Kind der Mittelwelt« wittern undden ertappten Falstaff nach Hausespotten. Deutschland spricht eine an-dere Sprache als die, in der man lacht,und hört es darum nicht. Oder hältsolche Wirkung für das Mißverständ-

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nis der andern, die aber durchaus in-formiert sind und als der verstehendePartner einen Schritt zur Verständi-gung tun sollten.

Es kann sich einzig doch darumhandeln, mit etwas gutem Willen deranderen Naturanlage gerecht zu wer-den, die eben die andere Betrach-tungsweise gewährt, indem ja nachdem Dichterwort das, »was Brot in ei-nes Sprache, Gift heißt in des andernZunge« und insbesondere »der Grußder frommen Lippe Fluch scheint indem fremden Ohr: das ruft diesenSchmerz empor«. »Nun, so lernt dennseine Sprache«, heißt es aber weiter,»er wird eure nimmer lernen!« Manmuß mit Deutschland deutsch spre-chen. Eine gewisse Erleichterung desVerkehrs wäre zunächst schon ange-bahnt, indem man einfach vorweg an-

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nimmt, daß das Gegenteil gemeintsei, wiewohl auch das nicht sicherist. Wissen wir denn, wie ein Löwedie Dinge sieht? Wir können ihn nurnach seinen Taten beurteilen; finge erplötzlich an zu sprechen, wer weiß,was für ein Kommuniqué da heraus-käme und wie dargetan wäre, sie sei-en für das Königreich getan wordenund im Ethos ihm keins der andernRaubtiere vergleichbar. Das Geheim-nis, das der Preuße für die Verar-beitung von Eindrücken hat, deutetsich wohl an, aber ohne sich zu ver-raten, vor allem in der unbeirrba-ren Erfolgssicherheit bei Unterneh-mungen, die zum Scheitern verurteiltsind. Scheut vor keinem technischenFortschritt zurück, um der Welt adoculos et aures zu demonstrieren, wasihr mißfallen muß, und ihren Beifall

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für Erscheinungen anzusprechen, de-ren Zeitgenossenschaft zu teilen sieverschmähen möchte. Man sollte aberglauben, daß auch einer deutschenMehrheit, die aus Geschöpfen Gottesbesteht, diese Lautsprecher von Na-tur, denen sie sich ausgeliefert hat,Mißbehagen verursachen; man solltehoffen, daß ihr die Erweiterung derakustischen Möglichkeiten des Rund-funks und der optischen einer illus-trierten Presse das Bewußtsein derAbsurdität beibringt, die ihrem kul-turellen Dasein nunmehr aufgezwun-gen ist. Fällt es den Deutschen nichtauf – denn den andern fällt es auf –, daß keine Nation nicht nur so häu-fig sich darauf beruft, daß sie einesei, sondern daß im Sprachgebrauchder ganzen Welt durch ein Jahr nichtso oft das Wort »Blut« vorkommt wie

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an einem Tag dieser deutschen Sen-der und Journale? Blut und Erde, alsgäbe es so etwas nur hier. Und im-mer neue Begriffsbestimmungen fürden Deutschen, für die Deutsche undfür das Deutsche, als wäre das al-les eben erst von einer deutschenExpedition entdeckt worden. Mam-mutknochen aus der Scholle geholt.»Der deutsche Mensch«, »der deutscheArbeitsmensch«, das Staatsvolk, derReichsbürger, der dem Reichsvolk zu-gehört, und dergleichen mehr, womitsich der Armut keine Stulle belegt.

Sind’s Menschenstimmen, diemein Ohr vernimmt?

Wie es mir gleich im tiefstenHerzen grimmt!

Gebilde, strebsam, Götter zuerreichen,

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Und doch verdammt, sich im-mer selbst zu gleichen.

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Die Ungestalten seh ich anAls irden-schlechte Töpfe,Nun stoßen sich die Weisen

dranUnd brechen harte Köpfe.

Sollten denn nicht wenigstens die-se Stimmen und diese Gesichter demvon einer Mutter Geborenen Auf-schluß gewähren, indem er dochnichts hört als das Gebell des im-mer gleichen Inhalts und als hoch-politische Faktoren Monstren gewahrwird, wie sie Präuschers Panoptikumzeigt, weil sie einst auf Dienstbo-ten mit Sparkassabuch magnetischgewirkt haben, und vor allem dasschlichte Antlitz, dem man schon in

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einem alpenländischen Gasthofe be-gegnet sein muß, dessen Dependanceeiner »Teppetanz« nannte. Was sichda in allen Varianten einer als Zielset-zung keineswegs erwünschten Volks-mäßigkeit darbietet, in allen Typender Erdgebundenheit zwischen Wa-terkant und Mühlviertel; wie da un-ermüdliche Illustration dem Versuchgerecht wird, eine »art- und blut-mäßig bedingte politische Führeraus-lese aufzubauen« – daß solches er-mutigend und nicht eher deprimie-rend wirkt, das ist das Phänomena-le. Man weiß schon, es sind Hero-en, die den Befehl gaben, Gefange-ne anzuspucken; aber warum immerwieder die Visagen vorführen? Wennder neue Ernährungsminister emp-fahl, »Kampfuntüchtige in Sümpfenzu ersticken«, was bisher nur erfolg-

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reich mit Russen unternommen wur-de, so erhält man durch diesen An-schauungsunterricht wahrlich einenso niederschmetternden Begriff vonEugenik wie der biedere Kent, als ervor der Runde ausbrach:

Herr! Grad heraus und offenist mein Brauch:

Ich sah mitunter bessere Ge-sichter

Als hier auf irgend einerSchulter jetzt

Vor meinen Augen stehn.

Also das sind die, die die andern ste-rilisieren wollen? Wie, und der Be-trachter verspürt nicht Sodbrennen,wenn immer wieder vor Gruppen Ei-ner leutselig und insbesondere kin-derlieb erscheint?

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Sein Herz gehört der Jugend.Die Schuljugend von Oberstaufen mit ih-ren Hakenkreuzfahnen hat’s dem hohenHerrn besonders angetan.Dieses kleine Mädchen rief dem Führeraus der harrenden Menge zu: »Ich habeheute Geburtstag«, worauf es von AdolfHitler zu Kaffee und Kuchen eingeladenund mit Bild und Namenszug beschenktwurde. Links Reichsjugendführer Baldurvon Schirach.

Und überhaupt: dieses gigantischePfauenrad einer Popularität, vor derdas Dasein Bismarcks zum Inkogni-to wird; dieses unersättliche Byzanzaller Arten von Lächeln und Hände-druck mit Hoch und Nieder, Auwi undUnterwelt; diese unerschöpfliche Mo-notonie der Gesichter, hinter derengleichgeschalteter Sehnsucht riesen-

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groß die allbegnadende Form durch-scheint; dieser tausendfache Zerrspie-gel aller Positionen zu Land und Luft-hansa, mit allem, was da kreucht undfleucht, und noch mit den Amateurin-nen in dem Moment der Ekstase, woes knipst – wem, der hineinschaut,würde nicht für Volk und Menschheitbangen? Einem nicht:

Er liest keine Bücher. Ihn interessierennur die tatsächlichen Probleme des Le-bens ... Seine Lektüre besteht aus i l -lustrierten Zeitungen.

Und sie zeigen ihn noch, wie er sieliest, allein oder kordial mit Göring,der, als Hias verkleidet, sich mit ihmfreut. Und es ist die Lektüre der Mil-lionen, denen alles vor Augen trittund nichts auffällt. Selbst wenn ein-mal mitten drin »Leidende Mensch-

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heit« erscheint und das Weltbild Fol-terungen einbezieht. Denn es sind janur indische Selbsttorturen, und daß»Haken durchs Rückenfleisch getrie-ben« werden, geschieht bloß zu Ehrender Göttin, während der heimatlicheZustand durch ein Frühlingsidyll an-schaulich wird, zu dem ein zärtlichesPaar den Hymnus anstimmt:

Raus aus Berlin,Wenn in Werder die Äppel

blihn!Von Liebe geplappert,Mit de Oogen geklappert!Heut is uns die janze Welt

ejal:Komm Mieze, trinke mal!

Diese Stellung zur Welt, die öfter so-gar scheißegale Formen annimmt –nun, sie zeigt, daß nur eine beson-

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dere Fasson angestrebt wird, seligzu werden. Solche Intention ermög-licht die Unbefangenheit, ihre Ver-kennung einfach nicht zur Kenntniszu nehmen, die Gunst der Mißgünsti-gen anzusprechen und brüsker Ableh-nung mit dem Versuch der Werbungentgegenzutreten. Früh genug hat jader Führer die Erkenntnis ausgespro-chen:

Wenn die deutsche Nation den Zustandihrer drohenden Ausrottung in Europabeenden will, dann hat sie nicht in denFehler der Vorkriegszeit zu verfallen undsich Gott und die Welt zum Feind zu ma-chen.

Gelingt’s ihr trotzdem, so sind Vor-kehrungen zu treffen, und bange ma-chen gilt bekanntlich nicht. Wie wennnichts geschehen wäre oder nur et-

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was, was beliebt macht, frisch, unbe-fangen, ein unreiner Tor, tritt manvor die Welt; bleibt ihr die Spuckeweg, wird man sie umso eher her-umkriegen. Wider Erwarten gelingt’snicht. Die Mission Rosenbergs. dendie Londoner Polizei vor dem Erfolgseiner Absicht, Sympathien zu errin-gen, schützen mußte, stieß also aufsGegenteil, und man mag begreifen,daß ihm bei den vielen Erkundigun-gen nach der und jener Einzelaktiondie Geduld riß, so daß er die Fragereinfach mit dem Bescheid abfertigte,man könne »sich doch das alles nichtmerken!« Wie wenig ehrliches Stre-ben nach Beliebtheit gewürdigt wird,beweist schon der Umstand, daß dieenglische Presse selbst für Annoncen-geld nicht bereit war, den deutschenFremdenverkehr zu fördern, ein Ver-

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halten, dem gewiß keine Repressa-lien drohen würden. Aber das mußman schon sagen: der Parsifal war einRoué gegen den Tumben, der mittenin die Panik, die sich des Auslandsnach dem Boykottag bemächtigt hat-te, mit der Forderung trat:

in der ganzen Welt Freunde für dendeutschen Gedanken der nationa-len Erhebung zu werben und Mit-arbeiter zu finden für dieses neueDeutschland.

Schlagartig, wie dessen größte Tatbegonnen und wie sie abgebrochenward, ließ sich nunmehr – eine Wo-che danach – die Gelegenheit derSchmutzkonkurrenz ergreifen:

Das Wort »Deutschland ist das bil l igsteLand der Welt« sollte im Rahmen der

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Propaganda eine schlagartige Rollespielen.

Flair, Takt, Ethos – alles muß zusam-menwirken. Jetzt ist der richtige Mo-ment; wie einst, als in Gaswolken un-ser Benedikt dem Reisenden gebot,die Fühlhörner auszustrecken und dieKundschaft abzutasten. »Es kann of-fenbleiben«, ob diese Propaganda, dieim richtigen Zeitpunkte einsetzt, »le-diglich wirtschaftlich orientiert« seinsoll; doch wenn auch die Wirtschaft»der Hauptinteressierte« ist,

so kommt es doch darauf an, fürDeutschlands Kultur als solche inder Welt zu werben.

Wann denn, wenn nicht jetzt? Dem In-und Ausland sei ständig vorzuhalten

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wie unsinnig es in den meisten Fäl-len ist, Auslandsprodukte und Aus-landskultur deutschem Gut vorzuzie-hen.

Die Propaganda soll insbesondere»durch Plakate in der Auslandsspra-che, durch die Verteilung von Zetteln«erfolgen. Es kann »dafür gesorgt« wer-dendaß die ausländische Presse – und sei esim Inseratenteil – immer wieder auf dashinweist, was Deutschland zu bieten ver-mag.

Doch selbst der Inseratenteil zeigtesich abgeneigt, während der Textteilsich schon damals selbstlos in denDienst der Propaganda für Deutsch-lands Kultur stellte, und so ausgie-big, daß die Welt wußte, wie viel ’sgeschlagen hat. Und da es unter der

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Diktatur des Zufalls keinen gibt, sofolgt dem Vorschlag zur Güte eineKriminalplauderei auf dem Fuß, undder Blick [kein Zusammenhang ent-geht ihm, keinem kann er entgehn]erfaßt, was dem Berliner von 1933durch den Kopf geht: etwas aus demHamlet, zwar nicht das, was zumHimmel stinkt, aber doch etwas vonMord, denn schwarz auf weiß ist dazu lesen, daß er, »hat er schon kei-ne Zunge, mit wundervollen Stimmenspricht«.

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Doch der Mörder bleibt ohne Ah-nung der Tat wie ihrer Wirkung, under hat eine Art, sie in den Bereichder Menschheit zurückzunehmen, dieihm wirklich deren Sympathien ge-winnen müßte. Es geschah ja doch al-les im guten Glauben, welcher darumauch von der Welt verlangt wird, dieerfährt, wie ein Fall, hingestellt alseine der grausigsten Bluttaten nacheinem Verzweiflungsausbruch des Er-mordeten, sich in Wahrheit abgespielthat:

Dr. Ernst Eckstein, der als einer derersten polit ischen Funktionäre inSchutzhaft genommen wurde

– also geradezu ein Akt der Protektion–

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konnte sich nur schwer mit den Be-dingungen der Haft abfinden. . .

Man hatte ausgesprengt, diese Be-dingungen wären Zwangsarbeit unterKolbenstößen, Peitschenhieben insGesicht, Einnahme von Rizinus, Teil-nahme an Sprechchören, und was der-gleichen Mißverständnisse mehr sind.Gab es doch auch gelegentliche Rund-fahrten durch die Stadt in einem nied-rigen Rollwagen, angeblich unter demGejohle nationaler Kämpfer, währendandere Zuschauer erschüttert wein-ten.Noch vor 14 Tagen war er bei Arbei-ten für das Breslauer Konzentrationsla-ger beschäft igt.

Keinesweg »im«; eine Art Bürotätig-keit. Freilich nicht ohne körperlicheErtüchtigung, die der tatkräftige Hei-

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nes, der selbst einst ein Beispiel ge-geben hat, für seine Schutzbefohlenenvorsieht. Einer von diesen behauptet:

Er mußte schwere Steine karren undwurde, wenn wir anderen Ruhe hatten,zum Reinigen der Latrine kommandiert.Während er in deren Inhalt herumwüh-len mußte, wurde er Besuchern des La-gers gezeigt.

Doch, wie das schon so kommt, trotzsolcher Ablenkung überließ er sichkopfhängerischer Schwermut, zu derer offenbar neigte. In einem Anfall,nämlich

von seelischer Depression verübte er inseiner Zelle einen Selbstmordversuch.Zuletzt verweigerte er die Aufnahme vonNahrung, so daß sie

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– man wollte ihn dem Leben und derArbeit erhalten –

ihm künstlich zugeführt werden mußte.

Man tat das Erdenklichste. Ärztewurden herbeigeholt. Sie führen seinAbleben

in erster Linie auf die freiwil l igeSelbstaufgabe zurück.

Die er leider wichtigeren Aufgaben,die seiner harrten, vorzog. Man hat-te ihn, kombinierte die Greuelphanta-sie, von Breslau nach Oels gebracht[Sitz des Kronprinzen], wo ihm »instundenlangem Prügeln Lungen undNieren zerschlagen wurden«; er wim-merte die ganze Nacht; es hieß

anscheinend sei er im Kopf nicht mehrganz in Ordnung .... Man brachte ihn sei-ner unglücklichen Mutter .. Sie ließ ihn

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in die Irrenanstalt an der Einbaumstraßeüberführen; dort ist er dann bald gestor-ben.

Die geringe Widerstandskraft der In-haftierten gibt oft zu Klagen Anlaß.Kaum ist einer ein paar Stunden imLager, heißt es bereits:Er mußte ins Krankenhaus gebracht wer-den.

Manche erweisen sich schon auf demTransport dahin als »zur Inschutz-haftnahme nicht fähig«, und es mußder Weitertransport ins Krankenhauserfolgen. Wiewohl die Fahrt im of-fenen Auto angetreten war, vorbeiam Spalier einer frohbewegten Men-ge. Die Wahrnehmung, daß einer sichschon in diesem Stadium als »haftun-fähig« herausstellt, erfolgt nicht ohneeinen gewissen Vorwurf. In solchem

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Fall wird auf Grund von Aussagen derBegleitmannschaft der folgende amt-liche Bericht [der Bochumer Polizei]ausgegeben:

Sein Körper weist eine Anzahl Schlag-wunden auf. Auch wurden teilweiseBesinnungs- und Bewußtlosigkeit kon-statiert. Zur Zeit besteht Lebensgefahr.Unter welchen Umständen die Ver-letzungen entstanden, war bishernicht festzustel len, da noch Ver-nehmungsunfähigkeit vorl iegt.

Die Organe, die die Verhaftung vorge-nommen hatten und den Mann nichtaus der Hand ließen, standen voreinem Rätsel; er kam nicht wiederzu sich, und der Fall ist unaufge-klärt geblieben. Die gewissenhaftes-te Ermittlung führt manchmal zukeinem Resultat. Wirtschaftsfaktoren

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müssen bekanntlich oft »wegen Ver-dachtes der Untreue«, einer höchst ta-delnswerten Eigenschaft, in Schutz-haft genommen werden; einer zeigtesich noch beim Transport unzuverläs-sig, denn er

brachte sich am Arm und an der Schlä-fe Verletzungen bei, die jedoch nicht le-bensgefährlich sind.

Was eben auch vorkommen kann. Be-sonders schwer hat man es mit denPolitikern. Manche Abgeordnete, diesich bloß auf dem Weg in den Reichs-tag befinden, noch nicht einmal in dieSchutzhaft, werden spitalsbedürftig.Immer wird solches mit einer gewis-sen Teilnahme festgestellt. Einen bul-garischen Arzt, der aus der Schutz-haft herauskam, aber Spuren der Be-mühung aufwies, die man an ihn ge-

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wandt hatte – er war als Ausländerbloß durch drei Tage behandelt wor-den und überdies durfte seine Fraudabei sein – also man brachte ihn imAuto weg und die Begleitperson frag-te teilnehmend:

Hat man Sie geschlagen? Ach, wie pein-lich!

Zuweilen wird nicht ohne Bedauernfestgestellt, der Gesundheitszustandlasse zu wünschen übrig. In vielenFällen wird freilich Wehleidigkeit be-obachtet. Ein polnischer Arbeiter zumBeispiel brüllte so laut, daß es überdas ganze Lager hin gehört wurde,später erfuhr man die Ursache:

.. er ist an Herzschwäche gestorben undwar übrigens staatenlos.

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Die meisten sterben eines natürlichenTodes. Oft wird Erschöpfung konsta-tiert; zuweilen ein Schwächeanfall,in dessen Folge einer drei Stockwer-ke tief in den Hof des Dienstgebäu-des hinabstürzt, und die Aufsichts-person beklagt die Unvorsichtigkeit,einem offenstehenden Fenster nahe-zukommen. Nicht selten erfolgt auchein Nervenzusammenbruch, nament-lich bei Reisenden, an denen dannSelbstmord verübt wird. Was dieseTodesart betrifft, so erscheint sie ein-fach unverständlich, wenn sie sich vorder Verhaftung vollzieht, für welchenFall nur bemerkt werden kann:

Über die Beweggründe zur Tat ist nichtsbekannt.

Bei Oberfohren vermutet man, er ha-be sich den Besitz einer Denkschrift

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über den Reichstagsbrand zu Herzengenommen. Wenn sich aber hartnä-ckig Gerüchte behaupten, daß der Todvon anderer Seite herbeigeführt wur-de, so bleibt dort, wo tatsächlich dasGrauen vor dieser Welt den Schrittherbeigeführt hat, die Feststellungnicht ohne Eindruck:

Es liegt einwandfrei Selbstmord vor.

Entsprechende Aufklärung fand aucheiner der Zwischenfälle auf demMünchner Gesellentag, wo ein Pries-ter

infolge der Erregung über einen Zu-sammenstoß auf der Straße einemSchlaganfal l erlag.

Einer unnatürlichen Deutung dessel-ben – mit Bruch der Schädelbasis –widerspräche schon die Meldung:

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Die Polizeipräsidenten von Krefeld undvon München-Gladbach haben die Ab-schaffung der Gummiknüppel ange-ordnet, mit der Begründung, daß dieseWaffe eines Kulturvolkes unwürdigist.

Während das rückständige Österreichsich ihrer gegen Bombenwerfer nochbedient. Völlig rätselhaft und eherwieder auf Lebensüberdruß hinwei-send erscheint den untersuchendenBehörden die Auffindung dreier an-einander geketteten und mit Steinenbeschwerten Wasserleichen. Durch al-le Fassungen, in denen solche Unfälleberichtet werden, klingt ein ehrlichesBedauern mit, daß manche Konstitu-tion, namentlich der Intelligenzberu-fe, sich den Strapazen des Umstur-zes nicht gewachsen gezeigt hat oder

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auch daß so viele Menschen heutzu-tage durch Sorgen, Aufregungen, Un-mäßigkeit, die natürliche Dauer ih-res Daseins abkürzen. Beklagenswerterscheint aber vor allem, daß derSinn der Schutzhaft so häufig mißver-standen wird, indem sie zu Äußerun-gen des Unmuts und der Ungeduldführt, wiewohl sie doch lediglich da-zu bestimmt ist, den Funktionär oderPrivatmann vor Gewalttätigkeiten zuschützen, die ihn in der Freiheit tref-fen könnten: Politiker vor der erreg-ten Volksmenge, Anwälte und Ärz-te vor erbitterten Klienten und Pati-enten, Rundfunkintendanten vor un-zufriedenen Hörern. Noch nie viel-leicht hat es ein Zeitalter gegeben,wo ein so intensiver staatsbürgerli-cher Schutz ausgeübt wurde, dessenwohltätige Absicht jedenfalls auf ein

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besseres Verständnis Anspruch hätte.Daß ein marxistisches Vorleben odermosaische Geburt den Verdacht einerstrafbaren Handlung in sich schließt,wird kein Einsichtiger leugnen. ZurAbwendung der Folgen tritt eben dieSchutzhaft ein, welche aber erst nachAbschluß einer individuellen Über-prüfung in der SA-Kaserne bewilligtwird, deren Zweck laut polizeilicherVerordnung eindeutig bestimmt ist:

Die Festgenommenen sollen zunächsteinem nationalen Verband zuge-führt werden. Der nationale Verbandhat die Aufgabe, zur Unterstützungder politischen Polizei die Festgenom-menen eingehend über ihre Straftatvorbereitend zu vernehmen.

Dann erfolgt entweder die Abliefe-rung ins Spital oder, wenn sich die

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Haftfähigkeit herausstellt, in das La-ger, wo die Behandlung des Falles imRahmen der Gemeinschaft vollzogenwird. Man ersieht daraus, daß eineeingehende Vorbereitung angeordnetist, und wie unbegründet demnachdie Beschwerden sind, daß angebli-che Übergriffe durch SA-Organe ohneGenehmigung der maßgebenden Be-hörde vorkämen. Die Zuziehung [undin deren Folge Anlegung] des Verban-des geschieht zur Entlastung der po-litischen Polizei, die vollauf damit be-schäftigt ist, falsche Pässe für Mörder,die nach Österreich reisen, auszustel-len, die Einreisegebühr, deren Härtebeklagt wird, in solchen berücksichti-gungswerten Fällen aufzuheben undschließlich die Feststellung durchzu-führen, daß es nicht wahr sei. Wäh-rend sich diese Männer jenseits der

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Grenze den größten Gefahren ausset-zen, läßt man den Schädlingen dernationalen Erhebung noch Schutz an-gedeihen, dessen Mißbrauch freilichdie Erschießung auf der Flucht nachsich ziehen kann, welche in die Stirnerfolgt und den Unvorsichtigen vorWiederholung des Versuches bewahrt.Den Vertretern der Presse, die sichvon der mustergültigen Einrichtungder Anstalten überzeugen konnten,wurden zwar derartige, nur im äu-ßersten Fall notwendige Maßnahmennicht vorgeführt, wie sie auch nichtGelegenheit bekamen, den sonstigenÜbungen, die mehr interner Natursind, beizuwohnen. Wohl aber durftensie

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nach einer Kostprobe aus der Gefangen-hausküche noch Zeugen der Freilassungeiniger Gefangener sein.

Aber was hilft diese? Sie kommen jadoch wieder! Das Berliner Tageblattkann noch knapp vor seinem Konkursdie aufsehenerregende Meldung brin-gen:Nicht wenige bereits wieder in Frei-heit gesetzte junge Leute sind freiwil l igwiedergekommen und haben um Wei-terbeschäftigung gebeten ...Sie pfeifen auf die Freiheit, seitdemsie die Zucht kennen und schätzengelernt haben. Hatte man sich schonvorstellen können, daß so ein Lagerseiner Anlage gemäß mehr der Kon-zentrierung als der Zerstreuung die-ne, so erfuhr man nunmehr auch, daßes

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mit den Institutionen des Gottesdiens-tes und des staatsbürgerl ichen Un-terrichts, wie der Hausordnung nach,einem Internat zu vergleichen ist.

Offiziell war verlautbart worden,es seien »nach den bestehendenVorschriften ausgesprochene Erzie-hungsanstalten«, und Aufgabe derPresse war es, dem pädagogischenMoment nachzugehn, denn

vom innerpol it ischen Gesichtspunktist vor allen Dingen die Frage wichtig,ob in diesen Lagern Erziehungsarbeitgeleistet wird.

Na und ob:

Nach den bisherigen Erfahrungen kanndie Frage uneingeschränkt bejahtwerden

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bemerkt die Presse, die vielleichtsonst für sich selbst eine gewisseEinschränkung wahrzunehmen hät-te. Darum wählt sie die schlichte De-finition, das Konzentrationslager sei

eine zeitweise Freiheitsbeschrän-kung mit erzieherischem Ziel.Vielfach kann man aber auch von ei-ner seel ischen Gesundung sprechen.

Ja man muß geradezu. In Dachauhat man sogar die Wahrnehmung ge-macht,

daß die Kommunisten, die verbissenin das Lager kamen, nach einiger Zeitwieder Gefal len an guten und vater-ländischen Liedern fanden. Besonde-rer Beliebtheit erfreut sich »Ich hatt ’e inen Kameraden«.

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Kurzum, die vaterländischen Erinne-rungen

gewinnen die Oberhand

falls diese nicht gerade anderweitigbeschäftigt ist, und heute sind dieKommunisten

ganz andere Menschen als zu der Zeit,da sie eingel iefert wurden.

Während diejenigen,

die frisch eingeliefert werden, mür-risch, verstockt und vergrämt sind.

Natürlich ist nicht gemeint, daß siebei der Einlieferung noch frisch sindund später verstockt werden, sondernumgekehrt.

Nach einer Erziehungskur von einigenWochen werden auch sie andere Men-schen sein.

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Manchmal soll schon ein Tag genü-gen; darüber können sie freilich selbstnichts aussagen, erstens weil sie nichtdürfen, und dann auch, weil die psy-chische Verwandlung, die oft schlag-artig erfolgt, nicht selten Bewußtlo-sigkeit oder doch Gedächtnistrübungzur Folge hat und das Staunen überdas Ungewohnte auch Sprachstörun-gen nach sich ziehen kann. Es genügtaber die Aussage der Pressevertreter,es habe sich bei ihnen der Eindruckbefestigt,

daß Deutschland auch auf diesemGebiete nichts zu verbergen hat unddaß sich die Gefangenen über nichts zubeklagen haben.

Es geht alles wie am Schnürchen, zu-weilen wie am Strick. Jeder Verrich-tung ist ihre Zeit zugewiesen.

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Halb sechs Uhr Wecken, bis sechs UhrBetten machen.

Sie sind zwar unverkennbar ausStroh, welches aber nicht weniger alseinmal in der Woche erneuert wird.Sechs Uhr Antreten. Bis halb sie-ben Entgasung, Entlüftung. Die Hy-giene läßt nichts zu wünschen üb-rig. Arbeitsdienst, Exerzieren, Zap-fenstreich [neun Uhr] füllen den Tagaus; die Erziehungskur mit sonsti-gen Streichen erfolgt zwischendurch;der staatsbürgerliche Unterricht aus»Mein Kampf«. Hier herrscht nochOrdnung, draußen in der Freiheitgehts drunter und drüber, da ist je-dermann Führer und Geführter zu-gleich und macht auf eigene Faust,was derselben einfällt. Dort stehtder Mensch dem Irrationalen gegen-

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über, hier nur den Aufsichtspersonen.Hier will man Wankende »ertüchti-gen, um sie wieder zu vollwertigenMitgliedern der menschlichen Gesell-schaft zu machen«, dort herrscht de-ren Auswurf. Da somit Dachau, Dür-goy und Sonnenburg nicht bloß In-ternaten gleichkommen, sondern ge-radezu an Sanatorien hinanreichen,wenngleich mehr die mens sana ange-strebt wird, so wurde angeordnet, fürdie Vorteile, die der Staat durch sol-che Einrichtungen dem Pflegling ge-währt und deren Spesen sonst der All-gemeinheit zur Last fielen, eine ent-sprechende Gebühr festzusetzen.

Stuttgart, 23. Juni. Von zuständiger Sei-te wird darauf aufmerksam gemacht, daßdie Schutzhäft l inge gesamtschuld-nerisch für die Kosten der Schutz-

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haft haften. Das bedeutet die Haf-tung jedes einzelnen Schutzhäft-l ings für die gesamten Schutzhaft-kosten. Wird sie in Anspruch ge-nommen, so hat der Staat im Wegeder Umlage ein Rückgrif fsrecht ge-gen die anderen Schutzhäft l inge. .Zur Deckung der Schutzhaftkostensind daher gegen eine Reihe vermögen-der Schutzhäft l inge in der Zwischen-zeit Zahlungsbefehle in Höhe von rund100.000 Reichsmark ergangen.

Wenn der Wohlhabende, der auf dieerste Klasse Anspruch hat, sich wei-gert, einen Scheck zu unterschrei-ben, so droht ihm die dritte Klasse,doch zumeist reicht ein Verhör aus,die Unterschrift des Schecks herbei-zuführen; bei entsprechender Aufzah-lung soll auch schon Austritt aus der

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Anstalt erfolgt sein, freilich ohne je-de Gewähr für das weitere Fortkom-men. Man sieht, wie nach dem Ge-sichtspunkt einer Sozialpolitik, die al-le staatlichen Maßnahmen bestimmt,man auch in diesem Zweig der Ver-waltung darauf bedacht ist, die Un-bemittelten günstiger zu stellen, de-nen nach wie vor gratis oder dochzu mäßigen Bedingungen der Aufent-halt inklusive Verpflegung und Be-handlung zuteil wird, auf Kosten derReichen, die Sanatoriumspreise zah-len. Daß sie dem Gebotenen durch-aus angemessen sind, davon habensich die Vertreter der Presse überzeu-gen können. Beträge, die die Insas-sen beim Eintritt etwa noch bei sichhaben, werden in »Lagergeld« um-gewechselt, für das sie sich in derKantine sogenannte »Kleinigkeiten«

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kaufen können, Nahrungssurrogateund dergleichen, und dessen Scheinenebst dem Emblem des Stacheldrahtsdie Unterschrift dreier Folterbankdi-rektoren tragen. Viel bemerkt wurdeauch die Neuerung, daß ein ständi-ger Austausch der Insassen zwischenden Lagern erfolgt, womit man be-müht ist, den Klagen über Eintönig-keit des Milieus abzuhelfen, vor al-lem aber dem Personal eine gewis-se Abwechslung zu verschaffen undmit ihr Gelegenheit, die Erfahrun-gen an der Individualität des Pfleg-lings zu bereichern. Eine Einrichtung,die freilich dem Laien, dem sich jaüberhaupt leicht der Magen umdreht,als eine der raffiniertesten Ausgebur-ten der Henkerphantasie erscheinenkönnte. Man hat gelesen, daß Göring,der sich des Viehes erbarmt, die Vivi-

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sektion an diesem verboten hat, denn»es habe nicht weiter geduldet werdenkönnen, daß das Tier einer leblosenSache gleichgestellt werde«. Dawider-handelnde kommen dorthin, wo dasVerfahren ohne Narkose geübt wirdund nicht so sehr zum Zweck wissen-schaftlicher Erkenntnis als zur Zer-streuung der Sanitäter. Was da getrie-ben wird, erscheint oft sogar mit derSphäre der Musik oder des Vortrags-wesens verknüpft. Der Henker lehntam Türpfosten und singt »Morgenrot,Morgenrot, leuchtest mir zum frühenTod«. Feuer an Fußsohlen bewirkt,daß »Horst Wessel« angestimmt wird.Neben den vaterländischen Gesän-gen werden Schlagermelodien geübt,Instrumente machen die Begleitung,und es gibt da eine Pièce, die »Zither-spielen« heißt oder auch »Grammo-

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phonspielen«, wobei der auf der Prit-sche Liegende das Grammophon bil-det. Natürlich geht es nicht immerso hoch her wie im Anfang, wo nochGraf Helldorf zuschauen kam, damalsals im Braunen Haus von Annaberggleich Zweihundert mit verbundenemKopf habtacht standen und die Vari-ante sangen:

Wo hab’ ich denn die schö-nen blauen Augen her?Von der SA. Sie gibt nochmehr.

Dagegen wird aus einem Lager be-richtet, daß ein Österreicher, der inHamburg als Schiffsoberheizer gear-beitet hatte, für den Anschlußgedan-ken auf die folgende Art gewonnenwurde:

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Jeden Morgen mußte er die Unratkübelder Zelle leeren und schwenken, hieraufmit einem jüdischen Kaufmann vortre-ten. Jedem der beiden wurde ein Streich-holz zwischen Zeige- und Mittelfinger derrechten Hand gegeben, die sie alsdannzum Hitler-Gruß zu erheben hatten.

Durch eine halbe Stunde wurde nunmit dem Gruß die Lektion verbunden,»klar und deutlich skandierend« mitden folgenden Sprüchen abzuwech-seln:Der Jude: »Ich – bin – ein – stin – ki – ger– Jude!«Der Österreicher: »Und – ich – will – ein– Deut–scher – werden!«

Bei jedem Nachlassen wurde vomDeutschen Gaborinski mit dem Gum-miknüppel, der dort noch im Schwan-ge ist, eingegriffen. Nach einer soge-

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nannten »Abreibung« mit diesem, vonwelcher ihm noch heute alle Vorder-zähne wackeln, erreichte er durch In-tervention des österreichischen Kon-sulats die Ausweisung. Er war mit60 Mark und einigen Kleidern ge-kommen und ging mit dem Anzug,den er trug, und sogar noch mit 22Mark. Man darf sich aber das Wal-ten des SA-Geistes keineswegs so vor-stellen, daß er nur die schnurgeradeRichtlinie des Dreschens einhält; viel-mehr hat er Varianten der Behand-lung, die eben durch ihre Unwahr-scheinlichkeit die Greuelpropagandaentkräften. Wenn man zum Beispielliest, daß Gefangene mit den ZähnenGras rupfen müssen [bevor’s zur Me-tapher wird]; daß das Scheusal vonBreslau, der Mörder und Polizeiprä-sident Heines alte Männer peitschen

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und den früheren Oberpräsidentenvon dessen Beamten anspucken läßt;daß er ihn zwingt, auf den Hosenbo-den das sozialistische Kampfzeichenzu nähen und ihn Besuchern vorzu-zeigen – so ist man doch gewiß be-rechtigt, es nicht zu glauben. Undvollends, wenn der Manchester Guar-dian behauptet, eben jener lasse Häft-linge in einen Schweinestall führen,lasse sie »mit den Schweinen einenHändedruck wechseln und diese alsGenossen ansprechen«, während dieWärter johlend im Kreise herumste-hen. Ist es nicht begreiflich, daß dieNeue Freie Presse derartige Meldun-gen nicht verbreitet und Liebeshän-deln den Vorzug gibt? Immerhin hatEuropa via London und Paris erfah-ren, daß viele Gefangene von Dürgoy,woselbst jene Lustbarkeiten stattfin-

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den, gebrochene Rippen haben; undalle vierzehn Tage werden sie

unter Eskorte nach Breslau geführt unddurch die Straßen geschleift. Währenddes Marsches müssen sie singen ...hohlwangig, mit erloschenen Augen wan-ken sie daher, ein Zug von verhungerten,verprügelten Jammergestalten, die nichteinmal von ihren Freunden erkannt wer-den, die sie erwarten, um einen Blick mitihnen zu wechseln.

... Welchen Gebrauch macht aber Eu-ropa von der Kenntnis? Und davon,daß »nichts in der Bewegung ohnemein Wissen und ohne meinen Willengeschieht«? Und von dem Statthal-terwort: »Nichts darf geschehn, wo-mit der oberste Führer nicht einver-standen sein kann«? Und fragt die-sen Amerika, ob er den Qualentod der

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Anwälte Günter Joachim und AlfredStrauß, die Hinschlachtung des Mi-nisterpräsidenten Stelling, des halb-blinden Paul v. Essen und all der Blut-zeugen von Köpenick, ob er insbe-sondere die Massakrierung des Mäd-chens unter den noch nicht zwan-zig Fällen berücksichtigt hat; und ober sich bei der Zählung der Schat-ten nicht verzählt. Und dringen, ihmnicht nachts an sein Ohr Laute, »baldschrill, bald dumpf, wie Uhuhu, Uhu-hu« – einstige Insassen, die als Trüm-mer von Geschöpfen Gottes heraus-kamen, sagen, daß sie noch heut ausdem Schlaf fahren, aufgerissen in dieErwartung, daß das Signal »Raus!«nun auch ihnen gilt. Es sind dieSchmerzenslaute Geschlagener. Nichtzu verwechseln mit Tönen des Tags,mit Frühlingsrufen, die von einer be-

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sonderen Prozedur im Thüringischenherrühren. Dort befinden sich hohePappeln, auf die Ausgesuchte steigenmüssen, um auf den Ästen bis zumZapfenstreich sitzen zu bleiben. Dannerfolgt der Befehl, »Kuckuck!« zu ru-fen. Doch während dieser von Natur-schwärmern ersonnenen Übung, dieein schußfertiger Revolver befeuert,steht ein sozialdemokratischer Re-dakteur auf einer Kiste und meldetvon früh bis zum Abend mit lauterStimme:

»Ich jüdisches Journalistenschwein habefolgende Artikel geschrieben: ...«

und auf der Kiste daneben betet einFreidenker das Vaterunser. Und wä-re, nach Austilgung aller Spuren ei-nes Gedenkens an Marx und Lassal-le, die seelische Wandlung vollkom-

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mener darzubieten als durch den Vor-gang von Dachau, wo Neugläubigedamit beschäftigt wurden, ein HorstWessel-Denkmal zu errichten? Gewiß,unglaubhaft ist dies alles der Welt,weil sie einer deutschen Zone, derenEntfesselung wohl die primitive Ge-walttat vorstellbar macht, diese erfin-derische Phantasie, diesen Reichtuman immer neuen Formen der Quäle-rei und Erniedrigung, diese Roman-tik der Menschenschändung so lan-ge nicht zutraut – bis sie es erlebtund erduldet. Und könnte sie denn ihrTagwerk verrichten, ihren Schlaf fin-den, wenn sie sich vergegenwärtigte,daß diese Dinge just in dem Augen-blick der Vorstellung geschehen, im-mer weiter geschehen, daß Menschenliegen und nicht schlafen, bis sie ge-schlagen werden und die Schläge zäh-

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len müssen, und daß es in Pein undErwartung der Pein, im Grausamenohne Sinn und Aussicht, Möglichkei-ten gibt, vor denen Tortur und Ge-fahr der Kriegszeit verblassen? Undwagt sie den Blick in ein Inferno, woErdulden jeglicher Art, Schmerz undBlut, die gräßliche Lust dieser Schin-der erhitzt, die von Breughel und Hie-ronymus Bosch gruppiert sind, ausdem Mittelalter ausgebrochen, umdort Versäumtes nachzuholen. Siehtsie die Augen dieser Komparsen desSchreckens, deren geschlechtliche Ju-gend die rätselhafte Verbindung vonQual und Wonne erlebt und behält?Denn selbst hier, bis zur Orgie inBlut und Kot, hat Natur ihren An-teil, und ein Höllentor ist eröffnet,aus dem es keine Rückkehr gibt fürden Genießer; und keine Rettung der

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Menschenwürde, die solchem Bedürf-nis erlag... Was dagegen die Vertreterder deutschen Presse anlangt, so ha-ben sie in Aussicht gestellt:

über die gewonnenen Eindrückefreimütig und wahrheitsgemäß zuberichten.

Sie haben ihre Zusage gehalten. DieKonzentrationslager, die dem Bedürf-nis entsprechend immer weiter ausge-baut werden, sind heute eine Institu-tion, auf die nicht allein die Welt mitNeid blickt, sondern um die, trotz demStreben nach deutscher Totalität, einWettstreit der Provinzen entbranntist, so daß der sächsische Innenmi-nister erklären konnte, jene Tendenzkönne nicht hindern, daß Sachsendem Reiche weit voraus sei:

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So haben wir al lein über das Dop-pelte an Schutzhäft l ingen als dasviel größere Preußen! Jeden, ganzgleich in welchem Lager er sich befin-det, werden wir einsperren, wenn er Un-zufriedenheit verbreitet.

Alle Lager enden schließlich im Kon-zentrationslager; die günstigen Er-fahrungen, die man mit der Bekeh-rung und Ertüchtigung Mißvergnüg-ter gemacht hat, haben die Hambur-ger Polizei ermuntert, ihr Augenmerkauf die Wassersportler zu richten, dieoft ausgelassen sind, und da deutscheBehörden auch gern Ulk treiben, sowurde jenen gedroht, sie ins Konzen-trationslager zu bringen,

damit sie dort Unterricht über An-stand und Sitte erhalten.

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Die unleugbaren pädagogischen Er-folge haben aber wieder das fort-schrittliche Württemberg auf den Ge-danken gebracht, auch ein Konzen-trationslager für Frauen zu eröffnen.Damit wird nicht bloß Gleichberech-tigung angestrebt, sondern auch demVorurteil begegnet, als ob die Frau imDritten Reich nur gebären dürfe, al-lem Anschein nach ein Mißverständ-nis des Planes, kinderlose Ehepaareöffentlich zu diffamieren. Diese Maß-nahme freilich hat sich darum als not-wendig herausgestellt, weil man Sol-daten braucht, deren Heranzüchtungnoch dringender scheint als die vonDirigenten aus eigener Kulturkraft,welche das Andenken Toscaninis er-ledigen sollen. Es geht auch tatsäch-lich nicht an, daß Paare, welche manheiratswillig gemacht hat, die Zucht-

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prämie von 1000 Mark einstecken, dieder Mann, anstatt seine vaterländi-sche Pflicht zu erfüllen, vielleicht zurEinreise nach Österreich verwendet.Die Bevölkerungspolitik des DrittenReiches bietet ja auch insofern nichtgeringe Schwierigkeiten, als die Dif-famierung der Kinderlosigkeit wiederin gewissem Widerspruch zu der Ab-sicht steht, behufs Erziehung im na-tionalsozialistischen Sinne den Elterndie Kinder, die sie haben, wegzuneh-men, was die Kollegen in Chicagoohne jeden pädagogischen Vorwandins Werk setzen und jedenfalls oh-ne vorherige Ankündigung. Das Pro-blem der Fortpflanzung ist letzten En-des auch darum eine harte Nuß, weilinsbesondere in Preußen die Jung-mannschaft durch Gewöhnung an dengleichgeschalteten Verkehr vielfach

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der Richtlinien für sie entbehrt undbei dem, was Hänschen nicht lernt,die Grete zu kurz kommt. Aus die-sem Festhalten an Bräuchen, durchdie lediglich die friderizianische Tra-dition fortgepflanzt wird, aber sonstnichts, erklärt sich auch eine ge-wisse Angleichung in Habitus undTracht der Geschlechter, die wohl bei-de als Standartenträger der Bewe-gung beglaubigt, aber die erotischeVerbindung kaum vorstellbar macht.Mit der Förderung des Haarwuchsesfür den nachweisbar weiblichen Teilsind ja binnen kürzester Frist über-raschende Erfolge erzielt worden, obsich aber eine andere Norm im Ver-kehr mit Helden durchsetzen wird alsdie von Walküren, muß die Zeit leh-ren. Das Transvestitentum, an demnoch weibliche Geschlechtsmerkmale

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zu erkennen waren und das sich seitjeher in sogenannten »Männervenu-stempeln« versammelt hat, soll einegewisse Einbuße erlitten haben; ohneZweifel aber lebt noch der Drang, derSchönheitssucher zu kultischen Tän-zen paart und auch ältere Junggesel-len bestimmt, untereinander Damen-wahl zu treffen. Es ist charakteris-tisch, daß in der ungeheuren Füllevon Kraftbeweisen, die die Bewegungin allen Arten und Abarten gebotenhat, der einer Schändung, nämlichdes andern Geschlechts, wie sie dochbei Revolutionen und sonstigen krie-gerischen Unternehmungen an derTagesordnung ist, relativ selten vor-kam. Man kann sich ja vorstellen, wasein naturferner Menschenschlag [He-demannstraße], losgelassen, an Ent-schädigung zu leisten vermag, der Ty-

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pus, dessen Kulturbelangen in Ord-nungszeiten ein Aufruf angepaßt war:

Tötung einer Sittendirne!

oder der fachliche Tadel eines Box-kämpfers:

Anfangs kam Walter in der Leberge-gend nicht ganz durch.

Doch in der Entehrung des Men-schenlebens, bei der schmachvollenGewalt, die seit Organisierung desEinbruchs in Wohnungen erlittenwird, hat man zwar bemerkt, daßBrachialakte ohne Ansehn der Personerfolgten, aber daß der weiblichenGeschlechtsehre nahegetreten wurde,wagt selbst die Greuelhetze nichtzu behaupten. Die Eröffnung vonKonzentrationslagern für Frauen,von welchen man überhaupt erst in

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diesem Zusammenhang wieder hört,beweist wohl, daß man zunächstauch hier mehr an die Ertüchtigungder Generation denkt als an ihreFortpflanzung. Für alle Fälle wurdeauch diesbezüglich durch Richtlinienvorgesorgt:

Die deutsche Frau sol l wieder derTypus der germanischen Gattin seinund das deutsche Mädchen sol l s ichauf diese Ehre vorbereiten, auf daßes einst würdig ist, sie zu tragen. EinPüppchen, das geschminkt und bemaltin der Welt herumläuft und sich wunderwie schön und interessant vorkommt,

kommt einfach nicht in Betracht; wes-halb Kontrolle eingeführt wird. Daß»die deutsche Frau nicht raucht«, ver-steht sich von selbst; wenn nicht, wer-

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de sie an ihre Pflichten als deut-sche Frau sowie Mutter erinnert. Sindsolche Dinge erst mal klargestellt,so wird darauf aufmerksam gemacht,daß Gentlemen Blonde und zwar mitblauen Augen, freiem Blick, rosigemTeint [Hautfarbe] und kleinem Mundvorzuziehen haben.Wir verlangen, daß der Arier unter al-len Umständen ein unberührtes Mäd-chen zur Frau nimmt.

Anstatt daß aber der Arier dem Ver-langenden eine Watschen gibt, nimmter, selbst in diesem Belang zur Skla-verei geneigt, noch das Verbot entge-gen, nach dem »Mittelmeertyp« zu ge-lüstenmit dem charakteristischen Negerkopfund schlanken Körper sowie el l ipsen-artiger Brüste.

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Statt eine weitere Ohrfeige für miesesDeutsch zu empfangen, muß der Kas-senwart

mit Überraschung feststel len, daßes immer noch deutsche Mädchen gibt,die sich nicht schämen, sich öffentlich mitJuden zu zeigen.

Er muß sie deshalb als »Damen« nichtnur zwischen ironische Anführungs-zeichen setzen, sondern mit Namenund Adresse in die Zeitung; auch er-folgt »Zwangsstellung durch SA undSS«. Sie sollen sich nicht wundern,wenn sie eines Tages eine Tracht Prü-gel beziehen. Aber wer würde sichnoch über etwas wundern? Allenthal-ben wird ja überwälzt und erteilt justder die Prügel, der sie verdient. In derSatrapie jenes Streicher, dessen Hirnder Gedanke umfassenderen Boykotts

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entsprang, ward Bahn gebrochen undein Mädchen mit kahl geschornemKopf von sechs uniformierten Män-nern durch die Lokale geführt, damitsie vom Publikum angespuckt werde.Einer, der es Sonntag, den 13. Augustgesehen hat, berichtet’s, und die ,Ti-mes‘ meldet noch, es sei ihr eine Ta-fel um den Hals gehängt worden, ander die abgeschnittenen Zöpfe befes-tigt und die Worte zu lesen waren:

Ich habe mich einem Juden hingegeben.

Sturmtruppleute umgaben sie jeweilsauf dem Podium des Tingeltangelsund brüllten unter Beschimpfungenden Text in den Saal. Das Mädchen,»schlank, zerbrechlich und, ungeach-tet ihres geschorenen Kopfes, ausneh-mend hübsch«, war die Reihe der in-

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ternationalen Hotels entlang geführtworden.

Sie stolperte einige Male und wurde dannvon der Mannschaft wieder auf die Füßegestellt, manchmal in die Höhe gehoben,damit auch die entfernteren Zuschauersie sehen konnten. Bei dieser Gelegenheitwurde sie vom Publikum angebrüllt undverhöhnt und spaßhafter Weise eingela-den, eine Rede zu halten.

Die Kinder des amerikanischen Ge-sandten haben es gesehen; Europahat es gehört. Noch nie ist Ähnli-ches in einem Angsttraum erlebt wor-den. Dann wurde gemeldet, sie seiwahnsinnig geworden. Wäre alle Ra-che einer entehrten Menschheit er-starrt vor dem Blick des Blutgespens-tes, das sie belagert – an dieser Tat

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und an diesem Schicksal erwacht sieeinst zur Flamme!

Und dann geschah, was allen Ver-gleich mit einem deutschen Mittel-alter zur Lästerung macht. Ein He-xengeifer aus Sexualhaß und Erpres-sung erbrach sich zwischen Nürnberg,Ingolstadt, Mannheim, Worms undKassel, und aus dem journalistischenDreck erstand täglich der Pranger derrehabilitierten Rasse und der besu-delten Natur. Ein Paar wird im Autodurch die Straßen geführt, mit Tafelnum den Hals:

Ich habe eine deutsche Frauentehrt.

Ich habe mich einem Judenhingegeben.

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Man las, mit Namen und Adresse, No-tizen des Inhalts:

.. Sie besitzt die Frechheit, am Armdes Juden in öffentlichen Lokalen zuerscheinen... machte in Begleitung des Talmudjudenweite Reisen... Was ihr und dem Juden passiert, wennsie nochmals dabei ertappt wird, kannsie sich ausmalen... Wir würden sie nicht beim Namennennen, wenn dieses artvergessene,jämmerliche Frauenzimmer nunmehrder neuen Zeit Rechnung getragenund von dem Fremdrassigen gelassenhätte. Sie tat es nicht. Ihr Benehmenspricht jedem Rassenstolz und National-bewußtsein Hohn. Darum muß sie an denPranger. Die gesamte Nachbarschaftist über diese Rassenschande empört,

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und wir freuen uns über diesesgesunde Empfinden. Vielleicht findetsich ein mutiger Deutscher, der derJudendirne .. ihre Schande ins Gesichtsagt und der dem Juden ebenfalls dasNötige klarmacht... angedroht, solche Frauen öffentlichanzuprangern, die sich gegen dieVollblutgemeinschaft vergehen ..eine gewisse Thea D., die es scheinbarsich zur Ehre anrechnet, als erste ge-nannt zu werden .. sehen wir diesmalvon der Bloßstellung ab. Wird sie mitdem Juden noch einmal gesehen, dannwird sie gebrandmarkt. Wir bitten allerassebewußten Deutschen, auf christ-liche Judendirnen zu achten und unsihre Adresse und die der Juden,einschließl ich des Tatbestandes,mitzutei len... die Erregung darüber ist allgemein.

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Judenliebchen mögen diese Zeilen alsbedeutungsvol le Warnung aufneh-men und sich dessen bewußt sein, daßihr Treiben nicht mehr lange geduldetwerden wird... erwischt worden sei. Die eingeleite-ten Nachforschungen haben ergeben,daß Fräulein Habermann zwar mit demJuden gesehen wurde, zu irgendwel-chen Intimitäten oder gar zu einemVerkehr ist es nicht gekommen .. Der,Stürmer‘ wird auf den Fall zurück-kommen... Die Mutter des Mädchens unternimmtnichts gegen das Verhältnis, sondern dul-det es. Das Christenmädchen stel lt s ichauf den Standpunkt, daß auch dieRegierung ihr das Verhältnis nichtverbieten könne. Um der Bevölke-rung diese sauberen Leutchen zuzeigen und ihnen das Verwerfl iche

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ihrer Gesinnung klarzumachen, führtenSS-Pioniere den Juden, sein Ver-hältnis und die Mutter durch dieStraßen Kassels.

In Mannheim erscheint die Rubrik»Judenliebchen sehen dich an!«, Bil-der mit der Frage »Wer kennt sie?«.Der Strolch behauptet, »im Bewußt-sein unserer heiligen Mission« dasFolgende zu tun:

.. Die Bezeichnung »Deutsche Frau« dürf-te auf diese Dame nicht mehr zutreffen,zumal der Hebräer bei ihr zu jeder Zeitein- und ausgeht... Zwei weitere nette Pflänzchen sind .... Auch für sie ist es gut, wenn sie die Ab-fahrt nach Palästina der kommendenSteri l isation vorzieht... Sie ist entraßt und hat sich damitaus der Volksgemeinschaft arischen Blu-

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tes ausgestoßen... Wie man so heftig an diesen AsiatenGefal len finden kann, ist unbegreif-lich... hält es mit dem Juden .., heute nochVerbandsingenieur der Aska .... Vielleicht nimmt sich ihr einmal diepol izei l iche Kontrol le an.

Der Artikel, der die Liste umrahmt,ist in einem Deutsch geschrieben, des-sen sich jeder der angeprangerten Ju-den schämen würde, und mit jenerarischen Ironie gewürzt, vor der derSau graust. An den Schluß setzt derStrolch, der mit dem Pseudonym »Ti-ger« zeichnet, die Drohung:

Wird noch ein einziges Mal ein Mäd-chen arischen Blutes mit einem Judenerwischt, kann es einer solchen art-vergessenen Kreatur passieren, daß

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sie wie eine Metze kahlköpfig ge-schert und auf der Breiten Straßezur Schau gestel lt wird. Den Ju-denjünglingen aber empfehlen wir, hin-künftig ihre Lüste an artgleichen Re-bekkchen auszutoben, ansonsten sichdas Volk einmal bitter rächen könnte.

Natürlich hat es die heilige Missi-on der Rassenzuhälter auch hier aufStellenraub abgesehen, zu welchemBehufe die Polizei oder die andere un-verantwortliche Gewalt herbeigepfif-fen wird:

.. Wegen seiner Geilheit ist dieserJude stadtbekannt. Beschwerden überdiesen Juden hatten bei der Geschäfts-leitung keinen Erfolg. Wie wäre es,wenn sich die SA oder die Behördeneinmal diesen sonderbaren »Rassegenos-sen« etwas näher anschauen würden?

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Nachtrag:

.. fr ist los entlassen worden. Auchbefaßt sich bereits die Polizei mit derWeiterbearbeitung der Angelegen-heit. Und darüber freut man sichdenn auch.

Der ,Großdeutsche Pressedienst‘:

.. In Zukunft wird die Polizei dafür sor-gen, daß diese Bürschchen an ihrePfl icht erinnert werden, und zwar wäh-rend einiger Wochen im Konzentrati -onslager. Man muß von den Jünglingenund Mädchen, die es schon nie für nötiggefunden haben, für den Sieg der natio-nalsozialistischen Koalition zu kämpfen,doch fordern, daß sie nicht die mühsa-me Aufbauarbeit der Bewegung sa-botieren.

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Im Bett wird sabotiert! Die Dortmun-der Staatspolizei:Die übergroße Mehrheit des Volkes hatGott sei Dank die ungeheure Gefahrerkannt, die in einer weiteren Vermi-schung deutschen Blutes mit jüdi-schen Elementen liegt .. Die Staatspo-lizeistelle ist nicht gewillt, diesen Zu-ständen tatenlos zuzusehen .. DieStaatspolizeistelle wird in Zukunft sol-che verantwortungslose Volksgenossenin Schutzhaft nehmen und ihnen dieSchwere ihres Vergehens gegen deut-sches Volkstum zum Bewußtsein brin-gen.

Polizeibericht Worms:.. versucht, sich in anstößiger Weise ei-nem christlichen Mädchen zu nähern.Der Betreffende wurde .. dem Konzen-trationslager Osthofen zugeführt.

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Einer, der geheiratet hat und infol-gedessen niedergeschlagen wurde, be-schwert sich und erhält den Amtsbe-scheid:Der Polizeipräsident in KasselKassel, Polizeipräsidium,Königstraße 31

Kassel, den 16. August 1933An Herrn.....

Betreffend Beschwerde vom 12. August1933 I Ad.

Es handelt sich hierbei um einenberechtigten Ausbruch von Volks-wut darüber, daß ein deutschstämmi-ges Mädchen noch heutigen Tages miteinem Fremdrassigen verkehrt. Daßder Zorn gerade der SS-Männer überIhr Verhalten, ein deutschstämmi-ges Mädchen zu ehelichen, besondershervorgerufen ist, halte ich für selbst-verständlich. Derartige Vorkommnisse

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zeugen von einem gesunden Volks-instinkt, und ich vermag daher kei-ne strafbare Handlung zu erblicken.Vor einigen hundert Jahren wurdenvon den rassebewußten Juden die Mäd-chen ihres Volkes gesteinigt, die sich mitChristen [Fremdblütigen] einließen.

gez. von Pfeffer.beglaubigt: - - unleserlich.

Polizeisekretär.

Seither sind die Juden von die-sem Brauch abgekommen. In wel-chem Dschungel des Erdballs wä-ren die Dinge möglich? Ihr Antlitzwenden Gangsters davon ab. DerEhrenvorsitzende der nationaldeut-schen Juden soll verstimmt sein. InNürnberg findet der Parteitag statt,für den die Deutsche Reichspost einSchmucktelegramm herausgab, mit

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einem großen Adler, »überstrahlt vonder Sonne des Hakenkreuzes, diedüsteres Gewölk durchbricht«; seit-dem die andere diesen Planeten be-scheint, hat sie noch keine dunklereSchmach erblickt. Im Sommer 1904hat mir dort Wedekind die »Büch-se der Pandora« übergeben. Dochdroht die Züchtigung nicht allen deut-schen Frauen, die zumeist schonzüchtig sind, von Natur dem Ju-den abhold und ernsteren Bestre-bungen zugetan, indem sie sich zuLandesverbänden vereinigen lassen,welche aber den zuständigen Gau-Frauenschafts-Leiterinnen der natio-nalsozialistischen Frauenschaft un-mittelbar unterstellt sind, die wie-der der Reichsleitung der nationalso-zialistischen Frauenschaft unterste-hen. Hört da nicht überhaupt das

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Geschlecht auf? Was hin und wiederdoch herausdringt, dringt empor undist Inbrunst:

.. Welcher Gottgesegnete ist er! .. Welchein Liebling Gottes ist er!! .. Und die-ser Größte al ler Vergangenheit , Ge-genwart und Zukunft gehört – uns!Uns!!! Ist es nicht zu viel des Glücks?Haben wir es verdient? Ist es nicht lau-ter Gnade? Viel leicht lachen Sie michaus – tut nichts, lachen Sie nur! Wir la-chen auch wieder und blühen und grü-nen in seligem Vertrauen auf den Einzi-gen, den Retter und Befreier – unseren,unseren Kanzler, unseren Helden!

Man muß der Propaganda der Greu-el an der Quelle entgegentreten. DerAugenschein ist immer der überzeu-gendste Beweis, wiewohl die wirk-samste Entkräftung der Hetze, die

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noch vielfach betrieben wird, Fällebieten, wo wirklich nichts passiert ist.Da wäre zum Beispiel gleich die Af-färe eines ausländischen Legations-sekretärs, der wegen Verdachts ei-nes Wirtschaftsvergehens in ordent-liche Untersuchung gezogen wurde,was auch vor dem Umsturz geschehenkonnte, und der wegen der Haltlosig-keit des Verdachts freigelassen wur-de, was selbst heute vorkommt. Miteinem Wort:

So sehen die Greueltaten in Hitler-Deutschland aus!

Das nationalsozialistische Denkenfasziniert durch die Fähigkeit, den,der einmal die Wahrheit spricht, füralle Lügen glaubwürdig zu machen,und den Diebstahl, den er ausnahms-weise nicht begangen hat, zum Alibi

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für tausend Morde. Wer weiß, viel-leicht würde sogar der Augenscheinjenes Falles seiner Bestätigung nichthinderlich sein. Vielfach aber ge-nügt die Wahrheitsfindung durchdas Radio. Zum Beispiel mir, dereiner »zwanglosen Unterhaltung mitSchutzhäftlingen« beigewohnt hat,welche persönlich alle gewünschteAuskunft erteilten; einer Sendung,die wahrhaftig so betitelt war undschon dadurch dem Verdacht vonetwas Erzwungenem entgegenwirkte.Es waren, »zur Abwehr der im Aus-land verbreiteten Lügen«, Gesprächezwischen dem Kommissar – einemManne, der unverkennbar soebenans Ruder gelangt war, mit dem era tempo Schläge austeilte –, einemVertreter des Presseamts und echten,keineswegs dargestellten Gefange-

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nen, zumeist einstigen badensischenMinistern, an denen, wie vor denOhren der Millionen überzeugendfestgestellt wurde

äußere Spuren einer Verletzung nichtwahrzunehmen

waren. Die Gefangenen – wehrlos wieder Hörer, Leidensgenosse jener, diebis dahin bloß für Leser abgetas-tet wurden – antworteten der Reihenach, daß sie sich über nichts zu be-klagen haben, eine Formel, so stereo-typ wie die reichsfunkische Anspra-che per »Novembergröße« und wie dieVerwendung des Titels »Der Jude X«.Die Regie klappte nicht durchaus undmanchmal mußte die Antwort mitetwas Nachdruck herbeigeführt wer-den, so daß man doch die Regie klap-pen hörte. Beim letzten Dialog wur-

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de ein Mißlingen wahrnehmbar, demeine furchtbare Geräuschpause, nichtdurch den Äther bewirkt, folgte undhierauf ein Stammeln des Fragestel-lers, dessen Sprechart bis dahin alsgeübtes Analphabetentum erkennbarwar. Jener Unglückliche war auf dieFrage, ob er, wie von der Lügenpropa-ganda behauptet wurde, mißhandeltworden sei, schluchzend in die Worteausgebrochen:

Nein, die Ohren – hat man mir nicht ab-geschnitten – aber meine Existenz – hatman vernichtet –

Die zwanglose Unterhaltung schienjäh abgebrochen. Sie wurde dennoch,mit allen Mängeln der Improvisati-on behaftet, auf Schallplatten wie-derholt; und eben dieser Wiederho-lung habe ich beigewohnt. Es über-

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stieg alle Fassungskraft, als Plan undTat, doch vor allem als der Gedan-ke, daß solch ein Greuel, solche un-geheure Propaganda eben sie entkräf-ten sollte, und man konnte bei diesemVersuch, das Massengehirn durch ei-ne gottverlassene Stimme zu überre-den, nur schwanken, ob die Stupi-dität mehr aktiv oder passiv betei-ligt, ob solche Spekulation bloß sa-tanisch schamlos oder auch boden-los dumm war. Es hat sich am 8.April via Stuttgart zugetragen, zwi-schen den stündlichen Rationen vonPhrasengebell und Tanzmusik, es warder Trumpf aller bestialischen Zu-mutungen an den Äther, an Gehörund Menschenwürde. Die »marxisti-sche Hochzeit«, die in jenen Tagengleichfalls vorgeführt wurde, war ge-stellt und echt; die zwanglose Unter-

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haltung echter. Welcher bessere Deut-sche wäre vor Scham nicht gestor-ben bei der Vorstellung, daß das Aus-land, dem es zugedacht war, mithörenkönnte! Ein Dämon jagt diese Macht-haber von Fehltritt zu Fehltritt. Unddurch so erteilte Aufklärung ist in derbekämpften Propaganda tatsächlicheine Wendung eingetreten, indem siesich überhaupt nicht mehr der Greu-el, sondern nur noch der Aufklärungbemächtigt, und kein Jota prominen-ter Wortführer vorbeigehen läßt, oh-ne das Vorurteil, das sie mit Stumpfund Stiel ausrotten, wiederherzustel-len. Sie stützt sich dabei auf dieimmer wieder durch den Rundfunkerteilte Versicherung, jene seien die»Bannerträger der Wahrheit«, welchejetzt erst zum Durchbruch gekommensei. Und mitten durchs Sprichwört-

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liche, indem doch eines Mannes Re-de heute zwei bedeutet, weshalb manalle beede hören muß. Und wahrhaf-tig, soweit die deutsche Doppelzun-ge klingt, empfängt die hörende Weltmehr Überzeugung, als sie braucht.Aber Frank II, der schon so heißt undder ihr zugerufen hat:

Der Nationalsozialismus bekennt sichzum Menschheitsgedanken!

hat Anspruch darauf, daß auch sei-ne altera pars gehört werde, indem erdoch fortfuhr:

Alle Juden müssen restlos aus jeder Formdes Rechtlebens hinaus!

Eindeutiger war bekanntlich derGruß, den ihm der Abgesandte der ös-terreichischen Regierung zum Emp-fang auf dem Flugfeld von Aspern ent-

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boten hat. Und ich muß, nicht weni-ger eindeutig und ohne jede politischeNebenabsicht, schon sagen, daß mir– als Kenner geistiger Regiewirkung,durch die ein Wort, an den rechtenPunkt der Handlung gesetzt, drama-tische Tat wird – dieses Diktum, dasda zum Faktum wurde, wohlgefallenhat, besser als eines seit Gründungder Republik, irgendeins aus jenemMachtbereich der Phrase, wo dem po-litischen Feind bisher nur die Enttäu-schung widerfuhr, auf Gallert zu bei-ßen. Was mir an solcher Initiative –nach der lähmenden Ära gesproche-ner und verratener Pflichterfüllungund angesichts des Leerlaufs eineroppositionellen Rhetorik – was miran dem Entschluß, dem Gastfreundgleich an der Schwelle zu sagen, seinBesuch sei nicht sehr erwünscht ge-

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fällt, ja imponiert, ist das Momentder Neuerung, das innen Zweckhaf-te und außen Schmucklose der For-mel, die zum erstenmal keine Flos-kel ist, der Mut zum Nochnichda-gewesenen in der Politik, ein nichtbloß für den Betroffenen überraschen-der Durchbruch durch die Konventiondiplomatischer Formen. Denn wenn-gleich es nur die Antwort auf eben de-ren Durchbrechung war, auf den form-losen Eingriff in staatliche Lebens-rechte, so war doch zur Fixierung le-bendige Energie erforderlich, ein poli-tischer Nervenmut, wie der persönli-che für die Übermittlung. Man denkenur, ein Reichsminister kommt geflo-gen, es ist, wenngleich nicht offiziell,der erste Besuch seit dem Einbruch indie Weltgeschichte – doch

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Weg! das Hassen, weg! dasNeiden,

Sammeln wir die klarstenFreuden,

Unterm Himmel ausgestreut!Auf dem Wasser, auf der Erde,Sei’s die heiterste Geberde,Die man dem Willkommnen

beut.

Autor der Begrüßung ist der Bun-deskanzler Dollfuß, Sprecher der Po-lizeivizepräsident Skubl. Es war einWort, dessen Einfachheit sogleich alsDamm und Überwindung des größtenund verderblichsten Schwalls spür-bar wurde, der je über die Welt derNormen hereingebrochen ist. Es war– mit seltsamer Beziehung auf denSchauplatz von Aspern –der Beginnder staunenswerten Aktion einer Be-endigung: der Befreiung eines Landes

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von den Myriaden Kainszeichen, mitdenen satanischer Wille sein kriegs-müdes Gesicht gespickt hatte. Ich binmir bewußt, daß auch zur Anerken-nung jener Pointe, die im Staatenle-ben einzig dasteht, des auffallendenMutes, den mit ihr und seither ös-terreichische Minister bewiesen ha-ben, Mut gehört: gegenüber der poli-tischen Phrasenvernebelung und voreiner prinzipiellen Dummheit, die einunverkennbares Verdienst, nicht zu-letzt doch um die eigenste Sache,auf die Gefahr hin verleugnet, derdes Todfeinds zu dienen. Ich fürch-te aber nicht die Zensur der Frei-heit; denn ich habe Mißdeutung we-niger zu scheuen als deren Funktio-näre, wenn ich die bessere Sache an-erkenne, die ausnahmsweise von ei-ner Regierung vertreten wird. Ich hal-

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te mich, selbst wenn die gute Absichtnicht bloß vom Unmenschentum zubestreiten wäre, an den guten Zweck,der auch vom beglaubigten Bekämp-fer offizieller Mißformen, vom Bestrei-ter dieses österreichischen Jahrhun-derts zu bejahen ist. Und als neidloserArtist würdige ich den Wert des Ein-falls, der den politischen Kram knappund sachlich bewältigt und dort, wosonst nur gelogen wird, wo wir denpuren Schwindel verstaatlicht odersozialisiert sehen, einmal den Aus-druck allgemeinen Empfindens be-freiend anbringt. Ist denn nicht schondie Vorstellung beklemmend, daß Per-sönlichkeiten wie die solcher Art emp-fangene überhaupt in die Möglichkeitdiplomatischen Umgangs einbezogensind? Daß in dem Gefühl des Un-glücks und der Schmach, die sie über

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ein Volk gebracht haben – all dessen,was jenseits einer fragwürdigen Brü-derschaft mitzufühlen ist –, daß imGeruch der blutigen Atmosphäre, ausder sie gesandt sind und an der siepersönlich beteiligt waren, mit so et-was außer Landes immer noch »ge-frühstückt« wird? Daß es einen Mei-nungsaustausch mit der Gewalt gibt,zwanglose Unterhaltungen mit Ker-kermeistern, Entrevuen und wie derfeine Unfug auf Staatskosten heißenmag, der doch nur dazu dient, nochÜbleres vorzubereiten! Ist nicht schondiese Genfer Gemeinsamkeit proble-matisch; mit Geschäftsträgern, gegendie nebst allem, was erwiesen ist,der dringende Verdacht vorliegt, daßdie Kommunisten den Reichstag an-gezündet haben? Man soll Erfolge wieden der beherzten Einzelaktion des

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schlesischen Juden, der den Minori-tätsschutz durchsetzte, nicht unter-schätzen; allein zwecks Abrüstung ei-nes graden Michels, der die Waffe un-term Schlafrock hat, wird doch einMaß von »Konferenzen« aufgewendet,zu dem selbst Berliner Theaterdirek-toren vor der Pleite nicht fähig wa-ren. Daß es jener Diplomatie, die einReich, das nicht von dieser Welt ist,mit eben dieser Welt verbindet, daßjust ihr es beschieden war, zum Pres-tige des Unheils beizutragen, solcheshat wohl auch im Irrationalen sei-ne Erklärung, wie am andern Poldie Unbewegtheit einer Staatskunst,die durch die verwegenste Konstruk-tion am Menschentum sein irdischesWohlergehen plant; so fern, wie wirvon ihr sind, sei es von uns, sie zu er-fassen, sonst erkennten wir vielleicht,

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daß sie noch immer weniger deut-sche Arbeiter zugrunde gehen ließ alsrussische Bauern. [Und da russischeJournalisten gekränkt wurden, tratja schließlich doch eine gewisse Ver-stimmung ein.] Wahrscheinlich mußdas alles so sein und erfordert dasHeil der Welt, daß die Genossen Lit-winow und Henderson in ihrem Um-gang nicht zimperlich sind. Oder viel-leicht ist die ganze Welt ein Opfer derErpressung, wenn Gangster sich ei-ner Staatskasse bemächtigen. Dannhätte Politik den Zustand herbeige-führt und das Erhebendste daran ist,wie sich die Menschheit gewöhnt hat,sie als etwas außer dem Bereich derMenschheit zu empfinden. Und dasErstaunliche an den Dingen wäredann nicht so sehr, daß es sie gibt,als daß immer wieder Menschen für

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diesen Beruf geboren werden und dieSprache erlernen, die die Sachver-halte entbehrt, aber bewirkt. Immer-hin, wenn es schon für das, wovorsich das Herz der Gottesschöpfungzusammenkrampft, keinen Ausdruckder Staatssprache gibt, so ist manvielleicht doch nicht zu anspruchs-voll, wenn man endlich auch diese Ku-rialien einer »Fühlungnahme« miss-en möchte, die nichts fühlt, und ei-ner »Aufmerksamkeit«, mit der nichtsverfolgt wird; dies verbindlich Unver-bindliche einer Bereitschaft, die nichtvom Fleck kommt, auch wenn sie ihrGeschäft im Umherziehen besorgt,das doch nur ein Herumziehen ist;diese ewige Selbstzurede: »zu diesemZwecke muß man«, »man darf nichtlänger« und »es kann nicht schwerfallen«, nämlich daß nichts geschieht.

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Nicht einmal der Faden der Höf-lichkeit reißt, wenn sich das Chaoszuchtmeisterlich der Welt empfiehltund wenn der Einbruch in ihre Ge-sittung noch als Zwang auftrumpft,ihn nicht wahrzunehmen. Mischt sichin das Zeremoniell dieser Unbewegt-heit endlich ein Naturlaut, so wirkter ereignishaft. Einer Diplomatie, dieseit Kriegsschluß Geduld und Appe-tit zeigt, war zu wünschen, daß siein wehrloser Stummheit jene »zwang-lose Unterhaltung« mitmache, derenEindruck keine Beschreibung wieder-gibt, damit sie einmal gewahr werde,welche Wirklichkeit hinter Redensar-ten haust!

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Daß man in Österreich den leibli-chen Vertreter solcher Sendung uner-wünscht findet, entspringt einem Ent-schluß, der Unterstützung und nichtHemmung verdient durch solche, dieihm [letzten Endes] die Rettung ei-nes politischen Pensionistendaseins,im eigentlichsten Sinne, verdankenwerden; die es wissen, aber Pharisäergenug sind, um anders zu bekennenund die Wirksamkeit gegen ein Übelzu stören, zu dessen Abwehr sie sichzu schwach wissen. Das muß – gemäßder Gradheit des begrüßten Schrit-tes einer Begrüßung – klipp und klargestellt sein, und koste es auch Mutgegen eine verlogene Grundsätzlich-keit, der er fehlt. Denn hätte sie ihn,so hätte sie den »Gegebenheiten«, diesie öfter heranzieht, damit Versagen

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taktisch werde, längst durch Erkennt-nis und Bekenntnis Rechnung getra-gen: daß das Manko an Macht durchden Überfluß an Phrasen kommt; daßdie Kriegszeit für Manöver nicht ge-eignet ist; und daß man sich zumerstenmal einer politischen Wirklich-keit gegenüberbefindet, jener, die ei-ne Politik, die vom Tun redet, beimWort, beim Mord genommen hat. Vielvon dem, was war, ist nicht geblieben.Aber es bliebe ein Wert zu sichern:die Einsicht, daß nun einmal, weil dieGelegenheit 1918 verpfuscht ist; weildie Sozialdemokratie den Frieden ver-loren hat und eben darum die Nie-derlage verantworten muß; weil manzum Sündenbock wurde durch eige-ne Schuld; weil der letzte Begriff vonFreiheit verklungener und vertanerist als holde Musik, und alle Quan-

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tität zu schwach, ihn wiederzugewin-nen; weil »Kampf« zur Phrase wur-de, mit der uns diese ewigen Dokto-res des Parteiübels anöden – die Ein-sicht: daß in solchem Fall die Anwei-sung, mit »Trutz« spazieren zu gehn,Schmierenregie einer Volksbühne ist,die bessere Zeiten gesehn hat, unddaß man mit dem Problem, ob diedrei Pfeile nach außen und oben odernach innen und unten zu tragen sind,keinen Hund vom Ofen lockt! Wennder Reichstag gebrannt hat und alle,die ihn nicht angezündet haben, be-reits in Schutzhaft geschunden wer-den, macht selbst ein Protest mit derUnterschrift

Es lebe die Freiheit ! Das Büro derZweiten Internationale

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welches das Dritte Reich nicht ver-hindern, aber herbeiführen konnte,so wenig Eindruck wie das feierli-che Gelöbnis des Bürovorstands, aufden »Anschluß« endlich, obschon mitVorbehalt des Traumes von »Groß-deutschland«, zu verzichten – soglaubhaft auch, einzig unter allemglaubhaft, die Beruhigung wirkenmag:

Wir bleiben die Alten!

Auch trifft in dem populär gehalte-nen Gespräch zwischen dem trutzigenKarl und dem mit Recht miesmachen-den Franz [der Kanaille] dieser denNagel auf den Kopf, wenn er beginnt:

Gut schau’n wir aus.

Jener jedoch, mit der Drohung:

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Heut is es wieder ein wirklicherKampf und dabei kommt’s auf jedeneinzelnen an ... Wenn man uns angreift,wehren wir uns ... Einschüchternlassen wir uns nicht!

scheint eher an die noch volkstüm-lichere Entschlossenheit des Schnei-ders Zwirn zu gemahnen: »Schuster,wann i anfang, wann i anfang – ifang aber net an!« Durchaus ehren-wert, denn als Pazifist und Demo-krat mag er und soll er Gewaltme-thoden verpönen. Aber in Versamm-lungen »Disziplin« verlangen für ei-ne Entscheidung, die uns Gottseidankerspart bleibt, indem wir uns dochlängst gewöhnt haben, sie »ohne unsüber uns« treffen zu lassen; so tunals ob, jetzt erst recht und trotz alle-dem, wiewohl dessenungeachtet, weil

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nichtsdestoweniger und wenn schon;bis zum letzten Hauch von Mannund Führer zur Redensart stehn, de-ren Inhalt oder einziger Sinn dochnur das Blut sein kann, das wir mitRecht nicht sehen können – das wecktauf die Dauer, diese endlose Dauer,die Vorstellung einer politischen Jam-mergestalt, die mit allem phraseologi-schen und taktischen Aufwand dochnicht der lebendigen Entschlußkraftdes einen Sätzchens fähig wäre, dasdie politische Sachlichkeit, die psy-chologische Sicherheit und die forma-le Präzision hatte, einen Bann zu bre-chen. Einer, der dem kulturellen Zielbeider Gegenwelten fern, aber demsozialen Sinn dessen, was gewollt undnicht gekonnt wurde, näher steht alsdem Inhalt mancher Notverordnung,darf nicht leugnen und nicht verleug-

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nen: das Kaliber solcher Parteigrößereicht trotz Wut und Spott nicht andas Maß dieses Dollfuß, den eben dieleibhaftige Antithese zu der Fähig-keit, den deutschen Koloß in die Ta-sche zu stecken, vor Europa beglau-bigt. Gewiß, das Wundermotiv derWalpurgisnacht:Ein leuchtend Zwerglein! Niemals nochgesehn!

droht in Speichelleckerei auszuartenund berufsmäßige Gegnerschaft magihm bloß die Deutung abgewinnen[die sich dort findet, wo sich im Tau-mel über Abgründe jegliche Weisheitund Warnung findet]:

Homunculus ist es, von Pro-teus verführt;

Es sind die Symptome desherrischen Sehnens ...

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– keineswegs besteht Gefahr, daß diestärkste Energie, die sich seit Men-schengedenken in Österreich aufge-rafft hat, erliegen könnte, wenn jenerProteus es mit der Gemütlichkeit ver-sucht. Es war nur ein unerwünschtesZwischenspiel, als das christlichsozia-le Organ – zwischen dem Ende desZentrums und der totsicheren Aus-sicht auf das eigene – jener unappe-titlichen Lockung aufsaß; als es vondem »andern Ton«, dem schamlosenLob der Briganten für die Polizei, be-nommen schien und für den schon diePalme bereit hatte, der

aus dem österreichischen Nationalso-zialismus einen Faktor österreichischerPolitik formen hil ft ... Die Führerder österreichischen Regierung und ihre

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Freunde würden die letzten sein, dieihre Unterstützung versagen.

Aber die ersten, die im Konzentra-tionslager säßen. Es war natürlichWasser auf die Papiermühle jener,die nicht müde werden, die Leistungdes Mannes zu verkleinern, der trotzzu häufigem Gedenken des »Bruders«nicht daran denkt, für dessen Anbrü-derung den Gewinn europäischer Po-sition preiszugeben, und gegen feind-liche Komplimente so widerstandsfä-hig bleibt wie gegen brüderliche Bom-ben. Doch die andere Kraftprobe er-sparte ihm schon der nächste Tag, alsdank dem Prinzip autoritärer Unver-antwortlichkeit und totaler Zerrissen-heit der Proteus des andern Tons wie-der der andere war, das offizielle Frie-densanbot als nicht offiziell widerru-

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fen wurde und durch die offiziellereSendung ersetzt, in der die Brigan-ten der Polizei Mißbrauch der Gesetzevorwarfen.

Nötigt sie herabzusteigen!Sie verbergen in den ZweigenIhre garstigen Habichts-

kral len,Euch verderblich anzufallen,Wenn ihr euer Ohr verleiht.

Immer von neuem es zu versagen,dem entfesselten Koller, der einemLande das heilloseste aller Abenteu-er aufdrängt, vor täglichen Attackengewachsen zu sein, das erfordert Um-sicht, Ausdauer und Tapferkeit, wiesie kaum der Vertreter eines größerenÖsterreich aufgeboten hätte. Wer sol-che Eigenschaften bewährt, dem soll-ten sie anerkannt sein trotz allem

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Drang, politische Gegensätzlichkeitzu bekunden, und trotz allem Hang,eine Kultursatire zu üben, die derRespekt vor der Tat zurückschlägt.Ich sehe ja auch nicht gern, wie sichihr Vollbringer unter den Klängender Bundeshymne von unserem Pen-Klub-Ehrenpräsidenten geleiten läßt[weil doch mindestens dieser dabeians Gotterhalte denkt]. Seiner Erklä-rung wieder, es gebe nichts in derVergangenheit noch in der GegenwartÖsterreichs, dessen sich der Österrei-cher zu schämen hätte, kann ich min-destens für den Zeitraum von Ver-gangenheit, den ich mitgemacht habe,nicht zustimmen. Das läßt sich frei-lich bloß nach individuellem Empfin-den beurteilen, welches, für das ange-brochene Säkulum, für den Ausgangder Monarchie, für Kriegszeit und

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Republik niemals einer Regung vonScham sich zu entwinden vermochteüber den Verrat kulturellen, mensch-lichen und landschaftlichen Wertbe-stands an eine Maffia politischer undjournalistischer Freibeuter, wie siekeine Gemeinschaft je hervorgebrachtund geduldet hat; und welches, soweites überhaupt dazu neigt, dem StaatBeziehungen zum Menschentum ein-zuräumen, zum erstenmal sich je-nem zugewendet fühlt. Es ist nichtleicht, dergleichen zu bekennen, esfällt schwer, die Werkstatt seiner Ein-drucksbildung zu öffnen, und dochgelingt es einem Satiriker, der sei-ner Funktion sich hinreichend sicherweiß, um nicht nur alles zu bemer-ken, was sich am Novum österrei-chischer Tatkraft breit macht, son-dern um auch die Witze, die der so-

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zialdemokratischen Journalistik da-zu einfallen, als sein geistiges Ei-gentum zu erkennen. Scherz beisei-te! Denn er hat dem Anstand zu wei-chen, wenn nicht dem Respekt vor Be-mühungen, mit denen sichtbar, un-ter konstanter Todesdrohung, der Sa-che aller gedient wird. Meine Pole-mik ist umfassender; und beschränktsich, trotz Normen und Formen, der-zeit auf ein Treiben, das ihrer und da-mit der Selbsterhaltung spottet. Daßich gegen Dollfuß keiner satirischenAnwandlung fähig bin – während mirzu Hitler im Zuge der Betrachtungvielleicht doch etwas eingefallen ist –;daß ich trotz den »Letzten Tagen derMenschheit« einen Spott verschmähe,den ich jüngeren Talenten vermachthabe, damit sie ihn bei Lebensgefahrgegen den Retter verwenden: solches

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mag sie noch verlocken, ihn gegenmich zu kehren. Dann dürften sie ih-re Wunder erleben, wie ich ihn zureklamieren vermag! Ich überschät-ze Herrn Dollfuß außerhalb dessen,was er im Hauptpunkt sichtbar leis-tet, keineswegs; aber er unterschätztsich, wenn er Vergleiche heutiger va-terländischer Notwendigkeit mit dervon 1914 zieht. Damals hätte das Va-terland besser getan, nicht aufzuste-hen, sondern in Lethargie zu verhar-ren; in den »heiligen Verteidigungs-krieg«, den ihm die Fibel nachrühmt,zieht es erst zwanzig Jahre später.Was ihm heute, was seiner Arbeiter-schaft droht, wissen ihre Wortführerso gut wie ich, nur haben sie nichteinmal den geringen Mut, es zuzuge-ben. Wohl sagen sie, daß ihnen »Ehr-lichkeit gegenüber den Massen als

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eine der wichtigsten Aufgaben« gilt,aber sie unterlassen es, sie zu leisten.Daß ich die Erkämpfung der vitalenGrundlage einer »Freiheit« – selbstmit ihrem Opfer – für nützlicher halteals die Spiegelfechterei derer, die sieverplempert haben, ist bei einem Pu-blizisten vielleicht nicht so erstaun-lich, der sein Leben lang nichts ande-res getan hat, als Sachverhalte nichtzu verleugnen, und vor allem gegensolche, die es taten und deren Metierist, es zu tun. Daß ich mich insbeson-dere – denn Sachverhalte der Tages-welt ändern sich leider und zeitigen»Widersprüche«, während die Dumm-heit prinzipiell ist und ausgesorgt hat– daß ich mich zu Österreich bekenne,wenngleich noch immer ohne den lei-sesten Verdacht einer Ambition, daßÖsterreich sich auch zu mir bekennt:

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es brauchte gar nicht erst mit ei-nem Wirken verknüpft zu werden,dessen Reduzierung auf die »Nega-tion« einen der ödesten Gemeinplät-ze dieser öffentlichen Meinung bil-det. In Wahrheit hat es niemals bloßdurch Zerstörung zerstörender Mäch-te, sondern auch »positiv« – konservie-render und tätiger als alles Offizielle– jenen Geisteswerten gedient, derenAnschluß an ein scheinbar sprach-verbundenes Barbarentum dem wah-ren Teufelswunsch entspricht; und esbleibt mit solcher Feststellung sei-ner selbst sowohl der Möglichkeitentrückt, den Erinnerungsbesitz füreine nicht vorhandene sozialistischeKunst hinzugeben, wie sich den Kul-turbelangen österreichischer Gegen-wart zuzuneigen, die ich nach wievor in Verdacht habe, daß sie beim

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christlich-germanischen Schönheits-ideal hinauswollen. Um das Geistes-leben ist es mir nicht zu tun – das be-sorge ich schon selbst! Aber es gehtdarum, daß die Basis des Lebens gesi-chert wird, welche mir durch eine Be-einträchtigung der Preßfreiheit kei-neswegs alteriert erscheint. Nicht ein-mal durch die Reduzierung der Ti-tel, den Griff an den Lebensnerv derMeinungstyrannis, die Bändigung derGehirnparasiten; durch ein kulturbe-wußtes Wagnis, zu dem mehr Mutgegen die Presse gehört als der vonGleichschaltern, die, den Ausdruck ei-genen Willens erpressend, der Kritikentzogen bleiben – Tat und Wohltat,für die jede Seite der ,Fackel‘ Vorwortund Dank enthält; und deren Wir-kung im erstickten Marktschrei wieim knirschenden Verdruß der Händ-

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ler vernehmbar wird. Jetzt müßte nurnoch die Reduzierung des Textes fol-gen, und alles wäre in Ordnung; wäresie vordem und überall auf der Welterfolgt, diese hätte keinen Krieg zubereuen und keinen Hitler zu fürch-ten. Ich teile die fortschrittliche Mei-nung, daß derlei bisher weder im libe-ralen noch im absolutistischen Öster-reich möglich war: die Entschlossen-heit, die ohne demokratisches Beden-ken das Gesetz der Trägheit brichtund gegenüber dem Verhängnis zeigt,daß halt doch etwas zu machen ist.Ich betrete mit dieser Wahrnehmungbeiweitem nicht das Feld der Politik,sondern im Gegenteil das der Logik.Die bereiteste Abwehr gegen die Re-stauration einer Geistigkeit der Lor-beerreiser, der stärkste Widerstandgegen ein System, das die Arbeiter-

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schaft für die Sünde ihrer falschenBefreier büßen lassen wollte, hat vorder Anerkennung des Einmaleins, dasihr das Leben rettet, zu verzichten.Was diese meine Haltung betrifft, sowird sie, weil ich bei der Sozialde-mokratie untendurch bin, vielleichtaus dem Wunsch erklärlich, bei denChristlichsozialen obenauf zu sein; si-cher aber aus dem Erlebnis, daß zumerstenmal die Kongruenz des Einzel-interesses, welches auf Bewahrungder Daseins- und Wirkensmöglichkeitabzielt, mit dem Staatswillen erkenn-bar wird, und daß eine Regierung, dieihn vollzieht, sich nützlich macht –während eine Partei, die ihn mit dok-trinärem Mumpitz aufhält, sich un-nütz macht, wie man dort zu sagenpflegt, wohin ihre Sehnsucht so langetendiert hat.

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Doch so beklagenswert ihr Verfallum deren willen sein mag, die sichführen lassen, so ist doch wieder ih-re Ohnmacht, Notwendiges ernstlichzu gefährden, ein Treffer. Denn wassie selbst einzig und unfehlbar trifft,ist die Wirkung, daß man ihr das,was sie treffen möchte, nicht glaubt.Es geht der Sozialdemokratie wiedem schlechten Schauspieler den dergroße Kollege in der Weinstube Lut-ter & Wegner über die Ursache sei-ner Mißerfolge aufzuklären suchte;sie liege darin, daß er zwar ganz gutspreche, daß man jedoch »es ihm nichtglaubt«: »Machen Sie mal einen Ver-such, und bestellen Sie einen Schop-pen – der Kellner hört Sie an, er geht,aber er kommt nicht mit dem Schop-pen; er bringt ihn Ihnen nicht – er

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glaubt’s Ihnen nicht!« Wie sollte manes gar jenen glauben, daß sie Barrika-den wünschen, wenn sie sie auch nochso laut verlangen? Die Sprache ist an-tiquiert, die Sache ohne Beziehung zuihr und darum nicht vorhanden. Si-cherlich, der Nationalsozialismus istvon keinem andern oder doch einemähnlich antiquierten geistigen Rhyth-mus fett geworden, wie der Sozialis-mus mager. Aber er hatte nicht nurdie Phrase, sondern er wollte auchden Inhalt; er hat die Romantik unddarum die bessere Organisation. Hierist Wahn, dort nur die Leere; undsie wollen aus ihr Realstes schöpfen.Hoffnungslos, wenn die andern dengesprochenen Satz auch noch dem Le-ser bieten:

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Letzten Endes lodert ja doch wieder diehelle, lodernde Flamme empor.

Aber sie lodert leider. Wahn schufWahnschaffnes, Verderben und Tod,aber er schuf, er schaffte es, er wardWirklichkeit; während diese ewigenHübener und Drübener – kein Leit-artikel ohne die Leier –, diese Einer-seitse und Anderseitse Papier bren-nen lassen, wenn sie flammende Auf-rufe schreiben, und sooft sie zünden-de Reden halten, als Feuerwehr be-reit stehn, und als eine, mit der dieSA schon gar nicht zu verwechseln ist.Und eine Gewölbwache, wie sie vor-bildlicher nicht gedacht werden könn-te, hat noch, wenn die armen deut-schen Genossen im Reichstag die Va-terlandshymne singen mußten, denMut zu der Feststellung: Der interna-

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tionale Kapitalismus wankt in seinenGrundfesten. Da aber das Christen-tum die andere Wange hinhielt undRußland die Hoffnung auf ein Diskor-dat noch grimmiger enttäuschte – in-dem doch Politik jenseits der Mensch-heit wirkt und internationale Greueldie andern decken –: so gibt es

nur eine Macht

deren Feindschaft dauern wird,

bis die hakenkreuzlerische Tyrannei nie-dergerungen sein wird. Diese Machtist

die Sozialdemokratie. Denn bis jenesich niederringt – und sie allein ver-mag es doch! –, wird es zwar Blutgeben, aber auch Papier, damit sol-cher Humor die böse Zeit vertrei-be. Wenn man sich dieses Naturer-

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eignis einer Ekrasierung, dieses vomTeufel bewirkte Afflavit et dissipatisunt der großen Bruderpartei verge-genwärtigt – da ist wohl nicht aus-zudenken, was alles und immer nochsich mit dem Schleim der Spracheverzieren läßt. Und trostlos, wie vielan Hoffnungen und Enttäuschungenschon umgelogen wurde und vor derletzten Realität noch umgelogen wirddurch ein Zurechtlegen der »Entwick-lung«, durch eine Touristik für Wel-lenberg und Wellental, durch einenIntellektualbehelf, der den Könnerndoch selbst endlich zu dumm werdenmüßte, bevor sie die andern mit so et-was dumm machen. Nie noch sind Be-griffe wie »Kampf« und »Macht« so zurSchreibtischarbeit degradiert worden,so zum Mißbrauch von Druckletternentartet wie bei einer Führerklasse,

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die, wenn sie proletarische Geduld da-mit zu höhnen fürchtet, ihr zur Ab-wechslung von Isegorie, Isonomie undIsotimie erzählt, Begriffen, die dazuerschaffen sind, den »freien Wettbe-werb der Meinungen«, den »geistigenKampf der Überzeugungen« zu füh-ren, damit alle und auch die Haken-kreuzler um die Wette »werben« kön-nen; denn nichts wäre doch dringen-der, als der Gewalt mit »Demokra-tie« zu begegnen, auf daß sie sichihrer bediene, um sie besser kaputtzu machen. Das geht so zwischenunhaltbaren Rütlischwüren und Tak-tik für Pleite, die ewige Doktorfra-ge: was fängt man mit dem angebro-chenen Abend der Partei an. Ein Ge-kläre und Gedeute, das immer ein-setzt, sooft die povere Leidenschaftverpufft ist, und das eine intellektu-

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elle Schicht, die sich durch Spaltungfortpflanzt, zur internationalen Land-plage gemacht hat. Gott schuf sie inseinem Zorn zu Politikern der Arbei-tersache – sie aber blicken weiter! We-gen Unfähigkeit, das Nächstliegendezu erfassen, wird vorausgedacht, unddas jeweilige Debakel ist selbstver-ständlich nur ein Abschnitt eines un-geheuren revolutionären Prozesses:

Und darum: wenn wir zurück müssen zuFormen des Kampfes, die einem Rück-schlag der Entwicklung entsprechen,und gleichzeitig vorwärts müssen zuMitteln des Kampfes, wie sie die neueZeit verlangt – so verbindet dies al leszu einer Einheit die aus der Vergan-genheit kommende, die Gegenwart er-füllende, in die Zukunft weisende Grö-ße des Kampfes selbst.

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Vorstellbar an diesem Schmus undStuß ist weder dem proletarischen Le-ser etwas, dem nur die Umschreibungder Niederlage klar wird, noch demVerfasser, der zu näherer Auskunftverhalten werden müßte, wie er sichden »Kampf«, wie er sich dessen »For-men« und dessen »Mittel«, und ins-besondere, wie er sich diesen Unter-schied denkt. Ferner, wie er sich die»Entwicklung« denkt, deren Strapazeimmerhin vorstellbar wird als die ei-ner Parteibeamtin, der man die Ver-antwortung aufwälzt. Und vorstell-bar vor allem die Tragödie einer Par-tei, deren Geschichte auf die Trep-penwitze solcher Wortführer angewie-sen bleibt, die heute schon Pollak-witze sind. Greifbar aber nichts alsdie Sprache einer Entmachtung, derkein Wort zu groß ist für eine aus-

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geschwitzte Formel, um Pech den ar-men Opfern zu erklären, die zumSchaden noch die Deutung haben.Die Entwicklung, die den Ruin her-beigeführt hat und nicht etwa vonden Ruinierern herbeigeführt wurde– immer ist sie es, die der TugendFallstricke legt. Ich möchte der schö-nen Helena durch einen Vergleich mitder österreichischen Sozialdemokra-tie nicht nahetreten, aber gegen die»Hand des Verhängnisses«, welche diehäufigen Niederlagen jener verschul-det hat, ist die, auf die sich die po-litische Unschuld beruft, schon einePratzen! Doch unsere Gefallene istwahrlich Helena und Großaugur in ei-ner Person. Denn einst wird kommender Tag, wo das Verhängnis zusper-ren kann und die Entwicklung ausge-spielt hat. Wie man alles klarzustel-

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len vermag, weiß man auch dies ge-nau:

selten war es im kleinen so schwer zukämpfen wie heute; niemals war es imgroßen so sicher, zu siegen.

Denn immer blaut dem Führerblicküber dem Hagel, der die Geführtentrifft, ein wolkenloser Himmel; im-mer baut sich ihm über der Nieder-lage eine Triumphpforte, unsichtbarden Profanen, denen es bloß erzähltwird. Die zu erwartende »Wendungder Machtverhältnisse« kann frühereintreten als – nun?

als heute hüben und drüben mancherglaubt

doch diese religiöse Gewißheit,

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die den obersten Grundsatz und Leit-stern des sozialistischen Denkens undHandelns in sich trägt

erfordert Vorkehrungen für den End-sieg, welche bereits getroffen sind:Aber möge uns in einer viel leicht garnicht fernen Zukunft niemand mehrmit der zuckersüßen Versicherung kom-men, er sei »eigentlich« immer schon So-zialdemokrat gewesen!

Ein solcher wird so totsicher abge-wiesen werden wie jene, die nicht»die Treue gehalten« haben und ge-gen die es eigentlich geht, weil siein der augenblicklichen Lage der Din-ge bei der »österreichischen Front«mehr logischen Anhalt finden als beider Sozialdemokratie. Warum solltenicht auch sie sich auf eine schwar-ze Liste stützen, wie sie die Natio-

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nalsozialisten in den freien Wettbe-werb der Meinungen und den geisti-gen Kampf der Überzeugungen einge-führt haben? Nämlich auf

das gute Gedächtnis, das wir – jedermuß es wissen! – gegenüber jedem ein-zelnen Übermütigen oder Zaghaftenvon heute bewahren ...

Ich nehme es zur Kenntnis, sehe mei-nerseits der Entwicklung entgegen,möchte aber nicht zu den Zaghaftengerechnet werden. Was die vielleichtgar nicht ferne Zukunft betrifft, binich so übermütig, zu glauben, daßsich, wenn es ohne und gegen das Zu-tun der österreichischen Sozialdemo-kratie gelingt, das Schicksal der Bru-derpartei von ihr abzuwenden, ihreDiminuierung in völlig zivilen Bah-nen bewegen wird und daß sie sich, da

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ihr die Gleichschaltung erspart bleibt,mit der Ausschaltung begnügen dürf-te. Natürlich bliebe dann doch auchdie Hoffnung, daß es der Arbeiter-schaft gelingen wird, Führer, die sichso lange schon bewährt haben, insverdiente Ausgedinge zu geleiten.

Denn unter einem Zeitvertreib vonGerede und Taktik ist ihr fast allematerielle Errungenschaft aus demKriegsleiden, alle seelische abhan-den gekommen – bis zu der Er-kenntnis, der die Führer ausweichen:daß vor der Gefahr, die sie herbeige-führt haben, alles politische Denkenauf die staatswissenschaftliche For-mel der Lebensrettung reduziert ist,dank Hitler, dem es gegeben ward,»die kompliziertesten Mitmenschenwieder zu volkhafter Schlichtheit zuformen«. Mit den Intellektuellen der

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Sozialdemokratie ist ihm ja die Wun-derkur nicht gelungen – mit mirschon eher. Sie glauben, durch denVerfassungsgerichtshof seinen Bannbrechen zu können; während er mitseinem Zauber und sie mit ihrer Klug-heit unsereinen zum Patrioten ma-chen, der man doch höchstens in derZeit vor der Geburt war – in je-ner Ära, deren Kultursegen mit ei-nem Ausschluß aus Deutschland ver-knüpft sein mochte –, und höchs-tens noch bis zur Jahrhundertwen-de, zu welcher nicht ohne Berechti-gung die ,Fackel‘ erschien. Aber mankönnte vor dem Lug und Trug, dendie Freiheit gegen ihre Lebensgefahranbietet, wahrlich zu allem werden,was sie nicht will, wenn’s nur ge-gen das hilft, was wir nicht wollen,weil wir die Freiheit wollen. Voraus-

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gesetzt, daß sie nicht um die 1000Mark-Taxe hergegeben wird, bin ichbereit, den Fremdenverkehr zu be-jahen, als wirtschaftliche ultima ra-tio, als würdigstes Mittel der Staats-weisheit, als das geistige Problem,das einem in schlechten und schlich-ten Zeiten geblieben ist. Das habensie aus mir gemacht! Aber wie soll-te man sich nicht zum Einmaleinsbekennen, welches doch eine Entde-ckung ist, wenn höhere Mathematikvor dem Falle kam? Wie sollte mannicht zu Bestrebungen stehen, de-ren Zweckdienlichkeit evident, derenUnehrlichkeit vom Gegner behauptet,aber noch lange nicht so bewiesen istwie die seine; zu einer werktätigenLeistung, die wie alles staatsbürgerli-che Wirken auch das eigene berührt,und wäre ihm die Geisteswelt ihrer

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Vollbringer noch so entlegen. Keines-falls steht man zu der Sache des De-mokraten, in dessen Haus eingebro-chen wird und der der Polizei in denArm fällt, weil sie ihn nach der Not-verordnung schützen will und nichtnach der Verfassung, und der er beidiesem Anlaß auch sonst seine Mei-nung sagt. [Diese Metapher behältihre Gültigkeit, wiewohl sie mir in-zwischen von einem, dem vieles ein-fällt, was bei mir sicher ist, verbogenwurde.] So simple Erkenntnisse ver-dankt man dem Problem einer Frei-heit, die lieber im Zwiespalt von Phra-se und Inhalt zugrunde geht, als sichdurch fremde Entschiedenheit das Le-ben retten zu lassen; und lieber füreine »Volksadresse« hausiert als andie Adresse des Volks die Wahrheitzu berichten. Und so verhält sich

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der Nachrufer der Monarchie zu ei-nem republikanischen Dasein, für daser tatloses Wollen und gedankenlo-ses Reden mit Grundsätzen gerüstetsieht. Die nach meinem Diktat Satireüben, mögen sie jetzt dem Motiv jenerrestaurierten Formen zuwenden, diemit dem Stoff der »Letzten Tage derMenschheit« verknüpft bleiben. Dersie schrieb, zeigt sich, da die Freiheitbessern Gebrauch schuldig blieb, je-der Unternehmung zugewendet, die,tathaft oder stimmungsmäßig, heutehelfen könnte, größeres Grauen ab-zuwehren. Ich bleibe des Widerstreitsbewußt zwischen Symbolen und Ae-roplanen,und alles Denkbare trenntmich von dem Positivum, das die Be-zwinger der neuen Türkengefahr mit-bringen. Dem Zauber der Montur er-liege ich so wenig wie dem Flitter der

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Freiheit; jedoch gelobt sei der simpleWille, der dem Hakenkreuz das »ein-fache Kreuz« entgegenstellte, das diepublizistischen Bekenner des freienGedankens nur noch für entgeltlicheAnzeigen verwenden.

Und mit der Direktheit, zu der sichdie Politik aufgeschwungen hat, seies gesagt: Dümmeres als das Beneh-men der österreichischen Sozialdemo-kratie hat es, seit Politik zum Tortder Menschheit erfunden ist, nichtgegeben. Vertrackteres nicht als dieHaltung einer Führerschaft, die vor-wärts mit frischem Mut ins Verder-ben rennt, aber den nach hinten nichtaufbringt, die Wahrheit zu sagen. Diesich – mag der Regierungskampf ge-gen zwei Fronten noch so beklagens-wert sein – einen Mundkampf gegenzwei Fronten anmaßt, deren tödliche

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sie stärkt, ohne die andere zu schwä-chen; die von einem »Kreuzfeuer zwei-er gleich gefährlicher, gleich hassens-werter Formen der Konterrevolution«redet und konsequenter einen »Kle-rikofaszismus« im wahren Kampf be-hindert, von dem sie doch weiß, daßer mit allem, was ihr entgegen ist, ihrdie Möglichkeit verbürgt, noch heu-te gegen ihn zu »kämpfen«. Und biszu dem Gipfel der Ünaufrichtigkeit:denn sie hat daneben Raum für dieerschütterndsten Dokumente von Un-glück und Ende der Bruderpartei, vonden unsäglichen Leiden ihrer Gefan-genen; und auch für die Aussage ei-nes Geretteten, daß der österreichi-sche Genosse

das hohe Glück genießt, kein Unter-tan des Dritten Reiches zu sein.

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So der Chefredakteur des weilandBruderblattes, der angibt, jene trauri-ge Abstimmung im Reichstag, die derFraktionspräsident als »ohne Zwangerfolgt« hinstellen mußte, sei zustan-degekommen

nachdem die Regierung erklärt hatte, ihrsei das Leben der Nation wichtiger alsdas Leben einzelner Menschen.

Welche Prinzipienfestigkeit einer fernvom Schuß wirkenden Demokratie,dazu zu bemerken, eine so zustan-degekommene Abstimmung sei »nullund nichtig«! Das Phänomen einer Er-pressung, die das Opfer noch zur Be-stätigung freien Willens zwingt [undtrotzdem geopfert hat], kann freilicheiner Parteimacht nicht zum Bewußt-sein kommen, die mit heiler Haut kei-ne ärgere Tyrannis als den Zwang Be-

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kessys zu überstehen hatte. Sie weiß,daß die Bruderpartei zur Rettung ih-rer Reste sich mit Tod und Teufel,Reichswehr und Stahlhelm verbündethätte, gegen Hitler die Hohenzollernherbeisehnend, für die sie ja auch ent-schlossen in den Weltkrieg zog; sieweiß, daß sie selbst sich, vor demletzten Ende, von den Habsburgernvor dem Konzentrationslager bewah-ren ließe. Aber sie hat die demagogi-sche Dreistigkeit, mit dem »kleinerenÜbel« dessen einzig vernünftige Wahlzu ironisieren und einen

liberalen Betverein »Alles, nur nichtHitler«

zu höhnen, als ob das nicht ein besse-res Programm wäre als das ihre undals wäre sie stark genug, nebst Hit-ler spielend auch alles andere zu ver-

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meiden. Ihre Berichterstattung ausDeutschland, die überzeugender ansHerz greift als ihre Politik ans Hirn,bringt Dokumente, vor deren Fülledes Grauens und der Verzweiflungdoch nichts als jener Ausruf bleibtund wahrlich kein Arbeiter, kein Ge-werkschaftsführer, kein Partei Jour-nalist anders als der liberale Betver-ein reagieren könnte. Denn wenn sielesen, wie alte Genossen von einertollgewordenen Meute gejagt werden,bis sie zusammenbrechen, mit Stahl-ruten ins Gesicht gepeitscht, währendihre Frauen »aufpassen müssen, waser für Gesichter schneidet«, besudelt,unter wieherndem Gelächter gemar-tert, bis nichts von ihm da ist als eineblutige Masse; und wie der Rädelsfüh-rer dem heroisch Sterbenden, der dasParteibekenntnis nicht widerrief, fol-

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ternd Schweigen über die Folterungabpreßte:So, Matties, diesmal bist du noch gut da-vongekommen

und ward Justizminister von Braun-schweig; wenn sie nichts gelesen ha-ben als die erschütternde Schilderungder Tat von Köpenick und die Be-schreibung eines Leichenzugs:Kein Wort hatte in den Zeitungen gestan-den. Wer dem andern sagte, daß heute dieErmordeten begraben werden, mußte mitZuchthaus wegen Verbreitung von Greu-elmärchen rechnen. Wer kam, wußte, daßihm Verhaftung drohte. Aber sie warengekommen. Arbeitslose nach stundenwei-tem Marsch, Junge, graubärtige Männer,Frauen mit grauenhaft versteinertem Ge-sicht. Manche gingen mühsam mit Stö-cken, die müden Glieder, noch geschwol-

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len von den Schlägen der Bestien, wolltensie kaum tragen. Aber sie kamen;

und wenn sie nur das Bild behielten:die den Sarg trugen, waren selbst allenoch verbunden und zerschlagen

– wer in ihrem Lager versagte sich daden Wunsch: Alles, nur nicht Hitler!?Ihre eigene Zeitung! Die anders politi-siert als meldet und die den Notschreiverhöhnt, zu dem sie herausfordert.Die neben solchen Bildern der Hölleden Mut hat, von den »bösen Nazi« zuscherzen, welche also höchstens daskleinere Übel sind, das von den an-dern überschätzt wird. Aber solcheskönnte sie doch [für sich, kaum fürandere] nur dann sittlich verantwor-ten, wenn sie glaubhaft machen könn-te, daß vom Sieg des Retters mindes-tens die gleiche Vernichtung droht,

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und wenn sie heroisch entschlossenwäre, ihr zuvorzukommen und aufder Stelle die durch den Außenfeindzu wählen.

Die Alten haben davor gewarnt, proptervitam vivendi perdere causas, um des Le-bens willen preiszugeben, was das Lebenlebenswert macht.

Ganz heroisch, doch selbst wenn dieAlten [nicht zu verwechseln mit de-nen, die »wir bleiben«] nicht auch ge-raten hätten, primum vivere, dein-de navigare [wozu doch außerhalbvon Konzentrationslagern eine gewis-se Möglichkeit bliebe], möchte manden Heldentod nicht beim Wort derAlten nehmen und ihm die Probe vorder einzigen Entscheidung, die er er-kennt, ersparen. Vivendi perdere cau-sas, wenn man das hohe Glück ge-

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nießt, kein Untertan des Dritten Rei-ches zu sein! Freilich, um es zu ver-spielen, lassen sie leider nichts unver-sucht, indem ja die unselige Vorstel-lung, man wolle »den Teufel durch Be-elzebub austreiben«, jenem die demo-kratische Mauer macht. Es ist eine fi-xe Gedankenlosigkeit, wie nur das be-kannte Wittern der Morgenluft. Wasimmer Hitler mit unserer Demokra-tie vorhabe, sie muß unversehrt blei-ben, damit er sie leichter versehre.Wir bleiben dabei, daß

nur Leute, denen jede demokratische Er-kenntnis und Gesinnung fehlt

sich dem Gedanken hingeben könn-ten, gegen die Gewalt mit Auflösungihrer Organisation vorgehen zu wol-len:

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davon, daß zu solchen Maßnahmenjede gesetzl iche Grundlage fehlte,gar nicht zu reden.

Nein, nimmer würde unsere Sozial-demokratie antidemokratischen Me-thoden zustimmen, die sie dauerndder Möglichkeit berauben würden,in Schutzhaft genommen zu werden,und immer wird sie jenen wehren,die sie und sich und alle vor ihr zuschützen bemüht sind. Davon, daßkeine Todesdrohung imstande wäre,uns gegebenenfalls zu einer Abstim-mung zu zwingen, die uns nicht vonHerzen kommt, gar nicht zu reden!Denn unser politisches Gedankenle-ben atmet frei im luftleeren Raum,in dem sich die Sachen nicht sto-ßen, und wehrt sich gegen die Vor-stellung, daß draußen der Feind steht.

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Wir glauben halt, daß der auch nurPhrasen macht wie wir. »Großmutter,was hast du für ein großes Maul?«»Daß ich dich besser fressen kann!«Eine künftige Kindheit, falls Hitlerund die Folgen sie aufkommen las-sen, wird dem »Rotkäppchen« erst sei-nen Sinn abgewinnen. [Auch der Poin-te der Großmutter.] Die Sozialdemo-kratie hat Blumen im Wald gesucht,und die unsrige wird von Glück sagenkönnen, wenn der Jäger kommt, siezu retten. Ein ministerieller Macht-haber der deutschen Partei, heutedas Opfer seiner Zuversicht: als manihn auf das Wachstum der Bewegunghinwies, die vor seiner Nase bereitsKasernen habe, erwiderte er, umsobesser könne man »sie im Auge be-halten«, doch zum Einschreiten fehle»das legale Mittel«. Ein anderer Be-

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kenner der Legalität sprach, da schonPanik herrschte und man wegen Si-cherung des Parteiarchivs beriet, wel-ches zwei Gesandtschaften in Obhutnehmen wollten, das schlichte und in-zwischen geflügelte Wort: Wozu denn,Kinder?

steht doch unter Denkmalschutz!

So bombensicher ist kein Unterstandwie die Erwartung der Demokratie,daß der Wolf, dem sie aus Prinzip zurEntfaltung verhilft, sich dankbar er-weisen, ihren Sinn für Legalität tei-len, ihr Vertrauen auf die demokra-tischen Einrichtungen belohnen wer-de; und das schönste Gedenkblatt bil-det jene Nummer aus der freiheit-lichen Ära des Berliner Tageblatts,in der es den Hitler auf die Wei-marer Verfassung, die er beschwören

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mußte, als er braunschweigischer Re-gierungsbeamter wurde, »glatt fest-gelegt« hat: jetzt hat er geschworen,jetzt gibt’s nichts mehr, jetzt wissenwir, daß ihn, falls er sich trotzdemzur Gründung des Dritten Reichs hin-reißen ließe, unverzüglich sein Kerrlwegen Hochverrats verhaften wird.Solche rührenden Züge beweisen dieUnvermeidlichkeit dessen, was kom-men mußte, und daß der Denkmal-schutz, unter dem die deutsche Sozi-aldemokratie stand, eben auf die Dau-er nicht vorhalten konnte. Für die ös-terreichische, die sich seiner noch er-freut, bestände Gefahr, wenn eine we-niger legal bedachte Partei nicht Vor-kehrungen getroffen hätte, um die Se-henswürdigkeit zu erhalten. Aber dieUndankbaren werden ihr bei diesemBemühen weiter mit der erhobenen

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Faust [die da wirklich nur eine Me-tapher ist] und mit dem dreimal wie-derholten Ruf »Freiheit!« Scherereienmachen. Auflösung einer Organisati-on von Bombenwerfern?

Es gibt gegen politische Terrorakte einsehr viel wirksameres Mittel. Ech-te, kraftvol le, schöpferische Demo-kratie – das allein ist ein wirksamesMittel gegen den politischen Terror.

Man braucht das Parlament, die »Tri-büne«, man muß nach liberaler Theo-rie den Leidenschaften das »Ventil«schaffen.

Deshalb halten wir an der Verfassungfest.

Die sich noch allzeit gegen Ammonitbewährt hat und von deren bloßemWort schon ein solcher Zauber aus-

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geht, daß wir es nicht oft genughintereinander wiederholen können.Aber unsere Phrasen gehören uns.Denn als ein »Nazi«, gesetzestreu wiesie sind, »die Lahmlegung des Verfas-sungsgerichtshofes« bemängelte, er-tönte im Chor die Frage:

Und wie ist das in Deutschland?

Mündlich geht’s richtig, da kann dochnicht so gelogen werden wie imDruckverfahren. Und nun Schlag aufSchlag, immer das, was dem Leitar-tikler zuzurufen wäre, dessen Argu-mente der Nazi ins Treffen führt:

»Die letzten Wochen haben neueVerfassungsbrüche gebracht.«

»Vor allem gemeine Verbrechen derNazi!«

»Die Vernichtung der Preßfreiheit isterfolgt.«

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»Und Bombenwürfe !«»Das Versammlungsverbot muß

aufgehoben werden.Die Bevölkerung braucht ein Venti l.«»Für Bomben und Handgranaten!«

Und das ist wahrer als der Zwischen-rufer glaubt, denn wenn es selbstrichtig wäre, daß es Bomben gibt,weil die Freiheiten »geknebelt« sind,so gäbe es ihrer bestimmt noch mehr,wenn Mäuler und Schreibmaschinenlosgelassen würden. Sobald National-sozialisten unsere Dummheiten ver-wenden, kommen wir zu uns. Werdensogar übermütig, denn einer unsererRedner

beklagt die Halbheit der Maßnahmen ge-gen diejenigen, die Zehntausende einge-kerkert und gefoltert haben.

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Man würde also noch mehr vonden antidemokratischen Maßnahmenwünschen, gegen die man täglichim Blatt protestiert, und selbst dasStandrecht nicht für uneben halten.Aber auf demokratisch! Denn dasgibt’s wieder nicht: der Landeshaupt-mann – in Sperrdruck –hat einem Nazi , der Mitgl ied derLandesregierung ist , die Teilnah-me an der Regierungssitzung ver-wehrt. Er will den Abgeordneten derNazi die Teilnahme an den Land-tagssitzungen verwehren.

Wie im »Hannele«: »A will er de ge-weihte Erde verweigern!« Das fehltegrade noch!Glaubt man, daß man die Nazi für dieDauer der besonderen Gefahr ausden Parlamenten ausschließen muß –

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gut, wir sind auch darüber zu redenbereit ...

Aber da muß – denn ehe man handelt,muß man darüber reden – erst einVerfassungsgesetz gemacht werden!

Gerade in dieser Zeit ... Gerade in dieserZeit ... Gerade in dieser Zeit ... Gerade indieser Zeit ...

hat sich die schöpferische Demokratiezu bewähren. Oder:

Wir haben ihn geführt ... Wir haben ihngeführt ... Wir müssen ihn weiterführen...

den Kampf, na was denn sonst. Er-innert ihr euch noch – ihr Herrn –,wie wir uns nach prinzipiellster Ver-wahrung dagegen, daß man unsereTodfeinde aus dem Landtag befördern

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wolle [wo wir so oft Schulter an Schul-ter mit ihnen gekämpft haben], wiewir uns endlich mit dem Gesetzes-bruch einverstanden erklärten, vor-ausgesetzt, daß er gesetzmäßig be-schlossen würde?

.. es fäl lt uns gar nicht ein, irgen-detwas zu unternehmen, was denNationalsozialisten die Wege in ihremKampf ebnen könnte.

Diese nannten es eine »Neutralitäts-erklärung«, welcher aber die lega-le Offensive folgte, die wir dann ei-ne »wahre Tat« nannten. Nach ihremVollbringen hielten wir den Kleriko-faszisten vor: So muß man es machen!Und erhoben ein Siegesgeschrei, daßdie kapitolinischen Gänse verstumm-ten, jedoch die Hühner laut wurden.In fetten Lettern und unter dem Titel:

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Freiheit!Als der Präsident das Gesetz für ange-nommen erklärte, r ief Püchler mitStentorstimme in den Saal : »Eslebe die demokratische Republik!«Schneidmadl rief : »Nieder mit derbraunen Pest!« Die sozialdemokra-t ischen Abgeordneten erhoben sichvon den Sitzen und brachen mitgeballten Fäusten in stürmischeFreiheitsrufe aus. Einige Minutenstand der Landtag im Zeichen derwuchtigen Kundgebung der Sozial -demokraten gegen den Faschismus.

Welches Schauspiel von einer Meta-pher! Aber da sie nun schon fast aufder Barrikade standen, ergriff unserBürgermeister eine Gelegenheit, umauszubrechen:

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In unserem Wien lebt wieder auf diealte Tradition der Konrad Vorlauf, derBürgermeister, die sich nicht ge-beugt haben, aller Gewalt zum Trotz,es leben wieder auf die Ideen des Jahres1848, da Wien standhielt gegen die verei-nigte Reaktion.

So lag ich und so führt’ ich mei-ne Klinge! Doch es war selbst demZentralorgan [vielleicht im Gedenkender Beugung durch Bekessy] zu star-ker Toback und es ließ einen Bei-fallssturm erdröhnen, der lange an-hielt, aber den Vorlauf verschlang,welcher allzu leicht an das Gegenteiloder doch an den Leerlauf gemahnthätte. Dagegen wird von einer Rededes Bundeskanzlers, der zur Zeit kei-ne anderen Sorgen zu haben scheint,kurz vermerkt:

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Hauptsächlich beschäft igte er sichmit den Nazi ...

Wir aber konnten gleichzeitig und mitdem Mutteraug einen heimkehrendenTheaterdirektor, wie sehr auch diePleite sein Antlitz verbrannt, bewill-kommnen:

Nun erkennt er doch, daß es in Wiengerade jetzt ungeahnte Möglichkei-ten für gutes Theater gibt.

Nein, von allen Mißgestalten des zi-vilisatorischen Lebens ist diese, wennschon nicht die gefährlichste, so dochdie naturwidrigste. Denn was wä-re ungereimter als der nüchterneRausch an der unerschöpflichen Ti-rade, Fanfaronade und Rodomonta-de, deren Inhalt, falls so etwas über-haupt durch den Schall dringt, durch

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nichts überzeugt als durch den Wi-derspruch der Vorstellung, der zwi-schen Büro und Barrikade waltet! Alsdurch die mitgeborne Satire auf dasGehaben eines Kunktators, gegen dender Fabius ein Springinsfeld war. Manweiß schon, es wäre der sehnlichsteWunsch dieser Parteikunktionäre, dieja nicht so sehr die Verantwortung ih-res Tuns vor dem Feind wie die ih-rer Unterlassung vor den Eigenen zufürchten haben – es wäre ihnen amliebsten, wieder ein ruhiges Leben inschöner, gesicherter Opposition füh-ren zu können; und darüber hinausdarf man ihnen, mit echterm Anteil,die Verluste nachfühlen, die die An-geführten erleiden und die sie ihnenzuzuschreiben haben. Aber warum sa-gen sie’s denn nicht endlich, daß siedas Ventil für solche Leidenschaften

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brauchen, die noch durch Parlaments-reden abgelenkt werden können, wis-send, daß gegen die andern sie vonder Regierung autoritär besser ge-schützt sind? Warum muß denn im-mer noch »gekämpft« werden, wo je-de Faser des Wesens zum Paktierenneigt? Auch gibt es ja zwischen jenemund diesem noch den goldenen Mit-telweg des Packeins, und wäre selbstsolches nicht ehrlicher, wo man ohne-dies immer vermutet, daß es bereitsgeschieht?

Sie streiten sich, so heißt’s,um Freiheitsrechte.

Genau besehn sind’s Knechtegegen Knechte.

Und wenn es vor dem Problem desnackten Lebens wichtig scheint, so-gar das der Weltanschauung, soweit

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sie vorhanden, zurückzustellen – nur»für die Dauer der besondern Gefahr«–: und wenn eine Fahne, wie immerman zu Fahnen stehen mag, nun ein-mal verboten ist: ist es da würdig,sie, wie die Hoffnung auf dem Grab,auf Giebeln und Schornsteinen auf-zupflanzen und mit Wachleuten, diedoch mit einer ernsthafteren Gefahrzu tun haben, Fangerl zu spielen? Istes nicht ein Unfug, der schon an dieNichtswürdigkeiten hinanreicht, diejetzt die Wächter in Atem halten: sieeben davon abzulenken, sie förmlichapportieren zu lassen und dann höh-nisch zu rapportieren:

Die Wachebeamten sparen nicht mitgrimmiger Anerkennung der ein-zigartigen Verwegenheit, mit der diegeheimnisvol len Rebellen die verbo-

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tene Fahne an Stellen befestigten, diesonst nur für Vögel erreichbar sind... Erst nach zweistündiger Arbeitgelang es zwei Wachebeamten, drei derzwölf Fahnen herunterzuholen ...

während die Betrachter »mit merk-würdig vergnügten Mienen hinauf-blinzelten«. Soll man es glauben, die-ses Bubenspiel bildete eine Rubrikdes Zentralorgans, welche leider mitder andern abwechselte:

Ein Wachmann stirbt an den Folgender Überanstrengung.

Sie ist geleistet in der beispiellosenAbwehr einer Verschwörung gegenLeben und Eigentum, Tag für Tag,Nacht für Nacht – und »geheimnisvol-le Rebellen« frozzeln eine Wachsam-keit, die sie selber vor Bomben behü-

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tet, mit Fahnenwitzen! Das Organ derRebellen meldet:

Rayonsinspektor Friedrich Flassak istin den letzten Tagen nicht oft ausden Schuhen gekommen – bis Mit-ternacht Dienst gemacht. Drei Stundenspäter – Alarmbereitschaft – schon wie-der im Dienst. Kein Zweifel : er istan den Folgen der Überanstrengunggestorben.

Und nach dem aufregenden Fund ei-ner Sache, die – denn das gibt’s auch!– nur eine »Scherzbombe« war. Nichtnach Herabholung einer Scherzfahne,für die wir Überstunden auch nichtbeanstanden würden. Denn das, waswie ein Schulbeispiel von grobem Un-fug aussieht, dient ja dem Kampf umdie Freiheit, für den ihr Zentralor-gan sich auf Giordano Bruno beruft.

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Immer empor – ohne doch den Re-kord des Hakenkreuzes zu erreichen,mit welchem Felswände beschmiertwerden, was wir natürlich als Buben-stück tadelnswert finden. Aber nein,auch hier noch weiß Demokratie derNotwehr zu begegnen. Denn weil Be-hörden den gesunden Einfall hatten,die Mühe der Säuberung mitschuldi-gen Gesinnungsbrüdern aufzulegen,wenn die Schuldigen nicht zu fin-den waren oder sich nicht stellten, sowagt die prinzipielle Dummheit denProtest der Beschwerde, die Metho-de der »Putzscharen« sei nichts an-deres als die deutsche der Geiselnah-me. Nicht auszudenken! Die sittlicheErfassung der Parteibüberei aus demBegriff agitatorischer Verantwortlich-keit gleichgestellt der Erpressung, diedie Unschuld zum Pfand macht. Die-

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ses Rechtsbewußtsein, das sich ju-stament aufbäumt, wenn »die Verlet-zung demokratischer Freiheitsrechteden Gegner trifft«, hat etwas Erhabe-nes, von welchem es nur einen Schrittgibt: zu der Vorstellung, daß die Tar-nopoler Moral zu den Nazis entflo-hen ist, während hier ein Richter vonKolomea unerschütterlich seines Am-tes waltet. Wenn er aber die Ange-hörigen der Schmierscharen, die je-weils nicht auf frischer Tat betretenwerden und ihrer immer fähig sind,für »Unschuldige« hält, »die zur Straf-leistung herangezogen werden«, somüßte er doch wenigstens zulassen,daß schadenfrohe Gutheißer, redak-tionelle Anstifter des Fahnenulks fürdie Vollbringer büßen. Viel Zeitver-treib, doch auch viel Schicksal bliebeder Menschheit erspart, wenn’s nichts

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dergleichen mehr gäbe. Ein gefärb-tes Stück Tuch bedeutet dem Einzel-nen nichts; daß es die Menge braucht,ist eine große Möglichkeit des Ver-derbens. Bis dahin wirkt es verblö-dend, macht Erwachsene zu Kindern.Und wie steht man zum Ernstfall, dendas Emblem der andern heranbrach-te? Wenn die Stadt von einer tau-sendköpfigen Gefahr bedroht wird,die mit Ammonit, Schwefelsäure undDrahtzangen operiert, die sich an Te-lephonzellen, Briefkasten und Stra-ßenbahnschienen zu schaffen machtund täglich neue Tücken bereit hat– da heißt es im Fettdruck, das Ge-fühl, in einem Rechtsstaat zu leben,sei »auf das tiefste erschüttert«. Wo-durch?

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In Österreich werden Tausende vonMenschen täglich eingesperrt aufGrund von Verordnungen.

Dieselbe Beredsamkeit, der es »garnicht einfällt, irgendetwas zu unter-nehmen, was jenen die Wege ebnenkönnte«; die die Halbheit der Maß-nahmen beklagt; die es »selbstver-ständlich findet, daß ein Land sichim Kriegszustand zur Wehr setzt«!Liegt hier nicht schon eine Denkartvor, gleichgeschaltet jener, die Meta-phern auf ihre Wirklichkeit zurück-führt? Der Demokrat, der der Polizeiin den Arm fällt, weil sie ihn nach ei-ner Notverordnung vor Einbrechernschützen will – der Fall begibt sich!Und mit dieser Geistigkeit, die soum die fixe Idee schwankt, hält mansich – trotz jener täglichen, kläglichen

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Hinablizitierung der Maiparole – fürstark genug, dem Helfer zu trotzen.Wer aber außer einem Lügner hätteden Mut, zu leugnen, daß Notverord-nungen nicht immer nur einer Regie-rung den parlamentarischen Mißer-folg ersparen, und daß die schlimms-ten sozialen Rückschläge, die bei heil-loser Gegebenheit ein gereizter Geg-ner verursacht, immer noch tragbarersind als Todverordnungen? Wer au-ßer dem Heuchler könnte es verant-worten, das Verdienst ihrer Abwen-dung auf Schritt und Tritt zu ver-kleinern, durch Verschweigen zu ent-stellen, durch üble Einrede zu stö-ren? Ist es nicht schon ein vertrack-tes Maß von Gesinnungstüchtigkeit,in solchen Zeiten auf ihrer Ausübungim Umherziehn zu bestehen? Gegendie endliche Hemmung des Unfugs zu

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rebellieren, daß eine arme Mensch-heit noch ihre letzten Schuhe zerreißt,und das demokratische Ideal der Ver-sammlungsfreiheit für jene retten zuwollen, die ihr nach wirksamerm Ge-brauch das radikalste Ende bereitenwürden und nur noch die Konzentra-tion zugeständen? Als ob bei dem Ge-rede etwas anderes herauskäme, alsdaß wir »kämpfen wollen«, wenn wirkönnten, und die dem Kräfteverhält-nis nicht minder wider?sprechendeBehauptung, daß wir in sämtlichenHinsichten, die es gibt, »keine Vasal-len« sein wollen.

Wir wollten hin zur deutschen Republik.Wir wollen nicht ins deutsche Konzentra-tionslager.

Tun aber alles, damit wir hineinkom-men. »Wir wollen nicht« den brau-

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nen Faszismus, »wir wollen aber auchnicht« den schwarzen. Aber was wireigentlich wollen, ist noch nicht her-ausgekommen, und das Fazit ist nur,daß wir uns von diesem vor jenemretten lassen müssen, was wir ja im-merhin »wollen«. Denn die Entschei-dung, vielleicht doch lieber »eine Kolo-nie Frankreichs« als eine Preußens zusein, dessen Sprache schwerer zu ver-stehen ist, erscheint noch nicht aktu-ell. Bis dahin bleibe diese Geistigkeit,die der Gabe nicht entbehrt, Sachver-halte, an die sie nicht glaubt, klarzu-legen, der Selbstaufopferung für einDeutschtum fähig, das sich nach alterUsance »bedroht« fühlt, sobald es inLand- und Weltbedrohung gehemmtwird. Wenn sie nicht endlich doch hät-te helfen müssen, es aus den Parla-menten hinauszujagen, sie hielte in

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Verfassungstreue zu ihm und stimm-te gemeinsam gegen die »Schleppträ-ger«, wie in dem denkwürdigen Schul-ter an Schulter mit jenem großdeut-schen Sepp. Denn immer wird siedie Redefreiheit für diejenigen postu-lieren, die im Gegensatz zu ihr siezur Handlungsfreiheit verwenden –so lange, bis sie doch einmal die Er-örterung des Rassenproblems herbei-führt, wie Juden so blöd sein können.

Der Moment scheint gekommen.Denn was selbst hier nicht zu erwar-ten war, ist geschehen: daß man sichim Drang nach Demokratie sogarzu einer Forderung nach Diplomatiehinreißen ließ. Es ist die Höhe, aufdie man keine rote Fahne pflan-zen kann! Daß die österreichischeRegierung jenen reichsdeutschen

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Emissär undiplomatisch empfing,hat dem Zentralorgan keine Aner-kennung abgezwungen, und das wardem offenbaren Erfolg gegenübernoch zu verstehen. Aber nachträg-lich entschließt es sich zum Tadel,denn man hätte den unerwünschtenBesuch des Herrn und seine nochunerwünschteren Einmengungen inunsere Angelegenheiten vielleichtauch mit diplomatischeren Mittelnabwehren können, als damit, daßman ihm auf dem Flugplatz vonAspern durch den Vizepräsidentender Polizeidirektion sagen ließ, seinBesuch sei unerwünscht, und daßman ihm in Salzburg eine Botschaftschickte, die einer Ausweisung sehrähnlich war. Sie war eine, sie warder Bescheid auf die Zurede einesReichsministers an österreichische

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Staatsbürger, die Polizei ihres Staa-tes zu entwaffnen; und die bei derDiplomatie Aufgewachsenen hattendamals die Höflichkeit getadelt, diedem Ausgewiesenen noch die »Jause«in Salzburg vergönnte. Aber jetzt mußman bekennen: auch manche Redenösterreichischer Minister »mit rechtunfreundlichen Redensarten gegendie Norddeutschen« – die inzwischenkeine mehr gemacht haben –

sind uns nicht gerade als Meister-stücke der Diplomatie erschienen.

Denn ihre Unumwundenheit wird oh-ne Zweifel von dieser Glanzleistunggelernter Diplomaten beschämt, dieder österreichischen Sozialdemokra-tie prompt die Anerkennung im deut-schen Rundfunk und bei der gleichge-schalteten Presse eintrug, welche sie

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ihr auch seither öfter gezollt hat. Aberdie sieghafte Dummheit, die solchenErfolges sicher war, wird vielleichtdoch noch von einer Anmaßung über-troffen, die im vollen Bewußtsein dereigenen Povertät eine der saubers-ten und sinnvollsten Worthandlun-gen, die jemals zum realpolitischenZweck geführt haben, schlecht zu ma-chen wagt. Als Stilist und Wortre-gisseur, doch vor allem als Leidtra-gender einer Welt von papiernen Lei-chen wiederhole ich: der Gruß, denHerr Dollfuß dem Reichsgast zukom-men ließ und in dem die Diplomatieder zweiten Internationale einen Ver-stoß gegen die Formen erkennt, ent-hält mehr politische Grütze, als in ih-ren sämtlichen Köpfen aufzutreibenwäre. Aber ich gehe weiter und möch-te auch die undiplomatischen Reden

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der Minister loben und fern dem Ver-dacht, von einem Aufleben der Burg-musik bewegt zu sein, aussprechen,daß mir, als Zusammenfassung des-sen, was uns angeht, jede Rede desHerrn Vaugoin besser, sachlicher, aus-druckskräftiger erscheint als jede sei-nes Amtsvorgängers Deutsch oder garunseres Theodor Körner [Du Schwertan meiner Linken], des Generals derFreiheit, der den Tonfall meiner Ta-felszene keineswegs verleugnet, wenner »Disziplin meine Herrn« verlangtfür Entscheidungen, die der Feind voneuch Herren abwendet. Ferner habenauch andere prononcierte Vorkämp-fer der Reaktion redend und handelndMut gegen die größere und allgemeineGefahr bewährt; und daß »gar nichtsbesagt, was der Starhemberg sagt«,ist, seit er die Flegeljahre der Mi-

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nisterschaft hinter sich hat und zumanch glücklicher Formulierung po-litischen Täuscherwesens gelangt ist,auch nicht mehr richtig und vollendsnicht nach seiner Rede »Ich klagean«, deren Atem doch kein Dialekti-ker der Entwicklung, auch kein aufge-lebter Bürgermeister Vorlauf durch-zuhalten vermöchte. [Eher könntensie sich mit den Rhetorikern Wink-ler und Schumy vergleichen, den bei-den Ing., deren unbestimmte Tenden-zen einer deutschen Schicksalsver-bundenheit sich ja auch eines gewis-sens Wohlwollens bei der Sozialdemo-kratie erfreuen. Um freilich in allenLagern sprachliche Klarheit zu erzie-len, wäre wieder Herr Starhembergdarauf aufmerksam zu machen, daßsein Kampf

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für ein neu zu erstehendes Österreich

von den Gegnern des andern Faszis-mus mißdeutet werden könnte: indemsie ein Mittelwort vermuten, an demItalien partizipiert; daß Österreich zuerstehen ist, wollte er doch nicht sa-gen.] Ich dürfte dem Verdacht entge-hen, hier jemals eine Gegenseitigkeitdes Verständnisses anzustreben oderauch nur für möglich zu halten, undmuß wohl nicht betonen, daß mir ei-ne Aufnahme der »Letzten Tage derMenschheit« in österreichische Schul-bibliotheken nach wie vor unerlang-bar scheint. Ja es kann mich nichteinmal enttäuschen, dieses Werk inder Presse des erwachenden Öster-reich, das vielfach von emeritiertenjüdischen Erpressern geweckt wurde,herabgesetzt zu sehen, wiewohl fran-

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zösische Geistesführer es geradezuals Rehabilitierung Österreichs undals Beweggrund zu seiner Ehrungaufgefaßt haben. Wie aber die öster-reichischen Faktoren zu meiner Leis-tung stehen, ist mir weniger erheb-lich als wie ich zu der ihrigen stehe,und meine Beurteilung ihrer Redenerfolgt – unbeschadet des Wunsches,daß die Zeit kommen möge, wo ih-rer weniger gehalten werden – ledig-lich nach dem Maßstab ihres allge-meinen zeitumständlichen Nutzens.Es hat kein persönliches Interesse zugeben, aber auch keins einer geis-tigen oder politischen Gegnerschaft,das stark genug wäre, die Anerken-nung dessen zu unterdrücken, wasman [derzeit] als nützlich erkennt,weil es [letzten Endes] allem, wasman will und wofür man das ande-

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re nicht will, förderlich ist. Ich binfür so manches, was die Sozialdemo-kraten »wollen«, und freue mich, esvon ihren Gegnern vor dem Äußers-ten behütet zu wissen. Man fühlt dasLeid ihrer Verluste, mag mehr ihreUnfähigkeit oder Feindeswille sie ver-ursacht haben: gegenüber dem grö-ßern Übel bewahrt dieser ihnen mehr,als sie verlieren. Ich denke an nichtsals an Alles nur nicht Hitler; dennich bringe den innern Reichtum jenernicht auf, die noch mehr wollen oder»nicht wollen«, und beneide sie um dieAmplitude, vermöge deren sie mit ei-nem Parteiorgan auf zwei Bluthoch-zeiten tanzen möchten. Die natür-liche Gegnerschaft der Regierendeneingeräumt, selbst die Unverbunden-heit »antisozialer Maßnahmen« mitder höchst sozialen Haupttendenz;

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ja gesetzt den politischen Fehler ei-ner Unversöhnlichkeit, die noch dieSchwächung eigener Kampfkraft inKauf nimmt – niemals doch wäreder Abgewiesene berechtigt, die Ak-tion, die gleichwohl zu seinem From-men geschieht, zu behindern, immerverpflichtet, den besondern Anspruchhinter den allgemeinen, hinter dieHauptsache zurückzustellen. Die Fra-ge ist: wer »kämpft«, und wer stört.Die Situation wurde zur Anschauunggebracht; und man rate, von wem:

Eine Armee soll eine Bergkette, die siein der letzten Schlacht räumen muß-te, wiedererobern. Ihre Wiedereroberungwäre noch lange nicht der entscheiden-de Sieg im Krieg, wohl aber eine wirk-same Stärkung ihrer Verteidigungsstel-lung. Da gehen nun in den Bataillonen

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Leute herum und schwätzen: »Ach, wo-zu um die Bergkette kämpfen? Wir wa-ren doch schon oben und wissen: Garso schön ist es dort auch nicht. Undwenn wir sie wieder nehmen, ist derKrieg damit auch nicht gewonnen.« Wasmacht man mit Leuten, die mittenin der Schlacht solche Reden füh-ren? Nach dem alten k.u.k. Dienst-reglement waren sie »niederzuma-chen«. Mit Recht. Denn keine Armeekann eine Stellung nehmen, wenn manden Männern, die sie mit Einsatz vonLeib und Leben erobern sollen, mittenin der Schlacht den Glauben nimmt, daßdie Stellung dieses Einsatzes wert sei.

Könnte das nicht von einem Ma-riatheresienritter sein? »Mit Recht.«Denn schließlich, bei aller Abneigungund allem besonderen Grund zur Er-

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bitterung könnte doch selbst ein So-zialdemokrat nicht leugnen [obschonnicht zugeben]: daß jener derzeit zuden Männern gehört, die mit Einsatzdes Lebens daran sind, eine Stellungzu erobern oder vielmehr zu halten.Freilich, er müßte den militärischenInhalt nicht erst bildlich anwenden,weil er ja die Wirklichkeit des Kamp-fes durchmacht und weil jene Männerdoch tatsächlich genötigt sind, sichgegen die Leute zu wenden, die mit-ten in der Schlacht Reden führen oderschwätzen. Wer aber ist es, der denKampf als Metapher gebraucht undder für die eigene Wirksamkeit so et-was wie das k.u.k. Dienstreglementwünscht, das ihm erlauben würde, dieStörer »niederzumachen«? Herr OttoBauer hat es über seinen Verstandgebracht. Mit welcher Erlebniskraft

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er an dem beteiligt ist, was er ver-gleicht, zeigt die papierne Ahnungs-losigkeit, mit der er zum Vergleichgegriffen hat. Der »Kampf«, den erführt, ist der für die Demokratie mit-ten in der Abwehr Hitlers; die Stö-rer sind teils jene Tatmenschen, dieden Leitartikler beim Wort nehmenwollen, in der Mehrzahl aber wohljene realer denkenden Parteigenos-sen, denen die Störung des Nutzhaf-ten zu dumm wurde – beide konse-quenter als er. Er ist sich bei Set-zung seines absurden Vergleichs nichteinmal bewußt geworden, daß dessenSphäre die andere Wirklichkeit ist;daß die Anwendung dem Gegner zu-kommt, der in ihr wirkt; und daß dieSchlange es so weit gebracht hat, sichin den Schwanz zu beißen. Was In-telligenz imstande ist, zeigt sie über-

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haupt in diesem lesenswerten Arti-kel, der im Juliheft der Zeitschrift er-schienen ist, die sich folgerichtig »DerKampf« nennt, und mit dem sich derPolitikus ein Betätigungsfeld eröff-net: in dem Kampf, den die »Kleriko-faschisten« gegen die Nationalfaschis-ten führen, die beiden »nicht zusam-menzutreiben«. Aber es wird schonnicht geschehen, wiewohl wir ebenzu diesem Zweck für die Demokra-tie kämpfen, auf deren Eroberung un-sere Kräfte »konzentriert« sind. »Je-den Tag lehren es uns die Nachrich-ten aus Deutschland«, was Faschis-mus ist; und da »sollte es uns kein lo-ckendes, kein befeuerndes Kampfzielsein«, für die Demokratie zu kämp-fen und uns »dadurch dagegen« zu si-chern [wogegen uns offenbar Dollfußnicht sichert]: daß auch Österreich »in

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die Knechtschaft hineingleitet«? Hierwird einem schwindlig, bis sich end-lich die klare Erkenntnis durchringt,daß eine Stunde kommen kann

in der uns nur die Wahl bliebe, schimpf-lich zu kapitulieren oder kühn zu kämp-fen.

Die Sprache bringt es an den Tag.Während sonst der Kämpfer siegtoder untergeht, ist hier die Kapitu-lation vorangestellt und das Pathoskommt ins Hintertreffen; schon daßdie Kühnheit eine Eventualität ist[so beiläufig gesetzt wie: »gegebenenFalls ekstatisch schwärmen«], sprichtBände von Papier. Ehe es freilich zusolcher Entscheidung kommt, bestehtdie Hoffnung, daß die Demokratie mitReden wiedererobert werde und ein

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parlamentarisch kontrolliertes Regie-rungssystem funktioniere:

auch wenn wir dieses Regierungssys-tem zunächst und vorerst nur alsparlamentarische Opposit ion kon-trol l ieren können.

Mit dem Operngucker aus der Loge!Da hätte man freilich »ausgesorgt«.Aber zunächst schließt an den Arti-kel des Führers unter dem Titel »Zwi-schen zwei Faschismen« eine Serievon Pollak-Witzen an, die wohl dasÄußerste sind, was in ernster Zeit ge-wagt werden könnte: über jene jüdi-sche Bourgeoisie, »die von panischerAngst vor den Nazi geschüttelt« sei,während der Herr Chefredakteur ih-nen doch ruhigen Gemütes entgegen-sieht; vom »Beelzebub«, mit dem manjedenfalls mich vertreiben kann, weil

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ich ihn für das Schoßkind der sozi-aldemokratischen Journalistik halte;dann der Witz, der schon etwas Gal-genhumor hat: »man übersieht nicht«,daß es »in Österreich bisher kein Kon-zentrationslager gibt«, aber was hilftdas, »man kann auch nicht überse-hen«, daß es – nein, das erriete nie-mand – daß es »kein Parlament« gibt![Die deutschen Genossen wären viel-leicht heute bereit, diesen Schönheits-fehler zu übersehen.]

Mit der einzigen Ausnahme der physi-schen Gewalt gegen die Gegner

zeigt sich dem Chefredakteur der,Arbeiter-Zeitung‘ [ganz im Gegen-satz zum Chefredakteur des ,Vor-wärts‘, der die österreichischen Ge-nossen im »Land der Freiheit« be-glückwünscht hatte] schon eine to-

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tale Gleichschaltung des Unglücks.Zum Glück aber kann er konstatie-ren, daß »die Kampfkraft des österrei-chischen Proletariats unversehrt« sei,»seine Bewegungsfreiheit freilich be-schränkt«, welcher Widerspruch sichin der nicht unebenen Beobachtungaufhebt:

Diese seltsame Situation, daß ei-ne unverändert große Partei zeitwei-l ig aufgehört hat, eine mächtige Par-tei zu sein, macht sich psychologischsehr stark fühlbar.

Goldene Worte. Nur ein Erfolg konn-te erzielt werden. Welcher? Es kommtein Pollakwitz, der so stark ist, daßman ihn eigentlich nicht in guter Ge-sellschaft wiedergeben kann:

Man denke an den 1. Mai

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– als Erfolg! –den einzigen Fall, wo die Partei nichtnachgegeben hat – es war der einzigeErfolg in der ganzen Zeit!

Das ist schon obszön und erinnert ir-gendwie an den Hinweis, der Stolzmit Bescheidenheit paart: »Hier istmein Schlafzimmer und daneben be-ginnt die Flucht meines Mannes«.Pollak ist unbedingt für Änderung derTaktik. Mit der Diktatur zu paktie-ren, verschmäht er; das habe man bis-her immer getan, und es habe nichtsgenützt. Ganz wie zum 1. Mai, denman ohne jedes Paktieren nicht feierndurfte, muß man es von nun an hal-ten:Die Partei muß ausdrücklich erklä-ren, daß sie zu Verhandlungen nichtbereit ist.

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So jagte ein Witz den andern, aberernsthaft wird immerhin erkannt,daß »der Parteiapparat überaltert«sei, und empfohlen, ein bisserl aufzu-frischen und aufzumischen. Es wirdjetzt öfter eingestanden, daß drüben»nicht jeder sozialdemokratische Füh-rer ein Bonze« war, »aber doch man-cher«; und nun wollen sie auch hü-ben zum Linken sehn. Man sei bis-her »viel zu sachlich und ,staatsmän-nisch‘« gewesen; man habe »die An-ziehungskraft auf die Phantasie derMenschen vermissen« lassen. Wohernehmen? Man muß vom Gegner ler-nen, muß »die Macht, wo wir sie nochhaben«, rücksichtslos gebrauchen und»massenpsychologische Propaganda«entfalten. Einen Goebbels brauchetenwir; und sprechen bereits wie er:

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Wir brauchen große, grundsätzliche, überden heutigen Tag und das einzelne Landhinausreichende ideologische Orien-t ierung.

Was man sich darunter vorzustellenhat, weiß zwar der Ideolog nicht, aberer deutet es an. Zwar hat es auch bis-her an ideologischer Orientierung kei-neswegs gefehlt; doch wir haben nochweit mehr von der Sorte nötig. DerGegner, proklamiert jener, »hat unshinter 1918 zurückgeworfen« – das istleider wahr und vorstellbar, aber wastut man da:

– wohlan, wir wollen nicht nurzu 1918 zurück, wir weisen in unse-rem Kampf über 1918 hinaus: überdie wiedereroberte republikanischeDemokratie in die sozial ist ischeZukunft!

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Ein ganz eindeutiges Programm ideo-logischer Orientierung. Es gäbe nochein anderes Mittel: die Wahrheit sa-gen.

Und überhaupt wäre eine Umstel-lung hüben und drüben ratsam. Die,Arbeiter-Zeitung‘ täte gut, mancheLeitartikel der ,Reichspost‘ [nicht al-le] zu schreiben, und dieser wäre wie-der zu empfehlen, die Dokumente je-ner zu berücksichtigen. Die Sozial-demokraten haben die unvergleich-lich stärkeren Beweise gegen Hitler,und »man glaubt ihnen« da. Aberdie Christlichsozialen haben die sach-liche und bündige Anwendung, dasechtere Begleitwort. Man stelle ne-ben das intelligente Wohlan, das ähn-lich erlebniswidrig ist wie jene Anwei-sung, kühn zu kämpfen, einen Satz

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des christlichsozialen ArbeiterführersKunschak:

Ein neuer Feind ist aber der Freiheit un-seres Volkes und unseres Vaterlandes er-standen. Ein Feind, der in unseren Au-gen so häßlich. in unserem Herzen soschmerzlich wirkt, weil wir in seinen Ge-sichtszügen die Züge des Mannes aus derNotgemeinschaft im Schützengraben er-blicken, weil wir darin unser Bruderge-sicht sehen und es nicht fassen können,daß es soweit kommen kann, daß derDeutsche gegen den Deutschen, der Bru-der gegen den Bruder und gerade derStärkere gegen den Schwachen und Ge-knechteten auftreten kann.

Daß der Bericht hier nicht »Stür-mischen Beifall«, sondern »Stürmi-sche Pfuirufe« verzeichnet, ist derWirkung des Satzes gemäß, dessen-

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gleichen in den Sprachgebilden sozi-aldemokratischer Wortführer zu su-chen wäre. Dabei empfindet man die-ses Ausstrecken der Bruderhand, die-se Stammeswehmut der Regierungs-presse als dürftiges geistiges Lebens-zeichen, wie auch in der häufigen Be-rufung auf Österreichs Mission, ein»Mittler« zu sein, kein starker Sach-verhalt zu erkennen ist. Man wäre jaam liebsten durchaus der Wahl ent-rückt, zwischen diesen simplen In-halten von »Vaterland« und »Frei-heit«, die jetzt einer rednerischen Hy-pertrophie die Nahrung bieten, imgleichen Tempo vor dem technischenFortschritt verschrumpfend, in einemund demselben Nu dem Verderbendurch Phosgen überliefert. Aber in-nerhalb der »Gegebenheit« fällt dieEntscheidung doch zugunsten jenes

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geistigen Gassenhauers, den die Ent-schiedenheit einer Deckung von Wortund Tat berechtigt. Was erlebt ist, fin-det in Schrift und Rede eben bessernAusdruck, als was nur geschriebenund geredet wird. Ich weiß, es ist jetztfurchtbar schwer und Mißverständ-nissen ausgesetzt, zu beweisen, daßzweimal zwei vier ist und nicht wienoch immer gehofft wird, fünf. Aberes war lückenlos durchzuführen. Dadie »Entwicklung« alles auf den Kopfgestellt hat, weil nichts auf Köpfe, sostehen wir nun einmal vor dem Fa-zit: daß die Freiheit beim Vaterlandbesser aufgehoben ist als umgekehrt.Und wenn man sich extra auf denKopf stellt, gebührt einer Sprache derVorzug, die wieder Eigenschaften be-glaubigt, und hat die ältere Simpli-zität das Wort vor einer »schöpferi-

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schen Demokratie«. Was immer die-se Gegner sonst gesprochen und ge-tan hätten, ihre Anstrengung gegeneine Gefahr, die die Sozialdemokratieam unmittelbarsten erlebt, ist nützli-cher und wirksamer, als was sie selbstheute tut und spricht. Und wäre sienoch so schwer von einer Schmäle-rung realer Arbeiterrechte betroffen,die ja wesentlicher ist als der Verlustder Preß- und Versammlungsfreiheitund nicht wie dieser von der Notwehrberechtigt, so könnte doch nur einSelbstmörderwille, der bis zum letz-ten Ende lügt, den größeren Vorteilder Lebensrettung verleugnen. Werbloß lügelos Welt und Staat andersanschaut als Regierende, die ihm sol-ches ermöglichen, erwehrt sich nichtder Anerkennung, daß hier, in dieserLage der Dinge, Politik einmal nicht

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mehr l’art pour l’art papiernen Un-fugs ist, sondern solides Handwerk,Erfüllung der »Pflicht« als die Fähig-keit, die entleerte Form mit einem In-halt zu erfüllen; und daß man zumerstenmal den staatsbürgerlich er-wünschten Eindruck hat, eine Regie-rung verdiene diesen Namen. Dennsie gibt sich, mit atmosphärischer Be-rechnung der Wirksamkeit des grö-ßeren Übels, mit der Geschicklich-keit, dessen Abstinkung durchzuste-hen, Mühe um unsere Hoffnung, eswerde wenigstens hier gelingen, vonder Pein, die mit dem Begriff undschon mit diesem Wort »Nazi« verbun-den ist, unversehrt zu bleiben. Uns al-len und insbesondere den Vorkämp-fern einer Freiheit, die es bisher nurerlebt hat, daß ihr wegen mangelnder

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Verdienste vor dem Feind von diesemdie Fahne aberkannt wurde.

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Doch was bedeutet die verdorbeneGehirnmaschine, die anders funktio-niert als sie sollte, gegen das blen-dende und betäubende Naturwunderder Lüge, das sich im stündlichenFormenwechsel offenbart und gleich-wohl nimmer enthüllt, und wenn essich selbst in Abrede stellte! Auchsonst ist es ja der Zeit gegeben, daßsie ihren Wirkern das Fundament er-neuert, auf dem sie ohne Gedächt-nis und ohne Scham täglich neu be-ginnen, spottend der Betrachtung, diesich selbst nicht mehr versteht, undnichts vermag, als ihnen den verlaß-nen und vergeßnen Standpunkt nach-zutragen. Wenn das, was man zu sa-gen hat, vor die Welt tritt, so ist eslängst nicht wahr, denn jetzt sagen esschon die Lügner. Oder auch sie nicht

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mehr; erweisbar wäre nichts, nur daßdazwischen Menschen verblutet sind,und auch dies haftet nicht, da schonneue Machtverfügung neue Opfer for-dert. Sisyphusarbeit ein Spiel gegendie Mühsal, die Zeit aus dem Tagzu zeichnen. Doch selbst sie wäre zutragen, hätte nicht der Zufall, derdas Getriebe erhält, Einbruch diesemIrrationalen gewährt; und mit demÜberstoff, der den Verstand schon imHinschaun verwirrt, hat es wahrlichsein Kreuz und seinen Haken dazu.Denn labyrinthisch wäre schon diesSchlichte, das in unser Denken trat,wenn es nur zu sich hielte, und un-endlich sein Gegenspiel zur Wirklich-keit und zu allen Beziehungen, worinman sie peinvoll erlebt hat. Es istaber sein Wesen, nie das zu sein, wases scheint, und alle Antithese so in

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sich einzubeziehen, daß es sich ver-leugnend stärker wirkt als mit dem,was es verleugnet.

Durch Weiberkünste, schwerzu kennen,

Verstehen sie vom Sein denSchein zu trennen,

Und jeder schwört, das seidas Sein.

Noch wenn sie sich selber hereinfal-len, ihrer Wirkung sicher. Wissen wirdenn, wissen sie selbst denn, womitsie uns plagen? Sie wissen es nicht;nicht, was sie sind, und nicht ein-mal, was sie verleugnen. »Wir dürfendaher nicht« ist der logische Schlußaus der Erkenntnis, daß wir gedurfthaben und immer noch dürfen. »Eskommt jetzt nicht auf Programmeund Ideen an«, durch die wir groß,

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durch deren Mißbrauch wir größer ge-worden sind, durch deren Verrat wiram größten werden.

Die Ideen des Programmes verpflichtenuns nicht, wie Narren zu handeln und al-les umzustürzen.

Als hätten sie je zu etwas anderm ver-pflichtet. Aber die Verhältnisse sindeben noch nicht reif, angepaßt undgemeistert zu werden, und »so einenBlödsinn«, daß wir unsere Ideen aus-führen, wird man uns nicht zumuten.Das Programm hat so stark gewirkt,daß man es nicht mehr braucht; esläßt einen Glauben zurück, der derirdischen Güter entbehren kann, umletzten Endes Berge zu versetzen. Ersichert nicht die Macht, aber derenBewußtsein, er verleiht den Mut, täg-lich von vorn anzufangen und einer

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Nation, der das ruere in servitium einAkt der Wollust ist, Strafe und Lastals Gnade zuzuteilen. Das spielt sichim Politischen so leicht wie im Sozia-len ab. Als das Zentrum seinen Leidenerlag

erfolgte die Auflösung im Einver-nehmen

mit dem Überwinder, und die To-ten gelobten, sich in Treue »von nie-mand übertreffen zu lassen«. Damitdie Juden hinauskönnen, »dürfen« sieExportware abnehmen; und überallmischt die Mordslüge noch den frei-en Willen ein nebst der Gnade desErpressers. Alles spendet. »Unzähli-ge Beamte und Angestellte«, »unzäh-lige Arbeiter« haben, da die Lebens-mittel ohnehin unerschwinglich sind,nicht nur einen Teil ihres Gehaltes

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oder Lohnes »als freiwillige Spendezur Förderung der nationalen Arbeit«abgeführt, sondern

darüber hinaus ihren Arbeitgeber er-sucht, ihnen bis auf Widerruf von ih-rem Gehalt oder Lohn einen bestimm-ten Hundertsatz einzubehalten ..

Sonst widerführe es ihnen selbst. Undwie der Wahn normenhaft waltet unddas Chaos täglich die Einrichtung be-sorgt – teils glaubt man dem Wun-der, teils ist man davon überwäl-tigt. »Wie konnte das geschehn?« Eskonnte, weil eine Minorität sich dervorhandenen Waffen bemächtigt hat,um neue zu schaffen, und nun je-weils als Mehrheit den bezwungenenGruppen und den wehrlosen Einzel-nen gegenübersteht. Das Ende einerPanik, die auf die weitere Mensch-

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heit übergreift, wäre nur vom orga-nischen Ablauf zu erwarten, indemschließlich auch die Widernatur denNaturgesetzen erliegt und die entfes-selte Unersättlichkeit sich dahin wen-det, wo ihr Ermächtigung wurde. Ineiner Gemeinschaft, die auf der An-maßung des Amtscharakters durch je-den beruht, ihn Handlungen gewäh-rend, gegen die er sonst Schutz be-deutet, bleibt dem Griff nach Gutund Blut noch die Rache an denen,die ihn bewilligt haben. Ihre Ahnungist mit den Richtlinien gezeichnet,die wir täglich wie aus dem Angst-traum totaler Ohnmacht hervortretensehen – als das Leitmotiv der Un-berufenen, die »immer wieder in denStaatsapparat greifen«, der ohne sienicht erschaffen wäre. Dieser täglicheTrommelschall der Parolen weckt die

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Angst der Hörer, aber betäubt auchdie Angst der Trommler. Einst konn-te vor Kommunisten gewarnt werden,Provokateuren, Feinden der nationa-len Erhebung, Elementen, die in SA-Uniform das tun, was deren recht-mäßige Träger tun; jetzt wären jeneharmlos gegen die Gefahr der recht-mäßigen, die »andauernd durch unbe-fugte Eingriffe die Wirtschaft beun-ruhigen« und sogar schon »ihr Unwe-sen treiben«, Elemente genannt wer-den, Feinde der nationalen Erhebung,ja Kommunisten. Wenn sie’s frühertaten, waren es die andern; jetztsind sie es selbst, zwar von Provo-kateuren verführt, aber sie sind es.Diese Kobolde greifen in alle Zwei-ge der Verwaltung, sie holen nachwie vor Warenhausbesitzer zur Folte-rung, sie dringen nachts in die Häu-

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ser, wenn sie Geld für Benzin brau-chen, sie sammeln freiwillige Spen-den, sie gründen private Rasseämter.Und sind mit Recht erstaunt, daß siedas alles nicht sollen; denn ihnen hatman doch nie einreden können, daßBegleiterscheinungen nicht das We-sen seien. Und je eindringlicher mansie aufklärt, umso weniger wollen sieverstehen. Kein Zweifel, die Orga-ne, die dem Führerwillen von Naturuntergeordnet sind, drohen sich die-ser Bestimmung zu entziehen. »Wol-len immer weiter«. Man hat lange ge-glaubt, sie durch Freigabe des Bluteszur Prüfung wie auch zur Vergießungablenken zu können, nun mehren sichdie Zeichen, daß ihnen der Wunder zuwenig sind. Teils sind es solche, diedem Programm entsagen, indem ih-nen Eigennutz vor Gemeinnutz geht,

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wobei sie sich an das Vorbild der Füh-rer halten, die dann bedauernd fest-stellen, es liege »nun einmal in derNatur des Menschen, daß der Inter-essent durch das Gewand des Idealis-ten hindurchschimmert«. Teils aber,und das sind die schlimmern, sindes Idealisten, die auf dem Schein be-stehen, die Brechung der Zinsknecht-schaft »und weiß Gott was alles« ver-langen. Sie wollen mit der nationa-len Erfüllung nicht vorlieb nehmen,sie begehren auch noch die sozialisti-sche, die mit jener doch schon im Pro-gramm so schwer vereinbar war; jamanche finden, daß auch dem Natio-nalen bis auf sein »Nahziel«, den Ju-denpunkt, nicht entsprochen sei, so-lange nicht auch die Brechung desVersailler Vertrages geschieht, als obnicht gerade dies bis zu einem ge-

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wissen Maß schon der Fall wäre. Sol-chen Mißvergnügten wird Schutzhaft,Auflösung ihrer Formationen zuteil,ja sogar die Feststellung durch dasWolffbüro, daß sie nicht erfolgt ist.Gleichwohl wirkt die Irrlehre, daß dasProgramm verraten sei, einen Zauber,mit dem sie fast schon an das Pro-gramm hinanreicht. Ihr zu begegnenerfordert eine Besonnenheit, die manbisher nicht nötig hatte. Wenn manzwar noch immer nicht weiß, was manwill, so weiß man doch heute, wasman nicht will und daß zumindest ei-ne Verwirklichung des sozialistischenIdeals, dessen legitime Bekenner mangeschlachtet hat, ein Nonsens wäre,der die so erlangte Machtposition er-schüttern würde. Da aber Weigerungdie abgewandte Gefahr des Bolsche-

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wismus herbeiführt, so ist guter Ratteurer als Butter.

Die nationale Errungenschaft wie-der, selbst wenn sie noch Fortschrittezuließe, scheint nicht zu halten, wassie versprochen hat. Mit der Erkennt-nis, daß die Juden, die Marxisten, dieRadfahrer wie auch die Bekenner derRelativitätstheorie wie an allen Übelnauch noch am Kriegsausgang schuldseien, hat man eher Verwirrung ge-stiftet. Besteht hauptsächlich in die-sem Punkt immer wieder Grund zuder Beschwerde, dem Ausland man-gle es für das, was in Deutschlandvor sich geht, an dem notwendigenVerständnis, so sind doch auch diebesten der Eigenen kopfscheu gewor-den. Selbst ein Herkules hätte aufdem Scheideweg zwischen Rassen-stolz und Hebung des Fremdenver-

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kehrs nicht beides zugleich leistenkönnen. In der einen Richtung ist in-sofern ein Erfolg zu verzeichnen, alsein Blatt bereit war, für Geld guteWorte auf englisch zu nehmen:

Deutschland lädt Sie herzlich zu einemBesuch während dieses Sommers ein. Zuall den berühmten Reizen, die Deutsch-land auf Reisende ausübt, tr itt jetztnoch das bezaubernde Schauspiel :die Wiedergeburt eines Volkes hin-zu.

Mit Recht heißt es weiter, Deutsch-land genieße heute die Auszeich-nung, Europas interessantestes Landzu sein. Ganz abgesehen davon,daß selbstverständlich überall volls-te Ordnung herrscht und für Sicher-heit wie Bequemlichkeit Gewähr ge-leistet wird, erwarten Sie neue Ide-

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en und breiterer Ausblick als bis-her und werden Ihnen [wie bei jenenSchlachtfelder-Rundfahrten]

unauslöschliche Eindrücke vermit-teln, die immer wieder in Ihnen auf-steigen werden.

Die Luft ist ganz erfüllt von Musik,und nirgendwo anders kann der gebil-dete Reisende leichtermit den schöneren und besseren Gü-tern des Lebens Bekanntschaft ma-chen. Deutschland bietet jetzt dierestlose Vollendung einer moder-nen Erziehung für Jung und Alt. Eslädt Sie ein. an dem Leben seiner Kunst,seiner Wissenschaft, seiner Philoso-phie, seiner Geschichte tätigen Anteilzu nehmen, und vor al lem an der fei -nen Lebenskunst, mit der Deutsch-

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land heute das Dasein jedes Einzel-nen durchwebt.Deutschland ist heute mehr als je zu-vor Ihr höfl icher und rechtschaffe-ner Wirt .. Für eine bescheidene Aus-gabe können Sie in Deutschland denTraum Ihres Lebens verwirklichen.

Wo Redlichkeit für sich selbst spricht,kann der Eindruck auf die Welt nichtausbleiben. Wenn nur die EigenenRaison annehmen wollten und sich,nachdem sie Blut geleckt haben, zu-frieden gäben. Sind Briten hier? Siereisen sonst soviel! Warum kommensie denn nicht? Ach, es gab Mißver-ständnisse. Der höfliche und recht-schaffene Wirt haut keinen Fremdenübers Ohr, aber weil sie manchmalfremdartig aussehen, kann er’s haltdoch nicht vermeiden. Er annoncier-

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te »Germany invites you«, aber alssie kamen, gabs Haudujudu. Manch-mal erfolgt die Entschuldigung, daßes nur ein Mißverständnis war, ei-ne Verwechslung, wegen des Ausse-hens, das man sich selbst zuzuschrei-ben hat. Die Korrektheit der Aufklä-rung wird anerkannt, doch die rechteWärme will sich nicht einstellen. Derganze Orient hat längst wegen orien-talischen Aussehens Bedenken, aberauch der Westen zögert. Die größ-te Schwierigkeit liegt in dem Man-gel, daß die Welt mit den Bräuchendes Landes nicht vertraut ist und ge-gen sie zu verstoßen fürchtet. Ohnejeden Sinn für die Bedürfnisse desdeutschen Fremdenverkehrs hat dasAusland die Meldungen verbreitet,daß Amerikaner, nicht ahnend, daßman zu Horst Wessel aufzustehn und

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vor Fahnen zu müllern hat, nieder-getrampelt wurden. Dann der Reihenach Engländer, Franzosen, Belgier,Holländer, Schweizer. Einem rumäni-schen Ingenieur wurden die Händeins Feuer gesteckt, »damit er zuge-be, daß er ein Jude sei«. Ein Brite,siebenmal in einer Stunde angehal-ten und visitiert, warnt in der ,Ti-mes‘ vor Reisen nach Deutschland,und es wäre doch allen Beteiligtengeholfen, wenn Cook einfach recht-zeitig Verhaltungsmaßregeln erteilte.Auch den Einheimischen täten sienot: ein Gutsbesitzer ließ sich da-zu hinreißen, den Hitler-Gruß eineKinderei zu nennen, »Teile der Be-völkerung stehen mit den Händenin den Hosentaschen, wenn Sturm-fahnen vorbeiziehen«, offenbar den-kend, auch dies werde vorübergehn;

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ein Mädchen in Neuruppin bekameine Tafel um den Hals, da stand,sie sei ein schamloses Frauenzimmer,weil sie bei Horst Wessel sitzen ge-blieben. Die Bevölkerung ist von denIdealen begeistert, aber schwer dazuzu erziehen, wenigstens nicht außer-halb des Lagers; in die Schlageter-Ausstellung geht kein Mensch und beieiner Rundfrage des Theaters in Er-furt bekam Offenbach mehr Stimmenals Johst. Nichts als Pech, nichts alsMißverständnisse, die Einheimischenhalten die Fremden für Juden, dieFremden halten die Einheimischenfür Barbaren, doch daß gar diese un-tereinander nicht Bescheid wissen, istbeschämend. Was soll aus Oberam-mergau werden, wo schon Bayreuthder besondern Weihe bedarf, daß dieRegierung die Freikarten aufkauft?

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Dort war ein tragischer Konflikt zwi-schen Fremdenverkehr und bessererÜberzeugung aufgebrochen. Zimmer-vermieter, die sich als Apostel verklei-den, sind heißt es Nationalsozialistengeworden und sollen Gewissensqua-len ausstehen, weil sie jüdische Typendarzustellen haben. Nun hatten siesich, um das peinliche Gefühl der Ver-stellung loszuwerden, gleich die lan-gen Bärte und Schmachtlocken wach-sen lassen, die sie für das Passionss-piel brauchen. Was geschieht? Volks-genossen aus dem Norden kommen,sehen es und raufen ihnen den echtenBart, in dem falschen Glauben, er seiecht. Bei solchem leibhaftigen Anteilan der darzustellenden Passion muß-ten sie erkennen, daß es keine mehrsei, und machten den Vorschlag, die

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Bärte bis auf ein Minimum zu entfer-nen und an Stelle des Leidens Christi

das Leben Hitlers darzustellen,

was jedoch abgelehnt wurde,

da man meinte, dieses Thema würde kei-ne Fremden herbeilocken.

Man einigte sich schließlich aufden goldenen Mittelweg, die Spie-le in ihrer alten Form beizubehal-ten und nur durch wiederholtes Ab-singen des Horst Wessel-Liedes auf-zufrischen. Bezüglich der Darstellerwurde verordnet, daß »der Christusnur ein blonder Mann mit blauen Au-gen sein darf, mit Hakenkreuzen amRock« und daß die ihm treuen Apo-stel arisch-germanischen Typus ha-ben müssen, während der Judas »alsprononziert jüdischer Typ« zu geben

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ist, eine Reform, deren Mühe sichder Propagandaminister mit Selbst-aufopferung unterzog. Die Möglich-keit aber, das Leben des Nazirenersdarzustellen, wird einer Zeit vorbe-halten sein, wo entsprechende Wer-bung für ein besseres Verständnis derAußenwelt gesorgt haben wird, wennes nicht von selbst eintreten sollte, ge-mäß Goebbels’ Überzeugung

daß das, was wir heute machen, bahnbre-chend für die ganze Kulturwelt ist: für dienationalsozialistische Welt. Wenn sie –auch heute noch nicht besteht, so wird siein zehn Jahren unsere Gesetze abschrei-ben. Was wir heute tun, wird in zehnJahren vorbi ldl ich sein für die ganzeWelt. Das was wir heute tun, wird fürganz Europa maßgebend sein.

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Es gelte jetzt nur noch ein Systemauszubauen, das künftige Jahrhun-derte überdauert, und eine Organisa-tion zu schaffen, die selbst dann nochhält, wenn es einmal »an Talentenfehlen sollte«. Wir haben für die zusorgen, die da kommen werden, unddie Repertoireänderung für Oberam-mergau wird sich von selbst ergeben,denn Kube [Pergamon] hat es gesagt:

Adolf Hitlers Mission ist eine göttliche.

Und wäre sie denn ohne den Lei-densweg vorstellbar, den so viele umdes Zieles willen beschreiten muß-ten? Hat man nicht von Märtyrern ge-lesen, Kriegsteilnehmern, manch ei-nem, dem es erst jetzt widerfuhr, daßsein Körper »vom Rücken bis zu denKniekehlen eine einzige blutige Mas-

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se war«? Damit er seiner Sendung be-wußt bleibe, überschüttete man ihnmit kaltem Wasser

und zwickte hierauf mit Zangen Fleischaus seiner Brust.

Und dann nahm der Pfleger des Glau-bens seine brennende Zigarre aus derSchnauze

und sengte dem Gefesselten einen Kranzrund um den Hals.

Und sprach die Worte:

Ein Kettchen aus roten Korallen zur Er-innerung!

»Wir haben den Mann und seineWunden gesehen«, sagte einer imFlüchtlingsbureau von Saarbrücken.Solchen Bewährungen suchen dieSchutzhäftlinge zu entrinnen, indem

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sie Sicherheitsnadeln sich ins Herzstoßen, einen Bleistift in die Augen,den Kopf am Eisenbett der Zelle sicheinschlagen und so seltsame Artender Abkürzung ersinnen für seltsa-mere des Leidens. Doch die strengenRiten der Schutzhaft überdauern denSchwachmut der Lebensflüchtlinge,sie bestehen kraft der Glaubenstreueder Bekenner, und mehr noch, weil je-ne nicht glauben wollen, die in Bet-ten schlafen. Was aber der Mensch-lichkeit unfaßbar ist, weil es der Er-lösung zu einem Ziel der Mensch-heit dient, möchte sie doch festhal-ten. Für das Andenken all der Blut-zeugen, die daran glauben mußten,der Zertretenen und solcher, die nurSiechtum davontrugen: des hingerich-teten Helden von Hamburg und derMutter, die es durchs Radio erfuhr

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und schreiend auf die Straße stürz-te; der Frau in Köln, die, als sie denMann peinigten, in Todesangst ausdem Fenster sprang und mit gebro-chenen Beinen liegen blieb; des Zugsder Kremser Hilfspolizei, in den derfeigste aller Morde schlug; der Ge-töteten und Verstümmelten im Wie-ner Juwelierladen; des greisen Rabbi-ners, der in Oberwiesenfeld das Hin-richtungsspiel erlitt, bis es doch Ernstwurde; des Kindes – sie haben denVorgang selbst berichtet –, das wei-nend der Mutter nachlief, die als Gei-sel durch die Gassen von Pirmasensgeschleift wurde, damit der entflohe-ne Vater zu seinen Mördern zurück-kehre. Und auch dieser Kreatur Got-tes:

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.. und versuchten mit petroleumgetränk-ten Fetzen das Holzhaus in Brand zu ste-cken.Der Hund des Platzmeisters störte dieBrandstifter durch sein Gebell bei ihrerArbeit. Daraufhin feuerte einer der Naziseinen Revolverschuß auf das Tier ab undverletzte es schwer. Trotzdem konnte derHund noch zur etwa hundert Meter ent-fernten Wohnung des Platzmeisters lau-fen und seinen Herrn wecken.Als der Platzmeister zum Klubhaus kam.waren die Eindringlinge schon geflüch-tet. Der Mann löschte mit einigen EimernWasser den Brand.In den frühen Morgenstunden mußte dertreue Hund, der die Brandleger entdecktund schwere Verletzungen erlitten hat-te, durch einen Gnadenschuß getötet wer-den.

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Menschen gehen aus und werden ineinem verlöteten Sarg ihren Familienzurückgestellt.

Das arme ReichKennt kaum sich selber mehr.

Nicht unsre MutterKann’s heißen, sondern unser

Grab: wo NichtsAls was nichts weiß, man

jemals lächeln sieht;Wo Schrei’n und Seufzen, das

die Luft zerreißt,Gemacht wird, nicht gemerkt;

wo heft’ger KummerAlltägliche Erregung scheint.

Man fragtBeim Läuten kaum: für wen?

Der Guten LebenWelkt schneller als der Blu-

menstrauß am Hut,

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Und stirbt noch eh eskrank wird.

Mit so ungeheuren Zügen Shakespea-res ist die Stimmung in »diesem un-ter einer Teufelsfaust ringenden Lan-de« gemalt [»ein heil’ger Engel flieg’an den Hof von England, tue kunddie Botschaft!«] – nur der gleichmüti-gen Niedertracht sind die Seufzer, dieerstickt sind, nicht gewesen. Sie wis-sen nichts; sie glauben es nicht. Doches muß einen Sinn haben, welchendie Menschen erst erkennen, wennder Führer sie sehend macht. Sym-bolhaft war es, als eine Gruppe ju-gendlicher Angehöriger der Blinden-anstalt in Halle sich an ihn mit derBitte wandte:in ihm ihren Führer sehen und ihr Zim-mer »Adolf Hitler-Zimmer« nennen zu

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dürfen. Der Reichskanzler entsprach die-ser Bitte mit einem besonderen Schreibenund sandte den Jungen ein prachtvollesLichtbild mit eigenhändiger Unterschrift.

Gloster ersah das Führerprinzip: »’sist Fluch der Zeit, daß Tolle Blin-de führen«. Er war blind für den Se-gen, und nicht alle sind seiner wert.Darum hat der Deutsche Blindenver-ein seine jüdischen Mitglieder aus-gestoßen, aber ein österreichischerals Nachrichtenzentrale gewirkt. Undvor einem israelitischen war es ein Se-hender, der die Aufschrift buchstabie-rend zu seinem Begleiter sprach:»Israe-lidisches Blinden-heim – Dös heb’i mit zwa Kracherln aus. Die Blindensehn’s eh net!«

Während man, um eine christli-che Mehrheit zu treffen, hinter dem

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Busch versteckt sein muß. Denn die-ses Fatum waltet ohne Ansehn derKonfession, und je mehr ihm die Er-füllung entschwindet, umso unersätt-licher drängt es zum dunklen Ziel.

Und alles geschieht, um es in Bewe-gung zu halten. Der Postenjäger hatprovisorisch Anteil am Weltbesitz unddarf in dem Bewußtsein des Zusam-menhanges schwelgen, wenn endlichfestgestellt ist, die germanische Völ-kerwanderung habe

dem in seinem Rassenmischmasch entar-teten römischen Weltreich frisches nordi-sches Blut zugeführt.

Mögen auch dessen rechtmäßige Be-sitzer in Skandinavien sich vor Ab-scheu schütteln. Ferner hat Göringerkannt, Deutschland sei endlich ein

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Überpreußen geworden, und in die-sem Sinne befohlen, daß der altepreußische Aar wieder das Schwertund den Blitz erhalte, zum Zeichen,daß er gewillt ist, zur Sonne empor-zusteigen und das Heiligste mit demLetzten zu verteidigen. Es ist mehrals ein schönes Bild, es ist ein Sinn-bild der Notwendigkeit, den deut-schen Reichsluftschutzbund auszu-bauen, weil deutscher Luftschutz dasGebot der Stunde ist, damit sich derSturm der Entrüstung des deutschenVolkes lege wegen der Schmach, dieDeutschland durch landfremde Flug-zeuge angetan wurde, nicht zu redenvon der Provision, die die Flugzeug-industrie dem Retter für dessen Auf-träge zahlt. Nebst solcher Aussichtist »die einzige trostreiche Zusiche-rung, die man allen Entrüsteten und

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Verängstigten geben kann, die, daßjeder Volksgenosse in der Reichsre-gierung die feste Garantie für einezweckentsprechende und hoffnungs-volle Behandlung der Luftgefahr unddes Luftschutzes sehen kann undsoll«, ja für eine Wachsamkeit, die dasEintreffen der landfremden Flugzeu-ge schon zwanzig Minuten bevor sieniemand sah, bekannt gegeben hat,während deutsche Flugzeuge Öster-reich angeblich mit Flugzetteln über-ziehen. Dagegen dürfte die Behaup-tung, daß der Retter die Nachrichtvon der Anzündung des Reichstagsdurch die Kommunisten bereits ei-ne Stunde vor dieser verbreiten ließ,insofern auf einem Irrtum beruhen,als der Brand selbst vor dem ange-setzten Termin erfolgt war. Überei-fer der untergeordneten Organe hat

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von allem Anfang an manche Unge-legenheit geschaffen, aber man wirktwo man kann zügelnd ein. Wenn et-wa jetzt noch jüdische Ärzte verhaftetwerden, so sind die arischen Kollegendabei, die sie genau bezeichnen, da-mit keine Mißgriffe vorkommen. Siehaben auch, wenn wer immer miß-handelt wird, strikten Auftrag, ohneAnsehn der Person ein Parere aus-zustellen, daß nichts geschehen, derPatient noch widerstandsfähig oderam Leichnam nichts Verdächtiges zufinden sei, wobei zuweilen auch derHumor in seine Rechte tritt. Fälle,wo, wenn Not am Mann ist, Ärz-te selbst Hand angelegt haben, sindauch schon in Österreich bekannt ge-worden. So liest man, wie jemand, derverdächtig ist, ein Hakenkreuz verun-ziert zu haben, von einem Arzt gefes-

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selt und von dessen Sohn, der nochstudiert, verprügelt wird. Manchmalmacht einer alles, indem er währendder Operation »Es lebe Deutschland!«ruft und zugleich Dollfuß beleidigt.Werden in einem steirischen Gast-hof Anstalten getroffen, aus einemMenschen »ein Gulasch zu machen«,so obliegt es einem Mediziner, ihmPfeffer in die Augen zu streuen. InDeutschland steht zunächst die Re-gelung der wirtschaftlichen Fachin-teressen im Vordergrund, indem manhäufig liest, daß »arische Ärzte ih-re arischen Patienten arischen Ärz-ten zu überweisen haben und umge-kehrt«, während jüdische Ärzte, wennüberhaupt, so überhaupt nicht zuge-zogen werden. Alles dies wird täglichgenau geregelt, und die Zurückdrän-gung der jüdischen Ärzte erfolgt noch,

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wenn es sie längst nicht mehr gibt.Die Erkenntnis, daß sie die Inkarna-tion der Lüge und des Betrugs wa-ren, hat den arischen Kollegen die Au-gen geöffnet, aber auch eine Gelegen-heit, zu der die Fachpresse verschie-dene Wege weist. Etwa direkt:

Durch das Ausscheiden jüdischer Ärz-te ist in günstiger Lage Neuköllns gu-te Niederlassungsmöglichkeit fürdeutschen Arzt gegeben. Anfragenunter –

Es handelt sich um einen jener Fäl-le, wo der Befund des Exitus die Erb-serklärung in sich schließt. Oder in-direkt, indem ein Arzt untersucht, obdem Führer

für den der Titel eines Kaisers kei-neswegs zu hoch wäre,

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nicht wenigstens der eines »Herzogsdes deutschen Volkes« gebühre, undden Befund ausstellt:

In Adolf Hitler ist dem deutschen Vol-ke ein Mann so ungewöhnlichen Aus-maßes geschenkt worden, daß noch inJahrtausenden in Mythos und Ge-schichte das Volk in ihm den größ-ten Staatsmann und Befreier al lerZeiten erblicken wird.

Während wieder der Tapezierermeis-ter F. Židek in Olmütz zu dem Ergeb-nis gelangt:

Da ich während der Probezeit feststell-te, daß seine Fachkenntnisse sehr starkhinter seiner rednerischen Begabung undEloquenz nachhinkten, verlangte ich vonihm nicht mehr ein Personaldokument,sondern entließ ihn.

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Wenn sich noch vollends darin einegewisse Christus-Ähnlichkeit heraus-stellen sollte, daß sich die Gerüchteüber jüdische Abstammung und zwarvon einem Abraham Friesch in Pol-na bestätigten, so würde dies einenWeltantisemitismus zur Folge haben,der das deutsche Vorbild weit hintersich ließe.Es ist aber offenbar eine der we-nigen Propaganda-Nachrichten, dienicht stimmen, weil ein derartigerGrad von Assimilation an den bajuva-rischen Menschenschlag nicht denk-bar ist, weder im Aussehen noch ineiner Sprechart, deren Gedrungen-heit noch Spuren eines entschlosse-nen Kampfes mit dem Dialekt verrät:

Die Vorßehung hat mich außerßehn ...

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Vor dem Lautsprecher und derBerliner Illustrierten könnte wohlniemand an einer Bodenständigkeitzweifeln, die deren stärkster Be-kenner, Goebbels, hundertprozentignennt, während es eine üble Gewohn-heit der Juden ist, alles für sich zureklamieren und noch als äußersteHerabsetzung die Zugehörigkeit zuihrer Gemeinschaft zu behaupten.Was soll die genealogische Schnüf-felei, sie wird an einer Schlichtheitzuschanden, die, wie etwas, was»mit ungeheurem Streben aus demAbgrund herauf drang«, fast auto-chtonisch anmutet und jedenfallsautodidaktisch bis zum Autobio-graphischen gelangt ist, ja bis zuVersuchen, die Welt anzuschauen, diees erobern will. Wie weit entfernt voneinem jüdischen Gehirnpartikelchen

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solches Denken waltet, zeigt sich demBlick in ein Lebensbuch, wenn eretwa die Maxime ergreift:

Grundsätzl ich ist der Wert jeder Ar-beit ein doppelter: ein rein materiel lerund ein ideel ler. Der materiel le Wertberuht in der Bedeutung, und zwarder materiel len Bedeutung, einer Ar-beit für das Leben der Gesamtheit. Jemehr Volksgenossen aus einer bestimm-ten vollbrachten Leistung Nutzen ziehen,umso größer ist der materiel le Werteinzuschätzen. Die Einschätzung findetihrerseits den plastischen Ausdruckim materiel len Lohn, welchen der ein-zelne für seine Arbeit erhält. Diesemrein materiel len Wert steht nun ge-genüber der ideel le. Er beruht nichtauf der Bedeutung der geleisteten Ar-beit materiel l gemessen, sondern auf

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ihrer Notwendigkeit an sich. So sicherder materiel le Nutzen einer Erfindunggrößer sein kann als der eines alltäg-lichen Handlangerdienstes, so sicher istdie Gesamtheit doch auf diesen kleinstenDienst genau so angewiesen wie auf jenengrößten.

Nein, das entsprang keines AbrahamsSchoß; und wird in keinen kommen,sondern vergebens rufen, daß seineZunge gekühlt werde; denn über dasAlles ist zwischen uns und euch ei-ne große Kluft befestiget, daß ihrnicht könnt von dannen zu uns her-über. Gleichwohl, wenn dem Einfa-chen die mystische Wirkung verlie-hen ist, die dem Komplizierten ver-sagt wurde, hier wird ihr Übermaßerklärlich. Bezwingend ist das redli-che Bemühen, in eigenen Gedanken-

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gängen zum Gemeinplatz zu gelan-gen. Und wie zeigte wieder die großeprinzipielle Auseinandersetzung überKunst und Kultur, die seit dem Tagvon Nürnberg als grundlegend legendanerkannt wird, dieses Schürfen nachErkenntnissen, das zugleich ein Rin-gen nach Formulierungen ist, wie sieder Ausdrucksweise der Gebildetenzukommen. Bezeichnend für diesenehrlichen Drang ist vor allem die»Synthese«, deren Notwendigkeit derFührer so häufig betont, aber auch die»Gegebenheit der rassischen Substan-zen« wie deren »bewußtes Heraus-stellen«, ferner Fremdwörter und Ter-mini wie »organisch«, »Konglomerat«,die »Neuorientierung«, zu der eineWeltanschauung zwangsläufig führt,der dominierende Einfluß eines be-stimmten Rassenkerns, rassische Be-

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dingtheiten, eine Mischung, die dasGesamtbild des Lebensausdrucks ge-staltet, die zeitmäßige Distanz wiedie rassisch-weltanschaulich fundier-te Tendenz einer Zeit, die auch dieTendenz und Psyche der Kunst be-stimmen wird, die Auswirkung desschöpferischen Geistes und letztenEndes die Fleischwerdung der höchs-ten Werte eines Volkes. Wenn es nichtvon Goebbels aufgesetzt ist, so be-rührt es durch Unmittelbarkeit. KeinWunder, daß das eigene Blatt sichnicht entziehen konnte:

Daß er als Denker von eigentümli-cher Schärfe und Klarheit zu dengroßen deutschen Staatsphiloso-phen gehört, wußten nur wenige.Seine beiden großen Nürnberger Re-den brachten in dieser Hinsicht auch

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den Gebildeten eine gewaltigeÜberraschung.

Nanu! sagten sie, als er von den ewi-gen Auslesegesetzen sprach und ei-ne Synthese von Tradition und Neu-em verlangte, und wer hätte ihm dievielen Fremdwörter zugetraut. Allesganz aus sich selbst.Mit dieser Rede ist auch gedanklich einneues Blatt der deutschen Geistes-geschichte aufgeschlagen.

Ich muß gestehen, daß ich mich demEinfluß, den »Mein Kampf« geübt hat,vorweg entzogen habe, da ich mehrmit dem meinigen beschäftigt bin, fürwelchen ein gelegentlicher Blick, wieda und dort ein Zitat, durchaus ge-nügte. Es hat auch ausgereicht, zu er-fahren, daß der Führer mit so man-cher Erkenntnis als Prophet dasteht.

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Zum Beispiel mit einer, die, im Ge-gensatz zu der Erkenntnis von derNotwendigkeit, das Volk zu beschwin-deln, noch in späteren Auflagen zufinden ist:

Je mehr die Bewegung zu vergeben hatan leicht zu erringenden Posten und Stel-len, umso größer wird der Zulauf an Min-derwertigen sein, bis endlich diese poli-tischen Gelegenheitsarbeiter eine erfolg-reiche Partei in solcher Zahl überwu-chern, daß der redliche Kämpfer von einstdie alte Bewegung gar nicht mehr wie-dererkennt und die neu Hinzugekomme-nen ihn selber als lästigen »Unberufenen«entschieden ablehnen. Damit aber ist die»Mission« einer solchen Bewegung erle-digt.

Wenn außer den von den Minder-wertigen Gemordeten und Beraubten

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noch ein Teilhaber solcher BewegungErbarmen verdient, so ist es der hän-deringende Führer, der sie gerufenhat und nicht loswerden kann. Man-cher Leitsatz hat seine Bestätigunggefunden, mancher wurde von derEntwicklung überholt; weshalb Gö-ring, ohne den sie glatter verliefe,in einem Erlaß darauf besteht, daßden Beamten »das wesentliche Ge-dankengut der Bewegung nicht mehrfremd bleibe«, und eine Zwangsaufla-ge von »Mein Kampf« anordnet, damitjene »die wichtigsten Seiten des natio-nalsozialistischen Schrifttums« ken-nen lernen, nämlich die, die nichtmehr gelten. Das ist eben wiedersein Kampf, denn wenn er selbst ei-ne Vierzigzimmer-Villa hat, tiptop aufTorquemada eingerichtet, so will erdoch auch für die altbewährte SA et-

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was tun. So bringt jeder Tag Abwechs-lung. die Parolen kreuzen sich, aberman sieht immerhin, wie stürmischsich die Evolution durchzusetzen be-ginnt, die als »sicheres Bett« empfoh-len wurde. Daß die Kommissare ver-schwinden müssen, weil ihre »dauern-den Eingriffe in die Wirtschaft un-erträglich geworden« sind, klingt be-reits wie eine Forderung, die gegen-über einem verflossenen Regime erho-ben wird. Solange die Regelung desWirtschaftslebens nur durch die Ver-leihung des Schildes »Deutsches Ge-schäft« an arische Firmen gegen Jah-resgebühr erfolgte, ging es hundert-prozentig in Ordnung: »eine aufge-hende, strahlende Sonne mit Haken-kreuz, davor als Hüter ein sitzen-der Adler«, Wirtschaftsadler genannt– da war man gewappnet gegen die

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Gefahr, daß der Jude schnellerund-mehr Jeld verdiene. Aber wiewohl ernoch draufzahlen mußte, macht mandoch die Erfahrung, daß der Wirt-schaftsadler nicht vor dem Pleite-geier schützt. Da werden denn im-mer neue Richtlinien erforderlich, diezwar nicht sagen, was man soll, aberdoch, was man nicht darf. Auch stelltzur rechten Zeit sich der »Primat«ein, welcher, sei es der der Wirtschaftvor der Politik oder umgekehrt, auchals Neutrum gebraucht werden kann,nebst der Einsicht, daß wir »Raumpo-litik statt Wirtschaftsillusion« brau-chen und daß man »solchen Schwär-mern«, denen, »die jetzt noch reden«,die fünfundzwanzig effektuieren soll,die sie für Programmpunkte halten.Aber selbst das hilft nichts. Wenn dieRechte nicht weiß, was die Linke tut,

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so verwickelt es sich zusehends, wennbeide nicht wissen, was zu tun, undVersprechungen an Schwerindustriel-le durchkreuzt werden von einer Wei-gerung, sie zu empfangen, während»der Arbeiter, der ein vollwertigerHerrenmensch geworden ist«, zu ku-schen hat. Das Phänomen der Gleich-zeitigkeit ermöglicht es, daß freiwer-dende Arbeitsstellen »nicht nach derParteizugehörigkeit besetzt werdendürfen«, sondern ausschließlich nachder Zugehörigkeit zur Partei.. Schonwird der Kampf gegen den Kapita-lismus angekündigt, um den Bolsche-wismus mit Erfolg bekämpfen zu kön-nen, was dann dahin ausgeglichenwird, daß man den Sozialismus auf-gibt zugunsten des Plans, ein Denk-mal der deutschen Arbeit zu errich-ten, an dem vier Frauengestalten,

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nämlich Treue, Gerechtigkeit, Liebeund Wahrheit die Tugenden des deut-schen Volkes darstellen sollen; wäh-rend für Grabsteine von Führern dieInschrift in Aussicht genommen ist:

Sie sind oft rauh gewesen, sie sind hartgewesen, sie waren rücksichtslos, aber siesind gute Deutsche gewesen.

Gewisse Unebenheiten gewinnen je-doch gleich ein anderes Aussehen,wenn ihnen die Rechtsprechung an-gepaßt wird. Nach den in der ,Deut-schen Juristenzeitung‘ von einemLandgerichtspräsidenten festgelegtenRichtlinien ist eine Reihe von Ta-ten, wie Körperverletzung, Freiheits-beraubung und Tötung, als »durchden nationalen Zweck bestimmt« an-zusehen und darum vom Verdacht ei-

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ner strafbaren Handlung vorweg be-freit, während bisher immer erst Abo-lition eintreten mußte. Weitwendig-keiten wie bei den Mördern von Po-tempa, deren Leben an einem Haarhing und deren Beamtenlaufbahndann durch einige Monate verzögertwar, werden sich nicht wiederholen.Was vom Richter verlangt wird, istder Mut zu einer gewissen Selbstän-digkeit der Rechtsauffassung, damiter den Weg in dieser so wichtigen Fra-ge nicht verfehle:

Er wandelt dabei auch auf altgerma-nischen Pfaden. Der innere Feindverfiel bei unseren Altvorderen derAcht und wurde ehrlos, rechtlos undfriedlos, vogelfrei; jeder Volksgenossekonnte ihn offen erschlagen, sofern ersich nicht auf geweihter Stätte befand.

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Die restlose Ausrottung des innerenFeindes gehört zur Wiederherstellung derdeutschen Ehre. An ihr kann der Straf-richter durch großzügige Auslegungdes Strafgesetzbuches teilnehmen.

Der Fachmann spricht die Erwartungaus, daß die bevorstehende Neuord-nung des Strafrechts mancherlei Un-gewißheit beendigen und ängstlicheGemüter unter der Richterschaft be-ruhigen werde. Dies wird sich um-so leichter herbeiführen lassen, alssie wohl auch Zuzug aus den Kreisender nationalen Vorkämpfer erhaltendürfte, die nach veralteter Rechtsauf-fassung wegen Messerstechens verur-teilt waren und schon vielfach an lei-tende Polizeistellen aufgerückt sind,nachdem sie die Amtsvorgänger ver-prügelt hatten. Natürlich wäre es

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wieder übertrieben, wenn man be-haupten wollte, daß alle Würden-träger vorbestraft seien; beim Kul-tusminister zum Beispiel, der über-haupt keine Gewalttätigkeit began-gen hat, sich aber vom frühern Re-gime in einen Sexualprozeß verwi-ckeln ließ, war der Strafausschlie-ßungsgrund wegen verminderter Zu-rechnungsfähigkeit [§51] angenom-men worden. Gleichwohl hatte er beiden neuen Machthabern, die sonstmehr Beweise persönlicher Tatkraftberücksichtigen, einen Stein im Brett.Wie peinlich bei der Neuordnung aufdie Grundsätze des internationalenRechtshilfeverkehrs Bedacht genom-men wird, zeigt der Umstand, daßtrotz der gegenwärtigen politischenSpannung auch österreichische Ver-brecher, insbesondere Bombenwerfer

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der gleichen Chance teilhaft wer-den, nachdem sie als Rundfunkred-ner durch Aufklärung über die bar-barischen Sitten ihrer Heimat sichder Vorteile des Asyls würdig ge-zeigt haben. Wenn man bedenkt, wieschwierig sich im Allgemeinen die Ar-beitsbeschaffung für Emigrierte ge-staltet, so ist das Entgegenkommender deutschen Behörde umso bemer-kenswerter, welche einen Doppelmör-der auf Grund keiner andern Empfeh-lung als eines Steckbriefs der WienerPolizei als Aufseher in Dachau ange-stellt hat. Freilich darf man nicht au-ßeracht lassen, daß hier insofern ei-ne moralische Verpflichtung besteht,als die Bombenanschläge für Öster-reich vom Münchner Polizeipräsiden-ten in Auftrag gegeben sind. Was da-gegen jene Personen betrifft, die sich

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durch Flucht ins Ausland der deut-schen Justiz entzogen haben, so dientdie Beschlagnahme ihrer Vermögens-werte hauptsächlich zur Wiedergut-machung der Schäden, die im Zu-ge der nationalen Erhebung an ihrenWohnstätten eingetreten sind, indemsich etwa eine Zerstörung des Mo-biliars und die Zertrümmerung vonKlavieren als notwendig herausstellteund auch Silbergerät abhanden kam.Daß von solchen Mietern, die ihreWohnungen einfach im Stich gelas-sen und der Obhut von SA-Männernüberantwortet haben, pünktlich derMietzins eingefordert wird, verstehtsich bei einem Ordnungssinn, derniemals ausgesetzt hat, ebenso vonselbst wie daß ihnen auch regelmäßigdie Steuervorschreibungen zugestelltwerden. Doch von Grund auf macht

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sich die Tendenz nach Rechtssicher-heit, wie sie in verschiedenen Er-lässen angefordert wird, geltend, in-dem nicht nur der Bruch mit überlie-ferten Vorurteilen vollzogen, sondernauch Aufbauarbeit geleistet wird, in-dem etwa kommunistische Angeklag-te in der Verhandlungspause zu ei-nem Geständnis gebracht werden. Sowürde sich der Sinn der nationalenErhebung allmählich als der einer Be-freiung von überlebten Strafsanktio-nen herausstellen, bis zu dem Maße,daß nicht Leben, Freiheit, Ehre undBesitz, sondern die Eingriffe in dieseLebensgüter als Rechtsgüter zu gel-ten haben. Leider wird aber auch hierdie Einheitlichkeit durch irreguläreAnordnungen einzelner Amtswalterunterbrochen, wie etwa jene verblüf-fende Aktion zur »Bekämpfung des

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Erpressertums«, die einer auf eige-ne Faust unternommen hat. Da wur-de behauptet, daß verantwortungs-lose Elemente die durch die natio-nale Erhebung geschaffene Lage zuerpresserischen Handlungen ausnüt-zen, daß sie nämlich, »häufig genugmit Erfolg«, von wohlhabenden Leu-ten durch gewaltsames oder drohen-des Auftreten mehr oder

weniger erhebliche Geldbeträge odersonstige Vermögensvorteile zu erlangentrachten, indem sie sich, nicht selten un-ter Mißbrauch von Uniformen oder Ab-zeichen, als Beauftragte von amtlichenStellen oder hinter der Regierung der na-tionalen Erhebung stehenden Verbändenausgeben. Die Polizeibehörden werden al-les daransetzen, um in jedem Falle derTäter habhaft zu werden.

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Erstens ist es nicht wahr, jedenfallsnicht was die weniger erheblichenGeldbeträge anlangt. Dann pflegendie Polizeibehörden in solchen Fäl-len die Intervention abzulehnen, in-dem sie sich höchstens auf den Ratbeschränken, zu zahlen, und der Zwi-schenfall wird auch in der Regel ami-kal beigelegt, indem die Bedrohten ei-ne Erklärung unterzeichnen, es seivon ihnen nichts verlangt worden undzwar von SA-Leuten, die nicht dierichtigen waren. Schließlich aber istzu sagen, daß mit solchen Maßnah-men an eine Lebensader der Bewe-gung gerührt wird, zumal da sie viel-fach auch Vorkämpfer treffen, die, umbeim Ausbruch das Ärgste zu verhü-ten, die Zügel in die Hand genom-men haben, während anderseits dochimmer wieder Fälle berichtet werden,

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die die Bereitwilligkeit, ja Opferbe-reitschaft der Gebenden dartun. Derum Österreich so verdiente GauleiterKothen schildert, wie er nach Wormskam, voll Staunen die Kameraden inden schmucken Privatwagen sah undeiner von der alten Garde ihm

lachend erwiderte, daß die Juden zur bes-seren Durchführung des Judenboykottsauf Anforderung dieselben freiwil -l ig zur Verfügung gestel lt und sichobendrein noch bereit erklärt hätten, dasBenzin für die nächsten acht Tage zu zah-len.

Und zu anderer Gelegenheit ergänzter diesen Beweis der Hingabe zu ei-nem vollkommenen Bild der Brüder-lichkeit von Klassen, die eben auf ein-ander angewiesen sind:

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Die Lebensmittel für die Gefangenen wer-den meistens von jüdischen Firmen, diedem freundlichen Zureden unserer SAnicht widerstehen können, reichlich ge-spendet.

Allenthalben hat eine Urbanitätder Umgangsformen Platz gegriffen,deren Außerachtlassung freilich dieschwersten Unannehmlichkeitennach sich ziehen kann. Während dieJuden mit sich reden lassen, hat sichdas Verhalten der Stahlhelmer, dieneben den tapferen SA und SS einstwacker genannt werden konnten,dermaßen geändert, daß einer ihrerKreisgruppenführer wegen Mangelsan Takt ins Konzentrationslagergebracht werden mußte, hatte er doch

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durch sein Benehmen gegenüber dendiensttuenden SA- und SS-Männern un-liebsames Aufsehen erregt.

Leider aber stellt sich heraus, daßauch diese selbst immer häufiger An-stoß erregen, indem sie nicht bloßdem Führer huldigen, sondern, »unterdem Deckmantel des Aufbaus«, demEigennutz. Verweist man ihnen die-se offenkundige Verletzung des Pro-gramms, so erwidern sie, daß, wenn esalle tun, Gemeinnutz erzielt wird. MitAch und Krach, mit Krupp und Thys-sen ist man zur Evolution gelangt, ei-nem Fremdwort, wie etwa Reichsprä-sident, welches aber doch etwas be-deutet, nämlich daß man statt un-rechtmäßiger Vorteile Vernunft an-nehmen soll. Eine Neuerung, die frei-lich nicht leicht durchzusetzen sein

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wird, denn woher nehmen, was nichtgestohlen werden kann? Der Führerpredigt Vernunft, und es sind gera-de die national verdientesten Män-ner, die sich durch diese Forderungvor den Kopf gestoßen fühlen. Ihrenutzbringenden Einzelaktionen wer-den immer häufiger durch unliebsa-me Anordnungen unterbunden, diemit weit mehr Recht diesen Namenverdienen und darum auch gerechter-weise wieder zurückgezogen werden.Von allem Anfang an war ja bei ei-ner opfervollen Revolution, die letztenEndes unblutig verlaufen sollte, eingewisses Durcheinander begreiflich,das allerdings wieder im publizisti-schen Abbild zur Ordnung kommt.Wir haben einen Umbruch und ei-ne Korrektur der Entwicklung erlebt,jedoch die Druckfehler der Weltge-

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schichte sind im Zeitungsblatt prä-formiert als Vorzüge, als die Verrä-ter einer Wahrheit, hinter die sonsterst die Nachwelt käme. Mein undDein sind verwechselbare Lesarten;da man aber vollends nicht wußte,was zu »beseitigen« und was zu »ver-teidigen« war, wie nach der ganzenSachlage, schien Görings Anspracheder SA einleuchtend als der

getreuen Helfer zur Verteidigung von Un-ruhen und Auswüchsen.

Nicht minder glaubhaft das von Goeb-bels abgelegte Bekenntnis, die natio-nale Revolution ziehe ihre Kräfte

aus dem fanatischen Gefängnis zum eige-nen Volk ....

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Während wieder die deutschen Behör-den gewohnheitsmäßig das tun, wassie bestreiten, indem sie

eine Massenflucht deutscher Juden ener-gisch betreiben ....

Dabei geschieht das Erdenklichste,um den geänderten Lebensverhält-nissen die Rechtsgrundlage anzupas-sen und diese als Exerzierplatz ein-zurichten. Das erste Gemeinschafts-lager für die heranwachsende Rich-tergeneration ist in Jüterbog eröff-net worden, und während Assisten-zärzte ihre Vorgesetzten verhaften,die durch wissenschaftliche Leistun-gen über Rassenfehler zu täuschenversucht haben, werden den Refe-rendaren beim Betreten der Barackedie juristischen Bücher abgenommen,gemäß der ausdrücklichen Bestim-

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mung, daß Geländesport wichtiger seials »Büffeln« und auch der »Unter-richt in Rassefragen und Versailles«nebst einer Putz- und Flickstundehinreichend der Rechtsfindung diene.Denn »die Zeit der juristischen Stu-benhocker und Paragraphenjünglingeist vorbei«, und es geht jetzt darum,das corpus juris zu stählen und mitdem Geist des nationalsozialistischenStaates zu erfüllen, welchem Zweckin passender Verknüpfung mit demBerufsinteresse das vor der Barackeangebrachte Symbol gerecht wird: einGalgen, an dem ein Paragraph in derSchlinge hängt, was der juristischenJugend, nach den Illustrationen zuschließen, ein Mordsgaudium verur-sacht. Indem ferner Studierende derPhilosophie und leider auch Theolo-gie damit beschäftigt sind, an jüdi-

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schen Geschäften Hakenkreuze auf-zuschmieren, wären bereits sämtli-che Fakultäten der neuen Bestim-mung zugeführt, alle des Rechtes teil-haft, die Professoren davonzujagen,die aber gleichfalls die Mußezeit desStudiums in Lagern verbringen undauf Märschen mit gutem Beispiel vor-angehen. Doch auch viele Studier-te, die sich schon in Berufen befin-den, befinden sich nicht mehr in die-sen, sondern in Lagern. Die Besichti-gung aller Lager, sowohl der der Ge-meinschaft wie der der Konzentrati-on, steht natürlich der inländischenPresse frei, die sich bereit erklärthat, über das Erlebte wahrheitsge-treu zu berichten, wodurch man er-fahren kann, daß sich die Lagerinsas-sen über nichts zu beklagen haben.

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Dagegen werden ausländische Korre-spondenten nicht mehr zugelassen

welche die Klagen, die sie über die Le-bensweise in den Lagern zu hören beka-men, an ihre Zeitungen weitergaben.

Eine Einmischung in innere Ange-legenheiten, die sich wohl mit derSouveränität keines Staates vertrü-ge und deren Abweisung wieder nurauf ein geheucheltes Unverständnisstößt. Auch Differenzen zwischen dendeutschen Ländern betreffs der Zahlder Schutzhäftlinge gehen im Grun-de das Ausland nichts an. Wenn derpreußische Innenminister feststellt,daß »ganz Deutschland 18.000 undPreußen davon 12.000 habe«, undder sächsische Innenminister nichtohne berechtigten Stolz erklärt, daß»Sachsen allein über das Doppelte an

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Schutzhäftlingen habe als das vielgrößere Preußen«, so geht zunächstschon aus den Quellen der Berech-nung klar hervor, daß es sich dawie dort um eine Innenangelegen-heit handelt; aber auch die schein-bare Unstimmigkeit, daß Sachsenüber 24.000 von den gesamtdeut-schen 18.000 Schutzhäftlingen hat,läßt doch die Übereinstimmung mitPreußen in dem Punkte zu, daß inganz Deutschland nicht, wie eineausländische Telegraphenagentur be-hauptet hat, 100.000 Schutzhäftlin-ge gezählt werden, und darum han-delt es sich. Wie sich selbst diese An-zahl zwischen den Ländern verteilenwürde, ist ausschließlich deren Sa-che, und wenn die Einheit Deutsch-lands in diesem Punkte noch nichterzielt ist, so beweist dies höchstens,

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daß jedes der Länder ihn als Ehren-punkt in Anspruch nimmt, nämlichvor einander möglichst viele Schutz-häftlinge zu haben und nach au-ßen möglichst wenige. Mit demselbenRecht könnte man schließlich aucheine Verschiedenartigkeit der Auffas-sungen bei Dingen bemängeln, dienicht auf rechnerischer Grundlage be-ruhen. Wir haben gehört, daß in derBeurteilung des Phänomens der Er-pressung die Ansichten auseinander-gehen, wiewohl es doch unstreitigden Hebel aller innen- und außenpo-litischen Zielsetzungen bildet, sowohlmateriell als ideell, wobei der mate-rielle Wert in der materiellen Bedeu-tung beruht, die ihrerseits wieder denplastischen Ausdruck im materiellenLohn findet. Zwischen Postenergatte-rung und Geiselzwang, zwischen kom-

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missarischer Verfügung und Taschen-raub, von dem freiwilligen VerzichtBeraubter oder der Unterschrift Ge-folterter bis zu den Maßnahmen ge-gen Österreich – jeder Atemzug natio-naler Leidenschaft, jede Gebärde desAufbruchs Erpressung. [Denn je mehrVolksgenossen aus der vollbrachtenLeistung Nutzen ziehen, umso größerist der materielle Wert einzuschätzen,dem vielfach auch der ideelle gegen-übersteht.] Erpressung außen und in-nen, vorn und hinten, noch im Un-tereinander jeglicher Mitwisserschaftvon Machterschleichung und Manns-zucht wider die Natur. Erpressungdas nährende und erhaltende Ele-ment – höchstens mit Ausnahme derFälle, wo die Alternative: Geld oderLeben als Zugeständnis der Willens-freiheit entbehrlich schien und kurzer

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Hand die doppelte Leistung willkom-men. Später erfolgte also ein Rück-fall ins Zweite Reich, indem Erpres-sung theoretisch verpönt wurde. Ei-ne ähnliche Tendenz der Verwässe-rung zeigt sich nun auch gegenüberdem Problem der Denunziation, diegewiß eine nicht minder wesentlichenationale Daseinsform vorstellt. Auchgegen sie wurde scharfgemacht. DerReichskanzler konnte sich eines Ta-ges des Eindrucks nicht erwehren,daß in vielen Fällen nicht das Ver-langen nach Gerechtigkeit den An-trieb bilde, Männer der Wirtschaft vorGericht zu ziehen; mit einem Wort,die Angeberei schien ihm nicht dersittlichen Erhebung des Volkes, son-dern niedrigen Instinkten, am Endegar der Rachsucht, zu entspringen.Keineswegs ist aber das berechtigte

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Interesse zu übersehen, das solchenAnzeigen zugrundeliegt, nämlich ei-ne Jahre zurückliegende und darumumso schmerzlichere Kränkung ab-zuwehren, ein Bestreben, dem mandie wichtige Feststellung von politi-schen Äußerungen, auch wenn solchenicht gefallen wären, verdankt. So istdenn auch Göring, der immer spürt,wo Toleranz böses Blut machen könn-te, ihr durch einen energischen Er-laß entgegengetreten, der die Förde-rung des Denunziantentums als einesstaatserhaltenden Faktors anordnetund seinen Schutz gegen unberechtig-te Eingriffe vorsieht. Volle Einigkeitscheint dagegen in der Erkenntniszu bestehen, daß der Korruptionis-mus und insbesondere der Protektio-nismus, dem bereits sattsam Genügegeschehen ist, auszurotten sei. Offen-

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bar nur um zu ermitteln, ob es nochderartiges geben könne, erscheinenim ,Berliner Tageblatt‘ und im ,Völki-schen Beobachter‘ Annoncen, die denangestrebten negativen Erfolg habenmüssen:

Politiker, Oberingenieur, 40 J., derzeitigeenge Beziehungen zu allerersten Kreisen,sucht industrielle oder wirtschaftl. Ver-trauensstellung. Off. unt. –NSDAP. Wer ist führendes Mitglied undhat ausgedehnte Beziehungen? Angese-hene Firma sucht strebsamen Herrn –Angebote an –

Kein Zweifel, daß es sich um eineMethode der Säuberungsaktion han-delt, da die führenden Mitglieder,die ausgedehnte Beziehungen haben,längst keinen Posten mehr brauchen.Goebbels’ Bruder ist untergebracht,

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Franks II Vater, der etwas Gering-fügiges angestellt hatte, rehabilitiert,Schirachs Familie versorgt, und jederhat wenigstens seinen Vetter beför-dert, wenn’s nicht die Tante wegender Großmutter verhindert hat.

Ich merk’, es hat bei diesenLeuten

Verwandtschaft Großes zu be-deuten.

Auch dies aus Walpurgis? Alles!

Es ist ein altes Buch zu blät-tern:

Vom Harz bis Hellas immerVettern!

Die Gevatterschaft kann natürlichnur einen winzigen Bruchteil einerKorruption in Anspruch nehmen, de-ren Offenheit in jeder Form von Be-

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stechung, Parteiversorgung oder Be-reicherung auf Staatskosten ein Phä-nomen der Totalität bildet und dieSeelenstärke beweist, mit der sichder Nationalsozialismus von den ver-steckten Gönnerschaften des frühernSystems großzügig abhebt. Wiewohlman immer wieder geneigt ist zustaunen, erklärt sich aus der voll-kommenen Schamlosigkeit, die et-wa die Zuwendung von Automobilenals Förderung der Automobilindus-trie begründet, sozusagen zwangsläu-fig auch die Unerbittlichkeit, mit derdie großen Diebe am Staatsgut sol-che hängen, die sie grundlos kleine-rer Diebstähle beschuldigen. Irgend-wie muß es weltanschaulich veran-kert sein, daß Banditen, die Bilderaus Kirchen abholen lassen, Män-ner, denen nichts vorzuwerfen ist, als

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daß sie für eine nützliche Wirksam-keit Gehalt bezogen haben, zum Kar-ren schwerer Steine veranlassen. Mitden Stellungen einer erledigten Mi-norität die hinaufstrebende zu ver-sorgen, konnte weder moralisch nochtechnisch ein Kopfzerbrechen bewir-ken, höchstens physisch an den frü-hern Inhabern, die den germanischenGrundsatz: »Ote toi que je m’y met-te!« nicht augenblicklich anerkennenwollten. Schwieriger ist es, mit denvielen fertig zu werden, die zu nichtsgekommen sind und die der Neid ver-führt, den Wohlstand der andern inein schiefes Licht zu bringen. Manversucht es, ihnen den Mund zu-nächst auf solche Art zu stopfen:

Warnung!Es mehren sich die Fälle, in welchen

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seitens auch nicht marxist isch einge-stellter Kreise Verdächtigungen ge-gen Amts- und Gemeindevorsteherund sonstige behördliche Stel len er-hoben werden. Ich mache aus diesemAnlaß ausdrücklich darauf aufmerksam,daß ich für die Folge gegen haltlose Ver-dächtigungen mit al ler Schärfe vorzu-gehen mich gezwungen sehe.

Das Problem bleibt jedoch, wie mandie Mehrzahl dienender Glieder ver-sorgt, die sich ans Totale angeschlos-sen haben und noch immer sowohlauf die ideelle wie auf die materi-elle Erfüllung warten. Da jene Erle-digung nicht alle Ansprüche befrie-digen kann und mit dem Blutdurstbeiweitem noch nicht der Hunger ge-stillt ist, so gewährt das sichere Bettder Evolution keinen ruhigen Schlaf.

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Elemente treten auf den Plan. Rüt-teln an der Illusion, mit der Staatgemacht wurde. Schauen nach, wasdahinter steckt. Faustnaturen drohenzu vollenden, wo Ungesetz gesetzlichüberwaltet, und wie auch verordnetsei –

Indessen wogt, in grimmigemSchwalle

Des Aufruhrs wachsendes Ge-wühl.

Und die ungeheure Sorge um denReichstagsbrand, die in der Weltge-schichte wie in der Kriminalgeschich-te noch nicht dagewesene Schwierig-keit, daß die Täter der Justiz den Fallin Auftrag geben. Sie soll blinde Kuhspielen und zum Rechte sehn:

Der darf auf Schand und Fre-vel pochen,

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Der auf Mitschuldigste sichstützt,

Und: Schuldig! hörst du aus-gesprochen,

Wo Unschuld nur sich selberschützt

Wohl, deutsches Recht gleicht’s oftaus:

Ein Richter, der nicht strafenkann,

Gesellt sich endlich zum Ver-brecher ....

Aber deutsche Gewalt will mehr:

Wie tobt’s in diesen wildenTagen!

Ein jeder schlägt und wird er-schlagen,

Und für’s Kommando bleibtman taub ....

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Der Mietsoldat wird ungedul-dig,

Mit Ungestüm verlangt erseinen Lohn,

Und wären wir ihm nichtsmehr schuldig,

Er liefe ganz und gar davon.Verbiete wer, was Alle woll-

ten,Der hat ins Wespennest ge-

stört;Das Reich, das sie beschützen

sollten,Es liegt geplündert und ver-

heert.

Und das Ausland?

Man läßt ihr Toben, wütendHausen,

Schon ist die halbe Welt ver-tan;

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Es sind noch Könige da drau-ßen,

Doch keiner denkt, es ging’ihn irgend an.

Innere Angelegenheiten! Der Schatz-meister:

Die Goldespforten sind ver-rammelt,

Ein jeder kratzt und scharrtund sammelt

Und unsre Kassen bleibenleer.

Deckung auf 7 Prozent zurückgegan-gen.

Wir wollen alle Tage sparenUnd brauchen alle Tage mehr

....Verpfändet ist der Pfühl im

Bette,

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Und auf den Tisch kommtvorgegessen Brot.

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Wo fehlt’s nicht irgendwo auf dieserWelt? Dem dies, dem das, hier aberfehlt das Geld.

Doch gibt’s noch Fahnen, Feste, Feu-erwerke:

So sei die Zeit in Fröhlichkeitvertan!

Und ganz erwünscht kommtAschermittwoch an.

Indessen feiern wir, auf jedenFall,

Nur lustiger das wilde Carne-val.

Dennoch wird’s unbehaglich:

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Er ahnet nicht, was uns vonaußen droht,

Laß ihn die Narrentheidungtreiben,

Ihm wird kein Raum für seinePossen bleiben;

Gesetz ist mächtig, mächtigerist die Not.

Richtlinie: »Es genügt für die Wirt-schaft nicht, Nationalsozialist zu sein.Die Leistung, nicht die Gesinnungentscheidet!« Und dafür haben sie ge-kämpft? Der Führer prägt das Wort,es gelte jetzt eine Synthese: zwischendem idealistischen Nationalsozialis-mus und den realen Erfordernissen,also schlechthin zwischen dem Ideel-len und dem Materiellen. Der Führeropfert sich: er will »vor nichts kapitu-lieren als vor der Vernunft«, die bishervor ihm kapituliert hat. Sie betrach-

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ten diese Haltung als Fahnenflucht,und pfeifen auf Synthese:

Das sind die saubern Neuig-keiten,

Wo aus der Kehle, von denSaiten

Ein Ton sich um den andernflicht.

Das Trailern ist bei mir verlo-ren,

Es krabbelt wohl mir um dieOhren,

Allein zum Herzen dringt esnicht.

Wie wird man mit den Gläubigen derVerheißung fertig, die sich als Gläubi-ger der Erfüllung gebärden?

Am Ende treiben sie’s nachihrer Weise fort,

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Als wenn sie nicht erzogenwären.

Die Sibylle flüstert:

Den lieb’ ich, der Unmögli-ches begehrt.

Es dunkelt. Platz an der Sonne gefäl-lig?

Eilet, bequemenSitz einzunehmen,Eilig zum Werke!Schnelle für Stärke.Noch ist es Friede;Baut euch die Schmiede,Harnisch und WaffenDem Heer zu schaffen.

»Wir haben nicht die geringste kriege-rische Absicht«:

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Wer wird uns rettenWir schaffen’s Eisen,Sie schmieden Ketten.Uns los zu reißenIst noch nicht zeitig,Drum seid geschmeidig.

Draußen geht’s dreckig, erklärt Go-ebbels, drinnen drunter und drüber.Seldte huldigt, Hugenberg ward vomTeufel geholt, Papen soll sich als Her-renreiter produzieren:

Das heiß ich frischen Hexen-ritt,

Die bringen ihren Blocksbergmit.

Hindenburg ist in Sicherheit:Laß du den Generalstab sor-

genUnd der Feldmarschall ist ge-

borgen.

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Immer mehr doch werden ihrer, de-nen die Erfüllung des Rundfunkpro-gramms nicht genügt. Es sind »jenegetarnten bolschewistischen Elemen-te, die von einer zweiten Revolutionsprechen in einem Zeitpunkt, in demdas Volk und die Nation sich eben an-schicken«: die Ergebnisse der erstenfür das nächste Jahrhundert auszu-bauen. Jetzt geht es um die Zukunftund da muß »die eine oder die ande-re gutgemeinte Theorie zu kurz kom-men«, welche für die Vergangenheit inGeltung bleibt. Die Unterführer über-nehmen sich.

Nur sachte drauf! Allzuge-wohnt ans Naschen,

Wo es auch sei, man suchtwas zu erhaschen.

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Sie werden als »Bazillenträger« vonden Führern gemieden, die sich vorder braunen Pest zu fürchten begin-nen. Man versucht romantische Ab-lenkung:

Es liebt sich jetzt ein jedesKind

Den Harnisch und den Ritter-kragen;

Und, allegorisch wie die Lum-pen sind,

Sie werden nur um destomehr behagen.

Und wirklich dürfen sie, müssen sievom zehnten Lebensjahre an zumSchulunterricht in Uniform erschei-nen. »Alle meine Neunjährigen benei-den den Hans und den Heinz. Bei-de sind Sitzenbleiber; das gilt sonstwohl als ein Fleckchen«, sagte der

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Lehrer, »doch die Uniform gleichtes aus.« Schon ist auch für Öster-reich das Problem der Jugenderzie-hung angeschnitten, in dem Sinne,daß Lehrer und Schüler nicht mehrwie einst durch eine Scheidewand ge-trennt sind, sondern kameradschaft-lich an der Herstellung von Spreng-körpern arbeiten, und dort wo Koedu-kation ist, zeigen sich oft die Mäd-chen noch besser beschlagen. Wieeinst Briefmarken und Mineralien, sotauscht man jetzt Zündkapseln undAmmonit. Einem Erlaß zufolge »mußkünftig jeder einzelne Volksschülermit der Landschaft verbunden sein«,was ihm zugute kommt, wenn Bom-ben zu vergraben sind. So wachsen je-ne Scharführer heran, die da planten,bei der Produktenbörse Benzin auszu-schütten, bis einer »erklärte, daß er

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etwas besseres habe«, und er zeigteihnen die Bombe, die er ihnen im Kof-fer mitgebracht hatte, und sie gefielihnen. Denn allegorisch wie die Lum-pen sind, sind sie auch praktisch undwissen, was man fürs Leben braucht.Auch für Handarbeiten geschult vonden Vorkämpfern Raufebold, Habe-bald und Haltefest. Der erste gibt dieAnfangsgründe:

Wenn einer mir ins Augesieht,

Werd’ ich ihm mit der Faustgleich in die Fresse fah-ren,

Und eine Memme, wenn sieflieht,

Faß ich bei ihren letzten Haa-ren.

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Der zweite will im Nehmen unver-drossen sein, der dritte meint, neh-men sei recht gut, doch besser sei be-halten.

Der tüchtige Fuß nimmt Teilan ihrem Glück,

Setzt dem Erschlagnen frischsich ins Genick.

Ohne Ansehn der Partei; und auch dieKirche muß dran glauben:

Dem Klerus hab’ ich eine Lustverdorben,

Und ihre Gunst mir freilichnicht erworben.

Dennoch kann Papen melden:

Dort war’s in Rom. Er bleibtdir hoch verpflichtet,

Auf deinen Gang in Sorgestets gerichtet.

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Aber Raufebold tritt vor und berich-tet, was er bei Breslau geleistet:

Wer das Gesicht mir zeigt, derkehrt’s nicht ab

Als mit zerschlagnen Unter-und Oberbacken;

Wer mir den Rücken kehrt,gleich liegt ihm schlapp

Hals, Kopf und Schopf hin-schlotternd graß imNacken.

Immer näher. Freut uns noch »jeder,wie er schiebt und drängt«?

Im Sieg voran! und alles isterlaubt.

Nach außen gekehrt! Mephistophe-les hat für Bewaffnung derer gesorgt,die den Wink erwartend, zuzuschla-gen, stehn. Woher das kommt, müs-sen die Wissenden nicht fragen. Es ist

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ein Luftgeschäft. »Sonst waren’s Rit-ter, König, Kaiser«, jetzt sind es Bom-benflieger.

Gar manch Gespenst hat sichdarein geputzt.

Das Mittelalter lebhaft aufge-stutzt.

Wenn vollends das Teufelchen Phos-gen drinnen steckt, wird es für dies-mal doch Effekt machen.

Auch flattern Fahnenfetzenbei Standarten,

Die frischer Lüftchen unge-duldig harrten.

Bedenkt, hier ist ein altesVolk bereit

Und mischte gern sich auchzum neuen Streit.

Romantik holt Chemie ein. Es ist dieletzte Hoffnung, die Innern Kräfte ab-

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zulenken. Aber schon sind »die kühns-ten Klettrer konfus«,

Nun ist Verwirrung überall.

Alle Mahnungen vergeblich:

Das passet nicht in unsernKreis:

Zugleich Soldat und Diebsge-schmeiß ....

Dahin die Gelübde:

Solang’ das treue Blut die vol-len Adern regt.

Sind wir der Körper, den deinWille leicht bewegt.

Noch will er ja, doch sie:

Das ging so fort, nun sind wirda

Und wissen selbst nicht, wie’sgeschah.

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»Innere Gährung, Volksgefahr«: wiesie, »unter sich entzweit«, das Reichverheerten

Und nun gesamt sich gegenmich empörten.

Die Menge schwankt im Un-gewissen Geist,

Dann strömt sie nach, wohinder Strom sie reißt.

Dem Allgeführten schaudert vor sol-chem wilden Schwall; zuletzt, bei al-len Teufelsfesten [wenn’s keine Par-teien mehr gibt] wirkt der Parteihaßdoch zum Besten, meint Mephisto-pheles; und freut sich, wie’s »wider-widerwärtig panisch schallt«. Er jawußte:

Am Ende hängen wir doch abVon Kreaturen, die wir mach-

ten.

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Jeder weiß es nun vom andern, undselbst im Oberhaupt dämmert’s:

Die Sünd’ ist groß und schwer,womit ich mich beladen,

Das leidige Zaubervolk bringtmich in harten Schaden.

Denn beim Teufel:

Es war so was vom Kreuz dar-an.

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Da ich mich nun frage, wie ichdas mir noch immer begreifliche, vonmir nachgefühlte Widerstreben über-winden konnte, in das weiträumi-ge Abenteuer dieser Walpurgisnachteinzutreten, aus der, nach schmähli-cher Bewältigung der andern Parole,Deutschland erwachen wird; zu derenRätseln sein größtes Gedicht vielfa-chen Aufschluß gewährte; deren Fül-le der Gesichte seine besten Seherherbeirief und seine schlechtesten da-zu; deren Grausen noch Shakespea-res blutigste Vision einschloß – da ichmich frage, wie ich das dunkle Irrsaldurchstehen konnte, durch das die ei-gene Sprache nur dem Schein gehei-ligten Unwesens gefolgt ist: eine Ma-terie, die an Motiven und Hindernis-sen das Weltkriegsgetümmel schlägt;

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ermuntert und gehemmt von Lesern,die mit guter Meinung und schlechterSicht im Gebirgssturz Stellungnahmeverlangen – da ich mich solches frage,so ist es zugleich die Frage nach dermoralischen Berechtigung, über einElementarereignis abzusprechen, mitdessen Walten sich der Presse mei-ne Tendenz gegen sie verbindet. Diemoralische Berechtigung würde sichnicht bloß aus dem Umstand erge-ben, daß mein Wunsch, diese Verbin-dung abzulehnen, brennender ist alsder, den mir der Sieg des National-sozialismus erfüllt hat. Denn die Vor-stellung, daß ich diesen Sieg als deneigenen empfinden könnte, ist so er-bärmlich wie das geistige Wesen, demsie entstammt und dessen Perhorres-zierung mich nicht hindert, mit ihmden vermeintlichen Helfer von mir zu

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weisen. Nur daß ich es mit größererVerantwortung besorge, und vermö-ge einer Erkenntnis, die den Zusam-menhang beider Übel erfaßt. Dennder Nationalsozialismus hat die Pres-se nicht vernichtet, sondern die Pres-se hat den Nationalsozialismus er-schaffen. Scheinbar nur als Reaktion,in Wahrheit als Erfüllung. Jenseits al-ler Frage, mit welchem Humbug siedie Masse nähren – sie sind Journalis-ten. Leitartikler, die mit Blut schrei-ben; Schwätzer der Tat. Zwar Troglo-dyten, haben sie doch die Höhle be-zogen, als die das gedruckte Wort diePhantasie der Menschheit hinterlas-sen hat; und daß sie des Zierats ent-behren oder ihn nicht nachstümpernkönnen, ist gewissermaßen ihr kultu-reller Vorsprung. Die Tat hat sich ein-mal der Phrase entwunden und daß

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diese ihr weiter aufgestülpt bleibt,hat nichts mehr zu bedeuten; es istnur noch grotesk. Dem Geist kannsie nichts mehr antun. Nimmt manaber die »Gleichschaltung« als politi-schen Eingriff, so bedeutet sie nur dieeigene letzte Möglichkeit der Presse,die letzte Stufe, über die sie vermö-ge ihrer Konstitution nicht gelangenkann, welche von Natur die Prosti-tution ist. Die angebliche Entehrungder deutschen Presse mag das Pro-blem einer Journalistik sein, derenMeinung auf freiem Fuß lebt, solangepolitische Gewalt nicht eingreift undstrenge Masseusen nicht Terror üben.Wenn aber »Kommissare« in Redak-tionen eindringen und »den Revolverauf den Schreibtisch legen«, so ist dieskriminalistisch insofern erheblich, alsdann zwei dort liegen. Doch nur auf

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dem journalistischen Flachland kanndie Anschauung gedeihen, daß durchseine Verwüstung die »Kultur« einenVerlust erleidet. Das existentielle Mo-ment, in jedem Einzelfall beklagens-wert, ist nach der Gemeinnützigkeitdes verlornen Berufs zu werten, undwo schon die Tyrannei der Not Er-werbslose gemacht hat, dürfte dasSchicksal ruinierter Ärzte im Ver-gleich zu dem vazierender Redakteu-re auch außerkollegialische Teilnah-me ansprechen. Aber noch journa-listischer ist die Idee, daß die Ok-kupation des Druckbildes durch denSieger meiner Abneigung gegen denBesiegten zusagen könnte; daß die-ses durch Greuel errungene Scheuelmir ein positives Empfinden wecke,und mir ein »Wunschtraum« in Erfül-lung gehe, da der Geist der Schöp-

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fung nun nicht mehr von der intel-ligenten Dummheit bedrängt wird,sondern von der andern, die, unver-mögend ihr Prinzip rein zu erhal-ten, ihr nachkommen wird. Als ob dieEinsicht in die Verderblichkeit des-sen, was täglich erscheint und wasdoch in jeder Richtung der Sonne zu-widerstrebt, nicht im tiefsten Grunderst ihre Bestätigung erfahren hät-te – bis dorthin, wo uns die schein-baren Gegensätze dieses Meinungs-wesens ineinanderfließen zu diesem»Panta rhei« des Wortschleims, inden die Tat sich löst und aus demsie wird. Als ob es der Welt im In-nern etwas zu bedeuten hätte, wiedie politischen Faktoren sie anschau-en, und ihre Meinungsverschieden-heiten wesentlich wären aus einemgeistigen Grunde und nicht bloß dar-

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um, weil zwischen ihnen eine Mensch-heit leidet. Das Problem, im Welt-krieg erkannt, ist die Gleichzeitigkeitvon Phrase und Waffe, die, über al-le staatsmännische Gruppierung hin-aus, den Dreibund von Tinte, Tech-nik und Tod zustande bringt. Wäreder Faiseur des Aufbruchs, der seinerprimitiven Umwelt die terminologi-sche Einrichtung besorgt, rechtzeitigbeim Berliner Tageblatt angekommen[dem er nicht nur »zerebral« zuge-strebt hat], so wäre uns mehr als des-sen Gleichschaltung erspart geblie-ben. In meinem Werk ist sie zwischenden Gegenwelten vollzogen, weshalbich, beiden verhaßt, von beiden re-klamiert werden kann, mir zu völ-lig gleichwertigem Verdruß oder glei-cher Gleichgültigkeit. Aus den Letz-ten Tagen der Menschheit holen sich

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die Nachkommen der Wahnschaffeund Schwarz-Gelber, was sie für ihrenZweck brauchen, der in keinem Fallder meine ist. Wahnschaffes, derenKinder heute exerzieren und wörtlichden von mir erfundenen Dialog spre-chen, sind unmittelbar bedrohlicher.Und wer dürfte verdachtloser gegensie zeugen als einer, der durch Er-kennen und Erleiden zum Widerpartwurde eines naturfeindlichen Intel-lekts, dem er diese Zeit, im unver-hohlenen Drang nach irdischer Habewie nach Entehrung der Geisteswer-te, hingegeben sieht. Wer wüßte bes-ser um die Gewalttätigkeit einer De-fektrache, die in den Bereichen derSeele und der Sprache mit den Me-thoden des illegitimen Handels Ent-schädigung sucht, überall dort, wo sienicht schaffen kann, sich zu schaf-

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fen macht, um den Zuständigen zubedrängen und mit der Beute be-schmutzter Erkenntnisse nach demBesitzer zu schmeißen. Es ist wahr-lich das Problem einer andern Bo-denständigkeit als der volksmäßigen,deren Verfechter in dumpfem Triebnur die Unzulänglichkeit vergelten,die ihnen die zweifelhaften Gaben ei-nes Intellekts versagt hat, vom Neidnur getrieben gegen die Neidenden.Nichts – wie mit dem Einbruch der in-tellektuellen Nehmer, deren Verstan-deskraft der dürftige und schmutzi-ge Beisatz ihrer Frechheit ist – nichtsverbindet mich mit dem Aufbruch derreinen Dummheit, die das Leid ih-rer Verkürzung aus dem Blut und mitdem Blut korrigieren möchte und sichkörperlicher an der Natur vergreiftals jene, die das Martyrium Unschul-

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diger überleben werden. Wahnschaf-fes sind spontaner. Nur freilich, wennich vor ihnen und ihrem Scheiter-haufen geborgen wäre, weil der An-stoß wegen deutscher Sprache unver-ständlich bleibt, so besteht doch dieMöglichkeit, daß Schwarz-Gelbers fürAufklärung sorgten. »In sprachzer-fallnen Zeiten« [die der Tat zuneigen]»im sichern Satzbau wohnen« – wasnützt es, wenn jene hineingeschloffensind? Und ich hätte noch so viel ge-gen beide zu tun! Meine Stellung zuden Parteien ist insofern schwankend,als mir Marksteine nicht zur Orien-tierung dienen und ich der Freiheitnicht über die Gasse traue. Daraus er-klärt sich, daß es mir gelungen ist,Todfeinde im Mißtrauen gegen michzu einigen, womit ihre gelegentlichenAnerkennungen so stark kontrastie-

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ren wie zueinander. Vergleicht manderlei, so möchte man glauben, daßich mit den Vertretern sämtlicher po-litischen Überzeugungen die Schwei-ne gehütet habe, während ich konse-quent doch nur mir selbst den Schutzvor eben diesen angedeihen ließ.Was kann ich dafür, daß meine Ver-teidigung der Menschheit, meine Par-teinahme für Natur und Geist ge-gen die Zerstörermächte mißratenerIntelligenz und unbeherrschter Tech-nik, von einem Ariogermanentum,dessen Belange mir fernliegen, in ei-ner Art reklamiert wurde, als ob die-sen mein Wirken nicht nur diente,sondern ausschließlich gälte? Daß ichdie Minderwertigkeit einer »Rasse«höchstens für diejenige zugeben könn-te, die sich durch solchen Wahn biszu schöpfungswidrigem Verhalten be-

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tören läßt, dürfte in all den Jahrenzutage getreten sein. Meine Kompe-tenz jedoch, ihren Auf- und Ausbruchabzulehnen, erscheint von dem phi-losophischen Gründer der Bewegung[Lanz von Liebenfels] bestätigt, derdie Züchtung des Rassemenschen an-gebahnt hat und an einer Rundfra-ge [im ,Brenner‘] mit einer Antwortbeteiligt war, deren Zitierung nachzwanzig Jahren nicht so sehr meineEitelkeit als die Vorliebe für Kontras-te befriedigen soll:

K. K.’ Bedeutung ist eine allgemeine. Werin ihm nur den phänomenalen Sprach-künstler, den ätzend scharfen Satirikerund den geistvollen Kritiker sieht, wirddiesem Genius nicht gerecht. All dieseVorzüge und Eigenschaften sind bei K.nur Waffen und Werkzeuge seines Wis-

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sens. Sein Wesen aber ist sein großes,tief menschlich fühlendes, jedes frem-de Unrecht als einen persönlichen, kör-perlichen Schmerz empfindendes Herzund seine unbestechliche Rechtlichkeit.In K. vereinigt sich ein genialer Intel-lekt mit einem warmfühlenden Herzen.Er ist der Mann und Märtyrer der pu-blizistischen Überzeugungstreue. DiesemMann verdanken wir es – ich kann michhierin als völlig objektiven Beurteilerausgeben, weil mein Wirkungskreis einwissenschaftlich-religiöser ist und ich injeder Hinsicht unabhängig bin –: daßdie bisher nur auf dem Papier stehen-de Preßfreiheit, die im Grunde nur ei-ne Banditenfreiheit für literarische Frei-beuter, finanzielle und politische Volks-betrüger war, zur Tat geworden ist. Erhat dem die ganze Welt beherrschendenJournal-Drachen die Zähne ausgeschla-

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gen. – Was Kaisern, Königen, Fürsten,Parlamenten und Regierungen mit ih-ren ungeheuren Machtmitteln nicht ge-lungen ist, das hat dieser Mann allein,ohne jegliche Hilfe lediglich durch dieMittel seiner genialen Begabung voll-bracht. Er hat die jüngste und stärksteGroßmacht, den Tyrannen unseres mo-dernen Tschandalenzeitalters, die Preß-kanaille, gestürzt! Diesem Manne kommtnicht lokal wienerische, nicht österreichi-sche, nicht deutsche Bedeutung allein zu,dieser Mann hat den Ariogermanenwieder das Recht der öffentl ichenAussprache zurückgegeben, er hates uns ermöglicht, daß wir jetzt, wowir das überwältigende Schauspielerleben, daß sich über dem seiner Lösungsich nähernden Nationalitäten-Problemriesengroß das Rassen-Problem erhebtund Europa und seiner Kultur der Un-

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tergang in der gelben und schwarzen Flutdroht, unsere mahnende und belehrendeStimme erheben können. Er hat uns dieSprache wieder gegeben und die bel-lende »Journaille« mundtot gemacht. Werdaher K. K. schmäht, der degradiert sichselbst, der tritt von selbst in die Reihendes allerdings noch immer nur zu zahlrei-chen Heerhaufens wissenschaftlicher undliterarischer Korruptionisten, Scharlata-ne und Marodeure.

Man sieht, wie Rechts und Linksdarin einig sind, eine erdumfassendeWirkung gegen Links und Rechts zuvermuten. Hier aber ist, nebst grund-legenden Irrtümern weltanschauli-cher Art, vor allem die überschätzen-de Fehlansicht geboten, daß es mirschon 1913 gelungen sei, die Pres-se unschädlich zu machen, die doch

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gleich darauf den Weltkrieg bewirkteund förderte, aus ihm als einziger Sie-ger hervorging und es mit unaufhalt-samem Wachstum ihrer Meinungsge-walt – durch politische Provokationwie durch Verwendung ihrer eigens-ten Mittel – bis zum Triumph des Na-tionalsozialismus gebracht hat. Manmuß natürlich immer verstehen, daßfür diese Wertung des eigentlichenjournalistischen Wirkens der lächer-liche Außenbegriff einer Preßfreiheitmit ihrer Genehmigung oder Ein-schränkung durch den kulturell ohn-mächtigen Staat überhaupt nicht inBetracht kommt; selbst ihre totaleGleich- oder Ausschaltung für den po-litischen Zweck vermag nichts gegendie Verderblichkeit des in die Maschi-ne diktierten, wie immer gesinntenWortes, und mögen hundert Staats-

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anwälte die Presse »knebeln«, so hatsie doch Freiheit, solange sie lebt undkein Kulturanwalt sie eben daran ver-hindert. Die Ohnmacht einer Gegen-wirkung durch das geistige Wort warbereits 1913 dargetan. [Die Vermu-tung, daß mein Wirken der gelbenund der schwarzen Gefahr entgegen-trat, wird schon durch den Umstandberichtigt, daß »Die chinesische Mau-er« und »Weiße Frau und schwarzerMann« vorher erschienen sind.] We-sentlich aber erscheint heute die An-nahme, daß mir das Verdienst ge-bühre, dem Ariogermanentum wie-der das Recht der öffentlichen Aus-sprache zurückgegeben zu haben, wasich, wenn es wirklich der Fall wä-re, als große Unüberlegtheit erken-nen müßte. Wenn jedoch von so maß-gebender Seite behauptet wird, daß

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es geschehen sei, so darf der Wohl-täter als Dank auch für sich dasRecht der öffentlichen Aussprache an-fordern, natürlich mit Verzicht aufdie weitere Anerkennung, er sei einMärtyrer der publizistischen Über-zeugungstreue. Denn wiewohl dieseschmeichelhafte Ansicht vor und nach1913 eine Übertreibung war, indeman mir ja nur eine gewisse Ausdau-er gegen Preßtücken auffallen konn-te, gegen die minimale Schmach, dieUnwert schweigendem Verdienst er-weist, und gegen das bißchen Über-mut der Ämter, so böte doch jetzt,wo wir nach sieghafter Erhebung desRassenproblems faktisch ein »über-wältigendes« Schauspiel erleben, dieöffentliche Aussprache über das Ario-germanentum erst die rechte Gele-genheit zur Bewährung. Besonders

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wenn an mir auch heute noch dieätzend scharfe Satire erkennbar wä-re, wie auch ein menschlich fühlen-des Herz, das jedes fremde Unrechtals einen persönlichen, ja körperli-chen Schmerz empfindet. Für alle Fäl-le schützt mich freilich die geistigeSchranke, die solche Erfüllung mei-nes Ideals errichtet, vor der Gelegen-heit, Märtyrer meiner publizistischenÜberzeugungstreue zu sein: ich un-terhalte eine heimliche Beziehung zurdeutschen Sprache, hinter die mir dieNation nicht kommen dürfte. Da ichaber keinen Ruhm in Anspruch neh-men möchte, ohne eine Kontrastwir-kung zu genießen, so muß [schon ausGründen der unbestechlichen Recht-lichkeit] verzeichnet werden, daß dieAussprache, die ich den Ariogerma-

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nen ermöglicht habe, danach auch diefolgende Fassung zuließ:

Kraus gehört zu einem teilweise syphi-litisch verseuchten Kreise von jüdischenLiteraten, in dem die Schändung vonFrauenspersonen an der Tagesordnungist.

Der Wortlaut dieser Theaterkritik istleider nicht mehr mit voller Genauig-keit festzustellen, aber die Einschrän-kung bezüglich der Krankheit, dievon normwidrigem Umgang nicht ab-hielt, war billiger Weise gemacht wor-den, und jedenfalls hatte der Kriti-ker in Wahrnehmung berechtigter In-teressen gehandelt, für die er dennauch von der Nürnberger Justiz frei-gesprochen wurde, welche ja späternoch schärfere Formen des Prangersfür derlei Entartungserscheinungen

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genehmigt hat. Wie man aber nichtgenug vorsichtig mit Hinweisen aufdas Privatleben sein kann, zeigt dasVorgehen kommunistischer Provoka-teure, die bei Anlegung der Biogra-phie nationaler Vorkämpfer aus je-ner Gegend gerade diesem Theater-kritiker auf den bloßen Umstand sei-ner Lehrtätigkeit hin Kinderschän-dung nachsagten. Wegen seiner Kri-tik wurde er freilich in zweiter In-stanz zu einer kleinen Geldstrafe ver-urteilt, wobei ihm nationale Erre-gung zugebilligt wurde, hatte es sichdoch um das »Traumstück« gehan-delt, das sich den völkischen Kreisenals »die größte Verhöhnung aller fürihr Vaterland gefallenen Frontkämp-fer« darstellte, die »jemals auf offe-ner Bühne vor sich gegangen« sei. Da-mals konnte sich aber in Deutsch-

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land auch eine Stimme erheben, diemeinte, nichts mache die geistige Si-tuation des Landes deutlicher als derFall, wo »ein echter und schöner Fa-natismus dem Gesicht vom toten, ver-gessenen und weggeworfenen Solda-ten Wahrheit und Kraft gibt«, und amnächsten Tag die Vereinigten Vater-ländischen Verbände Bayerns gegen»die gemeinste Verhöhnung der totenFrontsoldaten« aufstehen: wie wennProletarier gegen die »Weber« protes-tierten, »weil sie sich durch die Dar-stellung ihrer Leiden verhöhnt fühl-ten«. [Eine Deutung, deren Möglich-keit der Dichter freilich nachgeholthat.] Nein, als ob die Errichtung ei-nes Grabmals für den unbekanntenSoldaten als Blasphemie aufzufassenwäre. Es war aber umso spannen-der, als dieselben Wortführer dort,

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wo ihnen das Rassenmerkmal gele-gen schien, die analoge Betrachtungdes Frontsoldaten für ihre Zweckeverwendet haben, indem sie [wenn-gleich ohne Erlaubnis] den Hyänen-dialog aus der »Letzten Nacht« kol-portierten, dessen Sprecher den to-ten Soldaten doch exemplarisch ver-höhnen. Wogegen jetzt wieder für einähnliches Unternehmen angedeutetwurde, daß ich im Grunde mit Freß-sack und Naschkatz sympathisiere.Die Schwierigkeit, die sich der natio-nalen Kulturkritik [wie auch der an-dern] nicht allein durch die Divergen-zen innerhalb des Gesamtwerkes derFackel ergibt, sondern schon in einerund derselben Partie, macht es nichtunbegreiflich, daß ich bei der kultu-rellen Säuberung übergangen wurde,was mir vielfach den Verdacht zugezo-

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gen hat, daß man mich rechts liegenließ.

Und doch hat es kein Autor schwe-rer, die Sprache ariogermanischenWesens zu erklären, als derjenige, dersie ihm »wiedergegeben« hat und demmit der Berechtigung auch der ehr-liche Wille zuerkannt sein muß, siewenigstens zu verstehen, wenn schonnicht zu billigen. Daß ich sie nicht bil-lige, dürfte sich gezeigt haben; daßich sie aber auch nicht verstehe, mußder Vorwurf bleiben, der mich an dieSeite Europas rückt, dessen zivilisa-torische Erhaltung bis heute freilichnicht mein Antrieb war und dessen»Untergang in der gelben und schwar-zen Flut« mir beiweitem kein so grau-ses Gemisch vorstellt wie sein Hinfallan die braune. Ich weiß, daß diese Zi-vilisation auch ohne die Möglichkeit,

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daß ein blutbesoffener Pöbel mit ih-ren Gütern schaltet, ihre Schreckenhat; und symptomempfindlich wie ichbin, erschließe ich Krieg und Hungeraus dem Gebrauch, den die Presse vonder Sprache macht, aus der Verkeh-rung von Sinn und Wert, aus der Ent-leerung und Entehrung alles Begriffsund alles Inhalts. Sicherlich, wenn sieheroischem Erinnern frönt, so erstehtdas Projekt als Alpdruckeines österreichischen Denkmals für

BERNA-Käse

den Unbekannten Soldaten ...

Schmach ihrem Gedenken durch al-le Zeiten, in der sie leben wird! Wo-fern nicht die Menschheit, die es be-wußtlos erträgt, ihre letzten Tage hin-ter sich hat: im Begriffe, von jenem

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Diktator geholt zu werden, der ihreWortführer zwingt, bei allem, was siefrisch wagen und ganz verlieren, biszum »letzten Ende« eben dieses zuberufen. »Zwangsläufig« haschen sienach der Formel, die, wenn alle Phra-sen gezündet haben, als letzte Mot-te dem Brand einer Papierwelt zu-fliegt. Raum war in ihr für den Han-del, den die Presse so mit dem Kriegeingeht und der nun wirklich von je-ner »Käseausstellung« [1914] über al-les, was den Maden anheimfiel, biszu diesem Denkmal reicht; Raum fürjeden Frevel, dessen die Zivilisationan der Schöpfung fähig war. Raumfür die wahnschaffne Tat, die solcherWirklichkeit zuwuchs.

Aber mag der Weg zu ihr vom aus-gehöhlten Wort geführt haben, magdie Presse auch hier der Unheilsbo-

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te sein, der es zu verantworten hat –wir müssen ihm danken, wenn er dasUnheil nur meldet, das vor jeglichemVersuch, es zu deuten, bloß den Ge-danken an Rettung gewährt, bloß dasGefühl, mit allem, was zu melden ist,in Wehrlosigkeit verbunden zu sein;und bloß die Frage, wie lange es nochdauern wird. Vor Augen, müde desMords, vor Ohren, müde des Betrugs,vor allen Sinnen, die nicht mehr wol-len und denen die Mixtur aus Blutund Lüge widersteht, taumeln undgellen noch diese täglichen Komman-dos vorüber einer Pestgewalt, die al-les Erdenkliche gegen sich selbst vor-kehrt: Vermögenseinziehung, Aber-kennung der Staatsbürgerschaft, Ver-hinderung der Neubildung politischerParteien, Zulassung von Spielban-ken, Ausschaltung von Wirtschafts-

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kommissaren, Zulassung von nur ei-nem Drittel als Hospitanten, Zwangs-beitritt zur Arbeitsfront, Eingliede-rung der Studenten in den freiwilli-gen Arbeitsdienst, Zusammenschlie-ßung der Musiker in die Fachschaft,Anmeldepflicht für mit ErbkrankheitBehaftete, Verhaftung von Verwand-ten Entflohener, Anordnung zur Er-hebung des rechten Armes, Erschie-ßung auf der Flucht. Wie lange noch?Die Handlung rückt an den Punkt,wo, wollt’ er nun im Waten stillestehn, Rückkehr so schwierig war’,als durchzugehn. Seltsames glüht imKopf, es will zur Hand, und muß ge-tan sein, eh’ noch recht erkannt. Dochist’s gewiß, er kann den wild empör-ten Zustand nicht mehr schnallen inden Gurt der Ordnung. Jetzt empfin-det er geheimen Mord an seinen Hän-

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den klebend; jetzt straft Empörungstündlich seinen Treubruch; die er be-fehligt, handeln auf Befehl, aus Lie-be nicht. Jetzt fühlt er seine Wür-de zu weit und lose, wie des RiesenRock hängt um den dieb’schen Zwerg.Mir war, als rief es: »Schlaft nichtmehr. Macbeth mordet den Schlaf!«Und drum wird Macbeth nicht mehrschlafen. »Denn so zu sein, ist nichts:doch sicher so zu sein!« Beispiele gibtes, wie solcher Aufstieg, der Kon-sorten hat, verläuft, wenn jeglicherMitwisser, mehr als sein Teil be-gehrend, nach der ergriffnen Machtgreift. Nach außen alles einig: siewird Jahrhunderte überdauern; wirsind keine Partei, wir sind eine Welt-anschauung. Wer wagt es, den Mythosdurch Hunger zu stören?

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Wir denken in Jahrhunderten .... Es fan-gen manche an zu meckern. In Deutsch-land hat keiner zu meckern ....

Heilloses Wort, das aus der Walhallain die Hölle reißt, wo sie asphaltiertist! Verbürgt es jene Dauer? Über-all Zeichen des Kleinmuts. Goebbelsstellt fest, die nationale Pressehat auf dem Gebiet des Feuilletons unddamit auf dem Gebiet der Kultur über-haupt fast hundertprozentig versagt.

Es gilt, den neuen Menschen zu schaf-fen, es fehlt aber an einem haupt-amtlichen Buchbesprecher. Brücknersagt, die Revolution ist nicht been-digt, sondern geht weiter. Doch mansoll sich nicht festlegen. Der Reichs-führer der SS, Himmler heißt er, hatdie Burg Schwabenberg zwecks Ein-richtung der Reichsrassenschule bloß

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auf 99 Jahre gepachtet. Dann kannman weiter sehn. Er, der im prakti-schen Leben steht und auch für dieSicherheit Münchens zu sorgen hat,kann doch schon heute, nicht ohneEinschränkung, schätzen:

ein neuer Geschichtsraum hat begonnen,der sich – es mag viel leicht lächerlichklingen – über 20.000 bis 30.000 Jahreausdehnen wird.

Die SS wird »auf der Erkenntnisvom Wert des Blutes« [ganz besond-rer Saft] aufgebaut werden; dürfte,wenn die ersten Äonen vorbei und dieStabilisierung begonnen hat, in denRang himmlischer Heerscharen auf-steigen. Und die SA – mißvergnügtund der Erdennot überlassen? Geist-liche Tröster erstehen, welche sagen,die deutschen Christen seien die SA

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Jesu Christi im Kampf zur Vernich-tung der leiblichen, sozialen und geis-tigen Not. Wer aber hilft der SA? ImBürgerbräu kündet einer, der Führerhabe ihm anvertraut, daß er in derEntwicklung – sie ging von dort aus– ein Wunder seheund sich als ein von Gott berufenes Werk-zeug empfinde.

Doch die SA – wie will sie nun voll-bringen? Anders als begonnen? Nichtsanders: ganz wie begonnen! Was im-mer sie vollbrachte, es waren ja Kom-munisten. Brandlegend, grundlegend– Kommunisten waren es. Raub undMord an Kommunisten: Kommunis-ten befleckten die unblutigste allerRevolutionen. Sie legten die Unifor-men jener an, immer mehr, immermehr – und nun stecken in allennur noch Kommunisten. Furchtbare

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Enthüllung letzten Endes: alles wargetarnt! Der Birnamwald rückt her-an. »Das Gesicht der Bewegung stehtnun eindeutig da.« Immer schon; dennes ward aus zwei Gestalten, die Tagfür Tag sich zum Unikum verban-den, zur deutschen Doppelsage. Vonjenem Schweppermann, dem Braven,der statt eines Ei’s deren zwei be-kam, und jenem Haarmann, den nachmehr Menschen noch gelüstet. Wiehat uns das Monstrum gerührt undgewürgt! Erstand es aus den Gas-schwaden des Kriegs, um neue, aller-stickende heraufzubringen? Der Gift-geist, dem die Gehirne erlagen, drohtder Apokalypse zu widerstehn. Sollfrommer Sinn in zivilisiertem Miß-brauch der Gottesgaben die Zuchtru-te am Himmel erkennen? Ist, worun-ter die Erde gelangt ist, ein Komet,dem Kreuze gleichend, von dem die

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Bücher sagen, rechtsgeflügelt bedeutees Niedergang, Vergehen, Tod? Ein ar-mes Volk hebt beschwörend die Rech-te empor zu dem Gesicht, zu der Stirn,zu der Pechsträhne: Wie lange noch! –Nicht so lange, als das Gedenken al-ler währen wird, die das Unbeschreib-liche, das hier getan war, gelitten ha-ben; jedes zertretenen Herzens, jedeszerbrochenen Willens, jeder geschän-deten Ehre, aller Minuten geraubtenGlücks der Schöpfung und jedes ge-krümmten Haares auf dem Hauptealler, die nichts verschuldet hatten,als geboren zu sein! Und nur so lange,bis die guten Geister einer Menschen-welt aufleben zur Tat der Vergeltung:

Sei das Gespenst, das gegenuns erstanden,

Sich Kaiser nennt und Herrvon unsern Landen,

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Des Heeres Herzog, Lehns-herr unsrer Großen,

Mit eigner Faust ins Toten-reich gestoßen!