lernen findet an grenzen statt - psychologie.uni-heidelberg.de · veränderung der anzahl von...
TRANSCRIPT
Themen des heutigen Vortrags:
1.Biologische Grenzen der Lernfähigkeit
2. Grenzerfahrungen• Emotional• Kognitiv
3. Persönlichkeitsentwicklung und der Umgang mit Grenzen
• normale Entwicklung• gestörte Entwicklung
Biologische Grenzen von Lernprozessen im Entwicklungsverlauf
Unser Gehirn verändert sich mit dem Alter.
Lernen findet primär im Gehirn statt.
Die neurobiologische Entwicklung setzt unserem Lernen altersspezifische Grenzen.
Veränderung der Anzahl von Neuronen
Die Anzahl der Neurone nimmt pränatal kontinuierlich zu und steht bei der Geburt weitgehend fest(20 x 109).
Auch Föten sindSchon lernfähig
Ab ca. dem 5. Schwangerschaftsmonat sind Föten lernfähig.
• Habituationsreaktionen• akustisches Gedächtnis• Gedächtnis für Geruch und Geschmack
Die ersten Kindsbewegungen sind im 3.-4. Schwanger-schaftsmonat spürbar.
Bewegungen des Föten nehmen im 5. Schwanger-schaftsmonat wieder ab. Jetzt übernehmen höhere corticale Areale die Bewegungssteuerung.
Lernfähigkeit und pränatale Veränderung der Neuronenanzahl
Der Hippocampus ist für die Aufnahme von Informationin das Langzeitgedächtnis undfür die Zuordnung von Reizen wichtig und schon bei der Geburt funktionsfähig.
Die Neubildung von Neuronen im Hippocampusgeht mit dem Alter zurück
Im Hippocampus werdenauch nach der Geburt noch neue Neurone gebildet.
Bei Dauerstress sterbenNeurone im Hippocampus ab.
Hippocampus
Rätsel
Wie kommt es, dass sich die Gesamtanzahl der Neurone in unserem Gehirn nicht vergrößert, aber das Volumen verdreifacht?
Wir verlieren im Laufe unseres Lebens ca. 7% unserer Neurone (täglich 200.000)
Dendriten„Empfangen“ Erregungvon anderen Neuronen;leiten Erregung zum Zellkörper weiter
Neurone - Bausteine des Gehirns
Axonleitet Erregung zum nächsten Neuron
Myelinschichtisoliert Axon und trägt so zur effektiven Informationsleitung bei
8
Synapsen„Senden“ Erregung mit Hilfe von Neurotransmitternzum nächsten Neuron
Myelinisierung (Isolierung) von Axonen:steigt im Verlauf der Kindheit und sinkt im Alter wiederTiming hängt ab von der Hirnregion.
Beispiel: Motorische Entwicklung
Myelinisierung (Isolierung) von Axonen:steigt im Verlauf der Kindheit und sinkt im Alter wiederTiming hängt ab von der Hirnregion
mit 8 Wochen mit 13 Monaten
Corpus callosum
Dendriten und Synapsen-Bildung
Postnatale Entwicklung des Cortex in der Nähe des Broca-Areals
A: GeburtB: 1 MonatC: 3 MonateD: 6 MonateE: 15 MonateF: 24 Monate
Die dendritischeVerzweigung und Ausbildung von Synapsennimmt drastisch zu. 12
Visueller CortexFrontaltalcortex
13
Visuelle Verarbeitung(Farbe, Form, Musterung, Bewegung)
HandlungsplanungKurzzeitgedächtnisPersönlichkeit
Es gibt sensible Perioden des Lernens für unterschiedliche Lernbereiche (z.B. Lautdiskrimination, Gesichterwahr-nehmung; stereoptisches Sehen), die an Phasen maximalerSynapsendichte im Cortex gebunden sind.
Veränderung derSynapsendichteim visuellen undpräfrontalenCortex mit demAlter
„Use it or loose it“
Zunächst kommt eszu einer Überproduktionvon Verbindungen (Spreading),
bevor Umweltreize darüber entscheiden, welche Verbindungen erhalten bleiben und welche verschwinden.
Wann eine Synapsemit welcher IntensitätNeurotransmitterausschüttet, hängt ab von• ihrer Verschaltung
mit anderen Neuronen
• ihrer Lerngeschichte
Wie beeinflusst die Lerngeschichte die synaptischeÜbertragung von Signalen?
Wie verändern Lernprozesse unsere neuronalen Strukturen?
Übertragung von Signalen findet an Synapsen statt.
Hebbsche Lernregel
Jede Erfahrung induziert ein einzigartiges Muster neuronaler Aktivität, das durch die bereits bestehenden Schaltkreise zirkuliert.
Erregungsleitung
Bei simultaner Erregung von prä- und postsynaptischenNeuronen kommt es zu anhaltenden strukturellen Veränderungen in den Synapsen der aktivierten Schaltkreise.
Dadurch wird nachfolgend die Übertragung über diese Synapsen erleichtert.
Erregungsleitung
Amygdala
Thalamus
Hippocampus
Lernen und Emotion
Emotionale Beteiligung und moderater Stress erhöhen die Lernleistung.
Diese Effekte werden der Aktivität des limbischen Systemszugeschrieben.(speziell: der Amygdala)
Das limbische Systemgewichtet Reize in Bezugauf ihre Bedeutung für die eigene Person
Verarbeitung emotional bedeutsamer Reize
nach LeDoux, 1998
bedrohlicherReiz
Sensorischer Kortex
Thalamus Amygdala
Hypothalamus
Hypophyse
Nebennierenrinde
Hippocampus
Cortisol Cortisol
Amygdala
Thalamus
Hippocampus
Traumatische Erlebnisse(z.B. Vergewaltigung, Misshandlung, Attentat, Naturkatastrophe, Unfall)
• sind mit emotionaler Überforderung verknüpft
• Emotionen „brennen“ sich in unser Gedächtnis ein
• keine hinreichende geistigeVerarbeitung
• führen ggf. zu Posttrauma-tischen Störungen oder anderen klinischen Symptomen
Emotionale Grenzerfahrungen
Kritische Lebensereignisse(z.B. Heirat, Geburt eines Kindes, Scheidung, Prüfungen, Berufswechsel, Wohnorts-wechsel, Pensionierung)
• kommen in jedem Leben vor• leiten in der Regel neue
bedeutsame Erfahrungen ein• machen Anpassungs-
leistungen erforderlich• zwingen uns, wichtige
Aspekte unseres Lebens (Ziele, Eigenschaften, Gewohnheiten) zu überdenken oder zu ändern
Kognitive GrenzerfahrungenMenschen interessieren sich von Geburt an für Veränderungen in ihrer Umwelt. Schon Babys reagieren immer dann besonders aufmerksam, wenn „sich etwas tut“. Dabei scheinen sie früh verstehen zu wollen:
Wie kommt etwas zustande? Welcher Mechanismus steckt dahinter?Wie kann ich etwas nutzen?
Antworten auf diese Fragen werden in komplexen Wissenssystemen organisiert.
Der Mensch ist stets bemüht, sein Wissen konsistent (möglichst widerspruchsfrei) zu organisieren
Wenn wir etwas Neues lernen, muss die neue Einsicht in das bestehende System integriert werden, so dass sie mit anderen Annahmen konsistent ist.
Assimilation: Anpassung von Fakten an ein bereits bestehendes geistiges Schema.
Akkomodation: Anpassung bestehender geistiger Schemata an neue Fakten.
Gelingt die Integration neuer Fakten ohne größere Schwierigkeiten, findet man 1. eine Bestätigung2. eine Ergänzung oder3. eine leichte Modifikationbestehender Wissensstrukturen.
Wenn die Integration neuer Fakten nicht gelingt,entsteht ein kognitiver Konflikt, der auf unterschiedliche Weise gelöst werden kann:
1. Mit dem bestehenden Wissenssystem inkompatible Fakten werden ignoriert, negiert, relativiert oder umgedeutet.
2. Es setzt ein allmählicher / partieller Prozess des Umdenkens ein, begleitet von Gefühlen leichter Unsicherheit.
3. Es kommt zum Paradigmenwechsel, bei dem der Lernende alles bislang geglaubte in Frage stellt und eine neue Form der Wissensorganisation erlangt, begleitet von Gefühlen großer Unsicherheit.
Beispiel: Veränderung der Weltsicht von Kindern
Das Kind setzt die „Erde“ zunächst mit „Boden“ gleich und denkt, es handele sich um eine mehr oder weniger ebene Fläche.
Gleichzeitig hört es, die Erde sei rund.
Aus diesen Informationen konstruiert es eine Deutung von der Welt als flacher Scheibe.
Ausgangslage
Das Kind bezieht den Himmel in seine Überlegungen ein.
Es hat beobachtet, dass die Sonne am Morgen über dem Horizont aufgeht, dann über den Himmel wandert und schließlich auf der gegenüber liegenden Seite wieder am Horizont verschwindet.
Es behält seine Scheiben-Idee bei und interpretiert den Himmel als Kuppel über der Scheibe.
Ergänzung bestehender Wissenstrukturen
Das Kind bezieht die Aussage, die Erde sei eine Kugel, in seine Theorie ein und komplettiert die Himmelskugel auf der ihr gegenüberliegenden Seite.
Die Erde ist nun eine Scheibe, die sich inmitten einer Kugel befindet.
Leichte Modifikation bestehender Wissensstrukturen
Das Kind versteht, dass die Menschen auf der Außenfläche der Kugel leben.
Es kann sich aber noch nicht von seiner naiven Vorstellung lösen, dass es überall das gleiche oben und unten gibt.
Daher nimmt es an, alle Menschen lebten auf der oberen Seite der Kugel
Ansätze von Umdenken
Oben
Unten
Das Kind versteht, dass es im Weltraum kein absolutes oben oder unten gibt und dass Schwerkraft nicht immer „nach unten“ zieht, sondern zum Erdzentrum.
Nun wird die Erde alsKugel interpretieren,die rotiert und auf derengesamten OberflächeMenschen leben.
Paradigmenwechsel
Der Mensch verfügt über unterschiedliche Strategien im Umgang mit Grenzen im Denken.
Je größer die Abweichung zwischen den eigenen Vorstellungen und Erwartungen einerseits und den erforderlichen Anpassungsleistungen andererseits ist, desto weniger sind wir normalerweise bereit, Anstrengungen zu unternehmen, eigene Grenzen zu überwinden.
Sich auf einen Paradigmenwechsel einzulassen, bedeutet auch, ein hohes Maß an Unsicherheit ertragen zu können.
Was bedeutet das für den Umgang mit Grenzen?
Normale Entwicklung und der Umgang mit Grenzen
Phasen der Identitätsentwicklung nach Erikson
1. Urvertrauen vs. Urmisstrauen (1. Lebensjahr) Physiologische Abnabelung
2. Autonomie vs. Scham und Zweifel (2.-3. Lebensjahr)Emotionale Abgrenzung von derprimären Bezugsperson; beginnendeAutoritätskonflikte
3. Initiative vs. Schuldgefühl (4.-5. Lebensjahr)Aktive Erkundung der Wirklichkeit und Erkennen eigener Grenzen derkörperlichen und psychischenMöglichkeiten
4. Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl (Grundschulzeit)mit Grenzen konfrontiert sein, die erst durch soziale Vergleichsprozessedeutlich werden
5. Identität vs. Identitätsdiffusion (Jugendalter)veränderte Körpererfahrungenund veränderte sozialeErwartungen in Selbstbild integrieren;An der Schwelle (Grenze) zumErwachsen werden stehen
6. Intimität und Solidarität vs. Isolierung (junge Erwachsene)Nähe und Distanz zu anderen Personen regeln; sich durchAbgrenzung selber definieren
7. Generativität vs. Selbstabsorption (mittleres Erwachsenenalter)Soziale Verantwortung wahrnehmen oder um sich selber kreisen;Grenzen in der eigenen beruflichenund familiären Leistungsfähigkeiterkennen
8. Initiative vs. Verzweiflung (ältere Erwachsene)Bilanzierung;zeitliche Begrenzung desLebens und des Körpersbegreifen
Mit dem Alter verändert sich die Art der Herausforderungen, mit denen Menschen zu tun haben
Diese Veränderungen beziehen sich auf
a) Körperlichen Reifungsprozessenb) Neue soziale Erwartungenc) Neue Lernkontexte
Wird ein Konflikt auf einer Stufe nicht befriedigend gelöst, bleibt er weiter bestehen und belastet Entwicklungs-prozesse auf der nächsten Stufe. Neue Entwicklungenwerden so von vornherein begrenzt.
Aber: Konflikte / Probleme einer bestimmten Stufe können auch noch später gelöst werden.
Gestörte Entwicklung und die Über-windung von Grenzen in der Therapie
Psychoanalyse:
Grenzen• resultieren aus der Verdrängung triebhafter
Impulse in der Vergangenheit• lassen sich nur überwinden, wenn
Verdrängtes neu bewusst gemacht wird
Therapiedem Klient Gelegenheit geben, sich mit seiner Vergangenheit aktiv auseinander zu setzen (vor allem emotional)
Verhaltenstherapie
Grenzen• gehen auf ungünstige Lerngeschichte zurück• lassen sich nur überwinden, wenn neue
(positive) Erfahrungen im Umgang mit dem Problem gemacht werden
TherapieUngünstige Verhaltens-und Denkmuster identifizieren;Zielvorstellungen gemeinsam definieren;Gemeinsam Pläne zur Verhaltensänderungentwickeln und realisieren
Klientzentrierte Gesprächspsychotherapie
Grenzen• gehen auf Blockierung von
Selbstaktualisierungstendenzen zurück• lassen sich nur überwinden, wenn Klient
lernt, sich selbst zu akzeptieren
TherapieSchaffung von Rahmenbedingungen, die den Klienten zur Selbst-Entwicklung ermutigen
Systemische Therapie
Grenzen• Die Grenzen des einzelnen sind immer auch
die Grenzen des Systems (und umgekehrt)• lassen sich nur überwinden, wenn das ganze
System sich verändert
TherapieVeränderung der Perspektiven auf einProblem von allen Seiten;gemeinsame Suche nach Lösungsansätzen;herausfinden, wer wen wie unterstützen kann
Jede Therapieform setzt einen anderen Schwerpunkt in ihrem Bemühen, Menschen bei der Überwindung persönlicher Grenzen zu helfen
PsychoanalyseWoher kommen Grenzen?
VerhaltenstherapieWie lassen sich Grenzen praktisch überwinden?
Klientzentrierte GesprächspsychotherapieWie kann man eine Person emotional darin unterstützen, selbständig ihre eigenen Grenzen zu überwinden?
Systemische PsychotherapieWie lassen sich gemeinsam Ressourcen mobilisieren,um Grenzen zu überwinden?