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Echt sein in einer Zeit des Scheins – Grundlagen für ein gesundes und erfülltes LebenTRANSCRIPT
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Echt sein in einer Zeit des Scheins –Grundlagen für ein gesundes und erfülltes Leben
Ausgabe Nr. 44/2012
Kompetenz. Und Gottvertrauen.
magazin
Interview mit Judy Bailey
Der ewige Zweite Th erapiegrundlagen
Ein Leben im Rampenlicht
Wenn man den Sprung an die Spitze nicht schaff tSeite 6 Seite 11 Seite 45
Die Auswirkungen derFremdbestimmung –Borderline
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Kompetenz. Und Gottvertrauen.
Psychotherapie,
Psychiatrie, Psychosomatik.
Auf christlicher Basis.
In der de’ignis-Fachklinik behandeln wir psychische und
psychosomatische Erkrankungen, z. B. Depressionen, Ängste
und Zwänge – sowohl stationär als auch ambulant. Grund-
sätzlich können die Kosten für eine Behandlung in unserer
Klinik von allen Kostenträgern übernommen werden.
de’ignis-Fachklinik gGmbH auf christlicher Basis für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik
Walddorfer Straße 23 · 72227 Egenhausen · Telefon 07453 9391- 0 · [email protected] www.deignis.de
Nutzen Sie auch unsere Präventionsangebote, bei denen die
gesundheitliche Vorsorge im Mittelpunkt steht. Das Angebot
reicht von individuellen Gesundheitswochen bis hin zu Kursen
zur Stressbewältigung.
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Ich sitze auf dem Motorrad und fahre Richtung
Süden. Je länger ich mich auf dem Weg befinde,
desto mehr träume ich vor mich hin und verliere das
Gefühl für Raum und Zeit. Ich genieße den Duft
der Wiesen, die wunderbare Luft , den Wind und
die traumhaft e Landschaft . So denke ich vor mich
hin und gewinne den Eindruck, Stunden oder gar
Tage lang in dieser Weise zu fahren, ohne ein Ziel
vor mir zu haben, sondern lediglich die Umwelt
und jeden einzelnen Moment zu genießen. Doch
dann, urplötzlich aus dem Nichts heraus, erwachen
in mir die Gedanken: Du musst ja bald wieder
umdrehen, da sind noch diese und jene Dinge zu
erledigen, wie löst du die anstehenden Fragen die
dir auferlegt wurden?
Derzeit bin ich von lieben, freundschaftlichen,
partnerschaft lichen und älteren Persönlichkeiten
umgeben, die in ihrem Leben sehr viel für andere
Menschen gegeben haben und nun im hohen Alter
extrem gesundheitlich leiden. Da ich sie persönlich
sehr gut kenne, weiß ich, dass sie für die Gesellschaft
viel geleistet und in diese investiert haben, aber
auch genießen konnten. Somit taucht dann schon
die Frage nach der Grundlage für ein gesundes und
erfülltes Leben auf.
Wenn es hart auf hart kommt, werden wir nur
dahin gelangen, wohin uns die Sehnsucht zieht.
Wir stehen vor einer Wahl, die mit jedem Tag,
der vergeht, dringlicher wird: Wollen wir unsere
eigene Geschichte hinter uns lassen und Gott dahin
folgen, wo die Erfüllung unserer Herzenssehnsucht
wartet? In jedem Moment unseres Lebens ergeht
ein Ruf an uns, wenn wir nur zuhören. Es ist der Ruf
Gottes, der uns in eine Geschichte, zu einem Weg
mit ihm führen möchte. Er fl üstert uns im Wind
(der Lebenssituationen) zu, er lädt uns durch das
Lachen guter Freunde ein und durch die Berührung
eines Menschen, den wir lieben, streckt er uns die
Hand entgegen. Wir hören den Ruf durch unsere
Lieblingsmusik, wir spüren ihn durch die Geburt
unseres Kindes, wir werden zu ihm hingezogen,
wenn wir die Pracht der Landschaft beobachten.
Sogar in Zeiten großen persönlichen Leids ist er
gegenwärtig.
Durch solche Erfahrungen erweckt der Ruf tief
in unserem Herzen eine unstillbare Sehnsucht,
eine Sehnsucht nach Intimität, Schönheit und
Abenteuer. Sie treibt uns an, bei unserer Suche nach
Sinn, nach Ganzheitlichkeit, nach dem Gefühl,
wahrhaft lebendig zu sein. Wie auch immer wir
dieses tiefe Verlangen beschreiben mögen, es ist das
Wichtigste was wir haben: unser innerstes Herz, die
Leidenschaft unseres Lebens.
Wir möchten mit dieser Magazin-Ausgabe eine
gesellschaft liche Situation aufgreifen, die derzeit
sehr präsent ist und viele Menschen beschäft igt.
Wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft und was
bestimmt unser Leben bzw. von was lassen wir unser
Leben bestimmen? Das fängt mit den allgemeinen
Erwartungen unserer Leistungsgesellschaft an und
führt hin zur Frage der geistlichen Entwicklung.
Es gibt, wie bereits kurz beschrieben, einiges zu
entdecken, was uns dabei hilft , die Sehnsucht nach
einem gesunden und erfüllten Leben zu stillen.
Darüber hinaus haben wir im de’ignis-Aktuell-Teil
wieder interessante Entwicklungen und Neuig-
keiten bei de’ignis für Sie zusammengestellt.
Besonders zu erwähnen wäre dabei der Klinik-
anbau in Egenhausen, der für uns eine große
Herausforderung darstellt. Deshalb sind wir für
Unterstützung sehr dankbar.
Wir wünschen Ihnen gute Anregungen und Impulse,
Ihr
Claus J. Hartmann
Liebe Leserinnen und Leser,
EDITORIAL
Die Herausgeber:
Claus Jürgen Hartmann Winfried Hahn
Geschäft sführer, de’ignis-Fachklinik Geschäft sführender Heimleiter, de’ignis-Wohnheim
und de’ignis-Institut Vorstandsvorsitzender Christliche Stift ung de’ignis-Polen
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Titelthema: Echt sein in einer Zeit des Scheins Grundlagen für ein gesundes und erfülltes Leben
INHALTSVERZEICHNIS
Interview mit Judy Bailey
Ein Leben im RampenlichtDankbarkeit als Quelle der Kraft
Winfr ied Hahn
Der ewige Zweite – wenn man den Sprung an die Spitze nicht schafft
Dr. Herbert Scheiblich
Die ICHMICHMEINMIR-Gesellschaft
Peter Hahne
Freiheit ohne Ethik wird zur WillkürDer Maßstab der Bibel auch für Staat und Gesellschaft
ZUR DISKUSSION
Winfr ied Hahn
Von der Entweltlichung der KircheDie vieldiskutierte Papstrede von Freiburg – Versuch einer Interpretation
Dr. Gerhard Maier, Landesbischof i.R.
Die Aufgabe der Kirche in einer sich verändernden Gesellschaft
S. 11
S. 14
S. 18
S. 23
S. 27
S. 6
S. 29S. 6
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IMPRESSUM
Redaktion:Rainer Oberbillig, Winfried Hahn,Claus J. Hartmann
Layout, Gestaltung & Druckvorstufe:AD Dipl.-Ing. Rainer HaasTel. 07 11 48 23 31 · [email protected]
Druck:Gedruckt auf LuxoArt Samt New vonHenkel GmbH Druckerei, Stuttgart
Auflage16.000
Herausgeber:de’ignis-Fachklinik gGmbHauf christlicher Basis für Psychiatrie, Psychotherapie, PsychosomatikWalddorfer Straße 2372227 EgenhausenTelefon: 07453 9391- 0Telefax: 07453 9391-193E-Mail: [email protected]
Volksbank Nordschwarzwald eGKonto 62 168 002 · BLZ 642 618 53
de’ignis-Wohnheim gGmbH – Haus Taborzur außerklinischen psychiatrischen BetreuungFred-Hahn-Straße 3072514 EngelswiesTelefon: 07575 92507-0Telefax: 07575 92507-30E-Mail: [email protected]
Sparkasse Pfullendorf-MeßkirchKonto 105 338 · BLZ 690 516 20
de’ignis-Institut gGmbHfür Psychotherapie und christlichen GlaubenMarkgrafenweg 1772213 AltensteigTelefon: 07453 9494-0Telefax: 07453 9494-396E-Mail: [email protected]
Volksbank Nordschwarzwald eGKonto 66 624 002 · BLZ 642 618 53
Christliche Stift ung de’ignis-PolenFred-Hahn-Straße 3072514 EngelswiesTelefon: 07575 92507-0Telefax: 07575 92507-30E-Mail: [email protected]
Sparkasse PforzheimKonto 7 26 05 12 · BLZ 666 500 85
Alle de’ignis Einrichtungen sind gemeinnützig undarbeiten überkonfessionell. Spendenbescheinigungenwerden auf Wunsch gerne ausgestellt.
Titelbild: thinkstockphotos.de.
IMPULS
Prof. Dr. Hans-Joachim Eckstein
Gesunder GlaubeVom richtigen Umgang mit dem altmodisch klingenden, aber immer
noch aktuellen Phänomen Sünde
THERAPIEGRUNDLAGEN
Dr. med. Rainer Kloß
Hast und Eile, Zeitnot und Betrieb …Wie sehr ist unser Leben fremdbestimmt?
Anne Lamm/Angelika Heinen
Wollen und nicht könnenDas Aufmerksamkeitsdefi zit-/Hyperaktivitätssyndrom bei
Erwachsenen
Achim Sörgel
Die Auswirkungen der Fremdbestimmung – Borderline
DE’IGNIS AKTUELL
Termine · Berichte · Neues aus den Einrichtungen
S. 29
S. 39
S. 45
S. 50
S. 34
S. 34 S. 39
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TITELTHEMA
Ein Leben im RampenlichtDankbarkeit als Quelle der Kraft
Interview mit Judy Bailey
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ECHT SEIN IN EINER ZEIT DES SCHEINS
„Das Leben ist wunderschön. Das Leben ist schwer. Beides ist wahr. Und beides steht
nebeneinander. Am Ende kommt die Lebenskraft auch aus beidem. Ich glaube, dass
Menschen, die große Lebensfreude in sich tragen, auch die Tiefen des Lebens kennen.“
Judy Bailey
Judy Bailey singt. Mit acht im Kirchenchor auf
Barbados, mit 17 erste eigene Lieder mit Gitarre,
mit 21 in London für ihr erstes eigenes Album. Sie
singt ihre Lieder lebensmutig und freudestrahlend,
mit einer nicht unterzukriegenden Hoff nung. Sie singt
in Flüchtlingslagern und Gefängnissen, in alten Kirchen
und neuen Clubs, auf Festivals und Festen. In Singapur und
in Namibia, in Kanada, Tansania, Australien und immer
wieder in Deutschland, wo sie heute lebt. Judy ist eine Welt-
musikerin und eine Weltbürgerin. Ihre musikalische Reise
führte sie auf jeden Kontinent, zu neun eigenen Alben,
Kooperationen mit Musikern von Eddy Grant bis zu den
„Söhnen Mannheims“, auf das offi zielle Fußball-WM
Album 2010 und zu ihren größten Auft ritten vor Hundert-
tausenden. Wenn Judy Bailey Musik macht, dann spürt man
die Sonne ihrer Heimat Barbados: Die Leichtigkeit und
Freude der Karibik, gepaart mit Rhythmus und Power aus
Afrika, aber auch innovative Sounds und Refl exionen aus
ihrer neuen Heimat Europa. Ihre Musik ist schon immer be-
wegend und persönlich. Judy singt Lieder, von denen man
denkt: „Das hat sie nur für mich geschrieben.“ Und würde
man sie fragen, würde sie sicher sagen: „Ja – es ist deins!“
BIOGRAFIE
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TITELTHEMA
de’ignis-Magazin: Frau Bailey, der Titel dieser Ausgabe
des de’ignis-Magazins lautet „Echt sein in einer Welt des
Scheins“. Als international bekannte Sängerin sind Sie auf
vielen Bühnen dieser Welt zuhause. Wie gelingt es Ihnen,
bei Ihren vielen Auft ritten echt und authentisch zu blei-
ben?
Judy Bailey: Vielleicht liegt es daran, dass ich so komme,
wie ich bin. Wenn ich auf der Bühne stehe, versuche ich,
mit meiner Person ganz da, ganz anwesend zu sein. Dies
gelingt mir, weil mir meine Tätigkeit sehr viel Freude be-
reitet, denn ich darf das machen, was mir entspricht. An-
gestellte müssen meistens das tun, was der Chef oder die
Firma vorgibt und sind damit abhängig. Ich darf jedoch
in Unabhängigkeit das verwirklichen, was mir ein inneres
Anliegen ist. Ich darf sein, wie ich bin und befi nde mich
deshalb im Einklang mit mir selbst. Auch meine Platten-
fi rma lässt mir sehr viel Freiheit. Ich glaube, die Leute
merken, dass ich authentisch bin, weil ich mich nicht ver-
stellen muss. Auch das Programm bei unseren Auft ritten
gestalten wir oft spontan, indem wir während den Kon-
zerten auf das Publikum eingehen und die Lieder aussu-
chen, die nach unserem Empfi nden gerade passen.
de’ignis-Magazin: Das setzt aber doch sehr viel Sponta-
neität und ein aufeinander eingespieltes Team voraus und
ist auch sehr mutig.
Judy Bailey: Ich liebe die Spontaneität, das macht jeden
Moment während des Auft ritts authentisch, weil es aus
einem echten, aktuell vorhandenem Empfi nden kommt.
Aber das klappt nur, wie Sie sagen, weil wir ein eingespiel-
tes Team sind und miteinander gute Beziehungen pfl egen.
de’ignis-Magazin: Was ist Ihre innere Triebkraft , Ihre
Motivation für den ungeheuren Kraft aufwand, den man
braucht, um sich bei den vielen Auft ritten und Terminen
der Öff entlichkeit zu stellen?
Judy Bailey: Unser Anliegen ist es, die Botschaft weiter-
zugeben: Gott ist da, er liebt dich, er lässt dich nie im
Stich. Das ist eine so wertvolle Aufgabe. Es ist unglaublich
wunderbar zu wissen, dass man mit Musik dabei helfen
kann eine Seele zu heilen und jemand eine andere Perspek-
tive anbieten kann: Das wir nicht alleine sind! Vielleicht
kann das dann auch eine Motivation werden eine eigene
Entdeckungsreise mit Gott zu machen und in Ewiges zu
investieren.
de’ignis-Magazin: Diese Botschaft der Hoff nung scheint
mir sehr wichtig zu sein, besonders in einer Zeit, die mit
Negativbotschaft en geradezu überfl utet wird.
Judy Bailey: Wir brauchen Hoff nung. Nur so können wir
erkennen, dass die Dinge nicht so aussichtslos sind, wie sie
Foto
: Pat
rick
Depu
hl
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ECHT SEIN IN EINER ZEIT DES SCHEINS
scheinen. Es ist wichtig, dass wir über den Tellerrand un-
serer eigenen kleinen Welt und über die Umstände hin-
wegsehen können.
de’ignis-Magazin: Das bedeutet, dass Sie auch eine Art
von stellvertretender Hoff nung für Menschen haben, die
für sich selbst oder ihre Umwelt keine Hoff nung mehr
empfi nden.
Judy Bailey: Ja, so kann man es sagen. Es ist mein Anlie-
gen, Hoff nung in die Seelen der Menschen zu singen. Wir
möchten vermitteln: Sei unterwegs, bleibe unterwegs! Im
Prozess des Unterwegsseins, des Weitermachens wird man
stärker. Ich selbst bin auch durch Nöte gegangen, aber ich
wurde stärker. Das vermitteln wir auch in vielen persön-
lichen Gesprächen nach unseren Konzerten. Wir freuen
uns, dass wir auch auf diese Weise Mut machen dürfen
zum Unterwegssein.
de’ignis-Magazin: Wie sind Sie dazu gekommen, Ihre
Kraft , Ihre Zeit, ja eigentlich Ihr ganzes Leben für diese
Ziele einzusetzen? Gab es dafür in Ihrer Biografie be-
stimmte auslösende Ereignisse?
Judy Bailey: Ich bin eigentlich schon immer, auch als
Kind, in die Kirche gegangen und habe auch im Kirchen-
chor mitgesungen. Singen war schon immer meine Lei-
denschaft . Aber mit 17 Jahren habe ich eine tiefe innere
persönliche Erfahrung gemacht: ich bin geliebt, nicht
nur von meinen Eltern, sondern auch von Gott. Ich habe
mich dann in meinem Schlafzimmer hingekniet und ge-
sagt: „Gott komm in mein Leben.“ Von außen betrachtet
passierte nicht viel, kein Blitz und kein Donner kam vom
Himmel, aber tief in meinem Inneren erlebte ich, Gott hat
mich unendlich lieb. Ich habe dann angefangen, Psalmen,
die mich besonders angesprochen haben, zu vertonen,
ja, es wurden richtige Liebeslieder an Gott daraus. Es ist
schon eine sehr persönliche, innige Beziehung, die Gott
mit uns eingeht. Er ist ja nicht irgendjemand, er ist Gott!
de’ignis-Magazin: Könnte man also sagen, Sie lassen bei
Ihren Konzerten den Strom der Liebe Gottes durch Sie
hindurch zu den Menschen strömen?
Judy Bailey: Das geht mir fast ein bisschen zu weit, denn
so übermäßig heilig oder als etwas Besonderes empfi nde
ich mich gar nicht. Wissen Sie, jeder ist von Gott geliebt
und ist von daher etwas Besonderes. Jeder ist von Gott
angenommen, egal welchen Hintergrund er hat, egal ob
schwarz oder weiß, reich oder arm, erfolgreich oder nicht
so erfolgreich …
Man muss kein perfektes Leben haben, um von Gott ge-
liebt zu sein, es ist allein seine Gnade. Auf diese Weise sind
wir alle Beschenkte, es ist unverdiente Gnade.
ass wir über den Tellerrand un-
und über die Umstände hin-
denschaft . Aber mit 17 Jahren habe i
persönliche Erfahrung gemacht: ich
Foto
: Pat
rick
Depu
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TITELTHEMA
de’ignis-Magazin: Sie haben ja auch, wenn ich richtig
informiert bin, Psychologie studiert.
Judy Bailey: Ich habe in der Tat einige Jahre als Psycho-
login in einer Einrichtung gearbeitet, und da war es mir
ein wichtiges Anliegen, den Menschen vor allem diese
Wertschätzung zu vermitteln. Ich möchte aber betonen,
und das ist mir jetzt sehr wichtig: Es genügt nicht, den
Menschen von der Liebe Gottes zu erzählen, ohne sich
gegen Ungerechtigkeit zu engagieren. Deshalb arbeite ich
eng mit „World Vision“ zusammen. Dies ist eine Hilfsor-
ganisation, die in vielen Ländern Hungernde unterstützt
und für Veränderung eintritt. Wir leisten dort Hilfe und
Anleitung zur Selbsthilfe. Es ist doch so, dass nicht nur die
Seele Nahrung braucht, sondern auch der Körper. Wenn
wir den Menschen Essen geben, dann ist das auch Liebe.
Wir dürfen nicht nur von der Liebe sprechen, wir sollten
auch was tun.
de’ignis-Magazin: Gab es Situationen, in den Sie sich von
Journalisten, der Presse oder anderen Medien unfair be-
handelt fühlten?
Judy Bailey: Das könnte ich für mich so nicht sagen.
Sicher, es gab schon mal kritische Berichte über die eine
oder andere CD, aber eigentlich waren die Journalisten
immer ganz nett zu mir und ich bin auch dankbar für die
vielen guten Berichte über unsere Konzerte.
de’ignis-Magazin: Das liegt vielleicht an Ihrem ehrlichen
und natürlichen Auft reten.
Judy Bailey: Ja, ich liebe es, wenn etwas ehrlich gemeint
ist und die Leute haben ein Gespür dafür. Aber es ist auch
wichtig, die Fähigkeit zu entwickeln, Negatives nicht zu
hoch zu bewerten und sich nicht zu sehr davon irritieren
zu lassen. Wie heißt es doch in der Bibel: den Staub von
den Füßen schütteln und weitergehen.
de’ignis-Magazin: Hätten Sie vielleicht zum Schluss für
unsere Leser noch einige Tipps, wie man sich in unserer
stressreichen Zeit vor Überlastung – Stichwort Burnout –
schützen kann?
Judy Bailey: Ich denke, es ist gut, intensiv zu arbeiten,
aber genau so wichtig ist es auch, intensiv auszuruhen
und sich Zeit zu nehmen für die Familie und für Freunde.
Wenn man das, was man tut, gerne tut, besteht die Gefahr,
immer weiter und weiter zu arbeiten. Das ist eine Gefahr,
man muss sich die Zeit nehmen, auszuruhen. Und wenn
man dann nichts macht, sollte man nicht denken, man
tut nichts und sich nicht mit einem schlechten Gewissen
belasten. Nichts tun ist wichtig, um kreativ zu bleiben.
Das kann manchmal auch weh tun und ein Opfer bedeu-
ten, wenn man Termine absagt, um genügend Zeit zur
Erholung zu haben. Aber es lohnt sich, Opfer für die see-
lische Gesundheit zu bringen und die damit verbundenen
Grenzen zu akzeptieren.
de’ignis-Magazin: Haben Sie noch einen weiteren Tipp
zur Erhaltung der seelischen Gesundheit?
Judy Bailey: Ich denke, man sollte die Prioritäten rich-
tig setzen. Man braucht nicht zwei Fernseher und fünf
Autos, um glücklich zu sein. Wichtig ist eine Einstellung
der Dankbarkeit. Ich bin dankbar, dass die Menschen mei-
ne Songs hören wollen. Dankbarkeit ist eine Einstellung,
die uns Menschen gut tut. Wichtig ist auch, dass man das
Leben so gut es geht zu einem Fest macht. Wir sollten viel
mehr das Leben feiern. Neulich haben wir 100jährigen
Geburtstag gefeiert. Wir haben festgestellt, wenn wir die
Lebensalter unserer Familie zusammenzählen, sind wir
miteinander 100 Jahre. Also haben wir recht spontan
unsere Freunde und alle Nachbarn in unserer kleinen
Strasse eingeladen und haben mit über 100 Leuten
unseren 100jährigen Geburtstag gefeiert. Das war toll!
Sich die Dankbarkeit bewahren und aus seinem Leben
mit der Hilfe Gottes ein Fest machen, so gut es geht – ich
denke, das fördert unser Wohlbefi nden.
de’ignis-Magazin: Vielen Dank für dieses interessante
und sehr anregende Gespräch.
Die Fragen für das de’ignis-Magazin stellte unser Redak-
tionsmitglied Winfried Hahn.
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ECHT SEIN IN EINER ZEIT DES SCHEINSECHT SEIN IN EINER ZEIT DES SCHEINS
Der ewige Zweite – wenn man den Sprung
an die Spitze nicht schafft
Vor kurzem starb Neil Armstrong, der Mensch,
der zum ersten Mal einen anderen Himmels-
körper, den Mond, betrat. Kaum jemand weiß
und ahnt, dass sein Kollege Edwin Albin, der
zweite Mensch auf dem Mond, fast daran zerbrach, „nur“
Zweiter gewesen zu sein.
Der eine kann sich locker damit abfinden, in seiner
Raumkapsel den Mond „nur“ umkreist zu haben wie
Mike Collins, der andere zerbricht fast daran, „nur“ der
zweite Mensch auf dem Mond gewesen zu sein. Die nach-
folgenden Ausführungen beschäft igen sich mit der Frage,
warum Menschen an ihrem Schicksal, ihrem Lebensweg,
ihren Umständen zerbrechen können und wie man sein
Schicksal bewältigen kann.
Auszug aus dem Artikel „Der ewige Zweite“ von Peter Meinert, dpa/Südkurier Nr. 15 vom 20.01.2012:
„Neil sollte der erste Mann sein, der auf dem Mond
herumläuft , ich bin der erste Mann, der auf dem Mond in
die Hose pinkelte“, sagte Aldrin einmal. Nach turbulenten
VON WINFRIED HAHN
Edwin „Buzz“ Aldrin auf dem Mond am 20. Juli 1969 (Foto: NASA)
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TITELTHEMA
und schwierigen Jahren scheint sich der alte Mann gefan-
gen zu haben. 39 Jahre war Aldrin an jenem denkwürdigen
21. Juli 1969 alt, mit Erfolgen überschüttet wurde er be-
reits zuvor: Er war der erste Astronaut mit Doktorwürde.
zudem war Aldrin derjenige, der als Pilot die Landefähre
„Eagle“ sicher auf den Mond bugsierte.
Erst im Frühjahr, vergleichsweise kurz vor der Mission,
entschied die Nasa, dass Kommandant Armstrong den
Vortritt haben sollte. Der dritte Mann der Apollo-11-
Mission, Michael Collins, der damals im Mutterschiff
bleiben musste und das ganz Mondspektakel nur beo-
bachten konnte, berichtete von echten Verstimmungen
zwischen Aldrin und Armstrong beim Ausstieg – so etwas
durft e natürlich offi ziell niemals bekanntwerden.
Den vermeintlich süßen Ruhm konnte Aldrin nur
kurz genießen – innere Leere und Perspektivlosigkeit be-
mächtigten sich seiner nach der Heldentat. Was kann ein
Mann, der auf dem Mond wandelte, noch tun im Leben?
Aldrin bekam Depressionen, begann zu trinken, wur-
de alkoholabhängig. Eine weitere Enttäuschung war, dass
die Beförderung zum General ausblieb. Er erlitt einen
Nervenzusammenbruch, zwei Ehen scheiterten. Ihm hät-
ten schlicht neue Ziele gefehlt, schrieb er 1973 in einem
Buch, das seine Leidengeschichte schilderte. Das Buch
hatte den sinnigen Titel „Rückkehr zur Erde“ – die Rück-
kehr war das Schwierigste.“
Warum wollen Menschen immer etwas Besonderes sein?
Off ensichtlich fällt es den Menschen schwer, an zwei-
ter, dritter Stelle oder gar im Mittelfeld zu stehen. Julius
Cäsar soll einmal gesagt haben, als er mit seiner Armee ein
kleines Gebirgsdorf durchquerte: Lieber hier der erste als
in Rom der zweite.
Keiner hätte es gerne, wenn bei seiner Beerdigung ge-
sagt würde: „Er wurde geboren, lebte und starb. Er war
einer unter vielen.“
Warum hat der Mensch das off ensichtliche Bestreben,
etwas Besonderes zu sein?
Kriege werden aufs Brutalste geführt, nur weil ein
Politiker, Diktator, Feldherr, eine Nation etc. historische
Größe erreichen will. Gewinnstreben wird zur hem-
mungslosen Gier, nur weil einige immer reicher werden
wollen, Fernsehsendungen werden peinlich, und die Zu-
schauer bekommen ein Gefühl des „Fremdschämens“
nur weil einige Menschen meinen, ihr Privatleben vor
laufender Kamera entblößen zu müssen – Hauptsache
im Fernsehen. Das böse Erwachen kommt häufig erst hin-
terher, wenn man durch den Spott der Freunde, Nachbarn,
Kollegen etc. merkt, dass man sich bis auf die Knochen bla-
miert hat. Aber auch routinierten Medienleuten scheint
das Gespür für Stil und Niveau verlorengegangen zu sein,
wie die jüngste Entwicklung um Th omas Gottschalk
zeigt. Hauptsache auf Sendung, Hauptsache Quote –
auch wenn Werte und Moral auf der Strecke bleiben.
Der Mensch scheint unter einer Art inneren Leere zu
Edwin „Buzz“ Aldrin fotografi erte seinen Fußabdruck auf der Mondoberfl äche am 20. Juli 1969 mit einem Carl Zeiss Biogon Objektiv an einer Hasselblad Kamera. Das Foto entstand aus wissenschaftlichen Zwecken um die Boden-mechanik der Mondoberfl äche zu untersuchen. Es wurde später zum Synonym für die Eroberung des Weltraums durch den Menschen. (Foto: NASA)
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13
leiden, die ihn dazu bringt, vor keiner Grenze halt zu
machen, oder man stürzt seelisch ab wie der Astronaut
Aldrin. Wenn ich nur der zweite bin und mein Leben
ansonsten nicht mehr toppen kann, dann hat für mich
alles keinen Sinn mehr!
Ja, es ist schon so, wie Jesus es empfand: Tief bewegt
war er über die Menschen, denn sie waren und sie sind
„wie Schafe, die keinen Hirten haben“ (Markus 6,34).
Auch Augustinus seufzte rückblickend auf sein ausschwei-
fendes Leben: Unruhig ist meine Seele bis dass sie Ruhe
fi ndet in dir, oh Gott.
Auch die Psychologie hat das Th ema Sinn und Sinn-
losigkeit entdeckt. So brachte Viktor Frankl in seiner
Logotherapie zum Ausdruck, dass Menschen, denen es ge-
lingt, ihrem Leben einen über die bloße Existenzsicherung
und Lustgewinn hinausgehenden Lebenssinn zu entwi-
ckeln, belastungsfähiger und psychisch gesünder sind als
solche, die nur nach Bedürfnisbefriedigung im Hier und
Jetzt streben. Auch Aaron Antonovski bringt in seinem
Modell der Salutogenese zum Ausdruck, dass es für die
seelische Gesundheit eines Menschen von evidenter Be-
deutung ist, wenn er die Umstände und Ereignisse seines
Lebens nicht nur verstehen und handhaben, sondern auch
eine Sinnperspektive erkennen kann.
Der Mensch hat im Vergleich mit der Tierwelt wenige
Instinkte, dafür aber das Bedürfnis nach höherem, nach
Sinn und Ziel zu streben. Wenn die Fragen nach dem
Woher, Wohin und Wozu seines Lebens unbeantwortet
bleiben, können auch die größten Erfolge den Hunger der
Seele nicht stillen. Hier bekommt der Glaube eines Men-
schen als sinngebende Komponente eine entscheidende
Bedeutung. Die Botschaft des Evangeliums lautet nämlich,
ich muss nicht erfolgreich, berühmt, wohlhabend sein,
um Bedeutung zu haben. Ich brauche bei dem Tanz ums
goldene Kalb reicher, schneller, höher, mächtiger, schöner
etc. nicht mitzumachen. Gott schaut uns liebevoll an und
sagt: Ich kenne den Hunger deines verborgenen Menschen
und den ungestillten Durst deiner Seele. Ich weiß auch,
welche Anstrengungen du unternimmst, diesen inneren
Mangel zu stillen. Ich weiß um deine Verirrungen und Ver-
fehlungen auf diesem Weg. Aber ich will dich mit meinem
Frieden beschenken und deiner Seele Ruhe geben.
In Jesus finden wir inneren Frieden, denn er weiß um
den tiefen Mangel in unserem Herzen. Die Begegnung
mit Ihm, die Erfüllung mit seinem Geist, die in uns strö-
mende Liebe Gottes macht uns ausgeglichen und erfüllt
unsere Seele mit tiefem Frieden. Dies ist ein verborgenes
Geheimnis, das man immer wieder neu erfahren und ent-
decken darf: Die Begegnung mit der Liebe Gottes bringt
unserer Seele diese tiefe Erfüllung, die unsere Sehnsucht
stillt. Aber nicht nur das. Sein Zuspruch: „Ich vergebe dir
alle deine Verfehlungen“ macht uns frei von dem Druck,
beweisen zu müssen, dass wir gut sind. Weil Er „ja“ zu mir
sagt, darf ich „ja“ zu mir selbst sagen, ohne meine Fehler,
Schwächen und Unvollkommenheiten verstecken oder
vertuschen zu müssen. Ich muss mir selbst oder ande-
ren nicht mehr beweisen, dass ich gut, fähig und erfolg-
reich bin. Das befreit von Erfolgs- und Leistungsdruck.
Das „Ja“ Gottes zu uns gibt uns die Größe, zu unseren
Fehlern und Schwächen zu stehen. Auf diese Weise fällt
es uns leichter zu akzeptieren, wenn wir nicht der erste,
sondern zweiter, dritter oder nur mittelmäßig oder gar
Schlusslicht sind. Gottes Ja gibt uns die Größe, zu unseren
Unzulänglichkeiten, Fehlern und Grenzen zu stehen.
Auf diese Weise werden wir unabhängig von unserer Lei-
stungsfähigkeit zu charakterlich reifen Menschen, für die
das Sein mehr zählt als der Schein.
Winfried Hahn
(Biographische Angaben siehe Seite 26)
ECHT SEIN IN EINER ZEIT DES SCHEINS
Rechts:Astronaut Edwin Aldrin, links: Ast-ronaut Neil Armstrong. (Foto: NASA/Bill Ingalls)
„Psychische Erkrankungen
im Licht der Bibel“.
SCM Hänssler, 2. Auflage 2009
„Worüber man nicht spricht –
Tabus in Seelsorge und Gemeinde“
von Ute Horn und Winfried Hahn
SCM Hänssler Verlag, 2010
Vom Autor erschienene Bücher:
![Page 14: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/14.jpg)
14
Die ICH MICH MEIN MIR-Gesellschaft
TITELTHEMA
![Page 15: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/15.jpg)
15
ECHT SEIN IN EINER ZEIT DES SCHEINS
Der heutige Zeitgeist ist aus meiner Sicht
gekennzeichnet von der Sucht nach dem
permanenten Überschreiten von Grenzen
sowie dem Wahn, dass alles erreichbar sein
muss. Ein weiteres Kennzeichen besteht in einer ausge-
prägten Ego-Ideologie, die die Gesellschaft maßgeblich
beeinflusst: alles ist für mich bzw. alles steht mir zu.
Das profundeste Beispiel hierfür ist auch der Wandel
des Gefühles für Nullen. Vor der Finanzkrise war eine
Million Euro eine sehr große Summe, zur Zeit ist eine
Milliarde Euro gegenüber dem Schuldenstand von Billi-
arden ein „peanut“.
Hier stellt sich die Frage, womit hängt diese Entwick-
lung zusammen – mit der Technik von heute, den Men-
schen, ihren Psychodynamiken oder der Philosophie?
Folgende gesellschaft liche Entwicklungen, die ich im fol-
genden näher ausführen werde, habe ich im Zusammen-
hang damit beobachtet:
Die Veränderungen der Kommunikationsstrukturen
in unserer Zeit verlaufen rasend schnell, fast versteckt
und vor allem unter der Oberfl äche des (öff entlichen) Be-
wusstseins. Diese Entwicklung ist dem technischen Fort-
schrittes dreier Megatrends geschuldet:
google mit Wikipedia
Der schnelle Zugriff auf Wissen über das Internet sowie
die Demokratisierung des Zuganges zu Informationen
verführt zu einer Ansammlung von zahlreichen Einzel-
fakten, verbunden mit dem trügerischen Gefühl, (all)wis-
send zu sein. Es fehlt jedoch oftmals der philosophische
Verstehenshorizont als Grundlage, auf dem Einzelfakten
einzuordnen sind und der notwendige Prozess, Informati-
onen über Nachdenken zur eigenen Erkenntnis und zum
Wissen zusammenzufügen – die intellektuelle Bildung
wird durch intellektuelles Fastfood ersetzt.
iPhone und iPad in Zusammenhang mit derdrahtlosen Telekommunikation
Mit der Entwicklung dieser beiden Kommunikations-
geräte gelang es dem verblichenen Applechef Steve Jobs,
seine Vision der Medien nachhaltig umzusetzen. Diese
Geräte haben dadurch einen stark suchtfördernden Cha-
rakter, indem sie einfach zu bedienen und einfach in den
Alltag einzubinden sind. Zudem vermitteln sie dem Be-
nutzer das Gefühl, cool und im Trend der Zeit zu sein. Die
Konsequenz dieses Trends ist, dass ein maßgeblicher
Teil des Denkens auf ein Werkzeug verlagert wird, was
wiederum – vergleichbar mit der Erfindung des Buch-
drucks – einen weiteren technischen Quantensprung in
der Entwicklung der Informationsverarbeitung darstellt.
Soziale Netzwerke wie facebook und andere
Die Tatsache, ohne sich zu bewegen mit fast der ganzen
Welt verbunden zu sein, erzeugt in dem Einzelnen ein
Pseudo-Lebensgefühl – nämlich geliebt, geborgen, geach-
tet, nützlich, wichtig etc. zu sein. Bleiben soziale Interak-
tionen jedoch auf den Mausklick beschränkt und beste-
hen keine weiteren realen Kontakte bzw. die Möglichkeit,
echte d. h. auf Gegenseitigkeit angelegte Beziehungen zu
leben, besteht die Gefahr, einen ausgeprägten Narzissmus
und reinen Selbstbezug zu entwickeln. Dies zeigt sich
darin, dass diese Menschen jede noch so banale Kleinig-
keit aus ihrem Leben zu einem weltbewegenden Ereignis
hochstilisieren. Es ist faszinierend, diese Interaktionen
zu beobachten; sie laufen alle nach folgendem Muster
ab: „Stell dir vor, liebe Umwelt, ich bin wach geworden
und sage: Guten Morgen. Ich teile dies vielen, ob sie es
wollen oder nicht, mit – in der Absicht, herauszufinden,
was dann passiert.“ In der Vergangenheit schrieb man eine
Biographie im hohen Alter, weil man etwas erlebt hat und
dies für mitteilungswürdig hielt. Heute schreiben 17-jäh-
rige eine Biographie, damit sie etwas erleben. Kurzum:
das Internet ist zu einem psychosozialen Pseudo-Entwick-
lungsraum geworden.
Andere Megatrends wie die Globalisierung sind hier in
diesem Zusammenhang nicht zu berücksichtigen, da sie
nicht in der subjektiven, unmittelbaren und alltäglichen
Entscheidungsgewalt des Individuums liegen. Auch der
Eindruck einer ausschließlich negativen Bewertung der
neuen Techniken ist nicht berechtigt; diese neuen Medien
sind hilfreich, beinhalten aber unabhängig vom Reifungs-
zustand des Gehirns die Gefahr der einseitigen Organisa-
tion desselben mit visueller Vernetzung etc.
Ein gutes Beispiel hierfür ist, dass unser jüngster Enkel,
etwas über ein Jahr alt, Opa’s iPhone präzise bedient – und
das ohne Einweisung und obwohl er noch nicht einmal
sprechen kann. (Zuletzt eine sozialkritische Bemerkung:
diese Revolution der Kommunikation passt haargenau zur
VON DR .HERBERT SCHEIBLICH
Adam
Rad
osav
ljevi
c/ p
hoto
s.co
m
![Page 16: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/16.jpg)
16
Entwicklung einer postkapitalistischen Gesellschaft . Also
hatte Karl Marx mit seinem Kapital, ökonomisch betrach-
tet, kapital recht.) Schlussfolgernd könnte man also sagen:
Willkommen im Land der Internet-Hirnatrophie.
Als Psychiater und aus Sicht der Psychopathologie
stelle ich mir diesbezüglich die Frage, durch welchen
ICH-Aufbau und welche Persönlichkeitsstruktur dieser
Nivellierungsprozess gehemmt bzw. gefördert werden
kann. Die Antwort ist aus meiner Sicht bei der ICH-
Struktur recht einfach zu beantworten. Es ist egal, welche
Komplexität das ICH hat, ob es chaotisch, ambivalent
oder hochorganisiert ist, die Gefahr einer Abhängigkeit,
das Suchtpotential bei der Nutzung dieser Trends ist für
alle Menschen gleich ausgeprägt. Die Techniken sind
einfach zu erlernen, machen vieles bequemer, vieles kann
schnell erledigt werden. Da ein Großteil der Gesellschaft
die neuen Techniken bereits nutzt, entsteht aus diesem
kollektiven Verhalten eine Pseudosolidarität. Die Grund-
bedürfnisse des Individuums werden auf diese Art und
Weise voll befriedigt. Immer online zu sein ist cool und
hip, zudem entfällt die Mühe, sich mit anderen und sich
selber auseinandersetzen zu müssen.
Bei der Art der Persönlichkeit scheint das Bild diff e-
renzierter zu sein. In der vorletzten Ausgabe des Spiegels
(wohlgemerkt einem Druckerzeugnis, dessen Benut-
zung Denken erfordert, es kann heutzutage jedoch aber
auch als ePaper auf einem iPad gelesen werden) war der
Leitartikel den Stillen und Introvertierten im Land ge-
widmet. Das Fazit dieses Artikels bestand darin: Diese
Introvertierten werden in ihrer Effi zienz verkannt. Diese
Behauptung trifft sicherlich in einigen Bereichen zu,
aber dennoch unterscheiden sie sich in der Benutzung
der oben genannten Megatrends sicher nicht gravierend
von den anderen. Auch die Introvertierten von der heu-
tigen Weise der Kommunikation begeistert, es ermöglicht
ihnen schließlich, im Anonymen zu arbeiten, was wiede-
rum der Introversion entgegen kommt. Dies zeigt sich
zum Beispiel auch am Phänomen der Piratenpartei. Auch
wenn viele Menschen sich nicht bewusst mit den Inhalten
und politischen Zielen auseinandergesetzt haben, hielt
sie dieses Nichtwissen nicht davon ab, ihre Meinung dies-
bezüglich in den einschlägigen Medien wiederzugeben –
es chatteten, bloggten, gefälltmirten, skypten, facten und
twitterten Menschen, die ohne das digitale Medium in
der schweigenden Mehrheit auf- und untergingen.
Den Gegenpol zur Introversion stellt die Extraversion
in all ihren Facetten dar. Man gewinnt in der letzten Zeit
zunehmend den Eindruck, als sei das IT System gerade für
diese Personengruppe als Superplattform der Selbstdar-
stellung kreiert. Exaltierte Fernsehsendungen wie DSDS
(Doofe suchen den Superdeppen??) off erieren alle Spiel-
arten der Extroversion: Sensitive, Hysterische, Borderliner
und Narzissten. Imposant dabei ist der Innungsmeister der
Selbstinszenesetzer Dieter Bohlen. Der sogenannte „Pop-
titan“ brilliert mit Sprüchen, die an Menschenverachtung
und Arroganz schwer zu überbieten sind. Auch wenn
viele Menschen dieses Verhalten kritisieren und darüber
empört sind, bleibt doch insgeheim der Neid auf das dabei
verdiente Geld.(Hätten sie eine ähnliche Chance, würden
sie sicher genauso handeln wie Bohlen.)
TITELTHEMA
![Page 17: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/17.jpg)
17
Hiermit sind wir zum Kernproblem durchgestoßen:
die Megatrends sind vergleichbar mit Geld, unabhän-
gig von der Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen. Geld
korrumpiert über die Länge und Höhe des fi nanziellen
Angebotes. Es wird zum beherrschenden Motiv. Diese
psychische Bewegung bedeutet für den Nutzer immer das
Potenzial zur Einseitigkeit.
Zu allen Zeiten gab es Menschen mit psychischen Pro-
blemen. Die Organisation des gesellschaft lichen Lebens
erhöht die Möglichkeiten zum Ausleben dieser psychi-
schen Probleme: der junge Mensch entwickelt sich unter-
optimal, der Erwachsene wird neurotisch, der Gestörte
steigert sich ins Extrem.
Zusammenfassend sind die Gesellschaft und damit der
Einzelne primär nicht durch Persönlichkeitsgestörte oder
gefährliche Techniken gefährdet, sondern durch das Para-
doxon einer riesigen Freiheit der Wahlmöglichkeiten und
einem fehlenden Maßstab, einer Mitte. Anders formu-
liert: alle sind verschieden, aber doch gleich. Willkommen
im Club der Egoisten.
Aus Sicht des Th eologen spekuliere ich, welche Persönlich-
keit JESUS hatte und ob er ein iPhone zur Organisation
seiner Jünger oder ein iPad zur Verkündigung genutzt hätte?
Die Aussagen der Evangelien lassen oberfl ächlich wi-
dersprüchliche Schlussfolgerungen zu. War er ein Rebell
wie bei der Tempelreinigung, war er ein Träumer oder war
er depressiv?
Ich glaube, die Persönlichkeit des HERRn, ihre Psy-
chodynamik ist nicht zu beschreiben. Mit dieser Aussage
soll jedoch nicht legitimiert werden, sich ein Idealbild wie
in den zahlreichen Hollywoodproduktionen von JESUS
zu erschaff en: ein weißer junger Mann, Mitte 30, mit an-
drogynem Gesicht und wallenden blonden Haaren sowie
einem von überwältigender Liebe geprägten Blick (aus
blauen Augen selbstverständlich). Dies kann und darf da-
raus nicht abgeleitet werden.
Ich glaube der HERR war von seiner Persönlichkeit her
so konfi guriert, dass er ein Spiegelbild für jeden Mensch
war, in dem sich dieser wiederfand, sicher geborgen wert-
geschätzt und angenommen.
Warum ist dies so? Meine Erfahrung ist: JESUS hat
seine Mitte von GOTT, seinem Vater, und tat nur das, was
er beim Vater sah. Mit dieser konsequenten Abhängigkeit
von GOTT und dem damit verbundenen Maßstab war er
allen, die etwas von IHM erwarteten, ein Gegner, den es
zu bekämpfen galt.
Als Christen sind wir nicht in der Lage, eine ähnliche
Kommunikationsstruktur wie JESUS zu entwickeln, aber
wir sind befähigt, im Sinne GOTTES zu handeln. Dann
geht es uns aber ähnlich wie JESUS, dann sind wir anders,
dann sind wir revolutionär – und dies unabhängig von un-
serer Persönlichkeit. Dann sind wir also nicht Mitglied im
Club der Egoisten.
Für den alltäglichen Gebrauch umgesetzt bedeutet dies:
ICH habe eine Mitte;
Alles ist euer, ihr seid Christus 1. Kor. 3,23
die jeden Tag zu fi nden ist, damit ich lerne, unabhängig von mir selbst zu werden.
ICH habe den Maßstab:
Vieles ist nützlich, aber weniges erbaulich.
1. Kor. 10,23
mit dem ich verhindere, Techniken etc.einseitig zu nutzen.
Die entscheidende Antwort auf den oben genannten Zeit-
geist ist die Entscheidung zwischen einer ICH-Philoso-
phie oder privaten Th eologie, die sich z. B. in folgendem
Motto ausdrückt:
ICH MICH MEIN MIR,Gott segne diese vier,
oder der Solidaritätsphilosophie:
Wie ich auch bin, was ich mache, ich tue es im Namen des HERRnund nicht jeder schaue auf das Seine, sondern auf den anderen.
Dann sind unsere Persönlichkeiten mit den heutigen
Techniken ein Segen für andere.
ECHT SEIN IN EINER ZEIT DES SCHEINS
ÜBER DEN AUTORDr. Herbert Scheiblich ist Arzt für Psychiatrie,
Psychotherapie, Suchtmedizin, Verkehrs-
medizin, Ernährungsmedizin, Kinder- und
Jugendpsychotherapie und Lauftherapie.
Habilitation als Privatdozent und akademi-
scher Abschluss in evangelischer Theologie.
Psychotherapieausbildungen in Systemischer
Familientherapie, Individualpsychologie, Rational-Emotiver Thera-
pie und Logotherapie. Er wohnt in Altensteig.
Nade
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Bol
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![Page 18: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/18.jpg)
18
TITELTHEMA
Der Maßstab der Bibel
Die Grundfrage unseres Th emas ist, woher wir als Chris-
ten unsere Maßstäbe nehmen, woran wir uns bei unserem
staatsbürgerlichen Verhalten orientieren wollen. Ob wir
uns im „Second-hand-Verfahren“ ein paar Modemeinun-
gen zu eigen machen und unsere eigenen (Vor-)Urteile
mit einem frommen Lorbeerkranz versehen; ob wir uns
im „Do-it-yourself-Verfahren“ eine christliche Ideologie
zusammenbasteln und die Bibel zu einer losen Zitaten-
sammlung degradieren …
Wenn wir als Christen unser Verhalten gegenüber Staat
und Politik bestimmen wollen, dann fragen wir nicht zu-
erst nach unserer Meinung oder der anderer wohlmeinen-
der Zeitgenossen. Wir fragen nach dem Wort Gottes. Wir
fragen nach dem Willen Gottes und suchen ihn da, wo er
am eindeutigsten formuliert ist: in der Bibel.1
Und wir werden erkennen, dass die uralte biblische
Nachricht alles andere als von gestern ist. Sie hat zum
Beispiel den Christen in den deutschen Diktaturen der
jüngeren Geschichte Halt und Hoff nung gegeben und
ihnen geholfen, auf der Gratwanderung zwischen „Wider-
stand und Ergebung“ (Dietrich Bonhoeff er) zu leben.
Nicht unsere Meinungen, Erfahrungen und Möch-
tegern-Richtigkeiten sind Maßstab zur Urteilsbildung.
Für Christen ist die Bibel die Orientierungsmarke. In ihr
begründet sich die „Freiheit eines Christenmenschen“
(Martin Luther) gegen die von Papst Benedikt XVI. zu
recht beklagte „Diktatur des Relativismus“.
Unser Glaube baut weder auf Gefühlen noch auf from-
men Erlebnissen, weder auf visionären Privatoff enbarun-
gen noch auf ideologischen Zeitgeistanalysen. Christli-
cher Glaube basiert allein auf dem Fundament biblischer
Tatsachen. In seinem Wort sagt uns Gott, was er von uns
Freiheit ohne Ethik wird zur Willkür
Der Maßstab der Bibel auch für Staat und Gesellschaft
VON PETER HAHNE
Frei
heit
Ethik
BibeG
Je
Christen
Bibelspruch
IdeologieNachricht
Zeitgeistanalysen
Thema
OriZeitgenossenHandeln
Volk Realität
DiskussionenVerhalten
1 Zur aktuellen Gültigkeit der Bibel mehr in: Peter Hahne, Kein Grund zur Resignation, Verlag Johannis, Lahr
![Page 19: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/19.jpg)
19
ECHT SEIN IN EINER ZEIT DES SCHEINS
will. Und die geschieht meist eindeutiger, als es manchem
lieb ist. Auch und gerade zu unserem Th ema.
Wenn wir nach dem politischen Verhalten entschiede-
ner Christen fragen, müssen wir zunächst diese Grundent-
scheidung fällen: Orientierung gibt uns Gott in seinem
Wort. Die hilfl ose Frage ratloser Zeitgenossen: „Gibt es
eigentlich absolute, letztverbindliche Maßstäbe?“ ist für
Christen beantwortet: „Ich glaube, dass die Bibel allein
die Antwort auf alle unsere Fragen ist. Es bleibt also nichts
als die Entscheidung, ob wir dem Wort der Bibel trauen
wollen wie keinem anderen Wort“ (Bonhoeff er).
Nur die „Gebrauchsanweisung Gottes“ für Leben und
Welt macht lebensgemäßes Handeln möglich. „Wandelt
in allen Wegen, die euch der Herr, euer Gott, geboten
hat, damit ihr leben könnt und es euch wohlgeht …“
(5. Mose 5,33)
Th eodor Heuss, erster deutscher Bundespräsident,
zitierte in seiner Rede zum Amtsantritt 1949 das Bibel-
wort: „Gerechtigkeit erhöht ein Volk“ (Sprüche 14,34) –
dessen logische Fortsetzung lautet: „ … und Sünde ist der
Leute Verderben.“
Die Bibel ist der Maßstab. So selbstverständlich das
für Christen klingen mag, die Realität selbst frommer
Diskussionen sieht oft anders aus. Da werden vollmundig
in Stammtischmanier weltpolitische Problem gewälzt,
Zitate aus Zeitschrift en und Talkshows hin und her ge-
schoben und schließlich als Zuckerguss ein bisschen
biblische Garnitur beigegeben. So wird die Bibel zur Ver-
zierung unserer längst felsenfest zementierten politischen
Fundamente pervertiert.
Dies hat bis tief in christliche Kreise hinein zu einer
Totaldemontage der biblisch-politischen Ethik geführt.
Wo die Bibel sich herrschenden Modetrends anpassen soll,
ist schon alles verloren. In manchen Diskussionen kriegt
man zu viel von den Kanonaden modernen Pharisäertums,
wo einem ein wahrer Bibelspruch-Cocktail zur Rettung
ideologischer Visionen feilgeboten wird. „Die Bibel de-
gradiert zum Selbstbedienungsladen, zur frommen Über-
tünchung unserer selbst gemachten politischen Ideologie.
(Künneth). Man sucht sich eben das heraus, was einem
passt. Fein historisch-kritisch abgefeilt oder schwärme-
risch-utopisch aktualisiert. Aber auf jeden Fall selektiv aus
dem Zusammenhang gerissen. Jeder nach seiner Fasson.
Eine wahre Märtyrerin politischer Manipulation ist
die Bergpredigt geworden. Schwärmerisches Erbauungs-
buch für die einen, tagespolitisches Kampfi nstrument für
die anderen. Wir werden im Verlauf dieses Buches darauf
noch zu sprechen kommen.
lott
sus Maßstab
GesellschaftStaat
Politik
Diktaturen
Verhaltenentierung Le
ben
GerechtigkeitSünde
FundamenteTotaldemontage
WortWillkür
Manipulation
![Page 20: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/20.jpg)
20
Es ist schon erstaunlich, mit welcher Selbstgerechtig-
keit von theologischer Seite zu hören ist, Paulus hätte sein
staatsethisches Römerbriefk apitel 13 im „Atomzeitalter“
anders geschrieben. Dieselben Leute, die an der Berg-
predigt kein Jota geändert sehen wollen, spielen sich bei
den apostolischen Briefen zum Bibelzensor auf. Und die
Verwirrung, die die politisch-korrekte Bibeldemontage
durch ideologisch motivierte „Übersetzungen“ wie die
sogenannte „Bibel in gerechter Sprache“ ausgelöst hat,
spricht doch Bände.
Es stimmt: Alles steht und fällt an der Bibelfrage. Die
Dogmatik entscheidet die Ethik. Ist das Wort Gottes zum
Steinbruch exegetischer Willkür degradiert, wackelt alles
unter der Detonation theologischer Dilettanten. Deshalb
lautet die zentrale Frage: Wollen wir zuerst auf die Bibel
hören und dann unsere Meinung bilden, oder umgekehrt?
Und: Welche Bibel meinen wir denn überhaupt? Das von
unserer Kritik gnädig übrig gelassene Gerippe theologi-
scher Allgemeinplätze oder das ewig gültige Wort Gottes?
Ich jedenfalls möchte es – besonders in den heißen Debat-
ten um die politische Ethik – mit dem großen dänischen
Philosophen Sören Kierkegaard halten: „Nicht wir kriti-
sieren die Bibel; die Bibel kritisiert uns.“
Nicht von dieser Welt
Nehmen wir also die Bibel als gültige, verbindliche Richt-
schnur, so sind die Hauptsätze biblischer Staatsethik eine
einzige Provokation: „Jedermann sei untertan der Obrig-
keit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit
außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott
angeordnet.“ (Römer 13,1)
Kopfschütteln ist das Mindeste, glühende Antistim-
mung das Äußerste, was diesem Wort des Apostels Pau-
lus entgegenschlägt. Und doch ist und bleibt es einer der
Hauptsätze der Bibel in der Frage nach christlicher Ver-
antwortung für Staat und Politik, für Regierung und Par-
lament. Die Bibel spricht konkret zu konkreten Menschen
in ihrem konkreten Staat.
Aber bereits hier beginnt ja das Problem. Statt „Staat“
sagt man heute lieber „Gesellschaft “. Und das (biblische!)
Wort „Vaterland“ auszusprechen, gilt als verpönt. Es muss-
ten erst Ereignisse wie die Fußball-WM oder die Hand-
ball-WM kommen, damit wir erkennen, dass wir eine
Nationalhymne und eine Nationalfl agge haben. Endlich
kann uns das Ausland bestätigen, dass „die verklemmten
Deutschen in der Normalität eines unverkrampft en und
TITELTHEMA
VaterlandPatriotismus
StaatGesellschaft
![Page 21: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/21.jpg)
21
ECHT SEIN IN EINER ZEIT DES SCHEINS
fröhlichen Patriotismus angekommen sind“ (Neue Zür-
cher Zeitung). „Ein guter Patriot ist, wer sein Vaterland
liebt; Patriotismus ist etwas Gesundes. Das Fehlen von Pa-
triotismus würde zu einem neuen Nationalismus führen“,
so Paul Spiegel, langjähriger Präsident des Zentralrats der
Juden in Deutschland.
Wer darüber nicht off en und „unverkrampft “ (Roman
Herzog) redet, der überlässt diese Begriff e bewusst genau
den falschen Leuten, die (bis in deutsche Landtage hin-
ein) meinen, mit Parolen von vorgestern Politik für mor-
gen machen zu können. Patriotismus ist kein Sondergut
von Extremisten! Ganz zu schweigen von Begriff en wie
„Ordnung“ und „Obrigkeit“. Man gebraucht sie aber lie-
ber nicht, weil man nicht in den Verdacht kommen will,
nicht fortschrittlich genug zu sein. Dabei ist das „untertan
der Obrigkeit“, also der Gehorsam gegenüber staatlicher
Autorität und Ordnung, modern gesprochen nichts ande-
res als Loyalität.
Auch das andere darf man nur mit einem halben Dut-
zend Verklausulierungen sagen, dass Jesus Christus näm-
lich dem Vertreter damaliger Staatsgewalt entgegnete:
„Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ ( Johannes 18,36)
Die Herrschaft Gottes ist also nicht von dieser Welt. Die
Leute Gottes unterstehen in dieser Welt zwar den Ord-
nungen, Strukturen und Herren dieser Welt. Ihre Heimat
ist jedoch der Himmel, das ewige Reich des ewigen Gottes
(Philipper 3,20); und dennoch leben sie bewusst und ver-
antwortlich in dieser Welt. Sie sind nicht von dieser Welt,
aber in dieser Welt. Ihr Herr ist der lebendige Gott; und
dennoch stellen sie sich verantwortlich unter die von Gott
gesetzte Obrigkeit. Der frühere Bundespräsident Gustav
Heinemann brachte das auf die einprägsame Formel: „Die
Herren dieser Welt gehen. Unser Herr aber kommt.“
Wer diese Spannung nicht aushält, sollte die Finger von
unserem Th ema lassen. Schnelle Patentrezepte zu unserer
Frage hat die Bibel nicht parat. Sie nimmt uns hinein in
einen uns vielleicht ungewöhnlichen Prozess des Nach-
denkens. Modemeinungen werden wir dort nicht bestä-
tigt bekommen. Die biblische Erkenntnis zur Frage von
Staat und Politik ist unpopulär. Aber ohne sie bleibt unser
Reden über die politische Verantwortung des Christen
bodenloses Gerede – nämlich ein Gerede, dem der Bo-
den, das Fundament, entzogen ist. Wir aber wollen auf die
Bibel hören. Die Rede Gottes ist uns Orientierung gegen
alles Gerede dieser Welt. Sie gibt uns Menschen Maß und
Mitte.
Orientierung
VerantwortungBibelOffenbarung
Gott
Foto
s: A
lison
Cor
nfor
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athe
son/
thin
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om
![Page 22: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/22.jpg)
22
Die verbindliche Orientierung christlichen Lebens an
der Off enbarung Gottes legt auch den letztlichen Bestim-
mungsort und Bezugspunkt fest. Christen sind demnach
nicht in erster Linie durch ihre Nationalität, ihr soziales
Umfeld oder die Staatsform ihres Landes geprägt, sondern
durch die Herrschaft Gottes über ihr Leben. Nicht ihr ei-
genes Urteilen, Werten und Wählen ist das Entscheidende,
auch nicht ihr eigenes Interesse oder das ihrer Gruppe,
sondern der Wille Gottes. Das hat die Konsequenz, dass
politisches Handeln von Christen vom Unpolitischen her
bestimmt wird. Dadurch wird politisches Engagement
von Christen erst christlich, dass die Motivation dazu
nicht menschengemachte Ideologie, sondern gottgesetz-
ter Maßstab ist.
Erst so sind die christlich geprägten Widerstandskämp-
fer des Dritten Reiches wie die Grafen Stauff enberg und
Moltke, wie Goerdeler oder Gerstenmaier zu verstehen.
Der Aufstand für die Würde des Menschen führte in die
Verschwörung. Viele verloren das eigene Leben, weil sie
das Leben anderer retten wollten. Glaubenskraft war ihre
Energiequelle. Mit Bonhoeff er sahen sie sich gedrängt
„dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“. Sie sahen es
als Schuld an, wären sie untätig geblieben, wo sie um der
Nächsten willen hätten handeln müssen. Von diesem (un-
politischen) Standpunkt aus taten sie einen politischen
Dienst.
„Nur wenn der Christ für seine Rechtfertigung vor
Gott und für die Heiligung seines Lebens keinen anderen
Weg sucht als den über Jesus Christus, kann von einem
politischen Dienst der Kirche und von der Weltaufgabe
des Christen Recht geredet werden.“ (Ex-EKD-Vizeprä-
sident Erwin Wilkens). Als bekennender, aktiver Christ
meinte der langjährige Bundesminister Werner Dollin-
ger: „Für mich ist die klare, christliche Auff assung, der
christliche Glaube, entscheidende Voraussetzung für die
Gewinnung eines festen Standpunktes im Leben, auch in
der politischen Arbeit.“
Diese Grundhaltung wirft übrigens auch ein völlig
neues Licht auf die Behauptung, Politik sei ein „schmut-
ziges Geschäft “. Denn Christen gehen doch mit völlig an-
derer Motivation an ihr jeweiliges, in der gefallenen Welt
eben nicht vollkommenes „Geschäft “. Sie sind Realisten,
indem sie die Vorläufi gkeit politischen Engagements in
ihre Rechnung einkalkulieren. Das bewahrt vor Ideolo-
gisierung und Verabsolutierung, vor Fanatisierung und
Kreuzzugsdenken.
Es sollte uns aber auch vor dem dummen Gerede von
„kleineren Übel“ bewahren, was eine Beleidigung all
derer ist, die sich in politischen Ämtern und Funktio-
nen bewähren. „Politik ist ein Feld der Sünde, wie alles
Leben, solange es nicht bekehrt ist. Politisches Handeln
der Christen kann also nur ein Handeln sein, dass aus der
Bekehrung kommt. Von politischem Handeln der Chris-
ten kann nur insofern programmatisch die Rede sein, als
es wie alles christliche Handeln aus der Buße kommt“
(Wolfh art Schlichting).
Von daher ist es keine fromme Weltflucht, sondern
biblische Weltgewandtheit, wenn der Tübinger Univer-
salgelehrte Karl Heim schreibt: „All unser soziales und
politisches Arbeiten ist ein nervöses Hasten und Jagen,
das innerlich zermürbt, wenn nicht jeder von uns jeden
Morgen aus der Versöhnung mit Gott kommt und von
daher ans Werk geht.“
Praktisch wird dies zum Beispiel in der weltweiten
parlamentarischen Gebetsfrühstücks-Bewegung, die ih-
ren Anfang (und nach wie vor jährlichen Höhepunkt)
im „National Prayer Breakfast“ in Washington hat. Im
Deutschen Bundestag, in den Landtagen, verschiedenen
Großstädten oder unter der Schweizer Bundeskuppel
treff en sich regelmäßig christliche Politiker quer durch
die Parteien zu Andacht und Gebet sowie zu informellen
Abenden unter dem Motto „In Verantwortung vor Gott
und den Menschen“ (Präambel des Grundgesetzes). Der
pietistisch geprägte Vorsitzende der CDU-Fraktion im
Sächsischen Landtag, Dr. Fritz Hähle, beginnt seit der
Wiedervereinigung jede Fraktionssitzung mit Losung und
Lehrtext der Herrnhuter Brüdergemeinde, verliest Bibel-
wort und Gebet jedoch vor Eintritt in die Tagesordnung.
Luther und seine „Zwei-Reiche-Lehre“ hätten ihre Freude
daran!
TITELTHEMA
Peter Hahne ist Diplomtheologe, Hörfunk-
moderator, Fernseh- und Buchautor. Arbeitet
in der Hauptredaktion „Aktuelles“ des ZDF,
wo er als Moderator und Redakteur des
„heute-journal“ und der Nachrichtensendung
„heute“ tätig ist. Hahne ist stellvertretender
Leiter des ZDF-Hauptstadtstudios in Berlin,
außerdem Kolumnist der Bild am Sonntag. Bis Oktober 2009 Mit-
glied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Genehmigter Abdruck aus
dem Buch: Hahne, Peter:
Suchet der Stadt Bestes.
Werte wagen – für Politik
und Gesellschaft .
Lahr: Verlag Johannis,
5. Aufl. 2008; S. 12 – 24
ÜBER DEN AUTORf
![Page 23: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/23.jpg)
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ZUR DISKUSSION
Die hier getroffenen Aussagenspiegeln nicht zwangsläufi g dieMeinung der Redaktion wider.
Ihre Meinung ist gefragt.Antworten Sie uns anE-Mail: [email protected]
Von der Entweltlichung der KircheDie vieldiskutierte Papstrede von Freiburg –
Versuch einer Interpretation1
VON WINFRIED HAHN
Ein Weg zu lebendigem, sinnerfüllten und gesundem Glauben
Auf seiner Deutschlandreise im Jahr 2011 hielt der Papst in
Freiburg eine Rede, die für viel Gesprächsstoff sorgte. Eine aus-
führliche Beschäftigung mit den Ausführungen des Papstes an
dieser Stelle bedeutet keine theologische Stellungnahme für
oder gegen das Papsttum an sich. Vielmehr beinhaltet diese
Rede unabhängig aller konfessioneller Unterschiede grund-
sätzliche Aussagen bezüglich eines lebendigen und gesun-
den Glaubens, so dass eine Auseinandersetzung mit diesen
Gedanken sehr gewinnbringend erscheint. Unserer überkonfes-
sionellen Ausrichtung folgend ist es uns ein Anliegen, diese
wertvollen Impulse aufzugreifen und weiterzuentwickeln.
Was hat er bloß damit gemeint? Die Kirche
sollte sich entweltlichen. Hunderte von Jour-
nalisten und Tausende von Gläubigen rätsel-
ten monatelang – die Kommentare vieler Zeitschriften
beschäftigten sich intensiv mit dieser Frage, das Internet
ist bis heute voll davon. Aber was hat er denn tatsächlich
und in welchem Zusammenhang gesagt?
So wie ich seine Aussagen verstehe, geht es dem Papst
nicht primär um Äußerlichkeiten oder Modernisierung
oder Strukturveränderungen wie die viel diskutierte Ab-
schaffung oder Beibehaltung der Kirchensteuer etc.. Ihm
geht es um die Sendung der Kirche, die die Botschaft von
der Erlösung in der Welt zu bezeugen hat.
1 Originaltitel der Rede: „Begegnung mit engagierten Katholiken aus Kirche und Gesellschaft “
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Diese Botschaft kann nur durch eine enge persönliche Be-
ziehung zu Jesus Christus, also durch einen persönlichen,
engagierten und gesunden Glauben weiterverbreitet wer-
den. Diese Aspekte spielen auch in seinen Büchern eine
zentrale Rolle und werden deshalb über Konfessionsgren-
zen hinweg sehr geschätzt. Nachfolgend möchte ich drei
für mich wichtige Kernaussagen anhand von Zitaten aus
dieser Rede herausstellen.2
1. Die christliche Botschaft ist Sendung und Skandal zugleich
„Der christliche Glaube ist für den Menschen allezeit,
nicht erst in unserer Zeit, ein Skandal. Dass der ewige
Gott sich um uns Menschen kümmern, uns kennen
soll, dass der Unfassbare zu einer bestimmten Zeit
fassbar geworden sein soll, dass der Unsterbliche am
Kreuz gelitten haben und gestorben sein soll, dass uns
Sterblichen Auferweckung und Ewiges Leben verhei-
ßen ist – das zu glauben ist nun einmal für uns Men-
schen eine Zumutung. …“
„Die Sendung gründet in der persönlichen Erfahrung:
„Ihr seid meine Zeugen“ (Lk 24,48); sie kommt zum
Ausdruck in Beziehungen: „Macht alle Menschen zu
meinen Jüngern“ (Mt 28,19); und sie gibt eine uni-
versale Botschaft weiter. „Verkündet das Evangelium
allen Geschöpfen“ (Mk 16,15).“ …
„Zum Christusgeschehen gehört das Unfassbare, dass
es – wie die Kirchenväter sagen – ein commercium, ei-
nen Tausch zwischen Gott und den Menschen gibt, in
dem beide – wenn auch auf ganz verschiedene Weise
– Gebende und Nehmende, Schenkende und Emp-
fangende sind.“ …
„ … Zugleich ist dem Menschen klar, dass dieser
Tausch nur dank der Großmut Gottes möglich ist,
der die Armut des Bettlers als Reichtum annimmt,
um das göttliche Geschenk erträglich zu machen,
dem der Mensch nichts Gleichwertiges zu bieten ver-
mag.“ …
Kommentar: Die Botschaft von der Erlösungsbedürftigkeit
des Menschen durch den Erlösungstod Jesu ist für den mo-
dernen Menschen in seinem humanistischen Autonomie-
und Selbstwertsteigerungsstreben kränkend, unannehmbar
und skandalös. Aber sie ist und bleibt das Kernstück der
christlichen Botschaft und darf nicht verwässert werden.
Auch wenn es dem modernen Menschen schwer fällt, sich
als Sünder zu erkennen und seine Erlösungsbedürftigkeit zu
akzeptieren, ist es Aufgabe der Christen, diese unbequemen
Wahrheiten zu verkündigen.
Die Erkenntnis von der Erlösungsbedürftigkeit des Men-
schen bewirkt Raum für Ehrlichkeit, weil er seine dunklen
und verletzten Seiten nicht länger verstecken muss. Da wo
der Mensch es sich eingestehen darf, ich kann aus mir selbst
heraus nicht „edel, hilfreich und gut sein“ ( frei zitiert nach
Goethe), auch in meinem Leben gibt es Versagen, auch ich
habe meine dunklen Seiten, da entsteht der Freiraum, ehr-
lich über sich selbst sprechen zu können ohne mühsam den
Anspruch erheben zu müssen, erfolgreich, stark und mora-
lisch hochstehend zu sein.
Das Skandalon, das Ärgernis, der Erlösungsbedürftigkeit
befreit den Menschen von dem Druck, eine glänzende Fas-
sade aufrecht erhalten zu müssen und gibt ihm den Mut,
ehrlich und damit echt zu werden. Echtheit und damit
Selbstfindung ist eine wichtige Voraussetzung für seelische
Gesundheit. Sie wird gefördert durch die Liebe Gottes, der
sich uns Menschen in seiner grenzenlosen Liebe zuwendet
und uns immer wieder die Chance für einen Neuanfang
gibt. Da wo der Mensch die Kränkung seines Stolzes zulässt,
um sich ehrlich einzugestehen, auch ich brauche Barmher-
zigkeit, Nachsicht, Vergebung, da entsteht die Grundlage
für psychische Heilungsprozesse. Es ist gut, wenn wir als
Christen, egal zu welcher Konfession wir gehören, an diesem
Punkt dem Zeitgeist widersprechen und bekennen: Ja, wir
Menschen sind erlösungsbedürftig und schaffen es nicht aus
ZUR DISKUSSION
2 Es lohnt sich, diese Rede im Gesamtzusammenhang zu lesen. An dieser Stelle können nur einzelne Kernpunkte widergegeben und kommentiert werden. Man fi ndet sie unter
www.papst-in-deutschland.de
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eigener Kraft, uns positiv zu verändern. Wir brauchen im-
mer wieder die Vergebung, immer wieder die Chance zum
Neuanfang. Nur so können sich Menschen als gesunde Per-
sönlichkeiten entwickeln. Eine wichtige Botschaft in einer
Zeit, in der der Schein mehr gilt als das Sein.
2. Entweltlichung
„Durch Ansprüche und Sachzwänge der Welt wird
aber immer wieder das Zeugnis verdunkelt, werden
die Beziehungen entfremdet und wird die Botschaft
relativiert. … Um ihre Sendung zu verwirklichen, wird
sie immer wieder auf Distanz zu ihrer Umgebung
gehen, sie hat sich gewissermaßen zu entweltlichen.“ …
„Um so mehr ist es wieder an der Zeit, die wahre Ent-
weltlichung zu finden, die Weltlichkeit der Kirche
beherzt abzulegen. Das heißt nicht, sich aus der Welt
zurückzuziehen. Eine vom Weltlichen entlastete Kir-
che vermag gerade auch im sozial-karitativen Bereich
den Menschen, den Leidenden wie ihren Helfern, die
besondere Lebenskraft des christlichen Glaubens ver-
mitteln.“ …
„Allerdings haben sich auch die karitativen Werke der
Kirche immer neu dem Anspruch einer angemessenen
Entweltlichung zu stellen, sollen ihr nicht angesichts
der zunehmenden Entkirchlichung ihre Wurzeln ver-
trocknen. Nur die tiefe Beziehung zu Gott ermöglicht
eine vollwertige Zuwendung zum Mitmenschen, so
wie ohne Zuwendung zum Nächsten die Gottesbezie-
hung verkümmert.“ …
Kommentar: Die Christenheit kann nur Licht und Salz
hier in der Welt sein, wenn sie sich vor jeder Form von
Verweltlichung schützt und da, wo es nötig ist, sich wieder
entweltlicht. Der christliche Glaube wird nicht dadurch
attraktiv, dass er sich dem modern denkenden Menschen
anpasst, sondern unser Glaube gewinnt seine Überzeu-
gungsfähigkeit dadurch, dass wir aus den Quellen des ewig
gültigen Wortes Gottes, des heiligen Geistes und der inne-
ren Begegnung mit Gott Kraft und Orientierung gewinnen
und so die Liebe Gottes in die Welt hineinströmen lassen.
Unsere heutige Zeit ist geprägt von einem starken Hang zur
Oberflächlichkeit. Schönheit (Körperkult ist in), Erfolg und
Karrierestreben sind die Ziele vieler Menschen. Aber Geld,
Ansehen und Konsumgüter stillen die inneren Bedürfnisse
des Menschen nicht. Diese Welt mit all ihren Zielen lässt den
Menschen in seinem Innersten leer. Jeder Mensch braucht
Antworten auf Fragen wie diese: Welchen Sinn hat mein
Leben, welche Ziele, die über meine materielle Existenz-
sicherung hinausgehen, beschäftigen und leiten mich? Wer
die Sinnfrage für sein Leben beantworten kann, fördert
seine seelische Gesundheit. Schon C. G. Jung, Viktor Frankl,
Aaron Antonovsky und viele andere erkannten die Bedeu-
tung von Religion und Lebenssinn für die psychische Ge-
sundheit des Menschen. Deshalb ist für die Verkündigung
der Kirchen von entscheidender Bedeutung, sich nicht nur
gesellschaftlich relevanter Themen zuzuwenden, so wichtig
Fragen der sozialen Gerechtigkeit, des Weltfriedens, des Um-
weltschutzes etc. auch sein mögen. Wie gesagt, es handelt sich
dabei um wichtige Themen, die auch im Bereich der Kirchen
ihren Platz und ihre Bedeutung haben. Allerdings besteht
der Auftrag primär in der Verkündigung von Wahrheiten,
die das Seelenheil der Menschen betreffen. Mein Reich ist
nicht von dieser Welt, hat unser Herr gesagt. Es ist wichtig,
dass wir Christen eine Botschaft verkündigen, die ihre Wur-
zeln nicht im Diesseits hat, sondern in der Begegnung mit
dem lebendigen Gott. Nur von Ihm inspirierte Worte stillen
den Hunger der Seele und sind heilend für die Psyche des
Menschen.
Nur wenn wir Christen in diesem Sinn entweltlicht sind,
weil wir nicht aus diesseitigen, zeitgeistbedingten, sondern
aus ewigen Quellen schöpfen, haben wir eine Botschaft für
diese Welt voller Hoffnung und lebensspendender Kraft. Ent-
weltlichung hat nichts mit frommer Weltfremdheit zu tun,
sondern mit vollem Einsatz für die Nöte dieser Welt, eben
wie Jesus schon sagte: In der Welt, aber nicht von der Welt.
3. Nicht Institutionalisierung und formaler Glaube, sondern Innerlichkeit
Nur durch diese klare Standortbeziehung nicht von
der Welt, aber in der Welt zu sein, und in tiefer und
inniger Gemeinschaft mit Gott kann die Kirche ih-
rer Sendung, nämlich die sich verströmende Liebe
Gottes zu empfangen und weiterzugeben, gerecht
werden. Allerdings sei es im Verlauf der Kirchen-
geschichte immer wieder zu Tendenzen gekommen ...
„ … dass nämlich die Kirche sich in dieser Welt ein-
richtet, selbstgenügsam wird und sich den Maßstäben
der Welt angleicht. Sie gibt Organisation und Insti-
tutionalisierung größeres Gewicht als ihrer Berufung
zur Offenheit. Um ihrem eigentlichen Auftrag zu
genügen, muss die Kirche die Anstrengung unterneh-
men, sich von der Weltlichkeit der Welt zu lösen.“
ZUR DISKUSSIONIch denke, dass...
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ZUR DISKUSSION
ÜBER DEN AUTORWinfried Hahn, ist Pastor und Pädagoge.
Der Vater von zwei erwachsenen Kindern,
Damaris und Daniel, studierte Pädagogik, war
Pastor in mehreren freikirchlichen Gemeinden
und machte eine Ausbildung zum Christlichen
Therapeuten.
Heute leitet er das de’ignis-Wohnheim –
Haus Tabor zur außerklinischen psychiatrischen Betreuung und
ist Vorsitzender der Christlichen Stiftung de’ignis-Polen.
Als Pastor im übergemeindlichen Dienst und Buchautor hält er
Predigten, Vorträge und Seminare im In- und Ausland.
Auf diese Weise träte das missionarische Zeugnis der ent-
weltlichten Kirche klarer zutage.
„Die von ihrer materiellen und politischen Last be-
freite Kirche kann sich besser auf wahrhaft christliche
Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen
sein. Sie kann ihre Berufung zum Dienst der Anbe-
tung Gottes und zum Dienst des Nächsten wieder
unbefangener leben.“
Dabei gehe es nicht um eine Taktik, um der Kirche
wieder Geltung zu verschaffen. „Vielmehr geht es,
jede bloße Taktik abzulegen und nach der totalen
Redlichkeit zu suchen … , indem sie das von ihm ab-
streift, was nur scheinbar Glaube, in Wahrheit aber
Konvention und Gewohnheiten sind.“
Das bedeutet, es geht ihm nicht darum, „ … die Men-
schen für eine Institution mit eigenen Machtansprü-
chen zu gewinnen…“.
Die Kirche soll durch die innere Begegnung mit Chris-
tus zu sich selbst und ihrer missionarischen Pflicht und
christlichen Anbetung finden. Dies bedeute eine Verin-
nerlichung des Glaubens, von der Augustinus sagte: „Er
ist mir innerlicher als ich mir selbst (vgl. Conf. 3,6,11).
Er, der unendlich über mir ist, ist doch so in mir, dass er
meine wahre Innerlichkeit ist.“
Dadurch entstehe eine Art von Weltoffenheit, die den
Einzelnen befähige, in die Welt hineinzuwirken, ohne
von ihr vereinnahmt zu sein.
Kommentar: Der Papst bringt zum Ausdruck, dass es nicht
darum gehen darf, Menschen für eine Institution und deren
Interessen zu gewinnen, sondern um die Christusbegegnung
im Herzen der Menschen. Dies sei keine neue Taktik, um
der Kirche wieder Geltung zu verschaffen, sondern es gehe
um totale Redlichkeit. Man sieht sehr deutlich, dass hier die
Kirchengeschichte selbstkritisch durchleuchtet und frühere
Fehlentwicklungen erkannt und ehrlich reflektiert wurden.
Ein Prozess, der wichtig für alle Kirchen und auch Freikir-
chen ist, um Fehlentwicklungen, theologischen Einseitigkei-
ten und die oftmals unbemerkte Institutionalisierung wahr-
zunehmen. Wenn Kirchen nicht mehr in Bewegung sind
und in Stagnation geraten, ist das häufig ein Indiz dafür,
dass formale Denkweisen und institutionelle Eigendynamik
das eigentliche Leben verdrängen.
So kann man in vielen Gemeinden und Bewegungen eine
Institutionalisierung beobachten, die einer ehrlichen „Inner-
lichkeit“ im Wege steht.
Schon C. G. Jung hat in seiner Schrift „Religion und Psy-
chologie“ darauf hingewiesen, dass der Glaube nur dann
eine persönlichkeitsfördernde Wirkung hat, wenn er verin-
nerlicht ist. Äußere Formen, religiöse Rituale, Traditionen,
in denen der Glaube formal erstarrt, könnten den Menschen
zwar stabilisieren, stünden aber einer tiefen, lebendigen
Gottesbeziehung eher im Wege. Mit seinen Ausführungen
über Redlichkeit und Innerlichkeit spricht der Papst die Ge-
fahr an, dass Lehrmeinungen zum Selbstzweck werden kön-
nen und damit letztlich zu einem formalen Glauben führen,
der nicht lebendig ist. Echter Glaube lebt aus der Christus-
begegnung. Er lebt davon, dass wir immer wieder neu im
Inneren ergriffen und berührt werden von der lebensspen-
denden Liebe Gottes, die sich in uns hineinverströmt und
von uns ausfließt in die Welt. Nur so wird der Glaube zu
einer Quelle echten inneren Lebens mit seiner erfrischenden
und heilenden Wirkung auf Geist, Seele und Leib. Auf diese
Weise wird auch das karitative und soziale Engagement
der Kirchen und Gemeinden ein lebendiger Ausdruck der
Liebe Christi. Letztlich geht es um die Erkenntnis, dass nicht
Institutionen und Kirchen helfen können, so notwendig sie
als Organisationsstrukturen auch sein mögen, sondern Men-
schen mit brennenden Herzen aus denen die Liebe Christi
strömt.
Soweit meine Interpretation dieser bemerkenswerten
Rede, die in aller Kürze mit prägnanten Worten viele
grundsätzliche Aussagen über einen lebendigen Glauben
sowie die psychische Gesundheit enthält.
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27
ECHT SEIN IN EINER ZEIT DES SCHEINS
Die Aufgabe der Kirche in einer sich
verändernden Gesellschaft
VON DR . GERHARD MAIER , LANDESBISCHOF I.R .
Eine alte Anekdote erzählt von einem gläubigen
Mann, der sein Abendgebet sprach. Ein neu-
gieriger Reisegenosse wollte wissen, was dieser
Gläubige denn so alles in seinem Gebet ausdrü-
cken würde, und hörte ihn dann laut und vernehmlich nur
einen einzigen Satz beten: „Lieber Herr, es bleibt dabei“.
„Es bleibt dabei“. Das ist das Erste, was man über den Auf-
trag der Kirche auch in der heutigen Gesellschaft sagen
muss. Gegenüber allen Veränderungsbesessenen erklärt
2. Johannes 9 sehr kühl: „Jeder, der darüber hinausgeht
(pro-agon = „progressiv ist“) und bleibt nicht in der
Lehre Christi, der hat Gott nicht. Adolf Schlatter schreibt
dazu in seinen Erläuterungen: „Die stolzen Geister gehen
aber ihren eigenen Weg, laufen ohne seine Führung nach
den Gedanken ihres eigenen Herzens voran und sind
stark und weise, um sich selbst zu führen“. Das Bleiben am
Auft rag Jesu inmitten aller Stürme und Bewegungen der
Gegenwart ist also unser entscheidender Anker.
Das heißt ganz praktisch: Wir bleiben dem „Great
Commandment“ des Auferstandenen in Matthäus 28,19
treu: „Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker“. Die
Kirche ist also nicht in erster Linie ein netter Dialogpart-
ner, sondern eine Gemeinschaft von Menschen, die alle
anderen Menschen für das Himmelreich und deshalb als
Nachfolger Jesu werben wollen. Je mehr die Gesellschaft
sich verändert und das heißt doch auch: über sich selbst
unsicher wird, desto wichtiger wird ein nachhaltiges, ver-
lässliches Zeugnis. Nicht das Mitschwimmen macht die
Kirche interessant, sondern das Angebot eines Ufers (vgl.
Joh. 21,4).SVLu
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28
Weiter bedeutet das Bleiben im obigen Sinn: Wir
lassen uns weiterhin die Liebe untereinander schenken
( Joh 13,34 – 35). Es wird ein Zeichen der Endzeit sein,
wenn diese Liebe untereinander erkaltet (Mt. 24,12). Wir
können einander nicht immer verstehen, aber einander
immer lieben. Sicher geschieht christliche Liebe oft als
Ermahnen, als Ablehnung mancher Wege, als Leiden am
anderen. Aber der tragende Grund muss spürbar bleiben,
nämlich, die Verbindung mit Jesus und die Abhängigkeit
von unserem Erlöser. Das bedeutet natürlich, dass wir als
Christen eine Kontrast-Gesellschaft gegenüber der übri-
gen Gesellschaft bilden.
Eine bleibende, zentrale Aufgabe liegt im Gebet. Das
wird ganz stark in Apg. 2,42 herausgestellt: „Sie blieben
aber beständig im Gebet“. Wir werden entweder eine be-
tende Kirche sein oder nur noch das schwache Abbild
einer Kirche. In Korea beeindruckten mich die „Gebets-
berge“: einfache Hütten auf irgendwelchen Bergen, in
die einzelne Christen sich tagelang zurückzogen, um sich
ganz dem Gebet widmen zu können. Wir brauchen eine
Art von „Gebetsbergen“ mitten in einer sich verändern-
den und immer schneller rotierenden Welt. Dabei geht es
um beide Möglichkeiten des Gebets: das einsame Gebet
(= unter vier Augen mit Gott) und das gemeinsame Ge-
bet mit anderen zusammen. Deshalb sind Gebetskreise,
Gebetsbünde, Gebetszeiten heute schon so wichtig. Hin-
zu kommt ein Faktor, der uns erst in letzter Zeit richtig
bewusst wird: Wir werden weltweit immer mehr zu einer
verfolgten Kirche. Und gerade für die verfolgte Kirche
gelten die wichtigen Gebetsanweisungen Jesu in der Berg-
predigt (Mt. 5,43ff ; 6,5ff ; 7,7ff ).
Es wird aber auch an der Kirche selbst zu Verände-
rungen kommen. Sie sind äußerst schwer vorauszusehen,
obwohl ein Heer von Experten um uns herumschwärmt,
die alle wissen wollen, was da auf uns zukommt. Für falsch
halte ich es, wenn die Kirche in einer Art „vorauseilen-
dem Gehorsam“ gegenüber angeblichen Entwicklungen
von sich aus Positionen räumt. Sie sollte zum Beispiel
die besondere Stellung, die sie aufgrund der Geschichte
und durch opfervollen Einsatz vieler Glaubender in den
europäischen Staaten erhalten hat, nicht einfach von sich
aus wegwerfen. Sie sollte auch misstrauisch bleiben ih-
ren eigenen Zukunft sprognosen gegenüber. Wer von uns
weiß wirklich, was 2040/2050 sein wird? Die Führungen
Gottes erfolgen schrittweise und nicht en gros.
Eine sich verändernde Gesellschaft wird uns als Chris-
ten manche Türen zuschließen, berauscht von dem Ge-
danken, sie stünde über den Religionen. Sie wird uns aber
auch manche Türen öff nen, die bisher geschlossen waren.
Das gilt voraussichtlich für technische Entwicklungen,
für Medien, für neue Schichten von Menschen. Das gilt
vor allem angesichts der fast verzweifelten Suche nach
einer lohnenden Lebensperspektive, nach dem Ewigen,
nach der Wahrheit. Ich rechne damit, dass die Frage nach
dem Erlöser dringlicher wird. Wir können nichts Besseres
tun, als Menschen mit Jesus, diesem Erlöser, bekannt zu
machen.
ÜBER DEN AUTORDr. Gerhard Maier war von 2001 bis 2005
Landesbischof der Evangelischen Landes-
kirche in Württemberg. Er war Prälat in Ulm
und Studienleiter des Albrecht-Bengel-Hauses
in Tübingen. Außerdem ist er Autor vieler weg-
weisender Bücher und einschlägiger theologi-
scher Fachliteratur. Derzeit Gastprofessor an
der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel und an
der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Heverlee/Leuven (Belgien).
TITELTHEMA
![Page 29: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/29.jpg)
29
Vergebung der Sünden – Von der Rückkehr ins Wir
Eine Auslegung der zentralen Aussagen des Glaubensbe-
kenntnisses enthält heute so manche Herausforderung –
sicherlich für die, die sie entfalten, mehr wahrscheinlich
noch für die, die sie lesen. „Jungfrauengeburt“, „Auferste-
hung von den Toten“, „Kommen Jesu Christi, zu richten
die Lebenden und die Toten“ – da könnten wir anneh-
men, dass die Th emen des dritten Glaubensartikels zum
göttlichen Wirken in der menschlichen Gemeinschaft
und im Leben der Gläubigen leichter nachvollziehbar
sind: „Ich glaube an den Heiligen Geist … Vergebung der
Sünden!“ Doch gerade uns als neuzeitlichen Menschen
mag die Rede von „Sünde“ und „Vergebung“, so sehr sie
uns unmittelbar betrifft , noch fremder und schwieriger er-
scheinen als die Aussagen über Gott, den Vater, und über
seinen Sohn, Jesus Christus, über die Transzendenz und
die lange zurückreichende Heilsgeschichte.
Eine Frage des Menschenbildes Mit unserem neuzeitlichen Menschenbild ist die Proble-
matik von Sünde und Schuld bekanntermaßen nur schwer
zu verbinden, so dass wir den ganzen Fragenkomplex in
der Regel lieber ausblenden und – bis hinein in unsere
Predigten, Gespräche und Veröff entlichungen – eher um-
gehen. Wie viel vertrauter erscheint uns da das „humanis-
tische Menschenbild“, das den Menschen nicht auf seine
Schuld und Sünde anspricht, sonder ihn als grundsätzlich
gut und als prinzipiell lebens- und beziehungsfähig ver-
steht? Gewiss, auch hier wird von der Notwendigkeit der
menschlichen Entwicklung gesprochen, aber es geht um
die Entwicklung der grundsätzlich guten eigenen Anla-
gen, mit denen der Mensch auf die Welt kommt. Gewiss,
auch hier kommt zur Sprache, dass Menschen hinter ihren
moralischen, sozialen und vernünft igen Möglichkeiten
zurückbleiben mögen. Aber dies wird so gedeutet, dass sie
durch die Einfl üsse der sie bestimmenden Umgebung bis-
IMPULS
Gesunder GlaubeVom richtigen Umgang mit dem altmodisch klingenden,
aber immer noch aktuellen Phänomen Sünde
VON PROF. DR . HANS-JOACHIM ECKSTEIN
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![Page 30: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/30.jpg)
30
her an der Entfaltung ihrer eigenen Unmündigkeit gehal-
ten worden sind. Wird der Mensch „an sich“ und „selbst“
als grundsätzlich gut und zum Guten angelegt verstanden,
so gründen seine Fehlentwicklungen vor allem in den äu-
ßeren Umständen von Erziehung, Ausbildung und Gesell-
schaft , die ihn von seiner natürlichen Selbst-Entfaltung
bisher abgehalten haben. Von „Schuld und Versagen“ ist
in diesem Zusammenhang vielmehr in Hinsicht auf die
gesellschaft lichen Verhältnisse zu sprechen, die der eige-
nen Persönlichkeitsentwicklung und der Verwirklichung
des wahren „Selbst“ entgegenstehen.
Doch mag unsere Verlegenheit bei dem Th ema „Sünde
und Vergebung“ auch gerade durch das gegenteilige
traditionelle Menschenbild bestimmt sein, das sich im
Widerspruch und in Abgrenzung zur humanistischen
Sicht in kirchlichen und frömmigkeitsbestimmten Zu-
sammenhängen bis in die Gegenwart erhalten hat. Wenn
der Mensch im entgegengesetzten Extrem einseitig als
„Sünder“ in den Blick kommt, dessen „Dichten und
Trachten von Jugend auf böse ist“ (vgl. 1. Mose 8,21)
und der deshalb als grundsätzlich unzulänglich erscheint,
dann kann aus dem Gegenüber von Gott und Mensch ein
Dualismus von Gut und Böse, Licht und Finsternis, Kraft
und Schwachheit, Wahrheit und Lüge werden, der den
Menschen jeweils auf sein Unvermögen, seine Vergäng-
lichkeit und Schuld reduziert. Eine Erziehung in diesem
Geiste konnte es sich lange Zeit zum Ziel setzen, den Kin-
dern den angeborenen Geist der Aufl ehnung auszutreiben
und sie zur konsequenten Ein- und Unterordnung anzu-
halten. Unter der Voraussetzung, dass das „Selbst“ des
Menschen als das eigentliche Problem gesehen wurde,
lagen in der Unterwerfung des „Ich“ und in der „Selbst-
verleugnung“ die wahren Ziele der Persönlichkeitsent-
wicklung. Und wenn der eigene Wille und die Selbstän-
digkeit als Aufl ehnung verstanden wurden, dann galt es
als erklärtes pädagogisches Ziel, dem Kind „den Willen zu
brechen“ und es mit allen Mitteln – gegebenenfalls auch
mit Anwendung von körperlicher Züchtigung – zum Ge-
horsam gegenüber einem übergeordneten Willen anzu-
halten.
Aber auch dann, wenn wir uns weder als „frömmig-
keitsgeschädigt“ verstehen wollen noch auch als durch
humanistische Illusionen „verbildet“ entschuldigen mö-
gen, stellt sich bei dem Th ema „Schuld und Vergebung“
vielleicht ein gewisses Unbehagen ein. Auch in unseren
Freundeskreisen, Partnerschaft en und Familien kennen
wir den Widerspruch zwischen unserer vernünft igen Ein-
sicht in die Notwendigkeit von Problemgesprächen und
Auseinandersetzungen und der wirklichen Bereitschaft ,
die Einsicht auch zur Tat werden zu lassen. So mögen wir
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![Page 31: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/31.jpg)
31
auch zugeben, dass es sinnvoll und geboten ist, für eine
notwendige Zahnbehandlung den Zahnarzt aufzusu-
chen, und dennoch werden wir beim Verdrängen des an
sich Vernünft igen um Ausreden und Entschuldigungen
nicht verlegen sein. Freilich geht es bei unserem Th ema
um viel mehr als nur um ein einzelnes Problem, das einen
zeitweiligen Aufschub duldet. Denn das Verdrängen und
Verleugnen unserer grundsätzlichen Situation und Ver-
legenheit würde ganz umfassende und bleibende Folgen
haben. So wollen wir neu – und jenseits der skizzierten
möglichen Extreme – nach dem fragen, was ursprüng-
lich und eigentlich mit dem christlichen Bekenntnis zur
„Vergebung der Sünden“ gesagt und gemeint ist. Was
haben wir uns eigentlich und unter Rückbesinnung auf die
christlichen Quellen unter „Sünde“ vorzustellen? Worin
besteht ihr Wesen, ihre Faszination und Macht, und worin
gründet ihr Rätsel, ihre Täuschung und ihre unheilvolle
Wirkung? Worin besteht demgegenüber das Geheimnis
und die Kraft der Vergebung und wie verändert und er-
neuert sie nun das Verhältnis des Menschen zu Gott, zu
anderen Menschen und zu sich selbst?
Faszination und Enttäuschung der Sünde
Wenn Sünde Distanzierung von Gott bedeutet – und
wenn wir Gott als den Ursprung des Lebens und als den
Schöpfer und Geber der Liebe erkannt haben –, welchen
Sinn macht es dann noch, zu sündigen? – Gar keinen!
Es ist nicht sinnvoll, sondern geradezu absurd, wenn wir
Menschen das Gegenteil von dem tun, was wir eigentlich
wollen. Denn indem wir uns in unserem Streben nach
Glück und Erfüllung von Gott als unserem Leben und
unserer Liebe lösen, schaden wir uns selbst und anderen.
So ist es – wie wir sahen – das wesentliche Merkmal und
Erkennungszeichen jeder Sünde, dass sie von Gott trennt
und gelingendes Leben und echte Liebe verhindert, ge-
fährdet und zerstört.
Warum geht dann von der Sünde oft eine solche Fas-
zination aus, wenn sie doch in letzter Konsequenz für
unser Leben und Erleben abträglich ist? – Weil es die
Sünde, wenn sie attraktiv erscheinen will, vermeidet, ihr
Wesen und ihr Ziel zu off enbaren. Sie knüpft , wie einst
die Schlange im Gespräch mit Eva viel lieber an dem an,
was Gott der Schöpfer selbst ist und was er allein seinen
Geschöpfen geben kann (1. Mose 3,1–5; Röm 7,11). Sie
verspricht nicht etwa Tod, sondern Leben; sie wirbt nicht
mit Gottverlassenheit und Einsamkeit, sondern mit der
Gottgleichheit. Sie verrät dem naiven Menschen nicht,
dass er mit seiner Aufl ehnung gegen Gott unmittelbar in
die Abhängigkeit und Verblendung gelockt werden soll,
sondern sie gaukelt ihm Erkenntnis, Reife und Freiheit
vor.
Das ist aber doch Betrug! – Gewiss, und diesen Betrug
begeht die Sünde seit Beginn der Menschheit, seit Adam
und Eva, sehr erfolgreich (1. Mose 3,13; Röm 7,11).
Der Mensch, der sich von der Sünde verführen lässt, ist
insofern betrogen, als er aufgrund der Täuschung in der
Trennung von Gott sucht, was er gerade bei Gott fi nden
würde, und bei der Sünde fi ndet, was er gar nicht gesucht
hat. So lebt die Faszination der Sünde allein davon, dass
sie in Aussicht stellt, was lediglich Gott geben kann, und
verspricht, was nur Gott halten kann.
Aber vor diesem Schwindel müssen die Menschen
doch gewarnt werden! – Das sind sie schon, wiederum
seit Adam und Eva (1. Mose 2,17). Gott hat die Men-
schen doch von Anfang an und – durch Propheten und
Apostel – immer wieder neu davor gewarnt, sich als Ge-
schöpfe von ihm als dem Schöpfer abzuwenden; da doch
die Abkehr vom Leben in letzter Konsequenz niemals
Lebensentfaltung bringen kann, sondern in jedem Fall
Verlust an Leben und Minderung von Lebenskraft bedeu-
tet, und da die Aufl ehnung gegen die Liebe schwerlich
Zuneigung und Einklang bringen wird, sondern nur noch
mehr Selbstsucht und Angst, Abwertung und Verzweif-
lung.
Wie kann es der Sünde denn immer wieder gelingen,
den Menschen zu betrügen, obwohl er doch zuvor von
Gott vor dem Betrug gewarnt worden ist? – Indem sie
durch skeptische, verfängliche Fragen und glatte Falsch-
aussagen im Menschen Zweifel, Unsicherheit und Versu-
chung weckt: „Sollte Gott gesagt haben…?“ – „Ihr werdet
keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß, an dem
Tage, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan und
ihr werdet sein wie Gott, indem ihr wisst, was gut und
böse ist“ (1. Mose 3,1-5).
Läuft es darauf hinaus, dass man das Reden und Wer-
ben der Sünde am besten einfach nicht beachtet, sich
IMPULS
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schleunigst von ihr abwendet und sie zu vergessen sucht? –
Wenn das so einfach aufginge, wäre es ja vielleicht zu emp-
fehlen. Die Dinge liegen aber in der Regel komplizierter.
Da die Sünde häufi g mit dem wirbt, was Gott als Schöpfer
seiner Schöpfung in Liebe zugedacht hat, kann die Lösung
nicht in der Verachtung dessen liegen, was die Sünde in
Aussicht stellt. Die Sehnsucht nach Zuwendung und An-
erkennung, das Verlangen nach Bestätigung und Glück,
das Streben nach Erfüllung und Entfaltung, all diese
Bedürfnisse sind ja nicht an sich verfänglich oder falsch,
sondern schöpfungsgemäß und lebensbejahend. Kritisch
zu beurteilen sind allein die Versuche, das Verlangen nach
Leben lebensmindernd zu befriedigen und die Sehnsucht
nach Liebe und Anerkennung auf Kosten anderer zum ei-
genen Schaden auszuleben. Die Hoff nung, die in uns ge-
weckt wird, ist weder verwerflich noch lebenshinderlich,
sondern allein die Fehlentscheidung, unabhängig von
Gott suchen zu wollen, was wir nur bei und in Gott fi n-
den können. So erweist sich manche Sünde in ihrer letzten
Konsequenz als eine fehlgeleitete Sehnsucht nach Gott.
Wenn dies aber zutrifft , dann geht es bei der Überwin-
dung des Betruges, dem wir als Menschen seit Urzeiten
erliegen, weniger um das Abwenden von der uns off en-
sichtlich überlegenen Sünde als vielmehr um das Hinwen-
den zu dem einen Gott , der allein unsere Sünde in seiner
Liebe und durch seien Zuwendung erübrigen kann. Dann
hilft und nicht das verzweifelte und halbherzige „Nein!“
zu allen Wünschen nach erfüllendem und erfülltem Le-
ben, sondern allein das ganz entschiedene und hoff nungs-
volle „Ja!“ zu dem, der selbst das Leben ist und uns auf
viele Weisen Leben in Fülle geben will: „Ich bin gekom-
men, damit sie Leben haben – und zwar im Überfl uss“
( Joh. 10,10).
Leben aus der Vergebung
Nun sind wir von diesem Ziel einer uneingeschränkten
und unangefochtenen Erfahrung der vollkommenen Got-
tesgemeinschaft auch als an Christus Glaubende noch
weit entfernt und bringen uns bewusst – oder häufi ger
noch, ohne es uns einzugestehen – in Situationen, die
nicht unser Leben und unsere Beziehungen in Liebe för-
dern, sondern diese vielmehr einschränken und uns selbst
und anderen schaden.
Wie fi nden wir zu Gott zurück, wenn wir erkennen müs-
sen, dass wir uns von ihm durch ein bestimmtes Verhalten
oder durch allmähliche Entfremdung getrennt – d. h. ge-
sündigt – haben? Zu unserer Überraschung brauchen wir
nichts zu tun, als uns umzudrehen und uns Gott neu zu-
zuwenden. Denn wie weit wir uns auch von Gott entfernt
haben mögen, er hat sich nicht von uns entfernt. Auch
wenn wir uns selbst und ihm immer wieder untreu wer-
den, so bleibt Gott uns und sich selbst beständig treu. Er
kann sich selbst nicht verleugnen (2. Tim. 2,13). So sehr
wir unsere Beziehung zu Gott als dem Leben und der Lie-
be vernachlässigen mögen und sooft wir auch vergessen,
was er uns in Christus bereits geschenkt hatz, hält Gott
doch an seiner Zusage fest und holt uns auf unseren We-
gen wieder und wieder ein. Denn Gottes Gaben und Be-
rufung können ihn nicht gereuen (Röm 11,29).
Die Folgen unserer Abwege und Fehlentscheidungen mö-
gen uns durchaus noch lange zu schaff en machen. Der
entscheidende Beginn des Neuanfangs aber liegt in dem
Augenblick der Hinwendung zu dem, der uns längst zuge-
wandt ist. Mögen wir uns auch tausend Schritte von Gott
weg entfernt haben, so bedarf es dank der Liebe und Ver-
IMPULS
![Page 33: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/33.jpg)
33
gebungsbereitschaft Gottes nicht mehr als eines einzigen
Schrittes, um zu ihm zurückzukehren.
Wir vertrauen zu recht darauf, dass wir Gott auch in
unseren persönlichen Lebensentscheidungen um sei-
ne Führung bitten dürfen und ihm unseren eigenen Le-
bensweg anvertrauen können. Was ist aber mit Gottes
Willen für unser Leben, wenn wir – durch off ensichtli-
che Fehlentscheidungen oder durch unvorhergesehene
Entwicklungen, durch eigene oder fremde Schuld – in
auswegslose Situationen geraten? Ist mit einer falschen
Lebensentscheidung defi nitiv über unser Leben entschie-
den? Kommt Gottes Führung damit an ihr Ende, dass wir
uns einmal bei unserer Suche nach seinem Willen geirrt
haben? Es ist das Geheimnis der Liebe und Güte, dass
Gott uns nicht nur entlang eines als Ideallinie gedachten
Weges zum erfüllenden Leben führen kann, sondern dass
er uns jeweils abholt, wo wir und wie wir gerade sind, und
uns von dort aus neue Wege ebnet, auf denen wir nach
seinem Willen leben dürfen. Gottes Zuspruch der Verge-
bung ist immer zugleich die Zusage eines Neuanfangs in
seiner Begleitung.
Wenn dies aber alles zutrifft , dann könnte unser Bekennt-
nis zu der „Vergebung der Sünden“ in Christus doch ei-
gentlich ein uns beglückendes und befreiendes Th ema
sein, das wir weder zu verdrängen noch zu umgehen
brauchten. Vielleicht ist es unser Stolz und unser altes
Problem der Isolation von dem Leben und der Liebe, dass
wir das Th ema der Sünde – und damit unweigerlich auch
das der Vergebung – lieber zurückstellen. Denn wir wollen
Vergebung, weil wir vergessen wollen; Gott aber vergibt
uns, damit wir uns erinnern: wie sehr er uns beschenkt,
indem er uns bedingungslos annimmt, wie wenig wir uns
von den anderen unterscheiden, die wir sonst so leicht ver-
urteilen, und wie weit unsere Vorstellung von uns selbst
von der Wirklichkeit entfernt ist. So wird unsere Schuld
gerade nicht vergeben, damit wieder ganz die Alten sein
können, sondern damit wir Gott, den anderen und uns
selbst neu und anders begegnen. Der Sinn der Vergebung
liegt nämlich nicht darin, dass wir wieder besser dastehen,
sondern dass wir Gott gegenüber dankbarer, anderen ge-
genüber barmherziger und uns selbst gegenüber wahrhaf-
tiger werden.
IMPULS
Dr. Hans-Joachim Eckstein, geb. in Köln, ist
seit 2001 Professor für Neues Testament an
der Evangelisch-theologischen Fakultät
der Universität Tübingen, zuvor an der
Universität Heidelberg. Mit seinen lyrischen
und aphoristischen Texten spricht er
zugleich auch viele Menschen an, die sich
dem Glauben gegenüber eher distanziert empfi nden. Für seine
pädagogischen und didaktischen Fähigkeiten erhielt er vom Land
Baden-Württemberg den Landeslehrpreis.
ÜBER DEN AUTOR
Genehmigter Abdruck aus
dem Buch von Hans-Joachim
Eckstein: „Gesund im Glauben“,
SCM Hänssler 2011,
S. 69 – 72, S. 76 – 79, S. 83 – 85.
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![Page 34: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/34.jpg)
34
Hast und Eile, Zeitnot und Betrieb nehmen mich gefangen, jagen mich.
Dieser Vers aus dem bekannten Lied „Mei-
ne Zeit steht in Deinen Händen“ von
Peter Strauch hat mich spontan ange-
sprochen, als ich über das Th ema „Fremd-
bestimmung in unserem Leben“ nachgedacht habe. Pe-
ter Strauch, damals schon bekannt als Evangelist und
Jugendpastor, später Präses des Bundes Freier evangeli-
scher Gemeinden, schreibt in einem kleinen Büchlein
„Entdeckungen in der Einsamkeit“ (Bundes-Verlag eG,
Witten), unter welchen Umständen das Lied entstan-
den ist: Nach einer Zeit von ständigem Termindruck
und vielen Anforderungen fühlte er sich erschöpft
und ausgelaugt. Er gönnte sich eine Auszeit, in der er
allein einige Wochen in Holland verbrachte, ohne Termine,
ohne Vorträge und Predigten, nur mit Gott allein. In sei-
nen Gesprächen mit Gott in dieser Zeit wurde ihm vieles
deutlich, was zu seiner inneren Leere und Erschöpfung
geführt hatte. Das beschreibt er in seinem Buch, und diese
Erfahrungen sind auch in sein Lied eingefl ossen.
Was mich aufmerken ließ, war die Jahreszahl, in der das
Lied entstanden ist: 1982. Wenn der Begriff damals schon
so bekannt gewesen wäre wie heute, hätte Peter Strauch
sicher seinen Zustand als „Burnout-Syndrom“ bezeich-
net. Das dahinter stehende Phänomen entspricht nämlich
genau dem, was er erlebt hat.
Wir klagen darüber, dass sich die Lebensumstände in
den letzten ein bis zwei Jahrzehnten dramatisch verändert
haben, insbesondere was den Umgang mit Zeit angeht.
Subjektiv habe ich den Eindruck, dass sich alles immer
mehr beschleunigt. Fax, E-Mail, Twitter- und Facebook-
Posts ersetzen immer mehr Brief, Telefonat oder persön-
liche Gespräche. Informationen stehen via Internet und
Smartphone inzwischen jederzeit und überall zur Verfü-
gung. Arztberichte in der Klinik werden nicht mehr wie
früher diktiert und von einer Sekretärin geschrieben, auf
Papier korrigiert und schließlich per Post versandt, son-
dern gleich mit Diktiersystem von Sprache in Text umge-
wandelt, verbessert und per Mail oder Datenübertragung
an die Empfänger verschickt. Die durchschnittliche Auf-
enthaltsdauer von Patienten in unserer Klinik sinkt von
Jahr zu Jahr, nicht weil die Patienten schneller „geheilt“
wären, sondern weil die Kostenträger die Behandlungs-
zeiten immer kürzer genehmigen. Schüler müssen den
gleichen Lehrstoff in acht statt neun Gymnasialjahren be-
wältigen. Diese Aufzählung ließe sich noch lange fortset-
zen, jeder kennt aus seinem Lebensbereich wieder andere
Beispiele dieser Beschleunigung.
Die Veränderung des Tempos, mit dem wir Dinge er-
ledigen, die früher wesentlich mehr Zeit in Anspruch
genommen haben, hat zur Folge, dass wir – scheinbar –
THERAPIEGRUNDLAGEN
VON DR . MED. RAINER KLOSS
Hast und Eile, Zeitnot und Betrieb …Wie sehr ist unser Leben fremdbestimmt?
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35
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36
„eff ektiver“ werden mit der in einem Zeitabschnitt ge-
leisteten Arbeit. Im Sinne des in der Wirtschaft vorherr-
schenden Wachstumsgedankens ist das ein notwendiger
Prozess, der dazu führt, dass Ressourcen immer besser
genutzt werden, kaum noch Zeit „verschwendet“ wird
und die Produktivität gesteigert wird. Die Kehrseite ist
eine immer größere „Verdichtung“ der Arbeit, ein Prozess,
der inzwischen auch auf unsere Freizeit und auf alle an-
deren Lebensbereiche übergegriff en hat. Und gleichzeitig
werden die Anforderungen hinsichtlich Qualität unserer
Arbeit nicht reduziert, sondern im Gegenteil ständig er-
höht, wenn man sich den Boom an „Qualitätssicherungs-
programmen und -anforderungen“ vor Augen führt.
Nun hat Peter Strauch sein Lied schon 1982 geschrie-
ben bzw. schon damals die Erfahrung gemacht, dass er in
einen Zustand von Erschöpfung und Ausgebrannt-Sein
geraten ist. Aus unserer Sicht herrschten damals noch
geradezu paradiesische Zustände, was Zeitabläufe und
Anforderungen angeht. Ist es daher nur eine Täuschung,
dass wir uns so eingezwängt in ein immer enger werdendes
Zeit- und Anforderungskorsett erleben? Oder ergibt sich
nicht durch eine genauere Betrachtung der Erfahrungen
von Peter Strauch damals und uns heute ein Grundprin-
zip, das hinter der Problematik steht?
Es ist weniger die Menge an Arbeit oder an Aktivitäten,
die darüber entscheidet, ob wir damit in einem Gleichge-
wicht bleiben können oder ob wir darunter in einem Zu-
stand von Erschöpfung geraten, ausbrennen und schließ-
lich krank werden. Es kommt nach allen Untersuchungen,
die zur Entstehung von Erschöpfungs- und Burnout-
Syndromen vorgenommen wurden, vielmehr auf den
Grad an Freiheit, den wir uns den Anforderungen gegen-
über bewahren oder bewahren können, an.
Wir alle kennen es, dass wir zu bestimmten Zeiten von
einer Aufgabe begeistert sind, Zeit und Energie einsetzen,
um etwas, was uns wichtig ist, zu erledigen, eine Lösung zu
fi nden, ein Ergebnis zu erreichen. Dabei ist es nicht so ent-
scheidend, ob wir diese Aufgabe uns selbst gestellt haben
(z. B. ein Zimmer in meiner Wohnung zu renovieren, ein
Musikstück zu lernen, etwas Schönes für jemand anderen
zu basteln …), oder ob sie uns von anderen gestellt wurde
(eine Aufgabe im Beruf zu erledigen, eine Andacht in ei-
nem Hauskreis zu halten, im Sportverein ein Trainingsziel
zu erreichen …). Entscheidend über das Maß an Belastung
ist eher, wie sehr ich mich dabei in einer inneren Freiheit
fühle, mit den Erwartungen umzugehen, die mit dieser
Aufgabe verknüpft ist.
Diese Erwartungen können aus zwei Richtungen kom-
men: von außen oder von innen, mir selbst.
Erwartungen von außen erleben wir vor allem durch
den oder die Auft raggeber: Im Beruf ist es der Kollege
oder Vorgesetzte, der mir meine Arbeit zuweist oder sie
bewertet, aber auch jemand, der vom Ergebnis meiner
Arbeit abhängig ist. Entspricht die Aufgabe meinen
Fähigkeiten und Kenntnissen? Werden mir die notwen-
digen Hilfsmittel zur Verfügung gestellt, um die Aufgabe
zu erfüllen? Wird mir genügend Zeit eingeräumt, in
der ich die Aufgabe erledigen kann? Kann ich mich auf
diese Aufgabe konzentrieren oder werde ich durch meh-
rere gleichzeitig zu erledigenden Aufgaben abgelenkt? Je
mehr diese Fragen in einer negativen Richtung beantwor-
tet werden müssen, umso eher besteht die Gefahr, dass mir
die Aufgabe das Gefühl vermittelt, in einer Falle zu sitzen,
aus der ich nicht heraus kann: Eigentlich sollte ich diese
Aufgabe erledigen, andererseits schaff e ich es nicht. In
dieser Situation kommt der Grad an Freiheit zum Tragen,
der mir gegenüber der Aufgabe gegeben ist: Kann ich die
Aufgabe ablehnen? Kann ich darum bitten, dass mir mehr
Mittel oder Zeit oder Freiraum gegeben wird, um die Auf-
gabe zu erfüllen? Kann ich die Aufgabe mit einem weniger
optimalen Ergebnis erledigen?
Ganz entscheidend ist es, wie mein Umgang mit der
THERAPIEGRUNDLAGEN
Die Erwartungenkönnen aus zwei
Richtungen kommen: von außen oder
von innen,mir selbst.
![Page 37: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/37.jpg)
37
Aufgabe von anderen bewertet wird: Reagiert mein Kol-
lege, mein Vorgesetzter mit positiver Unterstützung, An-
erkennung und Lob, wenn ich die Aufgabe erledige oder
auch meinen Fähigkeiten entsprechend angehe? Oder
werde ich abgewertet, negativ kritisiert, wenn ich die Auf-
gabe ablehne oder um Hilfe bitte? Bekomme ich Hilfe-
stellung, meine Aufgabe doch noch zu erledigen, oder sie
so zu verändern, dass ich sie bewältigen kann?
Ähnliches gilt für Aufgaben in anderen Lebensberei-
chen: Werde ich in der Gemeinde, im Hauskreis unter-
stützt, anerkannt, gelobt für meine Beiträge, oder werde
ich off en oder „hintenrum“ schlechtgemacht? Herrscht in
einem Sportverein ein starkes Konkurrenzdenken, so dass
ich befürchten muss, bei Misserfolgen „vom Platz gestellt“
zu werden? Wenn in einem Betrieb, einem Verein, einer
Gemeinde ein Klima von gegenseitiger Unterstützung,
Wertschätzung und Wohlwollen vorherrscht, ergibt sich
für jeden, dem eine Aufgabe übertragen wird, ein höherer
Grad an Freiheit, wie er mit dieser Aufgabe umgehen kann,
und damit erhöht sich sogar die Wahrscheinlichkeit, dass
die Aufgabe gut erledigt wird. Dies setzt Energie, Fantasie
und Kräft e frei, die in einem Klima von Angst, Druck und
Abwertung blockiert werden.
In vielen Fällen sind es aber nicht oder nicht nur die äu-
ßeren Erwartungen, die das Maß an Freiheit oder Fremd-
bestimmung festlegen, sondern meine innere Einstellung:
Setze ich mir selbst ein hohes Ziel, das ich unbedingt er-
reichen will? Schätze ich meine eigenen Fähigkeiten und
Mittel richtig ein, um die Aufgabe erledigen zu können?
Kann ich an einem einmal gesetzten Ziel auch wieder Ab-
striche machen oder es ganz aufgeben?
Gerade leistungsorientierte Menschen und Menschen,
die zum Perfektionismus neigen, sind am ehesten gefähr-
det, in eine innere Falle zu laufen: Eigentlich müssten sie
die selbstgesetzten Ziele gar nicht unbedingt erreichen,
eigentlich verlangt niemand von ihnen die Erfüllung aller
Aufgaben, und wenn, dann nicht in der Vollkommenheit,
wie sie selbst das von sich erwarten. Aber sie erleben sich
in ihrer Freiheit eingeengt, der Freiheit, zu sich selbst zu
sagen: Ich lasse das Ziel los. Ich bin mir selbst gegenüber
gnädig und barmherzig. Ich kann mir erlauben, auch ein-
mal schwach zu sein und etwas gar nicht oder nicht so gut
hinzubekommen. In diesem Fall herrscht eine Fremdbe-
stimmung vor, die gar nicht von außen kommt, sondern
eine „innere“ Fremdbestimmung. Meist ist es ein über-
strenges Gewissen, das diese Menschen bestimmt. Oder sie
haben in der Kindheit erfahren, dass sie nur Anerkennung
und Liebe bekommen haben, wenn sie brav und ange-
passt, erfolgreich und strebsam, problemlos und bequem
zu leiten waren. Dann kann sich eine – meist irrationale –
Angst entwickeln, nicht geliebt und angenommen zu sein,
wenn sie eine Aufgabe nicht oder nicht perfekt erledigen,
wenn sie sich mit weniger zufrieden geben oder auch
einmal Nein sagen. Fatalerweise sind solche Menschen
meistens beliebt und erhalten viel Lob und Anerkennung,
wenn sie ihre Aufgaben klaglos und mit hoher Qualität
erfüllen, so dass sie genau das vermeiden, was ihnen Angst
macht, nämlich einmal zu versagen oder Aufgaben nicht
optimal zu erfüllen. Würden sie das einmal erleben, ver-
knüpft mit der Erfahrung, dann trotzdem noch beliebt
und anerkannt zu sein, könnte sich ihre Angst reduzieren.
Die Tendenz, immer mehr Aufgaben zu übernehmen oder
zugeteilt zu bekommen („Das kannst Du doch so gut!“),
nimmt bei ihnen im Gegenteil eher zu, bis sich Überlas-
tungs- und Überforderungssymptome einstellen.
Von ähnlichen Erfahrungen berichtet Peter Strauch,
so dass sein Büchlein (und sein Lied) auch heute noch
aktuell ist. Es sind also nicht nur die veränderten Be-
schleunigungs- und Anforderungsbedingungen, die uns
die Freiheit nehmen, sondern vor allem unser Umgang
damit. Das Lied beginnt mit dem Psalmvers: „Meine Zeit
steht in deinen Händen“ (Ps. 31,16), den er als Silvester-
Zuspruch kurz vor seiner „Burnout-Erfahrung“ gezogen
hat. Es war für ihn ein Prozess der Befreiung, sich mit
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38
THERAPIEGRUNDLAGEN
dem Inhalt dieser Aussage auseinanderzusetzen: Meine
Zeit wird letztlich nicht von den äußeren Anforderungen,
vom Druck der Arbeitswelt, von Qualitätssicherungzielen
bestimmt. Meine Zeit wird auch nicht von den inneren
Zwängen meines Gewissens, meines Pfl ichtgefühls und
meiner Angst vor Ablehnung bestimmt. Aus der Falle der
inneren und äußeren Zwänge kann ich nur herausfi nden,
wenn ich mich meinen Ängsten stelle, die mich im Um-
gang mit diesen Zwängen bestimmen. Das aber setzt vor-
aus, dass ich etwas habe, auf das ich mich verlassen kann,
wenn ich mir selbst und anderen gegenüber ehrlich und
ungeschminkt gegenübertrete. Hier gewinnt der Psalm-
vers eine tiefere Bedeutung: Nicht nur meine Zeit, meine
ganze Existenz steht in den Händen Gottes. Wenn das
einmal nicht mehr nur intellektuelle Erkenntnis, sondern
gefühlsmäßige Realität und Erfahrung geworden ist, habe
ich eine Chance, aus dem Gefängnis herauszufi nden.
Wage ich es, mich auf die Zusage Gottes zu verlassen,
dass Gott mein Versorger ist, und auf meiner Arbeitsstelle
das Risiko einzugehen, nicht allen Anforderungen zu ge-
nügen, mich schwach zu zeigen, mich manchem „Irrsinn“
an Anforderungen und immer noch schnelleren Auft rags-
wünschen entgegenzustellen, auch wenn das bedeuten
könnte, abgelehnt und schlechter bewertet zu werden,
bei der nächsten Beförderung übergangen zu werden, ei-
nen Auft rag zu verlieren? Wage ich es, meinen Wert nicht
von meiner Leistung und der Anerkennung von anderen
bestimmen zu lassen, sondern Gott zu glauben, wenn er
mich jetzt schon als wertvoll bestätigt ( Jes. 43,4), und
dann auch mir selbst gegenüber zuzugeben, dass ich diese
Aufgabe jetzt nicht übernehmen und mit allem Einsatz
erledigen muss? Wage ich es, andere Menschen zu enttäu-
schen, ihnen zuzumuten, mich schwach und nicht perfekt
vorbereitet zu erleben, ihnen ein Nein zu geben, wenn sie
mich um etwas bitten?
Es gibt keinen stärkeren Schutz gegenüber einer
Fremdbestimmung als das Bewusstsein, dass meine Zeit –
meine gesamte Existenz – weder von außen noch von in-
nen bestimmt wird, sondern allein von Gott. „Man muss
Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ (Apg. 5,29) ist
ein Satz, der wie eine Burnout-Prävention wirken kann:
Wenn ich meinen Alltag weniger von den Anforderungen
und Erwartungen anderer fremdbestimmen lasse, wenn
ich meine eigenen Grundsätze und Ängste von ihm verän-
dern lasse, dann kann ich der Falle entgehen.
ÜBER DEN AUTOR
Dr. med. Rainer Kloß, Arzt für Neurologie und
Psychiatrie, Psychotherapie, Rehabilitati-
onswesen, Weiterbildung in Systemischer
Therapie und Familientherapie, Supervisor -
Oberarzt an der de’ignis Fachklinik.
Hast und Eile,Zeitnot und Betrieb
nehmen mich gefangen,jagen mich. Herr ich rufe:
Komm und machmich frei! Führe du
mich Schritt fürSchritt!
![Page 39: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/39.jpg)
39
THERAPIEGRUNDLAGEN
Wollen und nicht könnenDas Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom
bei Erwachsenen
AD(H)S (Aufmerksamkeitsdefi zit-/Hyperakti-
vitätssyndrom) – wenn von diesem Phäno-
men die Rede ist, assoziieren wir häufi g den
kleinen Jungen, der seinem Lehrer immer
wieder ins Wort fällt und scheinbar ohne Grund mitten
im Unterricht aufspringt und durch die Klasse läuft . Oder
wir haben das kleine Mädchen vor Augen, das beim Essen
einfach nicht still sitzen kann, sein Saft glas umkippt und
anschließend vergeblich versucht, sich auf seine Hausauf-
gaben zu konzentrieren.
Dass die landläufi g auch als „Zappelphilipp-Syndrom“
bekannte Störung der Aufmerksamkeit und Aktivität
aber keine „Kinderkrankheit“ ist, sondern durchaus auch
vielen Erwachsenen Leidensdruck bereitet, rückt uns erst
seit einigen Jahren mehr und mehr ins Bewusstsein. Schät-
zungen gehen davon aus, dass bei bis zu 80 % der Kinder
mit AD(H)S die Symptomatik teilweise oder sogar voll-
ständig bis ins Erwachsenenalter hinein fortbesteht und
dass insgesamt ca. 2 – 6 % der Bevölkerung betroff en sind
(www.adhs-kompetenznetz.de). Ein Grund für diese
vagen Schätzungen ist, dass AD(H)S bei Erwachsenen
häufig in anderer „Gestalt“ auft ritt als bei Kindern, sich
häufi g hinter anderen – eindeutigeren – Störungsbildern
verbirgt und nur durch eine umfangreiche und spezifi sche
Diagnostik entdeckt werden kann. Ein typisches Erschei-
nungsbild von AD(H)S bei Erwachsenen wird im folgen-
den Fallbeispiel aus der Klinik skizziert:
VON ANNE LAMM UND ANGELIKA HEINEN
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![Page 40: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/40.jpg)
40
THERAPIEGRUNDLAGEN
27-jährige Studentin, hat Probleme ihr Studium abzu-
schließen; fi nanziert sich durch mehrere Jobs gleichzeitig.
Wiederkehrende „Winterdepressionen“ mit Suizidimpul-
sen; schädlicher Gebrauch von Alkohol (10 Flaschen Bier
täglich); starke Schlafstörungen seit der Kindheit. Inter-
net-, Fernseh- und Lesesucht (6 Bücher an einem Wo-
chenende), wechselnde Männerbeziehungen, die auch als
Suchtverhalten beschrieben werden. Mehrere ambulante
Th erapien wegen Depression und Sucht, aber bisher mit
nur sehr kurzfristigen Erfolgen. Kindliche Entwicklung
verzögert, sehr spätes Laufen lernen und Sprechen erst mit
3 Jahren. Verschiedene Unfälle als Kind mit Knochen-
brüchen und Gehirnerschütterungen (sog. „Unfaller“).
Schulische Entwicklung: Lese-Rechtschreib-Schwäche,
„Sonderschule“ wegen starker Konzentrationsprobleme
und Impulsivität. Wird im Verhalten als „Träumerchen“
beschrieben. Nach dem Abschluss Wechsel auf die Haupt-
schule mit Abschluss. Danach Abschluss einer Ausbil-
dung und Mittlere Reife. Im Anschluss daran Fachabitur
und Beginn des Studiums. (Dieser Verlauf lässt auf eine
überdurchschnittliche Intelligenz schließen.) Sie habe
sich schon immer „anders“ gefühlt. Betäubungsspritzen
(z. B. beim Zahnarzt) wirken kaum.
Aktuelle Problematik: Extreme Ablenkbarkeit, starke
Stimmungsschwankungen mit Suizidimpulsen, bringt
Studienarbeit nicht zu Ende, schläft sehr schlecht ein,
benutzt das Internet gar nicht mehr, weil sie sonst nicht
mehr damit aufh ören kann, Einkaufen geht nur noch mit
einer Liste, häufi ges Zuspätkommen.
DIAGNOSE:
ADS ohne Hyperaktivität
THERAPIE: Psychoedukation, praktische Übungen, Trauerarbeit über
die falsche Beschulung und verpasste Chancen. Beginn
einer medikamentösen Behandlung mit Methylphenidat.
ERGEBNIS: Die Patientin sagte: „Zum ersten Mal im Leben bin ich
ich! So hätte ich schon lange sein können. Ich weiß jetzt,
dass ich krank bin und nicht blöd!“
Die Depressivität nahm deutlich ab, es kam zu keinen
Suizidimpulsen mehr, die Stimmung war wesentlich aus-
geglichener, es bestand kaum noch Suchtdruck, Impuls-
kontrolle, Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit
waren deutlich erhöht.
![Page 41: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/41.jpg)
41
THERAPIEGRUNDLAGEN
Grundsätzlich ist AD(H)S durch folgende drei Kernsym-
ptome gekennzeichnet:
1. Störung der (Dauer-) Aufmerksamkeit Betroff ene können ihre Aufmerksamkeit oft besser
als andere kurzfristig auf ein Geschehen fokussieren,
das sie fesselt und interessiert. Es gelingt ihnen jedoch
kaum, die Aufmerksamkeit über eine Dauer von ca. 20
Minuten und länger aufrechtzuerhalten, wie z. B. beim
Lesen von langweiligen Texten oder in langen Gesprä-
chen. Sie lassen sich leicht von Umgebungsreizen ab-
lenken oder verlieren sich in Tagträumereien.
2. Hyperaktivität Was bei Kindern häufi g als „Herumzappeln“ oder plötz-
liches Aufspringen und Umherlaufen auff ällt, wird von
erwachsenen Betroff enen sehr häufi g zu unterdrücken
versucht und vielmehr als eine starke „innere Unruhe“
und ein „unter Strom Stehen“ beschrieben. Sie haben
einen permanenten Bewegungsdrang, der auch in Fin-
gertrommeln und Fußwippen Ausdruck fi nden kann.
Viele können kaum entspannen.
2. Impulsivität Betroff ene neigen dazu, spontanen Impulsen unmittel-
bar nachzugeben, spontane und unüberlegte Entschei-
dungen zu treff en, ohne sich über die Konsequenzen
und Gefahren bewusst zu sein. Auch Wutausbrüche
und übermäßiges, schnelles Reden sind Zeichen erhöh-
ter Impulsivität.
Neben diesen drei Kernsymptomen sind folgende Kenn-
zeichen (Wender-Utah-Kriterien) typisch für AD(H)S
bei Erwachsenen und werden für die Diagnostik heran-
gezogen:
Desorganisiertes Verhalten:Fehlendes Zeitgefühl, fehlende Tagesstruktur, fehlende
Struktur beim Erledigen von Aufgaben.
Mangelnde Affektkontrolle:Gefühle wie z. B. Ärger können nicht unterdrückt oder
zurückgehalten werden, sondern werden unmittelbar ge-
äußert, auch wenn dies unangemessen ist.
Affektlabilität:Starke Stimmungsschwankungen.
Emotionale Überreagibilität/Stressintoleranz:Kleinigkeiten genügen, um Betroff ene „auf die Palme zu
bringen“. Sie reagieren schneller und heftiger emotional
als andere. Viele fühlen sich von Reizen schnell überfor-
dert und brauchen häufi ger Rückzugsmöglichkeiten.
Hochrisikoverhalten:Ebenfalls kennzeichnend ist eine Neigung zu Hoch-
risikoverhalten. Extremsport, fi nanzielle Risiken, schnel-
les Autofahren, Suchtverhalten (Spielsucht, Computer,
Kaufen), hohe Unfallgefahr, Alkohol- und Drogenmiss-
brauch (als Selbstmedikation), Arbeitssucht („Workaholic“).
Stärken und RessourcenSowohl für das Selbstverständnis des Betroff enen als
auch für eine psychotherapeutische Behandlung ist es
unbedingt notwendig, AD(H)S nicht nur von der reinen
Defi zitseite her zu betrachten, sondern genauso die Stär-
ken und Ressourcen zu berücksichtigen, die mit dem Syn-
drom verbunden sind.
Erwachsene mit AD(H)S zeichnen sich häufi g durch
hohe Kreativität und Fähigkeit zum divergenten Denken
aus sowie durch hohe Eloquenz und eine gute Aufnahme-
und Konzentrationsfähigkeit, wenn etwas sie persönlich
interessiert. Sie haben viel Fantasie, viel Energie, sind
risikobereit, fl exibel, spontan und neugierig. In Krisen-
und Notfallsituationen können sie schnell einen Über-
blick gewinnen und entschlossen handeln, sie haben einen
starken Gerechtigkeits- sowie einen guten Orientierungs-
sinn, sind multitasking- und sehr empathiefähig.
Wie in dem dargestellten Fallbeispiel deutlich wird,
ist AD(H)S bei Erwachsenen häufi g durch andere psy-
chische Erkrankungen überlagert, die nicht selten Folgen
von misslungenen Bewältigungsversuchen sind. So kann
beispielsweise der angestrengte Versuch, Ordnung und
Struktur in das eigene alltägliche „Chaos“ zu bringen, in
eine Zwangsstörung (Ordnungszwang, Kontrollzwang
etc.) führen. Oder die permanente innere Ruhelosig-
keit und Anspannung wird durch Alkohol, Drogen oder
Medikamente zu lindern versucht, was für den Betrof-
fenen langfristig in einer Suchterkrankung mündet.
Auch Depressionen treten häufi g in Zusammenhang mit
AD(H)S auf und können eine Folge sein von anhalten-
den Misserfolgserlebnissen, Minderwertigkeitsgedanken
(„Mit mir stimmt etwas nicht.“) und sozialem Rückzug
aufgrund von Beziehungsproblemen.
SYMPTOMATIK
mai
klag
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42
THERAPIEGRUNDLAGEN
Bis heute ist es schwierig und aufwändig, AD(H)S bei
Erwachsenen sauber zu diagnostizieren. Zum einen lie-
gen bislang keine Diagnosekriterien vor, wie sie für ver-
schiedenste andere Erkrankungen von der Weltgesund-
heitsorganisation herausgegeben wurden (International
Classifi cation of Diseases, ICD). Zum anderen muss sich
die Diagnostik auf Selbstauskünft e und Erinnerungen des
Betroff enen stützen, die üblicherweise sehr verzerrt sein
können.
Entscheidungsgrundlage für oder gegen die Diagnose
AD(H)S ist das Verhalten des Betroff enen in den ersten
sechs Lebensjahren. Denn sollten in diesem Zeitraum
keinerlei Auff älligkeiten aufgetreten sein, kann AD(H)S
defi nitiv ausgeschlossen werden.
Neben ausführlichen Gesprächen (mit dem Betroff e-
nen selbst und mit Angehörigen, sogenannten Eigen- und
Fremdanamnese), Grundschulzeugnissen sowie Fragebö-
gen („Im Alter von sechs Jahren war ich …“) kommen in
der Diagnostik Tests zum Einsatz.
Tests zur Überprüfung der Aufmerksamkeit und Kon-
zentration sind z. B. TAP – Testbatterie zur Aufmerksam-
keits-Prüfung mit verschiedenen Untertests oder KLT –
Konzentrations-Leistungs-Test. Derweit läufi g bekannte
„d2-Test“ (Aufmerksamkeits-Belastungs-Test) dagegen ist
nicht aussagekräft ig, weil er innerhalb von weniger als 5
Minuten zu bearbeiten ist und so folglich nicht die Dau-
eraufmerksamkeit getestet werden kann. AD(H)S-Patien-
ten schneiden hier eher besonders gut ab!
Bei der Behandlung von AD(H)S gilt als übergeordne-
tes Ziel, dass der Betroff ene verstehen soll: „Ich bin nicht
schuld an meiner Störung, aber ich bin verantwortlich da-
für, wie ich damit umgehe!“
Die Th erapie sollte multimodal gestaltet sein, d. h. sie
sollte unterschiedliche Ansätze und Methoden mitein-
ander verbinden. Im Vordergrund steht die Psychothe-
rapie, die an den funktionellen Schwierigkeiten bezüg-
lich der Selbstorganisation, des Selbstwertgefühls und
der sozialen Interaktion ansetzt. Begleitend dazu kann
eine Behandlung mit Psychopharmaka erfolgen. Da die
Hauptsymptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und
Impulsivität durch Unausgewogenheiten im Neurotrans-
mitterhaushalt (vor allem Dopamin und Noradrenalin)
verursacht werden, kann durch spezifi sche Medikamente,
die auf diesen Haushalt einwirken, oft eine Besserung der
Symptomatik erreicht werden.
Psychotherapie bei AD(H)S kann sowohl im Einzel-
als auch im Gruppensetting durchgeführt werden. In der
Einzeltherapie werden die individuell festgelegten Ziele
bearbeitet. Gruppentherapie bietet den Vorteil, dass die
Betroff enen miteinander üben und sich austauschen kön-
nen. Sie kann eine zusätzliche psychische Entlastung brin-
gen, wenn die Betroff enen feststellen, dass es außer ihnen
selbst noch andere Menschen gibt, die auch „anders“ sind.
Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass der bei manchen
Betroff enen überzogene Status, „etwas Besonderes“ zu
sein, durch die Gruppe relativiert wird.
Sowohl in der Einzel- als auch in der Gruppentherapie
ist Psychoedukation ein wichtiger erster Bestandteil. Hier
sollen Störungswissen (Informationen über die Störung)
und Änderungswissen (Informationen über die Behand-
lungsmöglichkeiten) vermittelt werden. Wie bei jeder
anderen Psychotherapie auch, ist es von sehr großer Be-
deutung, am Anfang die individuellen Ziele festzulegen:
Was soll sich verändern, aber was kann auch so bleiben,
wie es ist? Ausgehend davon werden besonders in der Ein-
zeltherapie ein individueller Behandlungsplan erstellt und
die entsprechenden Th erapiebausteine durchgeführt. Da-
durch sollen zum einen eine Steigerung der Kompetenz
(Können, Lernen) und zum anderen eine Verbesserung
der Performanz (Machen, Fertigkeiten) erreicht werden.
Im Folgenden werden Beispiele solcher Behandlungs-
bausteine aufgeführt. (Teilweise sind sie ausführlich
beschrieben bei Gerhard W. Lauth & Wolf-Rüdiger
Minsel: ADHS bei Erwachsenen. Diagnostik und
Behandlung von Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstö-
rungen (Hogrefe, 2009)):
• Vermittlung von Selbststeuerungsfertigkeiten: Geeignete Selbstanweisungen erst laut, später leise auf-
sagen; negative innere Dialoge beenden und später in
positive verändern können.
• Selbstmanagement und Selbstkontrolle: Kalender führen (Lose Blätter gibt es nicht mehr!);
Tagesplan erstellen mit genauen Tätigkeits- und Zeit-
angaben; die entsprechenden Vorkehrungen dafür tref-
fen (Menschen mit AD(H)S besitzen keine innere Uhr
und können deshalb kein automatisches Zeitgefühl
entwickeln); Wochenplan erstellen; Prioritäten setzen
lernen (wichtig/unwichtig, dringend/nicht dringend);
Umgang mit begrenzten finanziellen Mitteln erlernen.
DIAGNOSTIK
BEHANDLUNG
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43
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THERAPIEGRUNDLAGEN
Vermittlung vonSelbststeuerungsfertigkeiten
Selbstmanagement undSelbstkontrolle
EmotionsregulationstrainingProblemlösestrategien
Achtsamkeits-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationstraining
Einüben von angemessenemSozialverhalten
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44
THERAPIEGRUNDLAGEN
• Problemlösestrategien: „Was ist die Ausgangssituation? Was ist das Ziel? Wie
könnte ein Lösungsweg aussehen?“ Kleine Schritte pla-
nen und einzeln überprüfen, ob sie wirklich zum Ziel
führen; Erreichung oder Nichterreichung dokumentie-
ren und Erreichung sofort belohnen! Dies ist besonders
wichtig, da die Betroff enen im Laufe des Lebens keinen
Belohnungsaufschub lernen wie andere Erwachsene
und somit in diesem Bereich wie Kinder agieren. Ein
Th erapiefortschritt hängt bedeutend damit zusammen,
dass dies beachtet wird.
• Achtsamkeits-, Aufmerksamkeits- undKonzentrationstraining:
Nur mit einer Sache beschäft igen; beobachten, aber
nicht bewerten; einen eigenen inneren wohlwollenden
Beobachter installieren; Arbeit mit 2 „leeren Stühlen“,
wobei der eine den „inneren Antreiber“ und der andere
den „inneren Faulenzer“ symbolisiert, beide abwech-
selnd zu Wort kommen lassen; konzentrative Tech-
niken einüben z. B. mit Sudoku, Suchspielen, Körbe
fl echten, usw.
• Einüben von angemessenem Sozialverhalten: Pünktlichkeit auch in den Th erapiesitzungen (kein
Nachholen der verlorenen Zeit); Zuhören, Verstehen
und Wiedergeben trainieren (erst zuhören, dann mit
eigenen Worten wiederholen, dann antworten); Be-
wusstmachung von negativem non-verbalen Verhalten
(Mimik, Gestik, Laute); auf Zynismus hinweisen; Rol-
lenspiele zu ganz konkreten Situationen
• Emotionsregulationstraining: Lernen: Welche Grundemotionen gibt es (weltweit
gleich und an der Mimik und Gestik ablesbar: Freude,
Trauer, Wut, Angst, Ekel, Erschrecken bzw. Überra-
schung)? Welche Aufgaben haben sie? Welche Körper-
impulse und welchen Appell an das Gegenüber senden
sie? Mit welchen Emotionen kann ich gut umgehen?
Welche bereiten mir Schwierigkeiten? Entsprechende
Situationsanalysen erstellen, um ein besseres Selbstver-
ständnis zu bekommen.
Psychopharmakatherapie
In der medikamentösen Behandlung von AD(H)S kom-
men Psychostimulanzien und Antidepressiva zum Einsatz.
Das meist verschriebene Psychostimulans ist Methyl-
phenidat, teilweise als retardierte Form. Methylpheni-
dat ist auch bekannt unter den Handelsnamen Ritalin®,
Medikinet®, Equasym®, Methylphenidat® oder Concerta®.
Entgegen weit verbreiteter Befürchtungen besteht speziell
bei Menschen mit AD(H)S keine Gefahr für eine körper-
liche Abhängigkeit. Sie leiden dann sogar weniger unter
sonstigen Abhängigkeiten (Alkohol, Drogen) als ohne
die Einnahme von Methylphenidat. Es muss aber deutlich
darauf hingewiesen werden, dass bei der gleichzeitigen
Einnahme mit Alkohol das Risiko für das erste Auft reten
einer Psychose stark zunimmt.
Seit dem 14. April 2011 ist Methylphenidat auch für
Erwachsene in Deutschland zugelassen, „wenn andere
Maßnahmen alleine unzureichend sind und ADHS (seit
der Kindheit) besteht“; es unterliegt dem Betäubungs-
mittelgesetz (BtMG) (www.bfarm.de).
Als Alternative oder ergänzend zu Methylphenidat
kann Atomoxetin (Handelsname: Strattera®) gegeben
werden. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass es in
Einzelfällen zu erhöhter Suizidalität kommen kann. Wei-
tere Alternativen sind antriebssteigernde oder trizyklische
Antidepressiva.
„Wollen und nicht Können“ – bei dieser Erfahrung
muss es für Betroff ene nicht bleiben. Wenn nach einer
gründlichen Diagnostik eine spezifi sche und möglichst
multimodale Th erapie begonnen wird, können eine deut-
liche Linderung der erlebten Einschränkungen und eine
erhebliche Steigerung der Lebensqualität erreicht werden.
ÜBER DIE AUTOREN
Anne Lamm, Dipl.-Psychologin und
Psychologische Psychotherapeutin.
Verhaltenstherapeutin für Erwachsene,
Kinder und Jugendliche.
Arbeitet in der de’ignis-Fachklinik.
Angelika Heinen, Dipl.-Psychologin und
Psychologische Psychotherapeutin in
Ausbildung.
Arbeitet in der de’ignis-Fachklinik.
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45
THERAPIEGRUNDLAGEN
Die Auswirkungen der
Fremdbestimmung – BorderlineVON ACHIM SÖRGEL
Ein (anonymisiertes) Fallbeispiel: Anna, 17 Jahre
Anna kam in unsere Wohngruppe, nachdem
sie zuvor bereits sechs verschiedene Jugend-
hilfemaßnahmen, angefangen von einer am-
bulanten Betreuung, über die geschlossene
Unterbringung in einer Mädchenwohngruppe, bis hin zu
einem Auslandsaufenthalt in Irland in einer Pflegestelle,
sowie mehre Aufenthalte in der Kinder- und Jugendpsy-
chiatrie durchlebt hatte. Die Mutter berichtete über mas-
sive Schwierigkeiten im Umgang mit ihrer Tochter. Diese
halte sich an keinerlei Absprachen, habe schon früh ange-
fangen Alkohol zu konsumieren und sehr intensive, auch
rasch intime Beziehungen einzulassen, die jedoch genauso
rasch wieder endeten. Oft wechselt Annas Stimmung von
einem Moment auf den anderen, sie reagiert auf kleinste prim
aer/
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ocas
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46
THERAPIEGRUNDLAGEN
Anlässe mit heft igen Vorwürfen und lautstarken Ausei-
nandersetzungen, oder zieht sich in anderen Momenten
völlig zurück. Immer wieder kommt es zu Selbstverlet-
zungen, das Mädchen ritzt sich dann an den Armen mit
einer Rasierklinge, oder schlägt den Kopf an die Wand.
Aus den bisherigen Wohngruppen liegen Berichte vor, die
Anna als „manipulativ und skrupellos“ in der Durchset-
zung ihres Willens beschreiben. Immer wieder schaff e es
das Mädchen, sich auch auf Helferebene Unterstützer zu
sichern, die sich mit erheblichem Aufwand für sie einsetz-
ten, was oft auch zu massiven Konfl ikten zwischen Mit-
arbeitern, Lehrern, der Mutter und anderen Beteiligten
geführt habe.
Ihre Eltern hatten sich getrennt, als Anna 10 Jahre alt
war, die Ehebeziehung war schon zuvor gekennzeichnet
gewesen von heft igen Auseinandersetzungen. Die Mutter
sah in ihrer Tochter aufgrund einer großen äußerlichen
Ähnlichkeit immer stärker den Vater, so dass es ihr zuneh-
mend schwerer fi el, Anna anzunehmen, was die ohnehin
schwierige Beziehung zwischen Mutter und Tochter noch
dramatisch verschlechterte. Die Wohngruppe sei nun ihre
„letzte Chance“. Wie lassen sich die massiven Verhalten-
sprobleme und Auff älligkeiten, unter denen Anna selbst
auch immer wieder massiv leidet erklären? Und wie kann
Anna tatsächlich geholfen werden?
Borderline – Begriffsklärung, Ursprünge, Symptomatik
Die Schwierigkeiten, unter denen Anna zu leiden hat,
lassen sich als eine beginnende Persönlichkeitsstörung
vom Borderline-Typ verstehen. Ursprünglich wurde der
Begriff „Borderline“ von dem amerikanischen Psycho-
analytiker Adolf Stern (1938) geprägt. Er charakterisierte
damit – einem von Sigmund Freud entwickelten psy-
choanalytischen Grundverständnis eines Kontinuums
zwischen „Neurosen“ und „Psychosen“ folgend – ein
(unscharfes) Grenzgebiet zwischen neurotischen und psy-
chotischen Störungsbildern. Menschen mit einer solchen
Borderline-Störung wurden demzufolge als „Grenzgän-
ger“ betrachtet, deren Krankheitsbild zwischen diesen
beiden Polen angesiedelt war. Inzwischen ist man zu der
Übereinkunft gelangt, es mit einem eigenständigen, in
sich relativ stabilen Komplex zu tun zu haben. Wesentlich
hierfür war die Arbeit des amerikanischen Psychoanalyti-
kers Otto Kernberg, Mitte der 70er Jahre des letzten Jahr-
hunderts.
Auf einer deskriptiven, beschreibenden Ebene können bei
der Borderlinepersönlichkeit Schwierigkeiten in verschie-
denen Bereichen gefunden werden und werden heute als
valide Kriterien zur Diagnose einer Borderlinestörung
verwendet. Nach Ansicht der meisten Forschungsgrup- rape
ronz
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47
THERAPIEGRUNDLAGEN
pen ist besonders eine Störung der Aff ektregulation von
zentraler Bedeutung. Menschen mit Borderlinepersön-
lichkeit reagieren sehr sensibel und in starkem Ausmaß
in ihrem Erleben von Situationen. Die Stimmung kann
daher innerhalb kurzer Zeit erheblichen Schwankun-
gen unterworfen sein, mit rasch einschießenden Gefüh-
len wie Niedergeschlagenheit, Verzweifl ung, Angst oder
auch Reizbarkeit und Wut, die kaum kontrolliert werden
kann. Oft erleben Patienten eine intensive, als unerträg-
lich empfundene innere Anspannung, die jedoch keinem
konkreten Gefühl zugeordnet werden kann. Zumeist dau-
ert es deutlich länger, als bei gesunden Personen, bis die
Anspannung aufgrund einer Belastungssituation sich wie-
der dem Normalwert annähert, so dass es leicht zu einem
Aufschaukeln der Anspannung kommt, bis dann der letzte
– vermeintlich harmlose- Tropfen das „Fass zum Überlau-
fen“ bringt. Daneben kennen die meisten Patienten mit
einer Borderlinestörung auch das Gefühl einer inneren
Leere, einer Art inneren Taubheit und Gefühlslosigkeit
das genauso unerträglich erlebt wird. Das Selbstbild und
die Selbstwahrnehmung sind ebenfalls ausgeprägten und
raschen Schwankungen unterworfen. Lebensziele, aber
auch Vorlieben und Ansichten wechseln häufi g, viele Be-
troff ene haben den Eindruck, sich selbst kaum zu kennen.
Kennzeichnend sind außerdem das verzweifelte Bemü-
hen, tatsächliches oder vermutetes Verlassen-werden zu
vermeiden, und eine intensive Angst vor dem Alleinsein
sowie Panik schon bei zeitlich begrenzten Trennungen.
Typischerweise kommt es im Lauf des Lebens zu einem
Muster aus intensiven, aber instabilen zwischenmensch-
lichen Beziehungen: mal idealisieren die Betroff enen ihr
Gegenüber, dann entwerten sie es – und das im schnel-
len Wechsel. Die für Borderlinestörungen häufi g als
typisch angesehenen selbstschädigenden Verhaltenswei-
sen, wie Ritzen, oder andere Formen von Selbstverletzun-
gen haben häufi g die Funktion, die als unerträglich erlebte
innere Spannung zu reduzieren. Neben den Selbstverlet-
zungen, Suiziddrohungen und -versuchen, schaden sich
viele Patienten auch durch impulsive Handlungen z. B.
im Bereich der Sexualität, durch Substanzmissbrauch,
rücksichtsloses Fahren, Geld ausgeben, oder beim Essen.
In Belastungssituationen kann es auch vorrübergehend zu
paranoiden Vorstellungen, z. B. dem Eindruck verfolgt zu
werden, oder zu sogenannten dissoziativen Symptomen
kommen, in denen die Wahrnehmungsfähigkeit einge-
schränkt ist, vom „Tunnelblick“ bis hin zu einer völligen
Abkapselung, die von den Betroff enen selbst meist als
extrem unangenehm erlebt wird und die nur durch sehr
starke Sinnesreize durchbrochen werden kann.
Die Entstehung der Borderlinestörung
Heute geht die Forschung davon aus, dass die Entstehung
einer Borderlinepersönlichkeitsstörung, wie bei den meis-
ten psychischen Erkrankungen, von mehreren Faktoren
abhängt, die miteinander in Wechselwirkung stehen und
die erst in ihrem Zusammenwirken die oft gravierenden
Folgen der Störung erklären können. Auch aufgrund von
Zwillingsstudien, bei denen der Einfl uss genetischer Fak-
toren abgeschätzt werden kann, weiß man, dass auch bei
der Borderlinestörung eine genetische Komponente für
die Entstehung der Störung der Aff ektregulation beteiligt
ist. Hierzu zählen Neurobiologische Faktoren, wie eine
Störung der Reizkontrolle und Aff ektmodulation und der
Dissoziationsneigung. Menschen mit einer Borderlineper-
sönlichkeit scheinen also bereits aufgrund ihrer körperli-
chen Voraussetzungen sensibler auf Reize zu reagieren und
größere Schwierigkeiten in der Emotionsverarbeitung zu
haben. Diese biologische Komponente alleine reicht aller-
dings nicht aus, um das Auft reten der Störung zu erklären,
sonst müssten in Studien mit eineiigen Zwillingen, die
also exakt die gleichen genetischen Merkmale aufweisen,
immer beide Geschwister gleichermaßen betroff en sein.
Dies ist jedoch nicht der Fall. In Studien zeigte sich, dass
die Wahrscheinlichkeit eines Menschen, dessen Zwilling
an einer Borderlinepersönlichkeiststörung erkrankt war,
bei „lediglich“ ca. 55 % lag.
Der zweite, erhebliche Faktor, der für die Krankheitsent-
stehung eine Rolle spielt, liegt in den psychosozialen Um-
ständen, in denen ein Kind aufwächst. Bei vielen – jedoch
nicht allen – Patienten fi nden sich sexuelle und körper-
liche Gewalterfahrungen in der Kindheit wieder. Bis zu
60 % der weiblichen Patienten berichten, in ihrer Kind-
heit sexuell missbraucht worden zu sein. Ob eine solche
Traumatisierung alleine eine Borderline-Persönlichkeits-
störung verursachen kann, ist unter Experten allerdings
strittig. Vor allem scheinen jedoch auch solche Formen
der emotionalen Vernachlässigung wesentlich zu sein,
bei denen die Gefühle und Wahrnehmungen des Kindes
lächerlich gemacht oder entwertet werden. Die Gefühle
und Wahrnehmungen der Kinder werden nicht geteilt
und bestätigt, statt dessen wird das Kind für Gefühls-
äußerungen bestraft , oder die Gefühle werden als falsch
abgestempelt.
Eine solche Invalidierung beginnt etwa, wenn der Spröss-
ling vor Schmerz weint und die Mutter entgegnet: „Tut
doch gar nicht weh – jetzt hab dich nicht so!“. Im Falle
von Anna kann die Ablehnung der Mutter, aufgrund der
Ähnlichkeit zum Vater eine solche Invalidierung darstel-
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48
THERAPIEGRUNDLAGEN
len. Die Erfahrung – völlig unabhängig vom eigenen Ver-
halten – „falsch“ zu sein, hinterlässt eine tiefe Wunde im
Selbstbild, die bei Anna – wie bei den meisten Patienten
mit einer Borderlinestörung – auch in ihrem weiteren
Lebensstationen bislang leider immer weiter vertieft e.
Behandlungsansätze – Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT)
Lange Zeit galt die Borderlinepersönlichkeitsstörung als
kaum psychotherapeutisch behandelbar, Patienten mit
einer solchen Störung als „schwierig“. Mittlerweile gibt
es jedoch eine Reihe unterschiedlicher therapeutischer
Ansätze, die sich als hilfreich erwiesen haben. Neben ei-
ner Reihe psychodynamisch orientierter Verfahren, die
sich auf die Arbeiten von Kernberg stützen, ist dies ins-
besondere auch die verhaltenstherapeutisch orientierte
Dialektisch-Behaviorale Th erapie nach Marsha Linehan,
die auch die Grundlage für unsere Arbeit in Annas Wohn-
gruppe darstellt. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Th e-
rapie ist die Vermittlung und das Einüben von Fertigkei-
ten, sogenannten „skills“ in fünf verschiedenen Bereichen.
Im Modul Stresstoleranz sollen die Betroff enen lernen,
ihre Anspannung einerseits frühzeitig wahrzunehmen und
ohne sich selbst zu schaden regulieren zu lernen. Für Anna
bedeutet dies zum Beispiel, anstelle sich zu ritzen, einen
Gummiring um das Handgelenk schnalzen zu lassen, oder
eine „weinende Himbeere“, ein extra-scharfes Bonbon zu
essen. Ziel ist es dabei, starke Sinnesreize zu vermitteln, die
dabei helfen, die extreme innere Anspannung aushalten zu
können, die aber – anders als das Ritzen – keine negati-
ven Folgen mit sich bringen. Da viele Borderliner massive
Schwierigkeiten darin haben, ihre Gefühle diff erenziert
wahrzunehmen und zu unterscheiden und dann einen an-
gemessenen Umgang mit ihren Gefühlen zu finden, geht
es im Modul Emotions-Regulation darum, die verschiede-
nen Gefühle besser kennen zu lernen, zu überprüfen, ob
das Gefühl der Situation angemessen ist und bei zu starker
Ausprägung dementsprechend dann Gefühle durch ent-
gegengesetztes Handeln abzuschwächen, oder aber eine
dem Gefühl und der Situation angemessene Handlung
zu initiieren, bei adäquatem Gefühlserleben. Für Anna
könnte dies bedeuten, dass sie lernt, ihren oft überschießen-
den Ärger bei kleineren Frustrationserlebnissen – wenn sie
zum Beispiel kurz auf einen ihrer Betreuer warten muss –
selbst als unangemessen stark zu identifi zieren und das
Ärgergefühl z. B. durch eine bewusste Veränderung der
Körperhaltung, der Mimik, oder auch der Atmung zu re-
duzieren. Im Modul „Zwischenmenschliche Fertigkeiten“
geht es darum, die oft mangelhaft ausgebildete Sozialkom-
petenz der Betroff enen zu steigern und z. B. Strategien zur
Konfl iktklärung zu erarbeiten. Das Selbstwert-Modul soll
Patienten dabei helfen, einen etwas „faireren Blick“ auf sich
selbst zu entwickeln und auch eigene Stärken und positive
Seiten an sich selbst besser wahrnehmen zu können und
dysfunktionale Annahmen über sich selbst zu überprüfen
und anzupassen. Einen besonderen Stellenwert kommt in
der Dialektisch-Behavioralen Th erapie schließlich noch
dem Konzept der Achtsamkeit zu. Durch eine sehr be-
wusst wahrnehmende und beschreibende Haltung, ohne
jedoch das Wahrgenommene zu bewerten, kann einerseits
langfristig eine Absenkung des Anspannungsniveaus er-
reicht werden, andererseits ermöglichen entsprechende
Übungen auch eine diff erenziertere Selbstwahrnehmung
und eine gewisse Distanzierung von starken Gefühlen.
Häufi g erleben sich Patienten von einem Gefühl geradezu
überfl utet, so dass neben dem Gefühl nichts anderes mehr
Platz hat. Ziel der Achtsamkeitsübungen ist es von „Ich
bin ein Gefühl“ zu „Ich habe ein Gefühl“ zu kommen.
Neben der Vermittlung der verschiedenen Fertigkeiten,
die im Regelfall in der „skills-Gruppe“ erfolgt, geht es in
der Einzeltherapie darum, problematische Verhaltenswei-
sen zu identifi zieren, die gemeinsamen Ziele zu defi nieren,
das eigene Verhalten immer besser verstehen zu können,
alternative Handlungswege zu erarbeiten und die Patien- man
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49
ten weiter zu motivieren. Das Vorgehen in der Th erapie
ist dabei stark hierarchisch gegliedert. So wird immer mit
erster Priorität an der Verringerung suizidaler Tendenzen
und selbstschädigender Verhaltensweisen gearbeitet, da
die körperliche Unversehrtheit zunächst gewährleistet
sein muss. Dann stehen alle Verhaltensweisen im Fokus,
die eine Fortführung der Th erapie gefährden, wie z. B.
Versäumen von Th erapiesitzungen oder Nichterledigung
von therapeutischen Hausaufgaben. Damit soll die aus
anderen Behandlungen bekannte hohe Rate an Th era-
pieabbrüchen bei Patienten mit Borderline-Störungen
vermieden werden – schließlich kann nur mit Patienten
gearbeitet werden, die an der Th erapie von sich aus frei-
willig teilnehmen. Erst dann werden weitere Verhaltens-
weisen, die die Lebensqualität beeinträchtigen bearbeitet
und im weiteren Verlauf die Verbesserung der Verhaltens-
fertigkeiten. Aufgrund der meist entwertenden Erfahrun-
gen der Patienten in den Ursprungsfamilien und weiteren
Lebenserfahrungen, ist die annehmende und verstehende
Haltung des Th erapeuten ein wesentlicher Faktor um den
Patienten neue, korrigierende Erfahrungen zu vermitteln.
So ist es für Anna beispielsweise eine wichtige Erfahrung,
in ihrer Annahme, „sowieso irgendwann wieder raus ge-
schmissen“ zu werden und sie sich daher zunächst auch
kaum auf die Gruppe einlassen wollte, auf dem Hinter-
grund ihrer bisherigen negativen Erfahrung verstanden
zu werden. Zentral ist nun für die DBT jedoch, dass sie
im Sinne der Dialektik nicht bei diesem Verstehen stehen
bleibt, sondern zugleich auch nach Wegen der Verände-
rung sucht. Symbolisch lässt sich dies am besten mit dem
Bild der Wippe darstellen, mit den beiden Seiten „Akzep-
tanz“ und „Veränderung“. Ziel ist es, von dem Borderline-
typischen Schwarz-Weiß-Denken des „Entweder-oder“
zu einem „Sowohl-als-auch“ zu gelangen. Wichtige Bau-
steine für die Veränderung dysfunktionaler Verhaltenswei-
sen sind dabei Selbstbeobachtungsbögen und sogenannte
Verhaltensanalysen, die dabei helfen, das eigene Verhalten
mit seinen Bedingungen und Folgen besser verstehen zu
lernen. Für Anna bedeutet dies zurzeit, dass sie anhand
der Verhaltensanalysen versteht, wie sie aufgrund ihrer
oft impulsiven und aufbrausenden Reaktionen für sie
wichtige Beziehungen gefährdet und Ablehnung durch
andere provoziert. Die detaillierte Bearbeitung und Ana-
lyse vieler solcher Situationen hilft ihr dabei, die Folgen
ihres eigenen Handelns abschätzen zu lernen und die
Motivation für eine Verhaltensänderung aufzubauen.
Dieser Weg wird nicht leicht sein, Anna wird – wie alle
Menschen, die an einer Borderline-Störung leiden – hart
an der Überwindung ihrer Schwierigkeiten, an denen sie
selbst nicht schuld ist, arbeiten müssen. Unsere Aufgabe
als Th erapeuten und Betreuer ist es, Anna auf diesem Weg
immer wieder anzufeuern, zu motivieren, zu unterstützen
– aber auch herauszufordern, neues zu erproben und sich
auf das Wagnis einer Veränderung einzulassen.
Literatur:
Bohus, M. (2002): Borderline-Störung.
Göttinge, Hogrefe-Verlag
Bohus, M., Wolf, M. (2009): Interaktives SkillsTraining für
Borderline-Patienten.
Stuttgart, Schattauer.
ÜBER DEN AUTOR
Achim Sörgel, Dipl.-Psychologe und
Psychologischer Psychotherapeut in
Ausbildung. Leitet den Psychologischen
Fachdienst im CJD in Altensteig.
THERAPIEGRUNDLAGEN
Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) – Die Wippe
AkzeptanzAkzeptanz Veränderung
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50
FACH-KLINIK
AKTUELL
Für Donnerstag, 22. November
2012, um 19.30 Uhr laden wir
zu einem Konzert mit Judy Bailey
und Band in unsere Sporthalle in
Egenhausen ein.
Die Sängerin und Psychologin hat
bereits 2004 bei der Eröff nungsfeier
des Th erapiehauses in Egenhausen
unsere Gäste begeistert.
Wir feiern, dass die gemeinnützige
GmbH als Träger der Klinik vor 25
Jahren gegründet wurde. Der Ge-
sellschaft svertrag wurde am 21. Mai
1987 geschlossen. Bis zur Eröff nung
der Klinik im Oktober 1989 gab es
einiges zu tun und manche Schwie-
rigkeit zu überstehen. Interessierte
können darüber mehr in unserem
Magazin 37/38 erfahren.
Das Konzert soll ein Dankeschön
für alle sein, die mit unserer Arbeit
verbunden sind. Dazu gehören Ärzte,
Psychologen, Sozialarbeiter, Pastoren
und Seelsorger, die Hilfesuchenden
unsere Klinik empfehlen, Mitarbeiter
und Verantwortliche von Kranken-
und Rentenversicherungen, die ihren
Versicherten eine Behandlung in un-
serer Klinik ermögliche, Lieferanten,
Spender, die Bevölkerung und natür-
lich auch Sie, liebe Leserin/lieber Leser.
Bei der Gelegenheit werden wir
auch unseren jüngsten Arbeitszweig
für Kinder und Jugendliche vor-
stellen. Zunächst beginnen wir mit
ambulanter Beratung und Th erapie,
planen aber langfristig auch ein statio-
näres Angebot.
Wir würden uns freuen, Sie zum
Konzert in Egenhausen begrüßen zu
dürfen.
Konzert von Judy Bailey und Band
de'ignisaktuell
Termine · Berichte · Neues aus den Einrichtungen
![Page 51: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/51.jpg)
51
DE’IGNIS AKTUELL
Für das nächste Jahr planen wir
eine Erweiterung der Klinik
Egenhausen, die dringend erforder-
lich ist, um die Existenz der Klinik
langfristig zu sichern. Der Anbau an
das Hauptgebäude und der Pavillon
(siehe Pläne) sind mit hohen Inves-
titionskosten verbunden. Für uns
ist das eine sehr große Herausforde-
rung. Wir hoff en deshalb, dass ein
Teil der Kosten aus Spenden fi nan-
ziert werden kann. Für jeden Beitrag
sind wir dankbar.
2011 wurden in der de’ignis-Fach-
klinik insgesamt ca. 1.300 Menschen
mit psychischen, psychosomatischen
und psychovegetativen Erkrankun-
gen auf christlicher Basis sowohl sta-
tionär als auch ambulant behandelt.
Unser Ziel ist es, die Existenz die-
ses Angebots langfristig zu sichern.
Nach umfassender Renovierung und
Erweiterung der Klinik in Altensteig
(2009), haben wir 2011 in unseren
Standort in Egenhausen investiert
(siehe auch Bericht im Magazin 41).
Für das nächste Jahr planen wir nun
einen weiteren wichtigen und sehr
herausfordernden Schritt: die Erwei-
terung der Klinik in Egenhausen.
Die Anforderungen von Patienten
und Kostenträgern an eine Rehabilita-
tionsklinik sind in den letzten Jahren
deutlich gestiegen. Sowohl von Pati-
enten als auch von Kostenträgern wird
zunehmend ein gehobener Hotel-
standard erwartet. Gesetzgeber und
Kostenträger fordern außerdem, dass
öff entliche Einrichtungen behinder-
tengerecht sind. Die Strukturanfor-
derungen der Kostenträger wurden
in den letzten Jahren dahingehend
sukzessive erhöht. Sie fordern unter
anderem Barrierefreiheit, mehr Ein-
zelzimmer und mehr Aufenthalts-
möglichkeiten für die Patienten.
Um diese Anforderungen zu er-
füllen, ist die Erweiterung der Klinik
dringend erforderlich:
Ein Aufzug soll an das bestehende
Gebäude angebaut werden, um die
Klinik barrierefrei/behindertengerecht
zu machen. Ohne einen Anbau ist der
Einbau eines Aufzugs aufgrund der
baulichen Gegebenheiten nicht rea-
lisierbar.
Finanzierbar sind die erforderli-
chen Investitionen nur mit der Schaf-
fung zusätzlicher Behandlungskapa-
zität. Die geplante Klinikerweiterung
umfasst deshalb 11 Einzelzimmer.
Für die zusätzlichen Patienten wer-
den Funktions- und Gruppenräume
sowie Aufenthaltsräume benötigt
und realisiert.
Da in Egenhausen unsere Haupt-
küche ist und wir durch Erweite-
rungsmaßnahmen in den vergange-
nen Jahren in der Klinik Altensteig
und der Tagesklinik die Kapazitäts-
grenze unserer Küche erreicht bzw.
überschritten haben, ist es dringend
notwendig, die Küche zu erweitern,
um die Abläufe zu verbessern und zu
professionalisieren.
Mit einem neuen Blockheizkraft -
werk, das mit regenerativen Energie-
quellen betrieben werden soll, sollen
der Anbau und auch Teile des Altbaus
geheizt und mit Strom versorgt wer-
den. Damit wollen wir den ständig
steigenden Energiekosten entgegen-
wirken.
In der Planungsphase haben wir
bereits Gottes Wirken erleben dür-
fen. Besonders zu erwähnen ist z. B.
die Tatsache, dass wir die Baugeneh-
migung erhalten haben, obwohl ein
Nebengebäude (der Pavillon) auf
einem unter Naturschutz stehenden
Grundstück gebaut werden soll. Auch
wenn es sich dabei nur um ein Rand-
stück zwischen zwei Straßen handelt,
waren intensive Verhandlungen erfor-
derlich, die Gott sei Dank erfolgreich
waren. Dabei ist auch zu erwähnen,
dass der Bürgermeister von Egen-
hausen und die Gemeinderäte dieses
Vorhaben sehr unterstützten.
Durch sowieso geplante Straßen-
bauarbeiten des Landkreises in die-
sem Jahr war es möglich, die Straße
vor der Klinik um wenige Meter zu
verlegen und der Gemeinde Egenhau-
sen etwas Land abzukaufen, auf dem
dann der Anbau errichtet werden soll.
Die Straßenbauarbeiten konnten wir
dazu nutzen, bereits Leerrohre zu
verlegen, die wir später für die Versor-
gung des Nebengebäudes benötigen.
Erweiterung der Klinik Egenhausen
FACH-KLINIK
AKTUELL
![Page 52: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/52.jpg)
52
Viele Interessenten an der Arbeit
der de’ignis-Fachklinik nutzen
heute das Internet. Auf unserer Home-
page unter www.deignis.de finden Sie
jederzeit viele Informationen über
uns, eine Behandlung in unserer Kli-
nik und auch darüber, wie man eine
Übernahme der Behandlungskosten
bei der zuständigen Krankenkasse
oder Rentenversicherung beantragen
kann. Dort steht Ihnen auch unser
Informationsmaterial zum Herunter-
laden bereit.
Manches ist aber nur im Gespräch
zu klären. Dafür stehen Ihnen unse-
re Verwaltungsmitarbeiter unter der
Rufnummer 07453 9391- 0 Montag
bis Freitag zwischen 8.30 Uhr und
12.30 Uhr und von 13.30 Uhr bis
17.00 Uhr zur Verfügung. Damit Sie
wissen, mit wem Sie es zu tun haben,
stellen wir Ihnen unser Verwaltungs-
Team hier kurz vor.
FACH-KLINIK
AKTUELL
Ansprechpartner
Hinten von links nach rechts: Monja Gerstheimer, Margarete von Hippel, Friederike Fräßle, Marko Jüttner, Tim Ließfeld
Vorne von links nach rechts: Corinna Weissert, Dorothea Bohnet, Ruth Oberbillig, Jens Rödel.
Die de’ignis-Fachklinik nimmt
in diesem Jahr (nach 2003/2004
und 2007/2008) bereits zum dritten
Mal an QS-Reha, dem Qualitäts-
sicherungsverfahren der Spitzenver-
bände der Krankenkassen, teil.
Rehabilitationskliniken sind gesetz-
lich zur Teilnahme an einrichtungs-
übergreifenden Maßnahmen der Qua-
litätssicherung verpflichtet.
Das QS-Reha-Verfahren beinhal-
tet eine externe, klinikvergleichende
Prüfung der Struktur-, Prozess- und
Ergebnisqualität einschließlich der
Patientenzufriedenheit.
Weitere Informationen werden wir
nach Abschluss der Studie veröff ent-
lichen.
Teilnahme QS-Reha
![Page 53: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/53.jpg)
53
DE’IGNIS AKTUELL
In einer Broschüre haben wir
die Ziele und die Basis unserer
Arbeit sowie unser derzeitiges und ge-
plantes Angebot dargestellt.
Die Broschüre können Sie im
Downloadbereich unserer Homepage
herunterladen:
www.deignis.de/148-0-Downloads.html
Oder einfach bei uns anfordern:
de’ignis-Institut, Markgrafenweg 17,
72213 Altensteig, Tel. 07453 9494-0,
E-Mail: [email protected]
Wissenswertes über das Kinder- und Jugendkonzept des de'ignis-Instituts
INSTITUT AKTUELL
In dem Konzept der Christlich-integrativen Beratung & Th erapie wenden wir wissenschaft lich
anerkanntes klinisch-psychotherapeutisches Fachwissen und fachlich bewährtes Beratungswis-
sen auf der Basis eines christlichen Menschenbildes an.
Unser Kurs richtet sich an Menschen, die allgemein eine Berufsbegleitende Ausbildung in
Christlich-integrativer Beratung & Th erapie suchen.
Unser Lehrgang ist konzipiert für Fachleute mit Vorkenntnissen in psychologischer/psycho-
therapeutischer Beratung. Diese wollen wir für ihre berufl iche Beratungspraxis weiterqualifi zieren in ressourcenorien-
tierter Beratung, besonders von Klienten mit christlich-religiöser Wertorientierung.
Auch für Laien mit solider praktischer Erfahrung und Schulung in der Beratung von Menschen mit psychischen
und anderen Problemen ist dieser Kurs geeignet.
In unserer berufsbegleitenden Fortbildung lernen Sie darum, Menschen mit tiefgreifenden seelischen Problemen oder
Störungen auf der Basis einer an der neutestamentlichen Th eologie orientierten „Th erapeutischen Anthropologie“
qualifi ziert zu beraten. Dabei werden Ihnen sowohl biblische Wahrheiten und Heilungswege als auch die wissenschaft -
liche, klinisch-psychotherapeutische Fachkenntnis sowie anerkannte Beratungskonzepte vermittelt. Methoden, die mit
dem biblischen Menschenbild nicht vereinbar sind, werden dabei nicht berücksichtigt.
Fortbildung in
Christlich-integrativer Beratung & Th erapie
de’ignis-Institut gGmbH für Psychotherapie und christlichen Glauben
Dipl. Psych. Rainer Oberbillig Markgrafenweg 17 · 72213 Altensteig
Telefon 07453 9494-0 oder 07453 9391-0 · [email protected] www.deignis.de
Christlich-integrative Beratung & Therapie – was ist das?Start
unseres neuenKurses im
Herbst 2013
![Page 54: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/54.jpg)
54
de'ignis-Wohnheim
– HausTabor
Seelsorge mit allenSinnen erlebenin Langenhart oder auf der Nordalb
11. – 13. Januar 2013 und 14. – 16. Juni 2013
Der Titel spricht für sich!
Ein sehr wichtiges, aktuelles und immer
wiederkehrendes Th ema.
Durch ressourcenorientierte Seelsorge
werden die Teilnehmerinnen gestärkt und
ermutigt.
Seminarleitung:
Dagmar Göhring und Alexandra Pfeifer
mit Team
de’ignis-Wohnheim gGmbH – Haus Tabor zur außerklinischen psychiatrischen Betreuung
Tel.: 07575 92507-0 oder 07570 951967; E-Mail: [email protected] www.deignis.de
07. – 08.12.2012 Umgang mit Leid
Eingeladen sind Christen,
die einen inneren Ruf zur
Seelsorge verspüren. Inter-
essierte sind ebenfalls einge-
laden. Gerade in unserer Zeit suchen immer
mehr Menschen mit psychischen Problemen
in christlichen Gemeinden Hilfe.
Veranstaltungsort:
Heu-Hotel Brigel-Hof, Meßkirch-Langenhart
mit dem Angebot von Seminarräumen,
freundlichen Zimmern, Heu-Hotel und
Verpfl egung vom eigenen Hof.
Schulung für Seelsorge in Langenhart
Einstieg
jederzeit
möglich!
Erfahrungsbericht über den de'ignis-Seelsorgekurs
Kann ja nicht schaden
Immer öft er haben Freundinnen bei
ganz alltäglichen Begegnungen ihr
Herz bei mir ausgeschüttet und im-
mer öft er wusste ich keine Antwort
mehr, mit der ich selbst zufrieden
war. Als ich dann von der de’ignis-
Seelsorgeschulung hörte, beschloss
ich diese mal mitzumachen. Kann
ja nicht schaden. Das ist jetzt neun
Jahre her. Seit dem hat sich Vieles in
meinem Leben verändert. In dieser
Schulung habe ich so manches gehört
und erlebt, was für mich selbst sehr
hilfreich und gut war. Gleichzeitig
wurde meine Berufung zur Seelsorge
für mich immer deutlicher. Danach
konnte ich anfangs viel Erfahrung bei
verschiedenen Seminaren und später
auch bei Gesprächen bei mir zuhause
sammeln. Zusätzlich habe ich in die-
sen Jahren noch andere Begabungen
in mir entdeckt und hatte die Mög-
lichkeit, diese zu vertiefen und auch
in den Seminaren und
bei der Seelsorgeschu-
lung mit einzubringen
und zu leben.
So ist aus dem anfäng-
lichen „kann ja nicht
schaden“ für mich selbst
– und auch für andere –
sehr viel Segensreiches
entstanden.
Verfasserin der Redak-
tion bekannt, Oktober
2012
Gottes Mühlen mahlen ...
Seit einigen Jahre arbeite ich in ver-
schiedenen Seelsorgeseminaren von
de’ignis als Techniker mit und bin
unter Anderem für Bild und Ton mit-
verantwortlich.
Schon einige Male wurde ich von
Verschiedenen angesprochen, ob ich
nicht auch an der Seelsorgeschulung
teilnehmen und bei der eigentlichen
Seelsorge mitarbeiten wollte. Das
habe ich mir aber nicht zugetraut,
weil ich dachte, dafür sei ich nicht ge-
eignet und meine Berufung nicht in
die Richtung gehen würde.
Aber Gottes Mühlen mahlen...
und seine Gedanken sind wohl
manchmal anders als unsere:
Und so war ich wieder als Techni-
ker während einer Seelsorgeveranstal-
tung tätig, als ein Ehepaar nach einer
Paarberatung fragte. Und „es ergab
sich“, dass meine Frau, die schon lan-
ge als Seelsorgerin arbeitet, und ich
gefragt wurden, ob wir das Gespräch
nicht gemeinsam führen wollten.
Gott gibt mir Wert und WürdeEin Seminar für Frauen
![Page 55: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/55.jpg)
55
DE’IGNIS AKTUELL
Und so kam es, dass meine Frau und
ich als Ehepaar unser erstes Paar-
gespräch führten. Und das Erstaun-
liche für mich: Obwohl es um tief-
greifende, existenzielle Dinge ging,
war das Gespräch für uns „leicht“,
wir beide haben uns gegenseitig „die
Bälle“ zugeworfen und wir konnten
dem ratsuchenden Paar zuhören, auf
Impulse von oben warten und ihnen
Hilfe zur Selbsthilfe anbieten. In der
Nachrefl exion fühlten wir uns beide
als die Beschenkten. Für mich war
dieser „Sprung ins kalte Wasser“ eine
Bestätigung und Vergewisserung, dass
es sich lohnt, meine Berufung in Rich-
tung Seelsorge nochmals anzuschau-
en. Somit war dann die Anmeldung
zur Seelsorgeschulung eine logische
Konsequenz aus dieser grundlegen-
den Erfahrung.
Nun bin ich gespannt darauf, was
sich aus dem Seelsorgekurs für mich
persönlich und eventuell für weitere
seelsorgerliche Aufgaben ergibt.
Ich bin sicher: Gottes Mühlen
mahlen zielorientiert und erfolgreich.
Dieter Burau, Oktober 2012
Die Seelsorgeschulung – eine per-
sönliche Oase und Sprungbrett für
mich
Seit Februar 2011 bin ich nun Teil-
nehmerin der de’ignis-Seelsorgeschu-
lung in Langenhart.
Auf die Schulung bin ich zufällig
bei Internetrecherchen zu ganz ande-
ren Th emen gestoßen. Da mein Herz
schon seit längerer Zeit für Seelsorge
schlug, fiel mir die Entscheidung für
die Teilnahme sehr leicht. In meinem
Eifer meldete ich mich auch gleich für
alle zehn Kurseinheiten an.
Nur kurze Zeit zuvor hatte ich
mich auf eine spannende Reise zum
Vaterherzen Gottes begeben, da ich
zuvor in einem eher religiös-gesetz-
lichen Gottesbild lebte, welches mich
immer wieder an meine Grenzen
führte.
Die Seelsorge-Schulung wollte
ich mit der Absicht besuchen, meine
Fähigkeiten im Bereich Seelsorge wei-
terzuentwickeln um damit Gott und
anderen Menschen dienen zu kön-
nen. Für mich hatten beide Punkte
zunächst wenig miteinander zu tun.
Doch schon bei Seminar 1 wurde
ich eines Besseren belehrt. Ich hatte
keine konkreten Vorstellungen, was
mich in dieser Schulung erwarten
würde, aber mit einer lebendigen
Predigt über das Th ema Gnade von
Winfried Hahn als Einstieg hatte
ich sicherlich nicht gerechnet. Seine
Worte haben mich tief berührt und
ich fand Bestätigung in grundlegen-
den Wahrheiten, die ich kurze Zeit
zuvor erstmalig vernommen hatte.
Und dieses Erlebnis war keinesfalls
die einzige Begegnung, die ich mit
Gott in dieser Schulung hatte.
In diesen anderthalb Jahren habe
ich persönlich schon sehr viel innere
Heilung erlebt. Mein neues Gottes-
bild hat sich in dieser Zeit immer wei-
ter gefestigt und bringt inzwischen
auch immer mehr Frucht.
Nach den Seminaren bin ich
immer gestärkt und ermutigt nach
Hause gekommen, was natürlich auch
meinem Ehemann nicht entgangen
ist. So wollte auch er sich ein eigenes
Bild über den Kurs machen und be-
suchte ihn inzwischen sogar schon
zum dritten Mal.
Die Wochenenden empfinde ich
in der Tat als eine Oase aus dem All-
tag. Auch die Zeit zwischen den Se-
minaren wurde für mich sehr wichtig
um das Gehörte und Gelernte richtig
aufnehmen und umsetzen zu können.
Besonders gut gefällt mir, dass die
Th emen anhand von vielen authen-
tischen Beispielen lebendig erzählt
werden und sich die Zuhörer deshalb
sehr gut darauf einlassen können.
Trotzdem oder gerade deshalb kön-
nen sehr viele hilfreiche und wert-
volle Informationen weitergegeben
werden. Viele dieser Informationen
können die Zuhörer direkt in ih-
ren persönlichen Lebenssituationen
umsetzen. Aber auch für die Arbeit
mit Menschen, die sich in seelischen
Nöten befi nden, gibt es viele hilfrei-
che Tipps, die praktisch gut umsetz-
bar sind.
Das ganze Seminar ist sehr gut vor-
bereitet und die Th emen ansprechend
gewählt.
Ich erlebe viele warmherzige, er-
mutigende und wertschätzende Be-
gegnungen an diesen Wochenenden
(unter anderem auch in den Klein-
gruppen). Viele Teilnehmer und Mit-
arbeiter habe ich inzwischen sehr in
mein Herz geschlossen, denn trotz
des umfangreichen Programms gibt
es beispielsweise in den Pausen viele
Möglichkeiten für einen guten Aus-
tausch.
Und auch die Anbetungszeiten
sind für mich eine besondere Begeg-
nung mit Gott.
Durch Kontakte, die ich während
des Kurses mit den Mitarbeitern
knüpfen konnte, war die Seelsorge-
Schulung für mich auch ein Sprung-
brett – zunächst in ehrenamtliche
Mitarbeit und mittlerweile sogar in
ein Praktikum, das ich im November
im de‘ignis-Wohnheim – Haus Tabor
beginnen werde und auf das ich mich
sehr freue. Sicherlich werde ich auch
das eine oder andere Gelernte aus der
Schulung in meinem Arbeitsalltag
umsetzen können.
Die nächsten Seminare werde ich
teilweise als Teilnehmerin, teilweise
als Mitarbeiterin besuchen. Ich freue
mich auf jedes einzelne Seminar.
Anita Holweger, Oktober 2012
Die Persönlichkeit des Seelsorgers –
Seminar 9 in Langenhart
Vor nicht allzu langer Zeit habe ich
meinen ersten Seelsorgekurs bei
de’ignis besucht, aus Neugierde, weil
meine Frau schon seit geraumer Zeit
an den Kursen teilnimmt. Mittler-
weile bin ich bereits das dritte Mal
dabei. Das hat seinen Grund: Für
mich ist dies hier eine Zeit, in der
man so richtig geistliche Kraft tanken
und vom Alltag abschalten kann, in
der man Annahme erlebt und dazu
![Page 56: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/56.jpg)
56
de'ignis-Wohnheim
– HausTabor
stoßen kann, so wie man ist. So habe
ich dies auch im dritten Kurs wahr-
genommen, der hauptsächlich die
eigene Persönlichkeit zum Th ema
hatte. Ich erhielt einen tiefen Einblick
in mich selbst, bei dem ich schon
das eine oder andere Mal schlucken
musste – Ehrlichkeit tut weh, aber ist
heilsam, wenn die Dinge, die in einem
nicht stimmen, erst mal aufgedeckt
sind. Die einzelnen Einheiten wur-
den immer wieder mit erfrischendem
Lobpreis eingeleitet. Bei der Grup-
penarbeit durft e (und wollte) ich den
Part des Ratsuchenden übernehmen.
Hier galt es, Mut aufzubringen, Hem-
mungen abzulegen und mitzuteilen,
was einem auf dem Herzen liegt. Aber
auch hier erfährt man stets Annah-
me und wird ernstgenommen. Die
Kurse sind für mich Balsam für die
Seele und bieten die Möglichkeit, tief
mit Gott in Kontakt zu kommen und
wunderbare Menschen zu erleben.
Ich bin gespannt auf den nächsten
Kurs.
Hans-Martin Holweger,
Oktober 2012
de’ignis-Wohnheim gGmbH – Haus Tabor zur außerklinischen psychiatrischen Betreuung
Tel.: 07575 92507-0 oder 07570 951967; E-Mail: [email protected] www.deignis.de
Schulung für Seelsorge 10-teilige Seminarreihe in Langenhart
Schulung für Seelsorge
Zur Begleitung von Menschen mit Lebenskrisen, psychischen Pro-
blemen und Krankheiten. Unsere Botschaft von Gnade und Liebe,
gepaart mit Glaube und Hoff nung, fundiert mit solidem Fachwissen
und dem Ziel einer prozesshaft en Entwicklung ist das Fundament
aller Seminarinhalte.
Diese Seelsorgeschulung umfasst insgesamt 10 Seminare.
Eingeladen sind Christen, die einen inneren Ruf zur Seelsorge ver-
spüren, aber auch solche, die sich einfach nur für seelsorgerliche Fragen interessieren.
Die Schulung soll zur qualifi zierten Begleitung von Menschen mit seelischen Nöten
befähigen. Darüber hinaus vermittelt der Kurs Einsichten in die verschiedenen Ent-
wicklungsphasen des menschlichen Lebens und bietet damit die Möglichkeit, sich selbst
besser verstehen und kennen zu lernen. Der Kurseinstieg ist jederzeit möglich, weil die
verschiedenen Lehreinheiten regelmäßig in weiteren Zyklen in Süddeutschland wieder-
holt werden.
SEMINAR 1:08./09.03.2013
Veranstaltungsort:
Heu-Hotel Brigel-Hof, Meßkirch-
Langenhart mit dem Angebot von
Seminarräumen, freundlichen Zim-
mern, Heu-Hotel und Verpfl egung
vom eigenen Hof.
Biblische Perspektiven für seelsorgerliches Handeln, Defi nition
psychischer Erkrankungen, Transaktionsanalyse
SEMINAR 2:19./20.04.2013
SEMINAR 3:21./22.06.2013
SEMINAR 4:13./14.09.2013
SEMINAR 5:22./23.11.2013
Methodische, inhaltliche und juristische Rahmenbedingungen
seelsorgerlicher Gesprächsführung
Psychopathologie – Psychische Krankheitsbilder einordnen
und verstehen lernen
Darstellung der gängigen Th erapieschulen und ihrer Behand-
lungsverfahren
Jugendseelsorge – Freundschaft , Liebe, Sexualität
SEMINAR 6:24./25.01.2014
Biblische Anthropologie, Th erapie des Herzens,
Hören auf Gott
SEMINAR 7:21./22.03.2014
SEMINAR 8:04./05.07.2014
SEMINAR 9:19./20.09.2014
SEMINAR 10:28./29.11.2014
Innere Heilung durch Klärung der Beziehung zu Gott,
zum Du und zum Ich in Vergangenheit und Gegenwart
Identitätsentwicklung und -störungen, Sucht,
Borderline-Persönlichkeitsstörung
Die Persönlichkeit des Seelsorgers, Fähigkeit zur
Selbstrefl exion, Selbstkritik und Introspektion
Umgang mit Leid, Th eodizee-Problematik, Posttraumatische
Belastungsstörung
![Page 57: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/57.jpg)
57
DE’IGNIS AKTUELL
Mehr und mehr entfaltet sich
das neue Konzept des de’ignis
Wohnheims und nimmt Gestalt an.
Regelmäßig fi ndet die Gymnastik im
neuen und schön gestalteten Mehr-
zweckraum statt. Das Wohntraining
in seinen verschiedenen Ausprägun-
gen (siehe Skizze unten) entfaltet sich
unter fachkundiger Anleitung unse-
rer Mitarbeiterin Katrin Leinenbach.
Die gesamte Baufi nanzierung –
Zins und Tilgung – bestreiten wir
über Spen-
den. Das ist
nach wie vor
eine große
Herausfor-
derung.
de'ignis-Wohnheim Volle Belegung, neue Bewohner, motivierte Mitarbeiter
Pädagogische Arbeits-
trainingsmaßnahme
Pädagogisch/therapeutische
Angebote
Freizeitpädagogische
Angebote
Medizinische Betreuung
Sozialdienst
Kooperation mit der
Werkstatt für behinderte
Menschen
Notaufnahme und
Clearing-Bett
Zusätzliche wohn-
stufenspezifi sche Gruppen-
angebote in verschiedenen
Bereichen, z. B. Arbeit,
Bildung, Kultur
Betreuung
rund um die Uhr
Einüben
lebenspraktischer Fertig-
keiten im vollstationären
Setting
Festigung der lebens-
praktischen Fertigkeiten
Ausgelagerte Wohngruppe
Intensivbetreuung
durch eine Diplom-
Sozialarbeiterin
Zusätzliche wohn-
stufenspezifi sche
Gruppenangebote
(siehe Wohntrainingsstufe I)
Erste Übungs-
maßnahmen zur Teilnahme
am öff entlichen Leben,
z. B. VHS Kurse
Ausübung der lebens-
praktischen Fertigkeiten
Geringerer
Betreuungsschlüssel
Ausgelagerte
Wohngruppe
Betreutes Wohnen
auf Probe
Teilnahme am öff entlichen
Leben, z. B. Berufspraktika
Rückführung
in den Herkunft slandkreis
Stationärer Bereich
Wohntrainingsstufe I
Wohntrainingsstufe II
Wohntrainingsstufe III
de’ignis-Wohnheim
Kto. 105 338 · BLZ 690 516 20
Sparkasse Pfullendorf-Messkirch
+ Halbzeit bei unserem Seelsorge-
kurs in Warschau. Mit Seminar 5
haben wir die Hälft e des Seelsorge-
kurses mit anhaltend hoher Teil-
nehmerzahl überschritten!
+ Ständig entwickeln wir unser Seel-
sorgenetzwerk weiter, derzeit arbei-
ten 7 Seelsorgeberatungsstellen im
Land unter unserer Supervision.
+ Unsere polnische Zeitschrift „un-
ter 4 Augen“ ist im off iziellen Zeit-
schrift en- und Buchhandel im gan-
zen Land präsent.
+ Die Kooperation über den wissen-
schaft lichen Beirat unserer Zeit-
schrift mit der größten christlichen
Ärzte- und Psychologenvereini-
gung vertieft sich auf erfreuliche
Weise. Ein Austausch über fach-
liche und theologische Fragen
mit Professor Dr. Jaworski und
Dr. Tomasz Niemirowski – beides
sehr einflussreiche Wissenschaft ler
und Publizisten – mit dem Vorsit-
zenden der Christlichen Stift ung
de’ignis Winfried Hahn ergab
weitestgehende Übereinstimmung
mit der beiderseitigen Bereitschaft
größtmöglicher Zusammenarbeit!
Ein gemeinsam veranstalteter Kon-
gress ist in Planung.
+ Die Vorbereitungen für unser Reha-
Zentrum laufen in vollem Umfang
weiter.
Christliche Stiftung de'ignis-Polen
Spendenkonto:Christliche Stift ung de’ignis-PolenKonto 7 260 512BLZ 666 500 85Sparkasse Pforzheim
+++ Telegramm +++ Telegramm +++ Telegramm POLENAKTUELL
![Page 58: magazin44](https://reader034.vdokument.com/reader034/viewer/2022042718/568bdc401a28ab2034b17c6b/html5/thumbnails/58.jpg)
58
ADRESSEN
Durchatmen, wenn die Luft raus ist.
Effektive Präventionsangebote.
Gesundheit ist ein hohes Gut, das es zu schützen gilt. Alle Maß-
nahmen, die dazu dienen, Gesundheit zu erhalten und Krankheiten
zu vermeiden, werden unter dem Oberbegriff „Gesundheitliche
Prävention“ zusammengefasst. Dabei ist viel Eigeninitiative
gefordert, denn jeder kann die eigene seelische und körperliche
Gesundheit stark beeinflussen.
Eine praktische Anleitung, wie Körper und Seele gesund gehalten
werden können, bieten unsere individuell gestaltbaren Gesund-
heitswochen und unser Kompaktkurs zur Stressbewältigung und
-prävention.
Detaillierte Informationen zu den Leistungen, Kosten und Terminen
der de’ignis-Präventions-Angebote senden wir Ihnen gerne zu.
Kompetenz. Und Gottvertrauen.
de’ignis-Fachklinik gGmbH
auf christlicher Basis für Psychiatrie,
Psychotherapie, Psychosomatik
Walddorfer Straße 23 · 72227 Egenhausen
Telefon 07453 9391-0
Telefax 07453 9391-193
[email protected] www.deignis.de
scot
tdun
lap/
isto
ckph
oto.
com
Ambulante Th erapie und Beratungsstellen (de’ignis)
de’ignis-GesundheitszentrumSommerstraße 172227 EgenhausenTelefon 07453 [email protected]
de’ignis-WohnheimFred-Hahn-Straße 3272514 EngelswiesTelefon 07575 [email protected]
de’ignis-InstitutBeratungsstelleLerchenstraße 4072213 AltensteigTelefon 07453 [email protected]
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Magdalena SchnabelBeratungsstelleMax-Liebermann-Straße 973257 Köngen/N.Telefon 07024 [email protected]
Dorothea ReutherBeratungsstelleDillweißensteiner Straße 975180 PforzheimTelefon 07231 [email protected]
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Erika GasperBeratungsstelleAlte Jakobstraße 7510179 BerlinTelefon 030 [email protected]
Katrin Lehmann & Annette KuhnBeratungsstelleGroßenhainer Straße 13701129 DresdenTelefon [email protected]
Dr. med. Martina DickhautBeratungsstelleFlamweg 8925335 ElmshornTelefon 0175 [email protected]
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