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Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Dozent: apl. Prof. Dr. Matthias Kunik Mitschriften zum Kurs Mathematik II/ Teil 1 (Stg B) Magdeburg, 29. September 2017

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Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

Dozent: apl. Prof. Dr. Matthias Kunik

Mitschriften zum Kurs

Mathematik II/ Teil 1 (Stg B)

Magdeburg, 29. September 2017

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

1 Integralrechnung 11.1 Mittelwertsatz der Differentialrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Hauptsatz der Differential-Integralrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31.3 Leibniz-Kalkül für Integrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41.4 Hauptsatz der Infinitesimalrechnung, Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . 41.5 Rechenregeln für Integrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51.6 Kleine Integraltafel wichtiger Stammfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61.7 Beispiele zu den Integrationsrechenregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61.8 Uneigentliche Riemann-Integrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81.9 Beispiele zu uneigentlichen Riemann-Integralen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81.10 Beispiel einer trennbaren Differentialgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

2 Taylor Reihen 112.1 Taylor Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112.2 Beispiele: Wichtige Taylor Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112.3 Satz: Quotientenkriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122.4 Satz: Gliedweise Differenzierbarkeit einer Potenzreihe . . . . . . . . . . . . . . 132.5 Folgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

3 Fourier-Reihen periodischer Funktionen 153.1 Exponential-Schreibweise der trigonometrischen Polynome . . . . . . . . . . . . 153.2 Definition: Fourier-Koeffizienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163.3 Definition: Die Fourier-Reihe einer 2π -periodischen Funktion . . . . . . . . . . 173.4 Satz: Konvergenz einer Fourier-Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173.5 Beispiel einer 2π-periodischen Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183.6 Definition: stückweise glatte Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193.7 Satz: Konvergenz von Fourier-Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193.8 Beispiel: Fourier-Reihe eines Rechteckpulses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

4 Funktionen mehrerer Variablen: Differentialrechnung und Vektoranalysis 214.1 Definition: Ableitungen von Funktionen mehrerer Variablen . . . . . . . . . . . 214.2 Beispiele partieller Ableitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214.3 Satz: Satz von Schwarz über Vertauschung der Differentiationsreihenfolge . . . . 234.4 Definition: Der Laplace-Operator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234.5 Beispiel: Die Laplace-Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244.6 Definition: wichtige Differentialoperatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244.7 Beispiel: Anwendung von Differentialoperatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . 244.8 Definition: Jacobi-Matrix einer vektorwertigen Funktion . . . . . . . . . . . . . 254.9 Beispiel: Ebene Polarkoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254.10 Definition: Approximation einer Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264.11 Definition: totale Differenzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264.12 Satz: Eigenschaften total differenzierbarer Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . 274.13 Beispiel: Tangentialebene und Tangentialvektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

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4.14 Definition: Die Richtungsableitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284.15 Beispiel: Tangentialvektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304.16 Satz: Kettenregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304.17 Beispiele zur Kettenregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314.18 Definition: Lokale Extrema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334.19 Satz: Notwendiges Kriterium für Extrema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334.20 Satz: Taylorentwicklung einer Funktion mehrerer Variablen . . . . . . . . . . . . 344.21 Satz: Lokale Extrema von Funktionen mehrerer Variablen . . . . . . . . . . . . . 354.22 Bemerkung: Lokale Extrema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364.23 Beispiel: Lokale Extrema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364.24 Definition: Lokale Extrema mit Nebenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . 364.25 Beispiel: Extrema mit Nebenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374.26 Satz: Multiplikatorenregel von Lagrange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374.27 Beispiel: Extrema unter Nebenbedingungen mit der Multiplikatorenregel . . . . . 39

5 Funktionen mehrerer Variablen: Integration 415.1 Definition: Normalbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415.2 Satz: Flächeninhalt eines Normalbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435.3 Definition: Das Doppelintegral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435.4 Bemerkungen zu Doppelintegralen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435.5 Satz von Fubini bzw. Satz von der Vertauschung der Integrationsreihenfolge . . . 445.6 Beispiele zu Doppelintegralen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445.7 Satz: Doppelintegrale in Polarkoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465.8 Beispiel: Doppelintegral in Polarkoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465.9 Definition: Normalbereiche im R3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475.10 Satz: Dreifachintegrale auf Normalbereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485.11 Beispiel zu Dreifachintegralen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485.12 Satz: Integration mit Zylinderkoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485.13 Bemerkung zu Berandungsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495.14 Beispiel zur Integration mit Zylinderkoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

6 Wegintegrale und Gaußscher Integralsatz der Ebene 516.1 Definition: spezielle Integrationswege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516.2 Beispiel zu Integrationswegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516.3 Definition: Integrationswege, Wegsumme und Weglänge . . . . . . . . . . . . . 526.4 Definition: Das Wegintegral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526.5 Bemerkungen zu Wegintegralen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536.6 Beispiel eines Kurvenintegrals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536.7 Satz: Gaußscher Integralsatz der Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546.8 Beispiel zum Gaußschen Integralsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556.9 Satz: Charakterisierung der Gradientenfelder auf sternförmigen Gebieten . . . . 55

7 Oberflächenintegrale, die Integralsätze von Stokes und Gauß 597.1 Definition: Flächenparametrisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597.2 Definition: Das Oberflächenintegral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

III

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Inhaltsverzeichnis

7.3 Beispiel eines Oberflächenintegrals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637.4 Satz: Integralsatz von Stokes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657.5 Satz: Satz von Gauß für Normalbereiche im R3 und das Divergenz-Theorem . . . 66

8 Die Poissonsche bzw. Laplacesche Gleichung der Potentialtheorie 698.1 Definition: Fundamental-Lösung der Laplace-Gleichung . . . . . . . . . . . . . 708.2 Satz: Lösung der Poisson-Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

IV

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1 Integralrechnung

1.1 Mittelwertsatz der Differentialrechnung

Die Funktion y = F (x) soll auf dem Intervall [a, b] stetig sein und auf (a, b) eine AbleitungF ′(x) besitzen. Dann gibt es eine Stelle ξ mit a < ξ < b, so dass gilt:

F (b)− F (a)

b− a︸ ︷︷ ︸Sekantensteigung

zu a,b

= F ′(ξ)︸ ︷︷ ︸Tangentensteigung

in ξ

x

y

y = F (x)

a bξ

Tangente zu ξ

x

y

y = F (x)

ξ

P (ξ, F(ξ)) unterscheidet

sich bei immer stärkererVergrößerung um denBerührpunkt P immerweniger von derTangente in ξ.

Wir betrachten nun in der folgenden Skizze den Inhalt A des von einer Kurve y = f(x), derx-Achse und den Intervallgrenzen a, b eingschlossenen Flächenstücks. Wir bilden eine beliebigeZerlegung a = x0 < x1 < x2 < . . . < xn = b des Intervalls [a, b] und Zahlen ξk aus dem k-tenTeilintervall [xk−1, xk] der Länge dxk := xk − xk−1:

1

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1 Integralrechnung

x

y

y = f(x)

a = x0 ξ1x1 ξ2

x2 ξ3x3 = b

Abbildung: Ein Beispiel mit n = 3 Unterteilungen von [a, b]. Die Fläche A unter y = f(x) in[a, b] wird mit den Zwischenstellen ξk durch eine Summe von Rechteckflächen approximiert.

Wenn die Summe der Rechteckflächenn∑k=1

f(ξk)dxk mit ständiger Verfeinerung der Intervall-

zerlegung (d.h. maxnk=1 dxk → 0) gegen die gesuchte FlächeA konvergiert, dann nennt man denGrenzwert

A := limn→∞

n∑k=1

f(ξk)dxk =

∫ b

a

f(x) dx

das (Riemann-) Integral von y = f(x) in den Grenzen a bis b, und f heißt dann in [a, b]Riemann-integrierbar.

Aber Vorsicht: In denjenigen Bereichen, wo f(x) < 0 ist, d.h. die Kurve unterhalb der x-Achse verläuft, ist der Integralanteil negativ zu nehmen und gegen den positiven Flächenanteil,wo f(x) > 0 ist, zu verrechnen. So ist z.B.

∫ 1

−1

x dx =

∫ 0

−1

x dx+

∫ 1

0

x dx = −1

2+

1

2= 0

2

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1.2 Hauptsatz der Differential-Integralrechnung

x

y

y = x

+1

−1+1

2

−12

0

Setze nun f(x) = F ′(x) mit einer bekannten Stammfunktion F (x) von f(x) auf [a, b]. DieFunktion f sei auf [a, b] Riemann-integrierbar. Dann gilt der

1.2 Hauptsatz der Differential-Integralrechnung

∫ b

a

f(x) dx = F (b)− F (a) =[F (x)

]ba

Bemerkung: Dieser Satz wird in mehreren Raumdimensionen zum sogenannten Gaußschen-Integralsatz verallgemeinert!

Einfacher Nachweis des Hauptsatzes und Motivation des Leibniz-Integralkalküls

Zn : a = x0 < x1 < x2 < . . . < xn−1 < xn = b sei eine Zerlegung des Intervalls [a, b].Für jedes Teilintervall Ik = [xk−1, xk] mit k = 1, . . . , n gibt es nach dem Mittelwertsatz derDifferentialrechnung ein ξk mit xk−1 < ξk < xk, so dass

(1.1) F (xk)− F (xk−1) = F ′(ξk)(xk − xk−1) = f(ξk)(xk − xk−1).

Die Differenzen in (1.1) summieren wir auf zur Reißverschluss- bzw. Teleskopsumme:

(1.2) F (b)− F (a) =n∑k=1

F (xk)− F (xk−1) .

Mit (1.1) folgt

(1.3) F (b)− F (a) =n∑k=1

f(ξk)(xk − xk−1).

3

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1 Integralrechnung

Mit immer feiner werdender Zerlegung Zn konvergiert die Zwischensumme

n∑k=1

f(ξk)(xk − xk−1) gegen

b∫a

f(x) dx

Da die linksstehende Differenz F (b) − F (a) in (1.3) nicht von Zn abhängt, folgt sofort derHauptsatz.

1.3 Leibniz-Kalkül für IntegraleDefiniere in (1.1) die Differenzen

dxk = xk − xk−1, dFk = F (xk)− F (xk−1)

und teile durch dxk. Es folgt

(1.1∗)dFkdxk

= F ′(ξk) = f(ξk),

was der Schreibweise der Ableitung dFdx

entspricht. Führt man für die Differenz [F (x)]ba dasSymbol

∫ b

a

dF (x) = F (b)− F (a)

ein, so lautet die Reißverschlußsumme (1.2):

(1.2∗)∫ b

a

dF (x) =n∑k=1

dFk.

Das Summenzeichen entspricht dem Integralzeichen, und die Zwischensumme in (1.3) demIntegral:

(1.3∗) F (b)− F (a) =n∑k=1

f(ξk) dxk →∫ b

a

f(x) dx.

1.4 Hauptsatz der Infinitesimalrechnung, Zusammenfassung

F (b)− F (a) =

∫ b

a

dF (x) =

∫ b

a

dFdx

(x) dx(1.4)

=

∫ b

a

F ′(x) dx =

∫ b

a

f(x) dx.

4

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1.5 Rechenregeln für Integrale

Differentialschreibweise:

dF (x) =dFdx

(x) · dx

1.5 Rechenregeln für IntegraleEine Stammfunktion F von f nennt man auch unbestimmtes Integral von f , und schreibt dafür:F (x) =

∫f(x) dx.

(a) Nach der Summen- und Faktorregel der Differentialrechnung gilt für reelle Konstantenα, β, C: ∫

(αf(x) + βg(x)) dx = α

∫f(x) dx+ β

∫g(x) dx+ C

und nach dem Hauptsatz (1.4) für die bestimmten Integrale die Linearität:∫ b

a

(αf(x) + βg(x)) dx = α

∫ b

a

f(x) dx+ β

∫ b

a

g(x) dx.

(b) Nach der Produktregel der Differentialrechnung ist∫(f ′(x)g(x) + f(x)g′(x)) dx = f(x) · g(x) + C,

und mit der Summenregel liefert der Hauptsatz (1.4) für die bestimmten Integrale die Re-chenregel der partiellen Integration:∫ b

a

f ′(x)g(x) dx = [f(x) · g(x)]ba −∫ b

a

f(x)g′(x) dx.

(c) Nach der Kettenregel der Differentialrechnung ist∫f(x(z))x′(z) dz = F (x(z)) + C,

wenn F eine Stammfunktion von f ist. Der Hauptsatz (1.4) liefert dann für bestimmteIntegrale die Substitutionsregel, Variante 1:

(?)∫ d

c

f(x(z))x′(z) dz = [F (x(z))]z=dz=c .

Nach dem Hauptsatz ist aber auch∫ x(d)

x(c)

f(x) dx = [F (x)]x(d)x(c) = [F (x(z))]z=dz=c ,

so dass aus (?) die Substitutionsregel, Variante 2 folgt:

(??)∫ x(d)

x(c)

f(x) dx =

∫ d

c

f(x(z)) · x′(z) dz.

Bemerkung: Hier wird keine Stammfunktion F von f benötigt!

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1 Integralrechnung

1.6 Kleine Integraltafel wichtiger Stammfunktionen

f(x) F (x) =∫f(x) dx (Stammfunktion).

xa = ea lnx xa+1

a+1für x > 0, a 6= −1 reell.

eax 1aeax für a ∈ R, a 6= 0.

sin(ax) − 1a

cos(ax) für a ∈ R, a 6= 0.

cos(ax) 1a

sin(ax) für a ∈ R, a 6= 0.1x

ln |x| , x 6= 0.1√

1−x2 arcsinx bzw. − arccosx, |x| < 1.1

1+x2arctanx.

Rechenprobe durch Bildung von F ′(x) = f(x)!

1.7 Beispiele zu den Integrationsrechenregeln

(a) Logarithmische Ableitungen und deren Stammfunktionen:Ist g : I → R auf einem offenen Intervall I ⊆ R stetig differenzierbar mit g(x) 6= 0 füralle x ∈ I , so können wir die logarithmische Ableitung g′(x)

g(x)von g an jeder Stelle x ∈ I

bilden, und erhalten hiervon als Stammfunktion:∫g′(x)

g(x)dx = ln |g(x)|+ C, C ∈ R konstant

Wichtiger Spezialfall:∫

dxx

= ln |x|+ C gilt sowohl für x < 0 als auch für x > 0.

Nachweis: Für u ∈ R \ 0 ist

ddu|u| = sign(u) =

+1, u > 0

−1, u < 0

u

|u|

Steigu

ng1Steigung -1

0Da g als stetig differenzierbare Funktion insbesondere stetig und frei von Nullstellen ist,muss nach dem Zwischenwertsatz g entweder positiv auf ganz I oder negativ auf ganz Isein, und die Kettenregel liefert:

ddx

[ln |g(x)|+ C] =1

|g(x)|· sign(g(x))︸ ︷︷ ︸= 1g(x)

·g′(x) =g′(x)

g(x).

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1.7 Beispiele zu den Integrationsrechenregeln

(b) Berechnung von∫

cos2 t dt mittels partieller Integration:Wir betrachten cos2 t = d

dt(sin t) · cos(t), und erhalten wegen sin2 t = 1− cos2 t:∫cos2 t dt =

∫ddt

(sin t) cos t dt

= sin t · cos t−∫

sin t · ddt

(cos t) dt

= sin t · cos t+

∫sin2 t dt

= sin t · cos t+

∫(1− cos2 t) dt

= sin t · cos t+ t−∫

cos2 t dt,

mithin∫

cos2 t dt =1

2(t+ sin t cos t).

(c) Berechne F (x) :=∫ √

1− x2 dx für |x| ≤ 1:

Schritt 1: Die Substitution x = sin t, dx = cos t · dt(−π

2≤ t ≤ π

2, d.h. |t| ≤ π

2

)liefert:

F (sin t) =

∫ √1− sin2 t · cos t dt

=

∫cos2 t dt.

Schritt 2:∫

cos2 t dt = 12(t+ sin t cos t) aus (b).

Schritt 3: Die Rücksubstitution t = arcsin(x) liefert

F (x) =

∫ √1− x2 dx =

1

2

[arcsin(x) + x ·

√1− x2

]+ C.

Probe durch Ableiten!

(d)∫ 1

0dx

(1+x2)2kann mit der Substitution x = x(z) = tan z mit x(0) = 0, x

(π4

)= tan π

4= 1

gelöst werden:Aus der Substitutionsregel (??) folgt∫ 1

0

dx(1 + x2)2

=

∫ x(π4

)

x(0)

dx(1 + x2)2

=

∫ π4

0

x′(z) dz(1 + x(z)2)2

=

∫ π4

0

1

cos2 z︸ ︷︷ ︸x′(z)

· 1

(1 + tan2 z)2dz

=

∫ π4

0

cos2 z dz =

[1

2(z + sin z cos z)

]π4

0

8+

1

4.

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1 Integralrechnung

Man sieht jedoch an den folgenden beiden Beispielen, dass die Definition des RiemannschenIntegrals einer stetigen Funktion auf einem Integrationsintervall [a, b] gelegentlich zu kurz greift:

(?)∫ ∞

1

duu2

:= limT→∞

∫ T

1

duu2

= limT→∞

(1− 1

T

)= 1

beziehungsweise

(??)∫ 1

0

dx2√x

:= limε↓0

∫ 1

ε

dx2√x

= limε↓0

(1−√ε) = 1.

Beides sind sogenannte uneigentliche Riemann-Integrale, im Falle (?), da der Integrationsbereichunbeschränkt ist, und im Falle (??), da der Integrand unbeschränkt ist. Da die Substitution u =

1√x

beide Integrale ineinander überführt, liegt es nahe, die beiden Arten uneigentlicher Integralegleichberechtigt zu behandeln:

1.8 Uneigentliche Riemann-Integrale

Gegeben ist ein offenes Intervall (a, b), wobei diesmal a = −∞, bzw. b = +∞ zugelassensind, sowie eine Funktion f : (a, b) → R. Es sei [αn, βn] eine Folge endlicher Teilintervalle mita < αn < βn < b und lim

n→∞αn = a, bzw. lim

n→∞βn = b, so dass f auf allen Teilintervallen [αn, βn]

Riemann-integrierbar sein soll. Weiter nehmen wir an, dass für jede dieser Intervallfolgen derGrenzwert ∫ b

a

f(x) dx := limn→∞

∫ βn

αn

f(x) dx

existieren soll. Dann heißt das linksstehende Integral konvergent. Ist überdies a = −∞, b = ∞oder f auf (a, b) unbeschränkt, so nennt man

∫ baf(x) dx ein uneigentliches Riemann-Integral.

Ein uneigentliches Riemann-Integral heißt absolut konvergent, wenn sogar das uneigentliche In-tegral

∫ ba|f(x)| dx konvergiert.

1.9 Beispiele zu uneigentlichen Riemann-Integralen

(a) ∫ ∞1

dxx

= limT→∞

∫ T

1

dxx

= limT→∞

[lnx]T1 = limT→∞

lnT =∞,

d.h. das Integral divergiert. Erst recht muss daher für jedes α < 1 wegen x−α > x−1 beix > 1 das Integral

∫∞1

dxxα

divergieren.

(b) Für jedes α > 1 haben wir ein konvergentes, uneigentliches Riemann-Integral∫ ∞1

dxxα

= limT→∞

∫ T

1

x−α dx = limT→∞

[x1−α

1− α

]x=T

x=1

= limT→∞

T 1−α − 1

1− α=

1

α− 1.

8

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1.10 Beispiel einer trennbaren Differentialgleichung

(c) Nun sei 0 < ε < 1 und α ∈ R. Dann gilt mit der Substitution t = 1x

: x = 1t, dx = − dt

t2:∫ 1

0

dxxα

= limε↓0

∫ 1

ε

dxxα

= limε↓0

∫ 1

tα · (−1)

t2dt =

∫ ∞1

dtt2−α

=

∞, α ≥ 1

11−α , α < 1

,

siehe (a) und (b).

(d) ∫ ∞−∞

dx1 + x2

= 2 ·∫ ∞

0

dx1 + x2

= 2 · limT→∞

[arctanx]T0

= 2 · limT→∞

arctanT = 2 · π2

= π.

Anwendung der Integralrechnung: Lösungsmethode für spezielle Differentialgleichungen durchTrennung der Veränderlichen. Eine Differentialgleichung der Form y′(x) = f(x) · g(y) heißt se-parable Differentialgleichung. Unter einfachen Voraussetzungen an f und g lässt sie sich durchVariablentrennung lösen.

1.10 Beispiel einer trennbaren DifferentialgleichungMan löse das Anfangswertproblem (AWP)

y′(x) = x2 ·(y2 + 1

), y(0) = y0.

Lösung: Wir schreiben y′(x) = y′ = dydx sowie dy

dx ·1

y2+1= x2, bzw. dy

y2+1=↑getrennte Variablen x,yx2 dx,

und erhalten durch Integration:∫dy

y2 + 1=

∫x2 dx, d.h. arctan y =

x3

3+ C

und somit y(x) = tan(x3

3+ C

). Für C := arctan y0 erhalten wir y(0) = y0, also ist

y(x) = tan

(x3

3+ arctan y0

).

Die Lösung existiert nur in einem beschränkten Intervall x ∈ (x1, x2) um den Nullpunkt

herum, genauer bricht sie bei x1/2 = −(3(arctan y0 ± π

2

)) 13 zusammen:

Lösungen gewöhnlicher Differentialgleichungen sind im Allgemeinen nur auf einemlokalen Existenzintervall definiert.

Entsprechend trennen wir die Veränderlichen der allgemeinen seperablen Differentialglei-chung:

dydx

= f(x) · g(y),dyg(y)

= f(x) dx

9

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1 Integralrechnung

beziehungsweise

G(y) :=

∫dyg(y)︸ ︷︷ ︸

Stammfunktion G

=

∫f(x) dx︸ ︷︷ ︸

Stammfunktion F

,

so dass wir eine implizite Bestimmungsgleichung

(1.11) F (x)− F (x0) = G(y)−G(y0)

für y mit der Anfangsvorgabe y(x0) = y0 erhalten. Dabei muss gelten:

1.) g : (c, d)→ R ist stetig und nirgends Null mit y0 ∈ (c, d).

2.) f : (a, b)→ R ist stetig mit x0 ∈ (a, b).

3.) F : (a, b)→ R ist Stammfunktion von f und G : (c, d)→ R Stammfunktion von 1g.

Gesucht ist eine stetig differenzierbare Funktion y : (a, b)→ (c, d), die (1.11) erfüllt.Bemerkung: Im Falle unbeschränkter Lösungsintervalle bzw. unbeschränkter Lösungen sind hiera = −∞, b = +∞ sowie c = −∞ und d =∞ mit zugelassen.

10

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2 Taylor ReihenWir haben bereits lokal um einen Kurvenpunkt eine glatte Kurve durch ihre Tangente approxi-miert, und erhielten so die Tangentengleichung

(2.1) y = f(a) + f ′(a) · (x− a).

Die rechte Seite von (2.1) ist eine lineare Funktion, die im Entwicklungspunkt x = a inFunktionswert und Ableitung mit der glatten Funktion y = f(x) übereinstimmt. Dies erweiternwir jetzt zur Approximation durch Polynome höherer Ordnung, sogenannte Taylorpolynome:

Mit ihnen können wir eine im Punkt a hinreichend oft differenzierbare Funktion f durch ihre

sogenanntes n-tes Taylorpolynom Tn(x, a) :=n∑k=0

f (k)(a)k!

(x − a)k approximieren, und erhalten

den

2.1 Taylor FormelFür jede auf dem offenen Intervall I ⊆ R zumindest (n+1)-mal stetig differenzierbare Funktion,und a, x ∈ I gilt:

f(x) = f(a) +f ′(a)

1!(x− a) + . . .+

f (n)(a)

n!(x− a)n +Rn+1(x, a)

mit den beiden Restglieddarstellungen

(?) Rn+1(x, a) =1

n!

∫ x

a

(x− t)nf (n+1)(t) dt (Cauchy) bzw.

(??) Rn+1(x, a) =f (n+1)(ξ)

(n+ 1)!(x− a)n+1, ξ zwischen x und a (Lagrange).

2.2 Beispiele: Wichtige Taylor Reihen(a)

f(x) =1

1− xfür |x| < 1 hat die Ableitungen

f ′(x) = −(1− x)−2 · (−1) = (1− x)−2

f ′′(x) = −2(1− x)−3 · (−1) = 2 · (1− x)−3

Allgemein ergibt sich: f (k)(x) = k! · (1 − x)−k−1 ∀k ∈ N0, wobei f (0)(x) := f(x)vereinbart wird. Wir erhalten für f(x) die geometrische Reihe als Taylorentwicklung vonf(x) in a = 0:

1

1− x=∞∑k=0

xk, |x| < 1.

11

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2 Taylor Reihen

(b) g(x) = ln1

1− xfür |x| < 1 hat die Ableitung g′(x) =

1

1− x, und somit nach (a) die

allgemeinen Ableitungen

g(k)(x) = (k − 1)! · (1− x)−k ∀k ∈ N.

Zusätzlich ist g(0) = ln 1 = 0 zu beachten. Für jedes n ∈ N liefert die n-te Taylor-Approximation im Entwicklungspunkt a = 0:

ln1

1− x=

n∑k=1

xk

k+

1

n+ 1·(

x

1− ξ

)n+1

︸ ︷︷ ︸Rn+1(x,0)

mit |ξ| ≤ |x| .

Das Restglied konvergiert gegen Null, und wir erhalten die Logarithmusreihe

ln1

1− x= x+

x2

2+x3

3+ . . . , |x| < 1.

(c) ex =∞∑k=0

xk

k!ist die für alle x ∈ R konvergente Taylorreihe der Exponentialfunktion.

Taylorreihen sind Potenzreihen der Gestalt

f(x) =∞∑k=0

akxk,

wenn wir uns auf den Entwicklungspunkt x = 0 beschränken. Für welche x ∈ R konvergiertdiese Potenzreihe, und für welche ist sie divergent? Wir begnügen uns hier mit einem einfachen,hinreichenden Kriterium für konvergente, bzw. divergente Reihen

∑∞k=0 ak, dem sogenannten

Quotientenkriterium:

2.3 Satz: Quotientenkriterium

Ist ak 6= 0 für alle k ≥ k und konvergiert die Folge der Quotienten |ak+1||ak|

, dann gilt:

a) limk→∞

∣∣∣∣ak+1

ak

∣∣∣∣ < 1 =⇒∞∑k=0

ak ist absolut konvergent,

b) limk→∞

∣∣∣∣ak+1

ak

∣∣∣∣ > 1 =⇒∞∑k=0

ak ist divergent.

Erinnerung: Wir nennen∑∞

k=0 ak absolut konvergent, wenn∑∞

k=0 |ak| konvergiert, äquiva-lent:

∑∞k=0 |ak| <∞. Dann ist auch

∑∞k=1 ak konvergent!

12

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2.4 Satz: Gliedweise Differenzierbarkeit einer Potenzreihe

Beispiele:

Die folgenden Potenzreihen konvergieren für jedes x ∈ R absolut:

1.) ex =∞∑k=0

xk

k!= 1 + x+

x2

2!+x3

3!+ . . . ,

2.) sinx =∞∑k=0

(−1)k

(2k + 1)!· x2k+1 = x− x3

3!+x5

5!∓ . . . ,

3.) cosx =∞∑k=0

(−1)k

(2k)!x2k = 1− x2

2!+x4

4!∓ . . . .

Nachweis mit Hilfe des Quotientenkriteriums:

1.) Mit ak := xk

k!wird

∣∣∣ak+1

ak

∣∣∣ =∣∣ xk+1

∣∣→ 0 für k →∞.

2.) Mit ak = (−1)k x2k+1

(2k+1)!wird

∣∣∣ak+1

ak

∣∣∣ =∣∣∣ x2

(2k+2)(2k+3)

∣∣∣→ 0 für k →∞.

3.) folgt analog.

2.4 Satz: Gliedweise Differenzierbarkeit einer PotenzreiheEs sei

∑∞n=0 cn · (x − x0)n eine für |x− x0| < R konvergente Potenzreihe. Dann konvergiert

diese auch absolut, und die durch

f(x) =∞∑n=0

cn · (x− x0)n

gegebene Funktion f : (x0 − R, x0 + R) → R ist unendlich oft differenzierbar. Die Ableitungder Potenzreihe kann hierbei gliedweise gebildet werden:

f ′(x) =∞∑n=1

ncn · (x− x0)n−1.

Die Potenzreihe zu f ′ konvergiert ebenfalls für |x− x0| < R.

Beweis. Auf einen Beweis wird verzichtet.

2.5 FolgerungWendet man den Satz (2.4) schrittweise auf die höheren Ableitungen der durch die Potenzreihedargestellten Funktion f an, so folgt, dass die Koeffizienten cn der Potenzreihe durch

cn =f (n)(x0)

n!

eindeutig bestimmt sind:

Potenzreihen = Taylorreihen!

13

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2 Taylor Reihen

Beispiel

f(x) =1

2ln

1 + x

1− xfür |x| < 1

=⇒ f(x) =1

2ln(1 + x)− 1

2ln(1− x),

f ′(x) =1

2· 1

1 + x− 1

2· 1

1− x· (−1) =

1

1− x2.

Potenzreihe für f ′(x):

1

1− x2= 1 + x2 + x4 + x6 + . . . .

f(0) =1

2ln 1 = 0

=⇒ f(x) =

∫ x

0

dt1− t2

=

∫ x

0

(1 + t2 + t4 + t6 + . . .) dt

=x1

1+x3

3+x5

5+ . . . =

∞∑k=0

22k+1

2k + 1.

Wenn eine Potenzreihe gliedweise differenziert werden darf, kann auch gliedweise integriertwerden. Dabei muss man auf die richtige Wahl der Integrationskonstanten achten. Hier erhaltenwir:

1

2ln

1 + x

1− x=∞∑k=0

x2k+1

2k + 1.

Die Taylorreihe

1

2ln

1 + x

1− x=∞∑k=0

x2k+1

2k + 1

konvergiert für |x| < 1 sogar absolut: Zum Beweis majorisieren wir mit der geometrischenReihe:

∞∑k=0

|x|2k+1

2k + 1≤

∞∑k=0

|x|2k+1 ≤∞∑n=0

|x|n =1

1− |x|<∞ .

14

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3 Fourier-Reihen periodischer FunktionenTrigonometrische Reihen der Form

(3.1) c0 +∞∑k=1

(ak cos(kωt) + bk sin(kωt)) ,

auch Fourier-Reihen genannt, wurden historisch erstmals benutzt zur Beschreibung periodi-scher Vorgänge in der Astronomie und zur Behandlung der Bewegungsgleichung einer schwin-genden Saite.

D. BERNOULLI (1700-1782) vertrat die Auffassung, dass sich die allgemeinen Schwingungs-formen einer Saite als Überlagerung einer Grundschwingung mit einer Kreisfrequenz ω undOberschwingungen k · ω, k = 2, 3, 4, . . . , darstellen lassen.

Trigonometrische Reihen verwendete auch Jean Baptiste Joseph FOURIER (1768 - 1830) imJahre 1807 zur Darstellung von Lösungen der Wärmeleitungsgleichung für einen Stab.

Wir beginnen mit dem Studium der endlichen Partialsummen

(3.2) fN(t) := c0 +N∑k=1

(ak cos(kωt) + bk sin(kωt))

von (3.1) für gegebenes ω > 0 und Koeffizienten c0, ak, bk ∈ C mit k = 1, . . . , N undN ∈ N0,den trigonometrischen Polynomen. Definieren wir die Periodendauer

(3.3) T :=2π

ω,

so sind die Funktionen fN alle T - periodisch, das heißt

(3.4) fN(t+ T ) = fN(t) ∀t ∈ R,

denn cos(kω(t+ T )) = cos(kωt+ 2πk) = cos(kωt)und sin(kω(t+ T )) = sin(kωt+ 2πk) = sin(kωt) gilt für alle k ∈ N.

3.1 Exponential-Schreibweise der trigonometrischen PolynomeAus eix = cosx+ i sinx und e−ix = cosx− i sinx folgt durch Addition und Subtraktion:

(3.5) cos(x) =eix + e−ix

2, sin(x) =

eix − e−ix

2i∀x ∈ R.

Hieraus folgt, wenn man x := kωt für jedes k ∈ N setzt:

(3.6) ak cos(kωt) + bk sin(kωt) =ak − ibk

2eikωt +

ak + ibk2

e−ikωt ∀k ∈ N.

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3 Fourier-Reihen periodischer Funktionen

Setzt man daher für jedes k ∈ N:

(3.7) ck :=ak − ibk

2, c−k :=

ak + ibk2

(k ≥ 1)beachten!

,

so erhält man für das trigonometrische Polynom in (3.2) die Exponentialschreibweise

(3.8) fN(t) =N∑

k=−N

ckeikωt =

∑|k|≤N

ckeikωt, t ∈ R.

Hat man umgekehrt für k ∈ Z nur komplexe Koeffizienten ck gegeben, so nennt man fN(t) in(3.8) ein trigonometrisches Polynom mit (komplexen) Fourier-Koeffizienten ck.

Mit den Fortsetzungen

(3.9) ak := ck + c−k, bk := i(ck − c−k), k = 1, . . . , N,

kann man dann (3.8) wieder in der Form (3.2) schreiben, so dass beide Darstellungen äquivalentsind und sich leicht ineinander umrechnen lassen.

Für zunächst festes N ∈ N0 und k ∈ Z mit |k| ≤ N erinnern wir an ω ·T = 2π und betrachtendie T-periodischen Funktionen wk : R→ C mit

(3.10) wk(t) := eikωt.

Deren Linearkombinationen

(3.11)N∑

k=−N

ckwk(t) =∑|k|≤N

ckeikωt

sind komplexe trigonometrische Polynome mit Fourier-Koeffizienten ck ∈ C.

3.2 Definition: Fourier-KoeffizientenGegeben sind ω, T > 0 mit ωT = 2π. Zu jeder T-periodischen und integrierbaren Funktionf : R→ C definieren wir für k ∈ Z seine Fourier-Koeffizienten

ck = ck(f) =1

T

∫ T

0

f(t)e−ikωt dt, d.h.

ck(f) =1

T

∫ T2

−T2

f(t)wk(t) dt

für wk(t) = eikωt, sowi die N -te Fourier-Approximation

fN(t) =N∑

k=−N

ck(f)wk(t), N ∈ N0.

Da f und wk integrierbar sind mit |wk| = 1, sind die Koeffizienten ck(f) wohldefiniert. DieKoeffizienten ak = ak(f), bk = bk(f) der Fourier-Reihe (3.1) werden dann gemäß (3.9) berech-net. Wegen der T-Periodizität kann man die Integration auch von −T

2bis T

2anstelle von 0 bis T

erstrecken. Hierbei präge man sich den folgenden Spezialfall gut ein:

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3.3 Definition: Die Fourier-Reihe einer 2π -periodischen Funktion

3.3 Definition: Die Fourier-Reihe einer 2π -periodischen Funktion

Für f : R→ C (also T := 2π und ω = 1) ist die Fourier-Reihe gegeben durch

c0 +∞∑k=1

(ak cos(kt) + bk sin(kt))

mit

c0 =1

∫ π

−πf(t) dt und

ak =1

π

∫ π

−πf(t) cos(kt) dt,

bk =1

π

∫ π

−πf(t) sin(kt) dt für k ∈ N.

Beachte:

a) f(t) = f(−t) gerade =⇒ bk = 0 ∀k ∈ N.

b) f(t) = −f(−t) ungerade =⇒ c0 = 0 und ak = 0 ∀k ∈ N.

3.4 Satz: Konvergenz einer Fourier-Reihe

Für die Koeffizienten c0, ak, bk der Fourier-Reihe (3.1) gelte

|c0|+∞∑k=1

(|ak|+ |bk|) <∞.

Dann konvergiert die Fourier-Reihe (3.1) absolut und gleichmäßig gegen eine stetige, T-periodischeFunktion f : R→ C. Dabei sind die Koeffizienten c0, ak, bk eindeutig gemäß (3.9) mit

ck =1

T

∫ T2

−T2

f(t)e−ikωt dt

aus Definition 3.2 bestimmt.Beachte:

a) T · ω = 2π.

b) Die gleichmäßige Konvergenz besagt: Zu jedem ε > 0 gibt es ein n0 = n0(ε), so dass|fN(t)− f(t)| < ε für alle N ≥ n0 und alle t ∈ R gilt.

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3 Fourier-Reihen periodischer Funktionen

3.5 Beispiel einer 2π-periodischen Funktion

Es sei f die 2π-periodische Funktion mit f(t) = |t| für |t| ≤ π. Dies ist ein stetiger, periodischerDreieckspuls:

Skizze:y = f(t)

t

y

π

−2π −π 0 π 2π

Fourier-Koeffizienten: Berechnung gemäß (3.3) mit bk = 0 ∀k ∈ N, da f eine gerade Funktionist,

c0 =1

∫ π

−π|t| dt =

1

π

∫ π

0

t dt =π

2.

Für k ∈ N ist

ak =1

π

∫ π

−π|t| cos(kt) dt =

2

π

∫ π

0

t cos(kt) dt,

also

ak =2

πk

∫ π

0

tddt

(sin(kt)) dt

=2

πk

([t sin(kt)]π0 −

∫ π

0

1 · sin(kt) dt)

= − 2

πk

∫ π

0

sin(kt) dt

=2

πk

[cos(kt)

k

]π0

=2

πk2((−1)k − 1) =

− 4π(2j+1)2

, k = 2j + 1 ungerade

0, k gerade.

Fourier-Reihe für den Dreieckspuls:

f(t) =π

2− 4

π

∞∑j=0

cos((2j + 1)t)

(2j + 1)2, t ∈ R.

Diese Darstellung gilt gemäß Satz (3.4), da∞∑j=0

1(2j+1)2

<∞ konvergiert!

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3.6 Definition: stückweise glatte Funktionen

3.6 Definition: stückweise glatte FunktionenEine T-periodische Funktion f : R→ C heißt stückweise glatt, wenn folgendes gilt:Im Intervall [0, T ] gibt es höchstens endlich viele Sprung- bzw. Knickstellen

0 ≤ ϑ1 < ϑ2 < . . . < ϑn ≤ T,

so dass f in [0, T ] \ ϑ1, . . . , ϑn differenzierbar mit stetiger Ableitung f ′ ist und zudem alleeinseitigen Grenzwerte

f±(ϑk) = limε↓0

f(ϑk ± ε) bzw.

f ′±(ϑk) = limε↓0

f ′(ϑk ± ε) existieren, k = 1, . . . , n.

t

f1(t)

0 Tt

f2(t)

0 T

t

f3(t)

0 T

Skizzen von drei stückweise glatten Funktionen.

3.7 Satz: Konvergenz von Fourier-ReihenEs sei f : R→ C eine T-periodische, stückweise glatte Funktion. Dann gilt:

(a) Die zu f gehörige Fourier-Reihe

Ff (t) = c0 +∞∑k=1

(ak cos(kωt) + bk sin(kωt))

konvergiert punktweise für alle t ∈ R gegen

Ff (t) =1

2(f+(t) + f−(t)) ,

und insbesondere an jeder Stetigkeitsstelle t von f gegen Ff (t) = f(t).

(b) Die Fourier-Reihe konvergiert im quadratischen Mittel gegen f , das heißt für

Ff,N(t) = c0 +N∑k=1

(ak cos(kωt) + bk sin(kωt))

haben wir

limN→∞

1

T

∫ T

0

|f(t)−Ff,N(t)|2 dt = 0.

Zudem gilt mit den Fourier-Koeffizienten ck(f) die Parseval-Gleichung∞∑

k=−∞

|ck(f)|2 =1

T

∫ T

0

|f(t)|2 dt.

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3 Fourier-Reihen periodischer Funktionen

3.8 Beispiel: Fourier-Reihe eines RechteckpulsesEs sei f die 2π-periodische Funktion mit

f(t) =

A > 0 für |t| < π

2,

A2

für |t| = π2,

0 für π2< |t| ≤ π.

t0

f(t)

A2

A

−2π −π π 2π

Es ist f stückweise glatt, und an den Sprungstellen ist der Funktionswert gleich dem arithme-tischen Mittel der einseitigen Grenzwerte, zum Beispiel

f−

(π2

)= A, f+

(π2

)= 0, f

(π2

)=A

2.

Also kann Satz (3.7)(a) angewandt werden, und die zu f gehörige Fourier-Reihe konvergiertpunktweise für alle t ∈ R gegen f . Wir berechnen die Fourier-Koeffizienten wieder mit (3.3):

c0 =1

∫ π

−πf(t) dt =

1

∫ π2

−π2

A dt =A

2,

ak =1

π

∫ π

−πf(t) cos(kt) dt =

A

π

∫ π2

−π2

cos(kt) dt

=A

π

[sin(kt)

k

]π2

−π2

=

2Aπ· (−1)j

2j+1für ungerades k = 2j + 1,

0 sonst,

bk =1

π

∫ π

−πf(t) sin(kt) dt =

A

π

∫ π2

−π2

sin(kt) dt

= −Aπ

[cos(kt)

k

]π2

−π2

= 0, da f gerade ist.

Fourier-Reihe des Rechteckpulses:

f(t) =A

2+

2A

π

(cos t− cos(3t)

3+

cos(5t)

5∓ . . .

).

Da f Sprünge hat, konvergiert die Reihe weder absolut noch gleichmäßig!

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4 Funktionen mehrerer Variablen: Differentialrechnungund Vektoranalysis

Die hier behandelten Grundlagen wenden wir auf die Extremstellenberechnung an. Die Differen-tiation von Funktionen in mehreren Veränderlichen bildet auch das Fundament der sogenanntenVektoranalysis mit Anwendungen in der Strömungsmechanik und Elektrodynamik.

Die partiellen Ableitungen ∂f∂x1, . . . , ∂f

∂xneiner Funktion f = f(x1, . . . , xn) mit den n Verän-

derlichen x1, . . . , xn werden wie gewöhnliche Ableitungen berechnet, wobei die Variablen xjmit j 6= k bei der Berechnung von ∂f

∂xkwie Konstanten behandelt werden.

4.1 Definition: Ableitungen von Funktionen mehrerer Variablen

Die Funktion f : D → R besitze auf der offenen Menge D ⊆ Rn die partiellen Ableitungen∂f∂x1, . . . , ∂f

∂xn. Dann nennen wir die Vektorfunktion

∇f :=

(∂f

∂x1

, . . . ,∂f

∂xn

)den Gradienten von f , und schreiben auch grad f anstelle von∇f ,bzw. fxk = ∂f

∂xk, k = 1, . . . , n. Wir nennen f eine C1-Funktion, wenn überdies alle partiellen

Ableitungen fxk : D → R stetig sind. Entsprechend schreibt man für die höheren partiellenAbleitungen:

fxjxk = (fxj)xk =∂

∂xk

(∂f

∂xj

), usw.,

und nennen f eine Cm-Funktion bzw. m-mal stetig differenzierbar, wenn alle partiellen Ablei-tungen von f bis zur Ordnung m existieren und stetig sind.

4.2 Beispiele partieller Ableitungen

a) f(x, y) = x2y3 + y lnx ist in der rechten Halbebene D := (x, y) ∈ R2 | x > 0 stetigdifferenzierbar, also eine C1-Funktion, mit

∂f

∂x(x, y) = fx(x, y) = 2xy3 +

y

x,

∂f

∂y(x, y) = fy(x, y) = 3x2y2 + lnx.

Wir erhalten

∇f(x, y)︸ ︷︷ ︸=Gradient von f

=(

2xy3 +y

x, 3x2y2 + lnx

).

21

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4 Funktionen mehrerer Variablen: Differentialrechnung und Vektoranalysis

Die höheren partiellen Ableitungen sind

fxx(x, y) = 2y3 − y

x2,

fxy(x, y) = fyx(x, y) = 6xy2 +1

x,

fyy(x, y) = 6x2y, usw.

Hier besitzt f alle partiellen Ableitungen in beliebig hoher Ordnung und diese sind stetig,also ist f eine Cm-Funktion für jedes m ∈ N, auch C∞-Funktion genannt.

b) Eine Funktion f : R× R3 → R mit

f(t, x1, x2, x3) = f0 · sin(ωt− k1x1 − k2x2 − k3x3)

beschreibt die Ausbreitung einer ebenen Welle mit Geschwindigkeit c > 0 im Raum. Der

sogenannte Wellenvektor k =

k1

k2

k3

∈ R3 \ 0 und die Kreisfrequenz

ω := c · |k| = c ·√k2

1 + k22 + k2

3 > 0 sind dabei wie f0 fest gewählt. Mit x =

x1

x2

x3

können wir abkürzend

f(t, x) = f0 · sin(ωt− k · x︸︷︷︸Skalarprodukt im R3

)

schreiben, und erhalten für j,m = 1, 2, 3 :

∂f

∂t(t, x) = f0 · ω cos(ωt− k · x),

∂f

∂xj(t, x) = −f0kj · cos(ωt− k · x),

∂2f

∂t2(t, x) = −f0ω

2 sin(ωt− k · x) = −ω2 · f(t, x),

∂2f

∂xm∂xj(t, x) =

∂2f

∂xj∂xm(t, x) = −f0kmkj · sin(ωt− k · x),

also∂2f

∂xm∂xj(t, x) = −kmkj · f(t, x).

Aus der Beziehung ω2 = c2 · (k21 + k2

2 + k23) folgt nun unter Auslassung der Argumente

(t, x):

1

c2· ∂

2f

∂t2−(∂2f

∂x21

+∂2f

∂x22

+∂2f

∂x23

)︸ ︷︷ ︸

=:∆f

= −ω2

c2f −

(−k2

1f − k22f − k2

3f)

= 0,

22

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4.3 Satz: Satz von Schwarz über Vertauschung der Differentiationsreihenfolge

und somit ist f eine Lösung der räumlichen Wellengleichung

1

c2· ∂

2f

∂t2−∆f = 0

mit dem dreidimensionalen Laplace-Operator

∆ :=∂2

∂x21

+∂2

∂x22

+∂2

∂x23

,

den wir anschließend auf mehrere Raumdimensionen übertragen.

Eine wichtige Rechenregel für partielle Ableitungen ist der

4.3 Satz: Satz von Schwarz über Vertauschung derDifferentiationsreihenfolge

Es sei f : Ω → R auf dem Gebiet Ω ⊆ Rn eine Cm-Funktion, also alle partiellen Ableitun-gen von f bis einschließlich der Ordnung m sollen existieren und stetig sein. Dann hängen diepartiellen Ableitungen von f der Ordnung k ≤ m nicht von der Reihenfolge der Differentiationab.

Beispiel:

f : R2 → R, f = f(x, y), sei C3-Funktion. Dann gilt:fxxy = fxyx = fyxx und fyyx = fyxy = fxyy.

Von allgemeiner Bedeutung in der Kontinuumsphysik und Potentialtheorie ist die

4.4 Definition: Der Laplace-Operator

Ist f : Ω → R eine C2-Funktion im Gebiet Ω ⊆ Rn, Ω offen und zusammenhängend, sobezeichnet

∆f :=n∑k=1

∂2f

∂x2k

die Anwendung des sogenannten Laplace-Operators

∆ :=∂2

∂x21

+ . . .+∂2

∂x2n

auf die Funktion f . Für n = 2, beziehungsweise n = 3 wird ∆ auch ebener, oder räumlicherLaplace Operator genannt.

23

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4 Funktionen mehrerer Variablen: Differentialrechnung und Vektoranalysis

4.5 Beispiel: Die Laplace-GleichungDie Laplace-Gleichung

−∆u = 0

beschreibt zeitunabhängige Probleme der Elektrostatik beziehungsweise Newtonschen Gravita-tionstheorie. Die Lösungen der Laplace-Gleichung heißen harmonisch. Gesucht ist diePotentialfunktion u auf einem Gebiet Ω ⊆ Rn, wobei die Quellen des Feldes (Ladungen, bzw.Massen) außerhalb Ω liegen und ∇u bis auf eine Normierungskonstante das zu bestimmendeKraftfeld liefert. Neben ∇ (Nabla-Operator) und ∆ (Laplace-Operator) gibt es weitere wichtigeOperatoren.

4.6 Definition: wichtige Differentialoperatoren

Es sei Ω ⊆ R3 ein Gebiet undF : Ω→ R3 ein Vektorfeld,F =

f1

f2

f3

mitC1-Komponentenfunktionen

f1, f2, f3 : Ω→ R.

(a) Das skalare Feld ∇ · F : Ω→ R mit

∇ · F :=∂f1

∂x1

+∂f2

∂x2

+∂f3

∂x3

wird Divergenz von F genannt, auch divF = ∇ · F geschrieben.

(b) Das Vektorfeld∇× F : Ω→ R3 mit

∇× F :=

∂f3∂x2− ∂f2

∂x3∂f1∂x3− ∂f3

∂x1∂f2∂x1− ∂f1

∂x2

wird Rotation von F genannt und rotF = ∇× F geschrieben.

4.7 Beispiel: Anwendung von DifferentialoperatorenLichtwellen sind elektromagnetische Wellen. In dimensionsloser Form lauten die homogenenMaxwellschen Gleichungen zur Beschreibung von Lichtwellen im Vakuum:

∇ · E = 0, −∂E∂t

+∇×B = 0,

∇ ·B = 0,∂B

∂t+∇× E = 0.

Hierbei ist

E =

E1

E2

E3

, bzw. B =

B1

B2

B3

24

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4.8 Definition: Jacobi-Matrix einer vektorwertigen Funktion

der elektrische bzw. magnetische Feldvektor der Lichtwellen mit E = E(t, x), B = B(t, x),t ∈ R die Zeit und x ∈ R3 der Ort.

Weitere Beispiele für Differentialoperatoren in Physik und Technik finden Anwendung in derKontinuumsmechanik, insbesondere der Strömungsmechanik.

4.8 Definition: Jacobi-Matrix einer vektorwertigen Funktion

Auf dem Gebiet Ω ⊆ Rn betrachten wir die vektorwertige C1-Funktion F : Ω→ Rk der Gestalt

F (x1, . . . , xn) =

f1(x1, . . . , xn)f2(x1, . . . , xn)

...fk(x1, . . . , xn)

.

Wir schreiben im Folgenden für das Argument: x = (x1, . . . , xn). Dann heißt die k × n-Matrix

(∇F )(x) =∂(f1, . . . , fk)

∂(x1, . . . , xn):=

∂f1∂x1

(x) ∂f1∂x2

(x) . . . ∂f1∂xn

(x)∂f2∂x1

(x) ∂f2∂x2

(x) . . . ∂f2∂xn

(x)

. . . . . .∂fk∂x1

(x) ∂fk∂x2

(x) . . . ∂fk∂xn

(x)

die Jacobi-Matrix von f im Punkt x.

Die Jacobi-Matrix (∇F )(x) ist das Analogon zur Ableitung f ′(x) von einer Funktionf : R→ R einer Veränderlichen x.

4.9 Beispiel: Ebene Polarkoordinaten

Es sei V := (r, ϕ) ∈ R2 | r > 0 ∧−π < ϕ < π undW := R2\(x, y) ∈ R2 | x ≤ 0 ∧ y = 0.Die Abbildung T : V → W mit

T (r, ϕ) =

(r cosϕr sinϕ

)=

(x(r, ϕ)y(r, ϕ)

)∈ R2

ist die Transformation von Polarkoordinaten (V ) auf kartesische Koordinaten (W ) mit der Jacobi-Matrix

(∇T )(r, ϕ) =∂(x, y)

∂(r, ϕ)=

(cosϕ −r sinϕsinϕ r cosϕ

).

25

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4 Funktionen mehrerer Variablen: Differentialrechnung und Vektoranalysis

TransformationT

r

ψ

0

π

−π

V

offener Halbstreifen Vin Polarkoordinaten

x

y

Schlitz S

W

offene geschlitzteZahlenebene W inkartesischen Koordinaten

Dann kann man zeigen: T ist invertierbar, das heißt T−1 : W → V kann gebildet werden mit

T−1(x, y) =

(rϕ

)=

(√x2 + y2

arc(x, y)

),

wobei für die Winkelfunktion arc : W → (−π, π) gilt:

ϕ = arc(x, y) =

arctan y

x, x > 0

π2

sign(y)− arctan xy, x ≤ 0.

Die totale Ableitung und lineare Approximation einerFunktion in mehreren Veränderlichen

4.10 Definition: Approximation einer FunktionGegeben sind eine offene MengeO ⊆ Rn, x0 ∈ O, k ∈ N sowie zwei Funktionen f, g : O → R.

Wir schreiben f(x) = g(x) + o(|x− x0|k)

für x→ x0, falls limx→x0

f(x)− g(x)

|x− x0|k

= 0 ist.

Beachte: Dieses von Landau eingeführte Symbol „o“ ist kein Funktionssymbol, sondern besagtnur, dass der bei der Approximation von f durch g in der Nähe des Punktes x0 gemachte Fehlerf(x)− g(x) klein ist im Vergleich zu |x− x0|

k. Mit |x− x0| ist der Abstand von x und x0 in derEuklidnorm des Rn ausgedrückt.

4.11 Definition: totale DifferenzierbarkeitEs sei O ⊆ Rn offen. Eine Funktion f : O → R heißt in x0 ∈ O total differenzierbar, bzw.linear approximierbar, wenn es einen Zeilenvektor a ∈ Rn gibt, so dass für x→ x0 (x nahe x0)gilt:

f(x) = f(x0) + a · (x− x0) + o(|x− x0|).

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4.12 Satz: Eigenschaften total differenzierbarer Funktionen

4.12 Satz: Eigenschaften total differenzierbarer FunktionenIst f in x0 ∈ O total differenzierbar, dann gilt:

a) f ist in x0 stetig,

b) limt→0

1t

[f(x0 + tv)− f(x0)] = a · v für alle v ∈ Rn,

wobei hier mit a · v das Skalarprodukt∑n

k=1 akvk aus a und v gemeint ist,

c) f ist partiell in x0 differenzierbar und a = (∇f)(x0) eindeutig bestimmt.

Beweis.

a) Es gilt:

limx→x0

f(x) = limx→x0

[f(x0) +

f(x)− f(x0)

|x− x0|· |x− x0|

]= f(x0),

denn

|f(x)− f(x0)||x− x0|

=

∣∣∣∣∣∣∣∣a · (x− x0)

|x− x0|+o(|x− x0|)|x− x0|︸ ︷︷ ︸→0

∣∣∣∣∣∣∣∣bleibt aufgrund der Cauchy-Schwarzschen Ungleichung |a · (x− x0)| ≤ |a| · |x− x0| fürx→ x0 beschränkt. Also ist f stetig in x0.

b) Nach Voraussetzung gibt es ein a ∈ Rn, so dass für festes v ∈ Rn \ 0 und kleines t 6= 0gilt:

(4.1) f(x0 + tv)− f(x0) = ta · v + o(|t| · |v|).

Division durch t und Grenzübergang t→ 0 liefert die Behauptung.

c) Setze v = ek = k-ter Einheitsvektor des Rn in (4.1) ein, beachte a · ek = ak, und dividieredurch t. Es folgt

∂f

∂xk(x0) = lim

t→0

f(x0 + tek)− f(x0)

t= ak,

also a = (∇f)(x0).

Wir prägen uns gut ein:

Ist f in x0 total differenzierbar, so gilt für x→ x0:

f(x) = f(x0) + (∇f)(x0) · (x− x0) + o(|x− x0|).

Hierbei nennen wir Tx0 : Rn → R mit

Tx0 := f(x0) + (∇f)(x0) · (x− x0)

die Linearisierung von f im Punkt x0.

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4 Funktionen mehrerer Variablen: Differentialrechnung und Vektoranalysis

Anschauliche Deutung für n = 2:

Die „über“ O ⊆ R2 liegende Fläche z = f(x, y) wird in der Nähe des FlächenpunktesP0 = (x0, y0, f(x0, y0)) durch die Tangentialebene

z = f(x0, y0) +∂f

∂x(x0, y0) · (x− x0) +

∂f

∂y(x0, y0) · (y − y0)

bis auf den „kleinen Fehler“ o(√

(x− x0)2 + (y − y0)2) genau approximiert.

Skizze: Tangentialebene zur Lineari-sierung von f in (x0, y0) durch P0, auf-gespannt von den beiden Tangenten-vektoren

a1 :=

10

∂f∂x

(x0, y0)

und a2 :=

01

∂f∂y

(x0, y0).

x

z

y

(x0, y0) ∈ O

P0 a1

a2z = f(x, y)

4.13 Beispiel: Tangentialebene und TangentialvektorenWir betrachten f : R2 → R mit z = f(x, y) = x · y. Man linearisiere f im Punkt(x0, y0) = (−1, 2) und bestimme zwei linear unabhängige Tengentenvektoren, welche die Tan-gentialebene aufspannen.Lösung: Wir haben fx(x, y) = y und fy(x, y) = x, speziell in (x0, y0) = (−1, 2) mitf(−1, 2) = −2:

fx(−1, 2) = 2, fy(−1, 2) = −1.

Die Tangentialebene erhalten wir durch

z = (−2) + 2 · (x+ 1)− 1 · (y − 2),

also z = 2x− y + 2.

Die linear unabhängigen Tangentenvektoren haben dann die Gestalt:

a1 =

102

, a2 =

01−1

.

4.14 Definition: Die RichtungsableitungIst f : O → R in x0 ∈ O, (O ⊆ Rn offen) total differenzierbar und v ∈ Rn mit |v| = 1, so heißt

(4.2) limt→0

1

t[f(x0 + tv)− f(x0)] = (∇f)(x0) · v

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4.14 Definition: Die Richtungsableitung

die Richtungsableitung, bzw. der Anstieg von f an der Stelle x0 in Richtung von v. Sie wird auchmit (∂vf)(x0) bezeichnet.

Bemerkung: Die Beziehung (4.2) gilt nach Satz 4.12 allgemein, das heißt nicht nur für |v| = 1,während wir die Notation (∂vf)(x0) nur für |v| = 1 verwenden möchten. Nach der Cauchy-Schwarzschen Ungleichung gilt für |v| = 1:

|(∇f)(x0) · v| ≤ |(∇f)(x0)| · |v|︸︷︷︸=1

.

Nehmen wir (∇f)(x0) 6= 0 an, so hat folglich der Vektor

v∗ :=1

|(∇f)(x0)|· (∇f)(x0)T

den Betrag 1 mit

maxv∈Rn|v|=1

(∂vf) (x0) = (∇f)(x0) · v∗ = |(∇f)(x0)| .

Wir fassen zusammen und prägen uns gut ein:

Die Richtungsableitung (∂vf)(x0) nimmt in Richtung von (∇f)(x0) den maximalenWert |(∇f)(x0)| an, also für v = v∗ mit v∗ wie oben, in Gegenrichtung zu (∇f)(x0)jedoch den minimalen Wert − |(∇f)(x0)|, also für v = −v∗ mit v∗ wie oben.

Anschauliche Deutung für n = 2

Die Schnittkurve des Graphen z = f(x, y) mit der zur z-Achse parallelen Ebene durch dieGerade (

x0

y0

)+ t

(v1

v2

), v =

(v1

v2

), |v| = 1,

besitzt die Parameterdarstellung

x(t) =

x0 + tv1

y0 + tv2

f(x0 + tv1, y0 + tv2)

. Es gilt: x(0) =

x0

y0

f(x0, y0)

mit dem allgemeinen Tangentenvektor

x(0) =

v1

v2

(∂vf)(x0, y0)

=

v

(∂vf)(x0, y0)

der Tangentialebene durch x(0).

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4 Funktionen mehrerer Variablen: Differentialrechnung und Vektoranalysis

4.15 Beispiel: TangentialvektorMan ermittle zu z = f(x, y) = x2 + xy + y2 im Punkt (x0, y0) mit x0 = 1, y0 = −1 dieRichtung des stärksten Anstiegs von f sowie einen Vektor der Tangentialebene durch den PunktP0 = (x0, y0, f(x0, y0)) des Funktionsgraphen zum stärksten Anstieg.Lösung:

fx(x, y) = 2x+ y, fy(x, y) = 2y + x,

(∇f)(x0, y0) = (1,−1) =⇒ v∗ =1√2

(1−1

)wobei (∂v∗f)(x0, y0) =

√2. Wir erhalten die Schnittkurve mit v = v∗

x(t) =

1 + t√

2

−1− t√2(

1 + t√2

)2

und den Tangentialvektor

x(0) =1√2

1−12

,

welcher in der Tangentialebene

z = 1 + 1 · (x− 1)− 1 · (y + 1) = x− y − 1

durch den Punkt P0 = (1,−1, 1) liegt.

4.16 Satz: KettenregelFür jedeC1-Funktion f : Ω→ R (Ω ⊆ Rn ein Gebiet oder zumindest offen), f = f(x1, . . . , xn),gelten die folgenden beiden Varianten der Kettenregel:

a) Ist x : (a, b)→ Ω eine C1-Funktion, so ist auch f x : (a, b)→ R eine C1-Funktion mit

ddtf(x(t)) =

ddtf(x1(t), . . . , xn(t))

= fx1(x(t))x1(t) + . . .+ fxn(x(t))xn(t)

= (∇f)(x(t)) · x(t).

b) Es sei v =

v1...vn

: M → Ω ein C1-Vektorfeld auf der offenen Menge M ⊆ Rk. Dann ist

auch f v : M → R eine C1-Funktion, und es gilt:

∂(f v)

∂tj(t1, . . . , tk)︸ ︷︷ ︸

=:t

=∂

∂tjf(v(t)) =

n∑l=1

∂f

∂xl(v(t)) · ∂vl

∂tj(t)

für jedes t ∈M und alle j = 1, . . . , k.

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4.17 Beispiele zur Kettenregel

Bemerkung

1.) Setzt man in f(x1, . . . , xn) kurz xl = vl(t1, . . . , tk) = vl(t) und lässt die Argumente fort,so erhält man für beide Varianten der Kettenregel die etwas einprägsameren Kurzschreib-weisen

d(f x)

dt=

n∑l=1

∂f

∂xl· dxl

dt

bzw.∂(f x)

∂tj=

n∑l=1

∂f

∂xl· ∂xl∂tj

, j = 1, . . . , k.

2.) Die Variante b) der Kettenregel ist zwar für den praktischen Gebrauch allgemeiner for-muliert und anwendbarer als a), jedoch zur Variante a) mathematisch äquivalent, da in b)immer nur nach einer ausgewählten Komponenten tj partiell differenziert wird. Für k = 1fallen beide Formulierungen zusammen. Es genügt also, nur Variante a) zu beweisen:

Beweis.

a) Aus der linearen Approximation

f(x(t))− f(x(t0)) = (∇f)(x(t0)) · (x(t)− x(t0)) + o(|x(t)− x(t0)|)︸ ︷︷ ︸=o(|t−t0|), da x C1-Funktion

in einem Kurvenpunkt x(t) nahe x(t0), das heißt für t nahe t0 ergibt sich nach Divisiondurch t− t0 und Grenzübergang t→ t0 die Behauptung.

4.17 Beispiele zur Kettenregel

1. Kettenregel Variante (a): Es sei u = u(t, x) für t > 0 und x ∈ R eine C1-Lösung dersogenannten Burgers Gleichung:

(4.3) ut +

(u2

2

)x

= ut + u · ux = 0.

Es möge für t > 0 die C1-Kurve x(t) (Charakteristik) der gewöhnlichen Differential-gleichung x(t) = u(t, x(t)) genügen. Dann ergibt sich folgendes (auf den ersten Blicküberraschendes) Ergebnis: Die Lösung u von (4.3) ist konstant längs ihrer Charakteristik,denn

ddtu(t, x(t)) =

∂u

∂t(t, x(t)) · dt

dt+∂u

∂x(t, x(t)) · x(t) Kettenregel (a)

= ut(t, x(t)) + ux(t, x(t)) · u(t, x(t))

= 0,

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4 Funktionen mehrerer Variablen: Differentialrechnung und Vektoranalysis

und somit ist auch x(t) = u(t, x(t)) konstant, das heißt die Charakteristik x(t) beschreibteine Gerade in der t, x-Ebene, längs derer u konstant ist.

Dieses Ergebnis kann verwendet werden, um eine C1-Lösung der Burgers Gleichung (4.3)mittels impliziter Gleichungen aus einer Anfangsvorgabe u(0, x) = u0(x) bei t = 0 zuermitteln:

x

t

x1

x2

xk

...

... Längs der Charakteristiken

x(t) = xk + t · u0(xk)

ist u(t, x) konstant, und fürt = 0 ergibt sich die Lö-sung aus der Anfangsvorga-be u0(x).

2. Kettenregel Variante (b): Wir greifen wieder auf das Beispiel 4.9 zu den ebenen Polarko-ordinaten zurück:

T (r, ϕ) =

(r cosϕr sinϕ

)=

(x(r, ϕ)y(r, ϕ)

)ist eine C1-Transformation von

V := (r, ϕ) | r > 0 ∧ −π < ϕ < π,

dem Gebiet der Polarkoordianten, auf

W := R2 \ (x, y) | y = 0 ∧ x ≤ 0,

einem Schlitzgebiet in kartesischen Koordinaten. Ist u : W → R eine C2-Funktion undsetzen wir

v(r, ϕ) := u(x(r, ϕ), y(r, ϕ)) = u(r cosϕ, r sinϕ),

so ist auch v : V → R eine C2-Funktion, und die Kettenregel (b) liefert:

vr = ux · xr + uy · yr = ux cosϕ+ uy sinϕ,

vϕ = ux · xϕ + uy · yϕ = −rux sinϕ+ ruy cosϕ,

und durch Auflösung nach ux, uy:

ux = vr cosϕ− 1

rvϕ sinϕ,

uy = vr sinϕ+1

rvϕ cosϕ.

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4.18 Definition: Lokale Extrema

Überdies kann man damit für den Laplace-Operator ∆ in Polarkoordinaten zeigen:

∆u = uxx + uyy = vrr +vrr

+vϕϕr2.

Wir wenden uns nun der Extremwertberechnung zu:

4.18 Definition: Lokale Extrema

Es sei f : Ω → R eine Funktion von n Variablen. Wir nennen einen Punkt x0 ∈ Ω eine lokaleMaximal- bzw. Minimalstelle, wenn es eine Kugel Br(x0) = x ∈ Rn | |x− x0| < r ⊆ Ω gibtmit

f(x) ≤ f(x0) bzw. f(x) ≥ f(x0) ∀x ∈ Br(x0).

x

z

y

LokalesMinimum

z = f(x, y)

x

z

yLokales Maximum

z = g(x, y)

Wir nehmen nun an, dass f eine C1-Funktion auf dem Gebiet Ω ⊆ Rn ist, und erhalten ausunserer Interpretation der Richtungsableitung im Anschluss an Definition 4.14 den wichtigen

4.19 Satz: Notwendiges Kriterium für Extrema

Für eine lokale Extremstelle x0 von f gilt notwendigerweise (∇f)(x0) = 0.

Um hieraus ein praktisch wichtiges hinreichendes Kriterium für lokale Extrema zu gewinnen,möchten wir nun die quadratische Taylorentwicklung

(4.4)

f(x) = f(x0) + f ′(x0)(x− x0) + 1

2!f ′′(x0)(x− x0)2 +R(x, x0)

mit limx→x0

R(x,x0)(x−x0)2

= 0

für eine C2-Funktion f einer Variablen x auf den Fall übertragen, dass f = f(x1, . . . , xn) eineC2-Funktion von n Variablen x1, . . . , xn auf einem Gebiet Ω ⊆ Rn ist. Wir nehmen an, dass freellwertig ist, und definieren für jedes x0 ∈ Ω die Hesse-Matrix

33

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4 Funktionen mehrerer Variablen: Differentialrechnung und Vektoranalysis

Hf (x0) := (∇(∇f)T )(x0),

das heißt die n× n Matrix

Hf (x0) =

fx1x1(x0) fx1x2(x0) · · · fx1xn(x0)fx2x1(x0) fx2x2(x0) · · · fx2xn(x0)

......

.........

...fxnx1(x0) fxnx2(x0) · · · fxnxn(x0)

.

Diese Matrix ist nach dem Satz von Schwarz symmetrisch, das heißt fxjxk(x0) = fxkxj(x0) füralle j, k = 1, . . . , n.

Beispiel

f : R2 → R mit f(x, y) = e−x · cos y liefert

fx(x, y) = −e−x cos y, fy(x, y) = −e−x sin y,

fxx(x, y) = e−x cos y, fyy(x, y) = −e−x cos y,

fxy(x, y) = e−x sin y = fyx(x, y),

also

Hf (x, y) = e−x(

cos y sin ysin y − cos y

).

Mit unseren Voraussetzungen und Notationen gilt nun der

4.20 Satz: Taylorentwicklung einer Funktion mehrerer Variablen

Für x, x0 ∈ Ω in Spaltenform gilt

(4.5)

f(x) = f(x0) + (∇f)(x0) · (x− x0) + 12(x− x0)THf (x0)(x− x0) +R(x, x0)

mit limx→x0

R(x,x0)

|x−x0|2 = 0 für x→ x0.

Bemerkungen:

(i) Schreibt man in Komponenten

x =

x1

x2...xn

, x0 =

x0,1

x0,2...

x0,n

,

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4.21 Satz: Lokale Extrema von Funktionen mehrerer Variablen

so rechnet man

(∇f)(x0) · (x− x0) =n∑k=1

∂f

∂xk(x0)(xk − x0,k), bzw.

(x− x0)THf (x0)(x− x0) =n∑

j,k=1

∂2f

∂xj∂xk(x0)(xj − x0,j)(xk − x0,k).

(ii) Satz 4.20 liefert die quadratische Taylorentwicklung einer C2-Funktion f im Entwick-lungspunkt x0 ∈ Ω. Für das Restglied haben wir

R(x, x0) = o(|x− x0|2) für x→ x0.

Damit ist (4.5) die Verallgemeinerung von (4.4) auf n Variablen.

(iii) Für eine Variable x, das heißt für n = 1, folgt aus (4.4) ein bekanntes Kriterium für lokaleExtremstellen x0 von f :

f ′(x0) = 0 ∧ f ′′(x0) < 0 =⇒ x0 ist lokale Maximalstelle von f,bzw. f ′(x0) = 0 ∧ f ′′(x0) > 0 =⇒ x0 ist lokale Minimalstelle von f.

Für den allgemeinen Fall von n Variablen kann man analog (4.5) heranziehen, um das folgendehinreichende Kriterium wie in (iii) für lokale Extrema zu gewinnen:

4.21 Satz: Lokale Extrema von Funktionen mehrerer Variablen

Es sei f : Ω→ R eine C2-Funktion auf dem Gebiet Ω ⊆ Rn. An einer Stelle x0 ∈ Ω bilden wirdie Hesse-Matrix

Hf (x0) =

a11 a12 · · · a1n

a21 a22 · · · a2n...

............

...an1 an2 · · · ann

, also ajk =∂2f

∂xj∂xk(x0) für j, k = 1, . . . , n.

Dann gelten die folgenden beiden Aussagen:

(a) Ist (∇f)(x0) = 0, (−1)k−1 ·det

a11 · · · a1k... . . . ...ak1 · · · akk

< 0 für alle k = 1, . . . , n, so ist x0 eine

lokale Maximalstelle von f .

(b) Ist (∇f)(x0) = 0 und det

a11 · · · a1k... . . . ...ak1 · · · akk

> 0 für alle k = 1, . . . , n, so ist x0 eine

lokale Minimalstelle von f .

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4 Funktionen mehrerer Variablen: Differentialrechnung und Vektoranalysis

4.22 Bemerkung: Lokale Extrema

Für n = 2, f = f(x, y) ist somit

a) (x0, y0) ∈ Ω lokales Maximum, wenn gilt:fx(x0, y0) = fy(x0, y0) = 0 sowie fxx(x0, y0) < 0 und fxx(x0, y0)·fyy(x0, y0) > (fxy(x0, y0))2,

b) (x0, y0) ∈ Ω lokales Minimum, wenn gilt:fx(x0, y0) = fy(x0, y0) = 0 sowie fxx(x0, y0) > 0 und fxx(x0, y0)·fyy(x0, y0) > (fxy(x0, y0))2.

Ist keine dieser beiden Bedingungen erfüllt, so kann man ohne weitere Zusatzüberlegungen auchkeine Aussage über lokale Extrema treffen!

4.23 Beispiel: Lokale Extrema

Sei f(x, y) = 5x2 + 6xy + 2y2 − 2x− 2y + 1 auf Ω := R2. Wir haben

fx(x, y) = 10x+ 6y − 2, fy(x, y) = 6x+ 4y − 2,

Hf (x, y) =

(10 66 4

), ∇f(x0, y0) = 0 :

10x0 + 6y0 = 2 =⇒ 5x0 + 3y0 = 1,

6x0 + 4y0 = 2 =⇒ 3x0 + 2y0 = 1.

Dieses lineare Gleichungssystem besitzt die eindeutige Lösung: x0 = −1, y0 = 2

fxx(x0, y0) = 10 > 0 ∧ detHf (x0, y0) = 40− 36 = 4 > 0.

Siehe Bemerkung 4.22(b), das hinreichende Kriterium für lokale Minima:

=⇒ x0 = 1, y0 = 2 liefert eine lokale Minimalstelle P0.

Probe: f(x, y) = (2x+ y)2 + (x+ y − 1)2 ≥ 0 verschwindet in P0.

Extrema mit Nebenbedingungen

4.24 Definition: Lokale Extrema mit Nebenbedingungen

Es sei f : Ω → R eine stetig differenzierbare Funktion von n Variablen und Ω ⊆ Rn einGebiet. Es sei q eine natürliche Zahl mit q < n und g : Ω → Rq eine stetig differenzierbareVektorfunktion. Wir sagen, f besitze im Punkt x0 ∈ Ω ein lokales Maximum bzw. Minimumunter den q Nebenbedingungen g(x) = 0, wenn x0 in der MengeM := x ∈ Ω | g(x) = 0liegt und es eine Kugel Br(x0) = x ∈ Rn | |x− x0| < r ⊆ Ω gibt mit f(x) ≤ f(x0) bzw.f(x) ≥ f(x0) für alle x ∈ Br(x0) ∩M.

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4.25 Beispiel: Extrema mit Nebenbedingungen

Für globale Extrema von f unter den Nebenbedingungen g(x) = 0 an einer Stelle x0 ∈ Mfordern wir die stärkere Bedingung

f(x) ≤ f(x0) bzw. f(x) ≥ f(x0) ∀x ∈M,

das heißt, ohne die Einschränkung auf lokale Kugeln Br(x0).

Aufgabe:

Gesucht sind die Stellen globaler Extrema von f unter den angegebenen Nebenbedingungensowie die Extremwerte, die f in ihnen annimmt.

Lösungsstrategie: Mit Hilfe der Differentialrechnung wird ein notwendiges Kriterium für lokaleExtrema mit Nebenbedingungen aufgestellt. Solches liefert dann auch die Kandidaten für globaleExtrema mit Nebenbedingungen. Diese müssen schließlich gesondert auf globale Extrema mitNebenbedingungen untersucht werden.

4.25 Beispiel: Extrema mit NebenbedingungenWir stellen die Aufgabe, die extremalen Werte der Funktion f : R2 → R mit f(x1, x2) = x1 · x2

auf der Einheitskreislinie x21+x2

2 = 1 zu bestimmen. Hier ist Ω := R2 mit n = 2, und g : R2 → Rmit g(x1, x2) := x2

1 + x22 − 1 eine gute Wahl, um mit q = 1 die Nebenbedingung g(x1, x2) = 0

zu beschreiben.

Bevor wir die Beispielaufgabe lösen, geben wir das allgemeine Kriterium für lokale Extrema mitNebenbedingungen an, und verwenden hierfür die allgemeinen Voraussetzungen und Bezeich-nungen von Definition 4.24:

4.26 Satz: Multiplikatorenregel von Lagrange

Sei Ω ⊆ Rn ein Gebiet, f : Ω → R und g :=

g1...gq

: Ω → Rq mit q < n stetig differenzierbar.

Wir nehmen an, f besitze in x0 ∈ Ω ein lokales Extremum unter den q Nebenbedingungeng(x0) = 0. Schließlich nehmen wir noch an, dass die q × n-Matrix (∇g)(x0), also

(∇g)(x0) =

(∂gj∂xk

(x0)

)j=1,...,qk=1,...,n

,

den Rang q habe.Dann existieren q Zahlen λ1, . . . , λq (Lagrange Multiplikatoren), mit denen die Gleichungen

∂f

∂xk(x0) +

q∑j=1

λj∂gj∂xk

(x0) = 0

für alle Indizes k = 1, . . . , n lösbar sind.

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4 Funktionen mehrerer Variablen: Differentialrechnung und Vektoranalysis

Lösung der Beispielaufgabe mit der Multiplikatorenregel:

Wir schreiben x0 = (x1, x2) in Komponenten und erhalten:

∂f

∂x1

= x2,∂f

∂x2

= x1,∂g

∂x1

= 2x1,∂g

∂x2

= 2x2,

mit den Bestimmungsgleichungen:

x2 + λ · 2x1 = 0, x1 + λ · 2x2 = 0,

x21 + x2

2 − 1 = 0 mit∂g

∂x1

= 2x1 6= 0, d.h. x1 6= 0.

Multipliziere die erste Gleichung mit x1, die zweite mit x2 und subtrahiere:

2λx21 − 2λx2

2 = 0,

wegen λ 6= 0 folgt x21 = x2

2. Aus x21 + x2

2 = 1 folgen 2x21 = 2x2

2 = 1 und x1 = ± 1√2, x2 = ± 1√

2mit den vier Kandidaten für Extrema:

P1 =

(1√2,

1√2

), P2 =

(− 1√

2,− 1√

2

),

P3 =

(1√2,− 1√

2

), P4 =

(− 1√

2,

1√2

),

f(P1) = f(P2) =1

2∧ f(P3) = f(P4) = −1

2.

Für P1, P2 erhalten wir das Maximum und für P3, P4 das Minimum von f auf der Kreislinie.

Zusammenfassung: Multiplikatorenregel von Lagrange

Man bestimme das Maximum/Minimum der Funktion f = f(x1, . . . , xn) unter den q Nebenbe-dingungen

(?)

g1(x1, . . . , xn) = 0,

...gq(x1, . . . , xn) = 0,

mit Rang(∇g)(x1, . . . , xn) = q,

und dazu die zugehörigen Extremstellen (x1, . . . , xn).Idee: Führe q Hilfsvariablen λ1, . . . , λq ein, und löse zusätzlich zu (?) die Gleichungen

(??)

∂f∂x1

+ λ1∂g1∂x1

+ λ2∂g2∂x1

+ . . .+ λq∂gq∂x1

= 0,...

∂f∂xn

+ λ1∂g1∂xn

+ λ2∂g2∂xn

+ . . .+ λq∂gq∂xn

= 0.

(?) und (??) liefern n+ q Gleichungen für x1, . . . , xn; λ1, . . . , λq!

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4.27 Beispiel: Extrema unter Nebenbedingungen mit der Multiplikatorenregel

4.27 Beispiel: Extrema unter Nebenbedingungen mit derMultiplikatorenregel

Für n ∈ N mit n ≥ 2 und einer symmetrischen Matrix A = AT ∈ Rn×n sollen für

x =

x1...xn

∈ Rn die Extrema von

xTAx =n∑j=1

n∑l=1

ajlxjxl

unter der Nebenbedingung |x| = 1 berechnet werden, wobei A = (ajl)j,l=1,...,n ist.

Lösung: Die Nebenbedingung |x| =√x2

1 + . . .+ x2n = 1 schreiben wir mit der Funktion

g(x) := 1− |x|2 = 1− (x21 + . . .+ x2

n), x ∈ Rn,

in der Form g(x) = 0. Mit nur einer Nebenbedingung ist q = 1 < n wegen n ≥ 2. Die

Bedingung, dass (∇g)(x) = −2

x1...xn

den Rang q = 1 besitzt, bedeutet x 6= 0. Dies ist für

jedes x ∈ Rn mit g(x) = 0, das heißt |x| = 1, automatisch erfüllt. Nun sei x0 =

x1...xn

∈ Rn

lokale Extremstelle von f(x) := xTAx unter der Nebenbedingung g(x) = 0. Wir erhalten

∂f

∂xk(x0) =

∂xk

(n∑j=1

n∑l=1

ajlxjxl

)

=n∑j=1

n∑l=1

ajl∂xj∂xk

xl +n∑j=1

n∑l=1

ajlxj∂xl∂xk

=n∑j=1

n∑l=1

ajlδjkxl +n∑j=1

n∑l=1

ajlxjδlk

(∂xj∂xk

= δjk =

1, j = k

0, sonst

)

=n∑l=1

aklxl +n∑j=1

ajkxj

=n∑l=1

aklxl +n∑j=1

akjxj (ajk = akj, wegen AT = A)

= 2n∑l=1

aklxl und∂g

∂xk(x0) = −2xk.

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4 Funktionen mehrerer Variablen: Differentialrechnung und Vektoranalysis

Lagrange-Multiplikator λ:

∂f

∂xk(x0) + λ

∂g

∂xk(x0) = 0 ∀k = 1, . . . , n lösen

=⇒ 2n∑l=1

aklxl − 2λxk = 0 ∀k = 1, . . . , n, das heißt

Ax0 = λx0

mit einem Eigenwert λ von A und einem normierten Eigenvektor x0 (Extremstelle).Es ist xT0Ax0 = xT0 λx0 = λ |x0|

2 = λ. Für den größten Eigenwert λ von A erhalten wir dasMaximum, für den kleinsten das Minimum.

Bemerkung

A = AT symmetrisch =⇒ alle Eigenwerte von A sind reell (siehe lineare Algebra).

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5 Funktionen mehrerer Variablen: IntegrationDieser Abschnitt nimmt Anregungen aus dem Lehrbuch „Mathematik“, Band 3, Abschnitt 2.3von A. Fetzer und H. Fränkel (Schrödel-Verlag) auf, sowie von M. Kunik, P. Skrzypacz, HöhereAnalysis durch Anwendungen lernen, Springer Spektrum.

Doppelintegrale über einem NormalbereichWir wollen das Integral für eine reellwertige, stetige Funktion mit zwei reellen Veränderlichenx, y einführen. Motiviert wird dies durch folgendes

Beispiel-Problem

Die Funktion f : R → R sei auf dem Rechteck R := [a, b]× [c, d] der x-y-Ebene definiert, dortstetig und nicht negativ. Gesucht ist das Volumen V des verallgemeinerten „Zylinders“ über demRechteckR, das von dem Deckel z = f(x, y) nach oben berandet ist.

y

z

x

a

b

c d

R

z = f(x, y) ≥ 0

V

Dieses ist gegeben durch das sogenannte Doppelintegral

V :=

∫∫R

f(x, y) dx dy

mit dem IntegrationsbereichR. Wir wollen das Doppelintegral für den allgemeinen Fall einfüh-ren, dass R durch einen sogenannten Normalbereich B ersetzt wird, und verzichten dabei nochauf die Bedingung f ≥ 0.

5.1 Definition: Normalbereich(a) Gegeben sind ein Intervall [a, b] mit a ≤ b sowie zwei stetige „Berandungsfunktionen“

g−, g+ : [a, b]→ R mit g−(x) ≤ g+(x) ∀x ∈ [a, b]. Dann heißt die kompakte Menge

B := (x, y) ∈ R2 | a ≤ x ≤ b ∧ g−(x) ≤ y ≤ g+(x)

ein Normalbereich bezüglich der x-Achse.

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5 Funktionen mehrerer Variablen: Integration

(b) Sind neben c ≤ d zwei stetige „Berandungsfunktionen“ h−, h+ : [c, d]→ R mith−(y) ≤ h+(y) ∀y ∈ [c, d] gegeben, so heißt die kompakte Menge

B := (x, y) ∈ R2 | h−(y) ≤ x ≤ h+(y) ∧ c ≤ y ≤ d

ein Normalbereich bezüglich der y-Achse.

1.) Normalbereich bezüglich x-Achse

x

y

a b

B

g+

g−

2.) Normalbereich bezüglich y-Achse

x

y

c

d

B

h− h+

3.) Normalbereiche bezüglich beider Achsen

x

y

a b

c

d

x

y

a b

c

d

Den Flächeninhalt |B| eines Normalbereichs B berechnen wir mit Hilfe des folgenden

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5.2 Satz: Flächeninhalt eines Normalbereichs

5.2 Satz: Flächeninhalt eines NormalbereichsMit den Bezeichnungsweisen aus Definition 5.1 gilt:

(a) Ist B ein Normalbereich bezüglich der x-Achse, so erhalten wir für seinen Flächeninhalt

|B| =b∫

a

(g+(x)− g−(x)) dx.

(b) Ist B ein Normalbereich bezüglich der y-Achse, so erhalten wir für seinen Flächeninhalt

|B| =d∫c

(h+(y)− h−(y)) dy.

Beachte: a ≤ b und g+(x) − g−(x) ≥ 0 bzw. c ≤ d und h+(y) − h−(y) ≥ 0 sichern in beidenFällen |B| ≥ 0.

5.3 Definition: Das DoppelintegralEs sei f : B → R auf dem Normalbereich B stetig. Wir definieren das Doppelintegral von f überB gemäß

(a)

∫∫B

f(x, y) dy dx :=

b∫a

g+(x)∫g−(x)

f(x, y) dy

dx,

falls B ein Normalbereich bezüglich der x-Achse ist,

(b)

∫∫B

f(x, y) dx dy :=

d∫c

h+(y)∫h−(y)

f(x, y) dx

dy,

falls B ein Normalbereich bezüglich der y-Achse ist.

5.4 Bemerkungen zu Doppelintegralen1.) Die Klammern um das innere Integral lässt man meistens weg.

2.) Die Berechnung des Doppelintegrals ist wohldefiniert:Im Falle (a) ist f(x, y) bei festgehaltenem x ∈ [a, b] ein in y stetiger Ausdruck, so dass dasinnere Integral existiert. Das innere Integral ist ein in x stetiger Ausdruck, so dass auch dasäußere Integral berechnet werden kann.

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5 Funktionen mehrerer Variablen: Integration

3.) Für f ≥ 0 ist∫∫Bf(x, y) dy dx bzw.

∫∫Bf(x, y) dx dy das verallgemeinerte „Zylindervolu-

men“ im R3 über der Grundfläche B mit oberem Deckel z = f(x, y).

4.) Setzt man f ≡ 1, so wird im Falle (a):

∫∫B

1 dy dx =

b∫a

(g+(x)− g−(x)) dx = |B| .

5.5 Satz von Fubini bzw. Satz von der Vertauschung derIntegrationsreihenfolge

Es sei

B = (x, y) ∈ R2 | a ≤ x ≤ b ∧ g−(x) ≤ y ≤ g+(x)= (x, y) ∈ R2 | c ≤ y ≤ d ∧ h−(y) ≤ x ≤ h+(y)

ein Normalbereich bezüglich beider Achsen.Dann gilt für jede stetige Funktion f : B → R:

b∫a

g+(x)∫g−(x)

f(x, y) dy dx =

d∫c

h+(y)∫h−(y)

f(x, y) dx dy.

Bemerkung: Ist B ein Normalbereich bezüglich beider Achsen, so garantiert dieser Satz dieGleichheit der beiden Doppelintegrale

∫∫Bf(x, y) dy dx =

∫∫Bf(x, y) dx dy.

Insbesondere kann dann |B| in Satz 5.2 auf zweierlei Arten berechnet werden, das heißt gemäß(a) bzw. (b). Auch wenn B nur ein Normalbereich bezüglich einer Achse ist, unterscheidet mandaher oft nicht die Notation beider Doppelintegrale, und schreibt in der Praxis meistens nur∫∫Bf(x, y) dx dy.

5.6 Beispiele zu Doppelintegralen

(a) Es sei [a, b] = [−r, r] für r > 0, g±(x) := ±√r2 − x2 für x ∈ [a, b], das heißt für |x| ≤ r.

Dann beschreibt der Normalbereich

B := (x, y) | −r ≤ x ≤ r ∧ −√r2 − x2 ≤ y ≤

√r2 − x2

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5.6 Beispiele zu Doppelintegralen

eine Kreisscheibe mit Radius r und Flächeninhalt

|B| =r∫

−r

(√r2 − x2 − (−

√r2 − x2)

)dx

= 2

r∫−r

√r2 − x2 dx

= 2

(r

2

√r2 − r2 − (−r)

2

√r2 − (−r)2 +

r2

2arcsin 1− r2

2arcsin(−1)

)= 2r2 · arcsin 1 = πr2,

mit der Nebenrechnung des unbestimmten Integrals:

∫ √r2 − x2 dx =

x

2

√r2 − x2 +

r2

2arcsin

x

r+ C.

(b) Wähle die Kreisscheibe B mit Radius r wie im Beispiel (a) zuvor und definiere f : B → Rmit

z = f(x, y) :=√r2 − x2 − y2.

Dann beschreibt wegen x2 + y2 + z2 = r2 nach dem Satz des Pythagoras

(5.1) V := 2

∫∫B

√r2 − x2 − y2 dy dx = 2

r∫−r

√r2−x2∫

−√r2−x2

√r2 − x2 − y2 dy dx

das Volumen der Vollkugel mit Radius r im R3. Ersetzen wir im vorigen Beispiel r durchρ :=

√r2 − x2, so folgt hier sofort für das innere Integral:

√r2−x2∫

−√r2−x2

√r2 − x2 − y2 dy =

π

2(√r2 − x2)2 =

π

2(r2 − x2),

also wird

V = 2 ·r∫

−r

π

2(r2 − x2) dx = π

r∫−r

(r2 − x2) dx = π

[r2x− x3

3

]x=r

x=−r=

4

3πr3.

Durch Verwendung von Polarkoordinaten x = r cosϕ, y = r sinϕ für r ≥ 0 und 0 ≤ ϕ ≤ 2πlassen sich weitere Doppelintegrale berechnen, deren Integrationsbereiche G keine Normalberei-che sein müssen:

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5 Funktionen mehrerer Variablen: Integration

5.7 Satz: Doppelintegrale in Polarkoordinaten

(a) Die abgeschlossene Menge G ⊆ R2 bestehe aus allen Punkten (x, y) = (r cosϕ, r sinϕ)mit 0 ≤ a ≤ r ≤ b und 0 ≤ g(r) ≤ ϕ ≤ h(r) ≤ 2π. Hierbei seien g, h : [a, b] → [0, 2π]stetig mit g(r) ≤ h(r) ∀r ∈ [a, b]. Ist dann f : G → R stetig, so auch integrierbar über Gmit

∫∫G

f(x, y) dx dy =

b∫a

h(r)∫g(r)

f(r cosϕ, r sinϕ) · r dϕ

dr.

(b) Die abgeschlossene Menge G ⊆ R2 bestehe aus allen Punkten (x, y) = (r cosϕ, r sinϕ)mit 0 ≤ c ≤ ϕ ≤ d ≤ 2π und 0 ≤ u(ϕ) ≤ r ≤ v(ϕ). Hierbei seien u, v : [c, d] → R+

0

stetig mit u(ϕ) ≤ v(ϕ) ∀ϕ ∈ [c, d]. Ist dann f : G → R stetig, so auch integrierbar über Gmit

∫∫G

f(x, y) dx dy =

d∫c

v(ϕ)∫u(ϕ)

f(r cosϕ, r sinϕ) · r dr

dϕ.

Beachte: Bei der Integration in Polarkoordinaten ist das „Flächenelement“ dx dy durch r · dr dϕzu ersetzen:

x

y

dr

Fläche ∼ r · dr dϕ für| dϕ| → 0, | dr| → 0

5.8 Beispiel: Doppelintegral in Polarkoordinaten

Zu einer zweidimensionalen Gaußschen Normalverteilung betrachten wir die Dichtefunktion

ϕ(x, y) =1

2πσ2· e−

x2+y2

2σ2 , σ > 0 ein Parameter︸ ︷︷ ︸Varianz

.

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5.9 Definition: Normalbereiche im R3

Die Wahrscheinlichkeit, bei dem Stanzen eines Loches in ein Blech eine Position (x, y) mit√x2 + y2 ≤ R zu erhalten, betrage

p :=

∫∫A

ϕ(x, y) dx dy

mit A := (r cosϕ, r sinϕ) | 0 ≤ r ≤ R ∧ 0 ≤ ϕ ≤ 2π. Bei diesem Fertigungsprozess sei(x, y) = (0, 0) die Sollposition, und für x2 + y2 > R2 sei das Blech unbrauchbar (Ausschuss).Wir erhalten nach Satz 5.7(a)

p =

R∫0

2π∫0

1

2πσ2e−

r2

2σ2 · r dϕ

dr

=2π

2πσ2

R∫0

re−r2

2σ2 dr

=1

σ2

[−σ2 · e−

r2

2σ2

]r=Rr=0

= 1− e−R2

2σ2 .

Die Wahrscheinlichkeit, dass das Blech Ausschuss ist, beträgt somit

1− p = e−R2

2σ2 .

Dreifachintegrale

Hier integrieren wir in kartesischen Koordinaten x, y, z über einen sogenannten Normalbereichim R3:

5.9 Definition: Normalbereiche im R3

Gegeben sind Zahlen a− ≤ a+, auf dem Intervall [a−, a+] zwei stetige Funktionenb−(x) ≤ b+(x), die einen ebenen Normalbereich

B := (x, y) ∈ R2 | a− ≤ x ≤ a+, b−(x) ≤ y ≤ b+(x)

definieren, sowie für (x, y) ∈ B zwei stetige Funktionen c−(x, y) ≤ c+(x, y). Dann heißt

Ω := (x, y, z) ∈ R3 | (x, y) ∈ B, c−(x, y) ≤ z ≤ c+(x, y)

ein x, y, z-Normalbereich (NB) im R3. Ω ⊆ R3 ist beschränkt und abgeschlossen. Analog sindy, x, z-Normalbereiche usw. definiert, insgesamt sechs Sorten, so dass wir in allen Fällen kurzvon einem NB im R3 sprechen.

47

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5 Funktionen mehrerer Variablen: Integration

5.10 Satz: Dreifachintegrale auf Normalbereichen

Jedes stetige f : Ω→ R auf einem x1, x2, x3-NB Ω ist auch über Ω integrierbar mit

∫∫∫Ω

f(x1, x2, x3) dx1 dx2 dx3 =

a+∫a−

b+(x1)∫b−(x1)

c+(x1,x2)∫c−(x1,x2)

f(x1, x2, x3) dx3 dx2 dx1,

analog für die anderen NB-Sorten.

5.11 Beispiel zu Dreifachintegralen

Es sei Ω = (x, y, z) ∈ R3 | 0 ≤ x ≤ 2, 0 ≤ y ≤ x, 0 ≤ z ≤ x+ y + 1 undf(x, y, z) = xyz. Dann ist

∫∫∫Ω

f(x, y, z) dx dy dz =

2∫0

x∫0

x+y+1∫0

(xyz) dz dy dx

=

2∫0

x∫0

[1

2xyz2

]z=x+y+1

z=0

dy dx

=1

2

2∫0

x ·x∫

0

y(x+ y + 1)2 dy dx

=1

2

2∫0

x ·(x2

2+

5

3x3 +

17

12x4

)dx

=

2∫0

(x3

4+

5x4

6+

17x5

24

)dx =

125

9.

Es gibt auch Dreifachintegrale, deren Integrationsbereich kein Normalbereich im R3 ist. Weite-re solcher Integrationsbereiche können durch Verwendung von Zylinder- bzw. Kugelkoordinatender dreidimensionalen Integration zugänglich gemacht werden:

5.12 Satz: Integration mit Zylinderkoordinaten

Es sei G ⊆ R2 eine abgeschlossene Menge wie in Satz 5.7(a) bzw. (b). Für alle (x, y) ∈ Gseien zwei stetige Berandungsfunktionen c−(x, y) ≤ c+(x, y) definiert. Dann definieren wir denverallgemeinerten „Zylinder“

Z := (x, y, z) ∈ R3 | (x, y) ∈ G, c−(x, y) ≤ z ≤ c+(x, y)

48

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5.13 Bemerkung zu Berandungsfunktionen

mit der Grundfläche G. Es sei f : Z → R stetig. Dann ist in jedem Punkt (x, y) ∈ G derIntegralausdruck

I(x, y) :=

c+(x,y)∫c−(x,y)

f(x, y, z) dz

stetig, und f ist integrierbar über Z mit∫∫∫Z

f(x, y, z) dx dy dz =

∫∫G

I(x, y) dx dy.

Dabei wird das rechts stehende Doppelintegral von I über G mit Verwendung von Polarkoordi-naten gemäß Satz 5.7(a) bzw. (b) ausgewertet.

5.13 Bemerkung zu Berandungsfunktionen

Sind in diesem Satz die Berandungsfunktionen c± sogar konstant, so erhält man noch die invielen Fällen einfachere Formel

∫∫∫Z

f(x, y, z) dx dy dz =

c+∫c−

∫∫G

f(x, y, z) dx dy

dz,

wobei das innere Integral für festes z gemäß Satz 5.7 ausgewertet wird.

5.14 Beispiel zur Integration mit Zylinderkoordinaten

Aus einer Kugel vom RadiusR wird ein Zylinder vom Radius a heraus gebohrt, 0 ≤ a ≤ R, des-sen Achse durch den Kugelmittelpunkt geht. Wir berechnen das Restvolumen der ausgebohrtenKugel Ω mit Zylinderkoordinaten:

G := (r cosϕ, r sinϕ) | a ≤ r ≤ R, 0 ≤ ϕ ≤ 2π

ist ein Kreisring, siehe Skizze,

c±(x, y) := ±√R2 − x2 − y2,

f(x, y, z) := 1 = konstant in

Ω := (x, y, z) ∈ R3 | a2 ≤ x2 + y2 ≤ R2, |z| ≤√R2 − x2 − y2.

49

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5 Funktionen mehrerer Variablen: Integration

Aus Satz 5.12 folgt für das Volumen |Ω| von Ω:

|Ω| =∫∫∫

Ω

1 dx dy dz

=

∫∫G

I(x, y) dx dy mit

I(x, y) =

√R2−x2−y2∫

−√R2−x2−y2

1 dz = 2√R2 − x2 − y2,

also haben wir nach Satz 5.7:

|Ω| =∫∫G

2√R2 − x2 − y2 dx dy

= 2

R∫a

2π∫0

√R2 − r2 · r dϕ dr

= 4π

R∫a

r√R2 − r2 dr

= −4π

3

[(R2 − r2)

32

]r=Rr=a

=4π

3(R2 − a2)

32 .

Skizzen:

x y

z

ΩR

a

y

xa

R

G

50

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6 Wegintegrale und Gaußscher Integralsatz der Ebene

Wir wollen den Hauptsatz der Differential-Integralrechnung∫ b

a

F ′(x) dx = F (b)− F (a)

auf Doppelintegrale verallgemeinern. Hierbei wird der Begriff des Wegintegrals, auch Kurven-integral genannt, benötigt, den wir nun allgemein im Rn einführen. Zunächst müssen jedochIntegrationswege erklärt werden:

6.1 Definition: spezielle Integrationswege

Für n ∈ N und t ∈ [a, b] heißt die Abbildung

γ : [a, b]→ Rn mit γ(t) := (γ1(t), γ2(t), . . . , γn(t))T

ein spezieller Integrationsweg mit Komponenten

γ1, γ2, . . . , γn : [a, b]→ R,

wenn gilt:

(a) Alle Wegkomponenten γ1, . . . , γn : [a, b] → R sind stetig auf [a, b] und im Inneren (a, b)von [a, b] sogar stetig differenzierbar.

(b) Das (möglicherweise uneigentliche) Riemann-Integral

∣∣γ∣∣ :=

∫ b

a

√γ1(t)2 + . . .+ γn(t)2 dt <∞,

die sogenannte Weglänge von γ, existiert.

Beachte: Der Bogen, bzw. die Spur eines Weges ist

Sp(γ) := γ(t) | t ∈ [a, b].

Die Länge des Bogens stimmt jedoch nur dann mit der Weglänge überein, wenn der Weg γ seinenBogen nur einfach durchläuft.

6.2 Beispiel zu Integrationswegen

Für r > 0 ist durch γ : [−r, r]→ R2 mit

γ(t) :=

(γ1(t)γ2(t)

)=

(t√

r2 − t2

), |t| ≤ r,

51

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6 Wegintegrale und Gaußscher Integralsatz der Ebene

ein spezieller Integrationsweg gegeben, der einen Halbkreisbogen der Länge

L :=∣∣γ∣∣ =

∫ r

−r

√12 +

(−t√r2 − t2

)2

dt =

∫ r

−r

r dt√r2 − t2

= r

[arcsin

t

r

]r−r

= πr

parametrisiert. Die Weglänge ist als uneigentliches Riemann-Integral∫ r−r

r dt√r2−t2 gegeben, da der

Integrand unbeschränkt ist.

Durch das stetige Aneinanderfügen spezieller Integrationswege führen wir nun allgemeineIntegrationswege ein, die zum Beispiel Polygonzüge beinhalten:

6.3 Definition: Integrationswege, Wegsumme und WeglängeSind auf denm ≥ 1 Intervallen [a0, a1], [a1, a2], . . . , [am−1, am] spezielle Integrationswege γ

1, . . . , γ

mim Rn gegeben mit

γj(aj) = γ

j+1(aj) ∀j = 1, . . . ,m− 1,

das heißt der Endpunkt von γj

soll mit dem Anfangspunkt von γj+1

übereinstimmen, so nenntman γ : [a0, am]→ Rn mit γ(t) = γ

j(t) für t ∈ [aj−1, aj] die Summe der Wege γ

1, . . . , γ

m, und

schreibt dafür auch

γ = γ1⊕ . . .⊕ γ

m.

Wir bezeichnen γ im Folgenden alsIntegrationsweg und definieren seine Weglänge∣∣γ∣∣ =

∣∣∣γ1

∣∣∣+ . . .+∣∣∣γm

∣∣∣. γ1 γ

2

γ3

m = 3

γ = γ1⊕ γ

2⊕ γ

3

6.4 Definition: Das WegintegralEs sei γ = γ

1⊕ . . .⊕γ

m: [a, b]→ Rn ein Integrationsweg, zusammengesetzt aus den speziellen

Integrationswegen

γj

=

γ1j...γnj

: [aj−1, aj]→ Rn, j = 1, . . . ,m.

Außerdem sei F =

F1...Fn

: Γ→ Rn ein stetiges, Rn-wertiges Vektorfeld auf dem zu γ gehöri-

gen Bogen Γ := Sp(γ). Dann heißt∫γ

F (x) · dx :=m∑j=1

n∑k=1

∫ aj

aj−1

Fk(γj(t))γkj(t) dt

52

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6.5 Bemerkungen zu Wegintegralen

das Wegintegral von F längs γ.

6.5 Bemerkungen zu Wegintegralen

(1) Ist γ = (γ1, γ2, . . . , γn)T : [a, b]→ Rn ein spezieller Integrationsweg, so hat man einfach

∫γ

F (x) · dx =

∫ b

a

F (γ(t)) · γ(t) dt,

und für zusammengesetztes γ = γ1⊕ . . .⊕ γ

m:

∫γ

F (x) · dx =m∑j=1

∫γj

F (x) · dx

=m∑j=1

∫ aj

aj−1

F (γj(t)) · γ

j(t) dt.

(2) Wegintegrale sind unabhängig von der Wahl der Parametrisierung. Es gilt die folgendeSubstitutionsregel:Es sei γ : [a, b]→ Rn ein Integrationsweg und ϕ : [c, d]→ [a, b] streng monoton wachsendsowie stetig differenzierbar mit ϕ(c) = a und ϕ(d) = b. Dann gilt∫

γ

F (x) · dx =

∫γϕ

F (x) · dx,

wobei γ ϕ : [c, d]→ Rn für t ∈ [c, d] durch (γ ϕ)(t) = γ(ϕ(t)) gegeben ist.

(3) Vereinbarung: Wir schreiben ∫∂BF (x) · dx =

∫γ

F (x) · dx,

wenn γ ein Weg ist, der den Rand ∂B eines Normalbereichs B mit positiver Orientierunggenau einmal durchläuft.

6.6 Beispiel eines Kurvenintegrals

Der Rand ∂Q des QuadratesQ := [0, 1]×[0, 1] setzt sich aus vier linearen Teilstücken zusammen,die sich Dank der Substitutionsregel mit 0 ≤ t ≤ 1 wie folgt parametrisieren lassen:

γ1(t) =

(t0

), γ

2(t) =

(1t

), γ

3(t) =

(1− t

1

), γ

4(t) =

(0

1− t

).

53

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6 Wegintegrale und Gaußscher Integralsatz der Ebene

Wir haben allgemein dx = γ(t) dt, insbesondere hier für die einzelnen Teilwege die Ableitungen

x

y

γ1

γ2

γ3

γ4 Q

0 1

1(t) =

(10

), γ

2(t) =

(01

),

γ3(t) =

(−10

), γ

4(t) =

(0−1

).

Wir wollen das Kurvenintegral∫∂Q

(y − xx

)·(

dxdy

)=

∫∂Q

(y − x) dx+ x dy =4∑j=1

Ij mit Ij :=

∫γj

(y − x) dx+ x dy

berechnen: Für j = 1, . . . , 4 und γj(t) =

(xj(t)yj(t)

)gilt:

Ij =

∫ 1

0

(yj(t)− xj(t))xj(t) + xj(t)yj(t) dt,

also

I1 =

∫ 1

0

−t · 1 + t · 0 dt = −1

2,

I2 =

∫ 1

0

(t− 1) · 0 + 1 · 1 dt = 1,

I3 =

∫ 1

0

(1− (1− t)) · (−1) + (1− t) · 0 dt =

∫ 1

0

(−t) dt = −1

2,

I4 =

∫ 1

0

0 + 0 dt = 0,

somit ∫∂Q

(y − xx

)·(

dxdy

)= I1 + I2 + I3 + I4 = 0.

6.7 Satz: Gaußscher Integralsatz der EbeneEs sei B ein Normalbereich bezüglich der x-Achse mit

B := (x, y) ∈ R2 | a ≤ x ≤ b, g−(x) ≤ y ≤ g+(x),

und die Randfunktionen g− ≤ g+ seien so beschaffen, dass

γ± : [a, b]→ ∂B mit γ±(x) :=

(x

g±(x)

)

54

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6.8 Beispiel zum Gaußschen Integralsatz

beides Integrationswege sind, siehe Definition 6.3. Es sei F =

(F1

F2

): B → R2 ein C1-

Vektorfeld auf B mit Komponenten F1 = F1(x, y), F2 = F2(x, y) für (x, y) ∈ B. Dann gilt:∫∫B

(∂F1

∂x+∂F2

∂y

)dx dy

︸ ︷︷ ︸Doppelintegral über∇·F

=

∫∂B

(F1 dy − F2 dx)

︸ ︷︷ ︸Wegintegral über den

Rand ∂B von B

.

6.8 Beispiel zum Gaußschen Integralsatz

F (x, y) =

(x

x− y

)=

(F1(x, y)F2(x, y)

)hat die Divergenz

∇ · F =∂

∂x(x) +

∂y(x− y) = 1− 1 = 0,

also für Q := [0, 1]× [0, 1] wie in Beispiel 6.6:

0 =

∫∫B

∇ · F︸ ︷︷ ︸=0

dx dy =

∫∂Q

x dy − (x− y) dx.

Aber Vorsicht: Das Wegintegral∫∂B(F1 dy − F2 dx) ist im Allgemeinen nicht Null, Beispiele

werden in der Übung behandelt!

6.9 Satz: Charakterisierung der Gradientenfelder auf sternförmigenGebieten

Es sei Ω ⊆ Rn, n ≥ 2, ein sternförmiges Gebiet, das heißt es gebe ein Sternzentrum x∗ ∈ Ω, sodass die Verbindungsstrecke

[x∗, x] = x∗ + t(x− x∗) | 0 ≤ t ≤ 1

für alle x ∈ Ω ganz in Ω liegt. Es sei F : Ω → Rn ein C1-Vektorfeld mit der Komponentendar-stellung F = (f1, . . . , fn)T . Genau dann ist F ein Gradientenfeld, das heißt genau dann gibt esein C2-Skalarfeld ψ : Ω→ R mit F = ∇ψ, wenn folgende Integrabilitätsbedingung gilt:

∂fj∂xk

(x) =∂fk∂xj

(x) ∀j, k = 1, . . . , n ∀x ∈ Ω.

Bemerkung 1

Der Beweis von Satz 6.9 basiert auf folgender expliziter Formel zur Bestimmung der Potential-funktion ψ : Ω→ R, nämlich

ψ(x) =

1∫0

F (x∗ + t(x− x∗)) · (x− x∗) dt,

woraus ∇ψ = F mit der Integrabilitätsbedingung gezeigt werden kann.

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6 Wegintegrale und Gaußscher Integralsatz der Ebene

Bemerkung 2

Im Falle n = 3 lässt sich das Integrabilitätskriterium auch in der Form

(6.1) rotF = 0

mit der Rotation des Vektorfeldes F ausdrücken, also

rotF = ∇× F =

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣e1 e2 e3

∂∂x1

∂∂x2

∂∂x3

F1 F2 F3

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∈ R3.

Hierbei sind ej, j = 1, 2, 3, die Einheitsvektoren des R3. Die Bedingung (6.1) allein reichtnicht aus, um bei einem nicht sternförmigen Gebiet Ω ein Gradientenfeld zu garantieren. EinGegenbeispiel ist das Magnetfeld H um einen stromdurchflossenen Leiter

L = (x, y, z) ∈ R3 | x = y = 0

auf der z-Achse. H : Ω→ R3 mit

H(x, y, z) :=I

2π· 1

x2 + y2

−yx0

ist auf dem nicht sternförmigen Gebiet Ω = R3 \L kein Gradientenfeld, trotzdem gilt rotH = 0.

Bemerkung 3

ϕ(x) := GM|x| sei das Newtonsche Gravitationspotential einer Punktmasse M in 0 für

x ∈ Ω := R3 \ 0, und m << M eine kleine Masse auf dem Weg γ = γ(t) ∈ Ω im äußerenGravitationsfeld. Berechnung der Kraft F auf m:

F (γ) = −m · (∇ϕ)(γ) = −GmM∣∣γ∣∣3 γ.

In der Übung zeigen wir allgemein für ein Gradientenfeld imRn, wie sich Wegintegrale über die Potentialdifferenz zwischenAnfangs- und Endpunkt des Weges berechnen lassen.

Skizze:

M

m

F

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6.9 Satz: Charakterisierung der Gradientenfelder auf sternförmigen Gebieten

Daraus folgt dann, dass die Hubenergie für die Überführung von γ(a) nach γ(b) unabhängigvom Zwischenweg aus der Formel

−b∫

a

F (γ) · dx = m ·[ϕ(γ(b))− ϕ(γ(a))

]berechnet werden kann:

Das Gravitationsfeld ist als Gradientenfeld ein konservatives Kraftfeld!

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7 Oberflächenintegrale, die Integralsätze von Stokesund Gauß

Zu diesem Abschnitt empfehlen wir als Vertiefung M. Kunik, P. Skrzypacz, „Höhere Analysisdurch Anwendungen lernen“.

7.1 Definition: FlächenparametrisierungUnter einer Flächenparametrisierung verstehen wir eine injektive und mindestens einmal stetigdifferenzierbare Abbildung Φ : V → R3 auf einem Gebiet V ⊆ R2, so dass∂Φ∂ξ1

(ξ1, ξ2), ∂Φ∂ξ2

(ξ1, ξ2) ∈ R3 an jeder Stelle (ξ1, ξ2) ∈ V linear unabhängig sind. Überdies sollaus lim

n→∞Φ(ξ

n) = Φ(ξ) mit ξ, ξ

n∈ V stets lim

n→∞ξn

= ξ folgen.

Die Punktmenge Φ(V ) := Φ(ξ1, ξ2) ∈ R3 | (ξ1, ξ2) ∈ V heißt dann das Flächenstück zurParametrisierung Φ.

Beachte: Zwischen Flächenparametrisierung und Flächenstück besteht also ein analoger Zu-sammenhang wie zwischen Weg und Bogen!

Wir betrachten nun zwei benachbarte Punkte P = (ξ1, ξ2), Q = (ξ1 + dξ1, ξ2 + dξ2) in V unddefinieren im Punkt P die beiden linear unabhängigen Vektoren

(7.1) a1 :=∂Φ

∂ξ1

(ξ1, ξ2), a2 :=∂Φ

∂ξ2

(ξ1, ξ2),

welche die Tangentenvektoren im Punkt Φ(P ) des Flächenstückes Φ(V ) in Richtung der Koor-dinatenlinien ξ2 = konstant, bzw. ξ1 = konstant darstellen:

ξ1

ξ2

ξ2

ξ2 + dξ2

ξ1 ξ1 + dξ1

P

Q

R

V

Φ

Einbettung inden R3 mitkartesischen Koordinatenx1, x2, x3

x1

x2

x3ξ1 = konstant

ξ2 = konstant

Φ(V )

Φ(P )

Φ(Q)

Φ(R)

a1

a2

Linke Skizze:Gebiet V im R2 = Parameterbereich derKoordinatenlinien des Flächenstückes Φ(V ).

Rechte Skizze:Flächenstück Φ(V ), eingebettet in den R3, mitKoordinatenlinien ξ2 = konstant bzw. ξ1 = kon-stant und Tangentenvektoren a1, a2 in Φ(P ) zuden Koordinatenlinien.

59

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7 Oberflächenintegrale, die Integralsätze von Stokes und Gauß

Warum nennt man a1, a2 die Tangentenvektoren in P zu ξ2 = konstant bzw. ξ1 = konstant?Hierzu nehmen wir an, dass die Punkte P und Q in V so dicht beisammen liegen, das heißt

(7.2) | dξ1| 1 und | dξ2| 1,

dass mit großer Genauigkeit die folgende Taylorentwicklung erster Ordnung von Φ im Punkt Pgilt:

(7.3) Φ(ξ1 + dξ1, ξ2 + dξ2)︸ ︷︷ ︸Φ(Q)∈R3

−Φ(ξ1, ξ2)︸ ︷︷ ︸Φ(P )∈R3

≈ ∂Φ

∂ξ1

(ξ1, ξ2)︸ ︷︷ ︸Vektor a1

dξ1 +∂Φ

∂ξ2

(ξ1, ξ2)︸ ︷︷ ︸Vektor a2

dξ2.

Mit Bezug auf den Aufpunkt Φ(P ) wird das kleine Rechteck R ⊆ V mit den Eckpunkten P,Qdurch Linearisierung von Φ auf das von den Vektoren a1 dξ1, a2 dξ2 aufgespannte Parallelo-gramm abgebildet, siehe Skizze. Danach sieht das Flächenstück in einer infinitesimalen Umge-bung von Φ(P ) wie die von a1, a2 in Φ(P ) aufgespannte Tangentialebene aus:

ξ1

ξ2

ξ1 ξ1 + dξ1

ξ2

ξ2 + dξ2

Q

R

P

Paramatresierung Φ

in lokaler Wirkungauf R mit beliebighoher Genauigkeit nur linear!

x1

x2

x3

Φ(P )

a2 · dξ2

a1 · dξ1

Φ(Q)

Vekt

orΦ

(Q)−

Φ(P

)

mit

Läng

eds

Links:Infinitesimaler Parameterbereich R ⊆ V mit| dξ1| 1 & | dξ2| 1.

Rechts:Das infinitesimale Bild Φ(R) von R unter Φ alsParallelogramm im R3.

Mit ds bezeichnen wir den infinitesimalen Abstand der eng benachbarten FlächenpunkteΦ(P ),Φ(Q). Dann gilt in einer kleinen Umgebung von P :

ds2 = |a1 dξ1 + a2 dξ2|2

= (a1 · a1) dξ21 + 2(a1 · a2) dξ1 dξ2 + (a2 · a2) dξ2

2 .(7.4)

Beachte die Definition der Tangentenvektoren a1, a2 in (7.1) und definiere in jedem PunktP = (ξ1, ξ2) ∈ V deren Skalarprodukte gemäß

(7.5) gµν(ξ1, ξ2) :=∂Φ

∂ξµ(ξ1, ξ2) · ∂Φ

∂ξν(ξ1, ξ2), µ, ν = 1, 2.

Diese bilden eine von (ξ1, ξ2) abhängige symmetrische und positiv definite 2× 2 Matrix

(7.6) G :=

(g11 g12

g21 g22

)mit g12 = g21,

60

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7.1 Definition: Flächenparametrisierung

und wir erhalten in einer infinitesimalen Umgebung des Punktes P = (ξ1, ξ2):

ds2 = g11(ξ1, ξ2) dξ21 + 2g12(ξ1, ξ2) dξ1 dξ2 + g22(ξ1, ξ2) dξ2

2(7.7)

=

(dξ1

dξ2

)T·G ·

(dξ1

dξ2

).

Die Matrix G, bzw. ihre Komponenten gµν nennt man das metrische Tensorfeld der Fläche, auchMaßtensor. Mit seiner Hilfe lassen sich alle geometrischen Maßverhältnisse auf der Fläche auchohne Bezug auf ihre Einbettung in den R3 beschreiben. Diese Grundidee der Differentialgeome-trie wurde von C. F. GAUSS 1827 in seiner Flächentheorie entwickelt, wonach der Maßtensoreine innere (intrinsische) Größe der Fläche ist. Wir kehren zum infinitesimalen Parallelogrammim Punkt Φ(P ) zurück und berechnen seinen Flächeninhalt dS(P ) (Inhalt eines infinitesimalenFlächenelementes zu P ) gemäß

(7.8) dS(P ) = |a1 × a2| dξ1 dξ2 =

∣∣∣∣ ∂Φ

∂ξ1

(ξ1, ξ2)× ∂Φ

∂ξ2

(ξ1, ξ2)︸ ︷︷ ︸Kreuzprodukt der Tangentenvektoren im R3

∣∣∣∣ dξ1 dξ2.

Da dS(P ) eine intrinsische Größe der Fläche ist, lässt sie sich auch mit Hilfe des metrischenTensorfeldes ausdrücken. Wir erhalten aus der linearen Algebra:

(7.9) dS(P ) =√

detG dξ1 dξ2 =

√∣∣∣∣g11 g12

g21 g22

∣∣∣∣ dξ1 dξ2,

wobei

(7.10)√

detG =

∣∣∣∣ ∂Φ

∂ξ1

× ∂Φ

∂ξ2

∣∣∣∣ .Eine wichtige Frage ist nun: Wie ändert sich das metrische Tensorfeld gµν(ξ1, ξ2) bzw. seineDeterminante detG(ξ1, ξ2), wenn man für dasselbe Flächenstück Φ(V ) als Punktmenge des R3

eine andere Parametrisierung wählt, das heißt die Parameterkoordinaten ξ1, ξ2 durch neue ξ′1, ξ′2

so ersetzt, dass sich dabei das Flächenstück nicht ändert? Dieser Koordinatenwechsel wird durcheinen sogenannten C1-Diffeomorphismus T : V ′ → V zwischen offenen Gebieten V, V ′ be-schrieben, also

T (ξ′1, ξ′2) =

(ξ1(ξ′1, ξ

′2)

ξ2(ξ′1, ξ′2)

),

so dass T und T−1 : V → V ′ stetig differenzierbar sind. Nun ist Φ′ : V ′ → R3 mitΦ′(ξ′1, ξ

′2) := Φ(T (ξ′1, ξ

′2)) und Φ′(V ′) = Φ(T (V ′)) = Φ(V ) die neue Parametrisierung dessel-

ben Flächenstücks. Nach der Kettenregel gilt nun für κ = 1, 2:

(7.11)∂Φ′

∂ξ′κ(ξ′1, ξ

′2) =

2∑µ=1

∂Φ

∂ξµ(T (ξ′1, ξ

′2))∂ξµ∂ξ′κ

(ξ′1, ξ′2),

61

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7 Oberflächenintegrale, die Integralsätze von Stokes und Gauß

und daher für den Metrik-Tensor g′κλ = g′κλ(ξ′1, ξ′2) in neuen Koordinaten ξ′1, ξ

′2 :

(7.12) g′κλ(ξ′1, ξ′2) =

2∑µ,ν=1

∂ξµ∂ξ′κ

∂ξν∂ξ′λ

gµν(T (ξ′1, ξ′2)).

Dieses Transformationsgesetz ist typisch für einen Tensor zweiter Stufe bzgl. derC1-Diffeomorphismen.Bilden wir die transformierte Matrix

G′ :=

(g′11 g′12

g′21 g′22

),

so können wir es in Matrixform unter Weglassung aller Funktionsargumente auch so schreiben:

(7.13) G′ =(∂ξ∂ξ′

)T·G · ∂ξ

∂ξ′.

Beim Übergang zur Determinante folgt daher

(7.14) detG′ =

(det

∂ξ

∂ξ′

)2

· detG,

beziehungsweise

(7.15)√

detG′ =√

detG ·∣∣∣∣det

∂ξ

∂ξ′

∣∣∣∣ .Damit werden wir nun direkt zur Definition des Oberflächenintegrals geführt.

7.2 Definition: Das Oberflächenintegral

Es sei f : Φ(V ) → R eine Funktion, für die f(ξ1, ξ2) := f(Φ(ξ1, ξ2)) ·√

detG integrierbar aufdem Parameterbereich V ist. Dann heißt∫

Φ(V )

f(y) dS(y) :=

∫∫V

f(Φ(ξ1, ξ2)) ·√

detG dξ1 dξ2

das Oberflächenintegral von f bezüglich des Flächenstückes Φ(V ).

Beachte:

1.) Dank der Beziehung (7.15) und einer allgemeinen Transformationsregel ist das Oberflä-chenintegral von der Wahl der Parametrisierung des Flächenstückes Φ(V ) unabhängig!

2.) Man erinnere sich auch an (7.10), wonach

√detG =

∣∣∣∣ ∂Φ

∂ξ1

× ∂Φ

∂ξ2

∣∣∣∣auch direkt aus der Parametrisierung Φ berechnet werden kann, also ohne Metrik-Tensor.

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7.3 Beispiel eines Oberflächenintegrals

3.) Wenn√

detG integrierbar über V ist, dann bezeichnet

|Φ(V )| :=∫

Φ(V )

1 dS(y) =

∫∫V

√detG dξ1 dξ2

den Flächeninhalt von Φ(V ). Dies ist schon wegen (7.9) intuitiv klar, wenn man aufgrundder Additivität des Doppelintegrals den Parameterbereich V durch viele kleine achsenpar-allele Rechtecke R approximiert, bzw. zerlegt.

7.3 Beispiel eines Oberflächenintegrals

Für einen festen Radius r > 0 parametrisieren wir die Oberfläche ∂B(r, x0) der Kugel mitx0 = (x0, y0, z0) (bis auf Meridiane bzgl. der Sphäre ∂B(r, x0)) gemäß

y = Φ(ϕ, ϑ) =

x0 + r · cosϕ sinϑy0 + r · sinϕ sinϑz0 + r · cosϑ

, ϕ ∈ (0, 2π), ϑ ∈ (0, π).

Wir erhalten:

∂Φ

∂ϕ=

−r sinϕ sinϑ+r cosϕ sinϑ

0

,∂Φ

∂ϑ=

r cosϕ cosϑr sinϕ cosϑ−r sinϑ

,

∂Φ

∂ϕ× ∂Φ

∂ϑ= −r2 ·

cosϕ sin2 ϑsinϕ sin2 ϑsinϑ cosϑ

,

∣∣∣∣∂Φ

∂ϕ× ∂Φ

∂ϑ

∣∣∣∣ = r2 sinϑ.

Damit ergibt sich nun das Oberflächenintegral der Sphäre ∂B(r, x0) gemäß

∫∂B(r,x0)

f(y) dS(y) =

π∫0

2π∫0

f(x0 + r cosϕ sinϑ, y0 + r sinϕ sinϑ, z0 + r cosϑ) · r2 sinϑ dϕ dϑ.

Das metrische Tensorfeld der Sphäre ist hier gegeben durch

g11 =

∣∣∣∣∂Φ

∂ϕ

∣∣∣∣2 = r2 sin2 ϑ,

g12 = g21 =∂Φ

∂ϕ· ∂Φ

∂ϑ= 0,

g22 =

∣∣∣∣∂Φ

∂ϑ

∣∣∣∣2 = r2, also

G =

(g11 g12

g21 g22

)=

(r2 sin2 ϑ 0

0 r2

),

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7 Oberflächenintegrale, die Integralsätze von Stokes und Gauß

und auch hier ist√

detG = r2 sinϑ. Der Flächeninhalt der Sphäre ist daher

π∫0

2π∫0

r2 sinϑ dϕ dϑ = 2πr2

π∫0

sinϑ dϑ = 4πr2.

Allgemeiner:Man berechne für einen „geodätischen Radius“ 0 < r′ < πr den Flächeninhalt des geschlitztensphärischen Kreises

Kr′ :=

rcosϕ sinϑ

sinϕ sinϑcosϑ

∣∣∣∣∣ 0 < ϕ < 2π, 0 < ϑ <r′

r

,

x1

x3

x2

Länger′

S (ϑ = π)

N (ϑ = 0)

also einer geschlitzten Kugelkappe, deren „sphärischer Mittelpunkt“ der Nordpol N :=

00r

für ϑ := 0 ist. Wir erhalten:

|Kr′| =

r′r∫

0

2π∫0

r2 sinϑ dϕ dϑ

= 2πr2

r′r∫

0

sinϑ dϑ

= 2πr2

(1− cos

r′

r

)= 4πr2 · sin2 r

2r.

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7.4 Satz: Integralsatz von Stokes

Bemerkungen

1. Aus |Kr′ | = 4πr2 sin2 r′

2rerhalten wir im Limes r → ∞ die euklidische Kreisformel

|Kr′| = πr′2 zurück.

2. Im Grenzfall r′ → π · r, aber r > 0 endlich, erhalten wir |Kr′| = 4πr2, denn Kr′ schöpftdann die gesamte Kugeloberfläche aus.

Wir kommen nun zum Integralsatz von Stokes, der wie der Gaußsche Integralsatz eine Verall-gemeinerung des Hauptsatzes der Differential-Integralrechnung darstellt. Hierzu erinnern wir anden Begriff der Rotation eines C1-Vektorfeldes F : U → R3 auf einer offenen Menge U ⊆ R3,gegeben durch:

rotF = ∇× F =

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣e1 e2 e3

∂∂x1

∂∂x2

∂∂x3

F1 F2 F3

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣=

∂F3

∂x2− ∂F2

∂x3

∂F1

∂x3− ∂F3

∂x1

∂F2

∂x1− ∂F1

∂x2

∈ R3.

Innerhalb U betrachten wir ein Flächenstück B, das nicht geschlossen sein muss, aber auch mitHilfe eines glatten Normaleneinheitsvektorfeldes n : B → R3, |n| = 1, orientiert wird. Auchdie Randkurve ∂B von B orientieren wir im mathematisch positiven Sinne, bezogen auf dasn-Vektorfeld, wie in untenstehender Abbildung:

n

∂B

∂B werde mit einem Weg γ in dieserOrientierung parametrisiert.

Bemerkung:Das Möbiusband ist so nicht mit einem steti-gen n-Vektorfeld orientierbar!

7.4 Satz: Integralsatz von StokesDer Integralsatz von Stokes liefert folgende Gleichheit:∫

B

(∇× F ) · n dS =

∫γ

F (x) · dx =

∫∂B

F (x) · dx.

Dies entspricht:

Oberflächenintegral über die Rotation = Wegintegral über die Randkurve.

Beachte: Ist B ein Normalbereich bezüglich beider Achsen in der x1-x2-Ebene, so reduziertsich der Stokesche Integralsatz auf den Gaußschen Integralsatz der Ebene:∫∫

B

(∂F2

∂x1

− ∂F1

∂x2

)dx1 dx2 =

∫∂B

F1 dx1 + F2 dx2.

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7 Oberflächenintegrale, die Integralsätze von Stokes und Gauß

Hierbei ist F =

F1

F2

0

mit F1 = F1(x1, x2), F2 = F2(x1, x2), n =

001

und

somit (∇× F ) · n = ∂F2

∂x1− ∂F1

∂x2.

x1

x2

∂BBAuch der Stokesche Integralsatz hat zahlreicheAnwendungen in der Elektrodynamik & Strö-mungsmechanik.

7.5 Satz: Satz von Gauß für Normalbereiche im R3 und dasDivergenz-Theorem

Es sei Ω ein Normalbereich (NB) im R3 mit stückweise glattem Rand. Dann ist (auf jedem dersechs glatten Teilfächenstücke) zu ∂Ω ein äußeres Normaleneinheitsvektorfeld n definiert. DasC1-Vektorfeld F : U → R3 sei auf einer offenen Menge U ⊃ Ω gegeben. Dann gilt:

∫Ω

(∇ · F )(x) dx =

∫∂Ω

F (y) · n(y) dS(y) =

∫∂Ω

F · n dS.

Hierbei ist∫Ω

das Volumenintegral, siehe Satz 5.10, (∇ · F ) die Divergenz von F und∫∂Ω

das

Oberflächenintegral.

Beachte:

1.) Die 12 ggf. auftretenden Kanten von ∂Ω, auf denen das Vektorfeld n nicht definiert ist,bilden bzgl. der Oberflächenintegration eine niederdimensionale Menge: Sie spielen keineRolle bei der Formulierung des Gaußschen Satzes.

2.) Ist F = −∇ϕ ein Gradientenfeld, so schreibt man auch F · n = −∂ϕ∂n

.

3.) Anstelle von dS schreibt man auch do, anstelle von n dS auch dS, d~S, bzw. do, d~o oderähnliches.

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7.5 Satz: Satz von Gauß für Normalbereiche im R3 und das Divergenz-Theorem

Schließlich besprechen wir drei Anwendungen des Gaußschen Satzes im R3. Hierfür seiΩ ⊆ R3 ein Normalbereich mit stückweise glattem Rand ∂Ω und äußerem Normaleneinheits-vektorfeld n = n(y), |n| = 1, y ∈ ∂Ω.

1) Volumen als Oberflächenintegral:Für den Volumeninhalt |Ω| von Ω gilt

|Ω| = 1

3

∫∂Ω

y · n(y) dS(y),

denn die Anwendungen von Satz 7.5 auf das Vektorfeld F (x) = x =

x1

x2

x3

liefert wegen

(∇ · F )(x) =∂x1

∂x1

+∂x2

∂x2

+∂x3

∂x3

= 1 + 1 + 1 = 3 :

|Ω| = 1

3

∫Ω

(∇ · F )(x) dx =1

3

∫∂Ω

F (y) · n(y) dS(y),

also |Ω| = 1

3

∫∂Ω

y · n(y) dS(y).

2) Greensche Integralformeln:Für C2-Funktionen u, v : U → R in einer offenen Menge U ⊃ Ω gilt mit dem Laplace-

Operator ∆ =3∑

k=1

∂2

∂x2k:

a) Erste Greensche Formel:

∫Ω

(∇u · ∇v + u∆v) dx =

∫∂Ω

u(∇v · n) dS.

b) Zweite Greensche Formel:

∫Ω

(u∆v − v∆u) dx =

∫∂Ω

(u∇v − v∇u) · n dS.

Zu a): Wende den Gaußschen Integralsatz auf das Vektorfeld F = u∇v an und beachte∇ · F = ∇ · (u∇v) = ∇u · ∇v + u∆v aufgrund der Produktregel:∫

∂Ω

u(∇v · n) dS =

∫Ω

∇ · (u∇v) dx =

∫Ω

(∇u · ∇v + u∆v) dx.

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7 Oberflächenintegrale, die Integralsätze von Stokes und Gauß

Zu b): Vertauschen wir in der ersten Greenschen Formel die Rollen von u und v, so folgt diezweite Formel sofort durch Differenzbildung.

Die Greenschen Formeln werden zur Lösung von Potentialproblemen herangezogen, etwain der Elektrostatik oder der Newtonschen Gravitationstheorie.

3) Die Eigenwertgleichung für den Laplace-Operatorlautet mit einem Eigenwert λ und einer Eigenfunktion u:

−∆u = λu,

wieder mit ∆ =3∑

k=1

∂2

∂x2k. Die C2-Funktion u : Ω → R soll auf dem Rand ∂Ω von Ω

verschwinden, aber nicht auf ganz Ω. Dann liefert die erste Greensche Formel mit u = vwegen −u∆u = λu2:

λ

∫Ω

u2 dx = −∫Ω

u∆u dx

=

∫Ω

(∇u) · (∇u) dx−∫∂Ω

u︸︷︷︸ist Null auf∂Ω

(∇u · n) dS

=

∫Ω

|∇u|2 dx, also sind die Eigenwerte von −∆ positiv:

λ =

∫Ω

|∇u|2 dx∫Ω

u2 dx> 0.

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8 Die Poissonsche bzw. Laplacesche Gleichung derPotentialtheorie

Wir orientieren uns an L. C. Evans, „Partial Differential Equations“, Chapter 2, AMS.

Bei zeitunabhängigen Problemen der Elektrostatik bzw. der Newtonschen Gravitationstheoriespielt die Poissonsche Gleichung

(8.1) −(∆u)(x) = f(x) ∀x ∈ Ω

eine große Rolle, wobei Ω ⊆ Rn für n = 2 (Ebene) bzw. n = 3 (Raum) ein Gebiet mit glattemRand ∂Ω sein soll. Die stetige rechte Seite f : Ω → R wird aus der Ladungs-, bzw. Massen-dichte bestimmt. Im Falle f(x) = 0 ∀x ∈ Ω liegen die felderzeugenden Ladungen bzw. Massenaußerhalb von Ω, und wir erhalten die Laplacesche Gleichung

(8.2) (∆u)(x) = 0.

In (8.1) bzw. (8.2) ist die unbekannte Potentialfunktion u = u(x) gesucht. Lösungen derLaplace-Gleichung (8.2) nennt man harmonische Funktionen. Zur Lösung von (8.1) bzw. (8.2)fordern wir die Dirichlet Randbedingung

(8.3) u(x) = g(x) ∀x ∈ ∂Ω

für eine auf dem Rand ∂Ω von Ω gegebene stetige Funktion. Dies ist die einfachste Randbe-dingung, die zumindest für beschränkte Gebiete Ω eine eindeutige Lösung garantiert.

Einen wichtigen Lösungsbaustein erhält man, wenn man zunächst zunächst nur nach radial-symmetrischen Lösungen u(x) = v(r) der Laplace-Gleichung (8.2) sucht

mit r = |x| =√

n∑j=1

x2j > 0 für x ∈ Rn \ 0. Mit ∂r

∂xj=

xj|x| =

xjr

folgt:

∂u

∂xj(x) = v(r)

∂r

∂xj= v(r) · xj

r,

∂2u

∂x2j

(x) = v(r)

(∂r

∂xj

)2

+ v(r)∂

∂xj

(∂r

∂xj

)= v(r)

x2j

r2+ v(r)

(1

r− xjr2· xjr

),

(∆u)(x) =n∑j=1

∂2u

∂x2j

(x) = v(r) +n− 1

rv(r).

Somit ist (∆u)(x) = 0 genau für

v(r) +n− 1

rv(r) = 0

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8 Die Poissonsche bzw. Laplacesche Gleichung der Potentialtheorie

erfüllt, was man für v(r) 6= 0 auch in der Form

ddr

log |v(r)| = v(r)

v(r)=

1− nr

schreiben kann. Wir erhalten dann v(r) = arn−1 und

v(r) =

α log r + β für n = 2α′

r+ β′ für n = 3

mit reellen Konstanten a, α, β, α′, β′, und u(x) = v(|x|) ist harmonisch, das heißt Lösung von(8.2).

8.1 Definition: Fundamental-Lösung der Laplace-Gleichung

Die Funktion

Φ(x) :=

− 1

2πlog |x| für n = 2

14π|x| für n = 3,

definiert für x ∈ Rn \ 0, heißt Fundamental-Lösung der Laplace-Gleichung (8.2). Die Bedeu-tung der speziellen Wahl der Konstanten in dieser Definition offenbart der

8.2 Satz: Lösung der Poisson-Gleichung

Es sei f(y) = 0 für∣∣y∣∣ > R und f eine C2-Funktion auf Rn, n = 2 bzw. n = 3. Dann ist

u(x) :=

∫Rn

Φ(x− y)f(y) dy

eine C2-Lösung der Poisson-Gleichung −∆u = f in Rn.

Bemerkung

(a) Für die Fundamental-Lösung Φ aus Definition 8.1 schreibt man auch

−∆Φ = δ im Rn

mit dem sogenannten Dirac δ-Punktmaß im Nullpunkt, für das formal∫Rn

δ(x− y)f(y) dy = f(x) (x ∈ Rn)

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8.2 Satz: Lösung der Poisson-Gleichung

gelten soll, obwohl das δ-Punktmaß keine Funktion ist. Die formale Rechnung

−(∆u)(x) =

∫Rn

−∆xΦ(x− y)f(y) dy

=

∫Rn

δ(x− y)f(y) dy = f(x)

ist dann im Einklang mit Satz 8.2.

(b) In der Physik schreibt man die Poissonsche Formel (8.1) meist in der Form ∆ϕ = f mitϕ = −u. Das Newtonsche Potential ϕ = − 1

4π|x| zum Diracschen Punktmaß f = δ (imRaum) unterscheidet sich dann von der Fundamental-Lösung Φ nur bis auf das Vorzei-chen! Es beschreibt δ einen im Nullpunkt gelegenen Massenpunkt bzw. eine Punktladung(Singularität). In den Gleichungen sind dann noch die physikalischen Maßeinheiten ent-sprechend zu ergänzen.

Die Idee der Greenschen Funktion

Mit Hilfe der Fundamental-Lösung Φ lässt sich in Satz 8.2 zwar eine Lösung u der PoissonschenGleichung (8.1) ermitteln, aber diese erfüllt im Allgemeinen nicht die Dirichletsche Randbedin-gung (8.3) für das Lösungsgebiet Ω. Um auch (8.3) zu berücksichtigen, kann man unter Verwen-dung der Greenschen Formeln aus Kapitel 7 die sogenannte Greensche Funktion gewinnen, einemodifizierte Fundamental-Lösung, die an die Geometrie des Gebietes Ω angepasst werden muss.Hierzu benötigt man für jedes feste x ∈ Ω eine Korrekturfunktion ΦΩ

x = ΦΩx (y), y ∈ Ω = Ω∪∂Ω,

die folgendes Hilfsproblem löst:

(8.4) ∆ΦΩx = 0 in Ω, ΦΩ

x (y) = Φ(x− y) ∀y ∈ ∂Ω.

Für die Lösung ΦΩx von (8.4) und für die Lösung u von (8.1), (8.3) fordern wir, dass sie sich

vom Gebiet Ω bis auf den Rand ∂Ω stetig mit den vorgeschriebenen Randvorgaben fortsetzen las-sen. Für unbeschränkte Gebiete Ω müssen diese Lösungen noch geeignete Wachstumsbeschrän-kungen erfüllen, worauf wir nicht näher eingehen. Dann definiert man die Greensche Funktionzum Gebiet Ω gemäß

(8.5) GΩ(x, y) = Φ(x− y)− ΦΩx (y)

für x ∈ Ω, y ∈ Ω = Ω ∪ ∂Ω. Für die Lösung u von (8.1), (8.3) gilt dann für n = 3 (Raum):

u(x) = −∫∂Ω

g(y)∂GΩ

∂n(x, y) dS(y) +

∫Ω

f(y)GΩ(x, y) dy

mit x ∈ Ω und der Normalenableitung

∂GΩ

∂n(x, y) = (∇yGΩ(x, y)) · n(y)

von GΩ in Richtung des äußeren Normaleneinheitsvektorfeldes n(y) zu ∂Ω. Die GreenscheFunktion ist symmetrisch, GΩ(x, y) = GΩ(y, x), und sie verschwindet für y ∈ ∂Ω.

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8 Die Poissonsche bzw. Laplacesche Gleichung der Potentialtheorie

Drei Beispiele Greenscher Funktionen

1.) Ω = R3 (Gesamtraum)=⇒ GR3(x, y) = Φ(x− y) mit der Fundamental-Lösung Φ aus Definition 8.1 für n = 3.

2.) Ω = H = (x1, x2, x3) ∈ R3 | x3 > 0 (Halbebene)=⇒ GH(x, y) = Φ(x−y)−Φ(x∗−y) mit der Spiegelung x∗ = (x1, x2,−x3) des Punktesx = (x1, x2, x3) ∈ H .

3.) Ω = B = x ∈ R3 | |x| < 1 (Einheitskugel)=⇒ GB(x, y) = Φ(x − y) − Φ(|x| (x − y)) mit der Inversion x = 1

|x|2 · x des Punktesx ∈ B.

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