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Wen trifft Schuld, wenn Hexen brennen? EIN METJEN NAHMENS PREETZEN Erinnerung an einen Malefizprozess EIN METJEN NAHMENS PREETZEN ein Film von Gerald Koll DE 2014 | 89 Minuten | stereo | 16:9 | HD | Farbe [email protected] www.einmetjennahmenspreetzen.de

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Page 1: Presseheft EIN METJEN NAHMENS PREETZEN · 2014. 6. 28. · Schmerz, kein Blut) und damit als Hexenmal identifiziert wird. Man beschließt, die Befragung fortzusetzen. Da Hinrich von

Wen trifft Schuld,

wenn Hexen brennen?

EIN METJEN NAHMENS

PREETZEN

Erinnerung an einen Malefizprozess

EIN METJEN NAHMENS PREETZEN ein Film von Gerald Koll

DE 2014 | 89 Minuten | stereo | 16:9 | HD | Farbe

[email protected] www.einmetjennahmenspreetzen.de

Page 2: Presseheft EIN METJEN NAHMENS PREETZEN · 2014. 6. 28. · Schmerz, kein Blut) und damit als Hexenmal identifiziert wird. Man beschließt, die Befragung fortzusetzen. Da Hinrich von

EIN METJEN NAHMENS PREETZEN

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Kurzinhalt Die Geschichte Kiels ist älter als seine Marine und seine Werften. Sie war schon alt, als hier Hexen brannten.

Am 25. April 1676 erwähnen die Kieler Stadtprotokolle „ein Metjen nahmens Preetzen“. Es klagt, seine Stiefmutter treibe „gottlose Sachen“ und führe auf den „düstern bergk“. Zwei Monate später werden zwei Hexen verbrannt – die letzten Hexen von Kiel.

Stand die kleine norddeutsche Fördestadt im Bann von Hexenwahn und Hexen-jägern? Ganz und gar nicht. Und doch musste es so kommen. Wie es kam, erzählt das Mädchen selbst. Es heißt Anje Preetzen und ist 350 Jahre alt.

Die Erinnerung dieses Mädchens ist aufgeladen mit Bildern des 17. Jahrhunderts: mit barocken Gemälden, Holzdrucken, Kupferstichen und Quellen der Kieler Justiz. EIN METJEN NAHMENS PREETZEN ist ihre Geschichte, ein illustriertes Hörspiel, ein Versuch, die Vergangenheit zu Wort kommen zu lassen.

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Hintergründe – Erinnerung an einen Malefizprozess

Europa und Kiel

Für den Zeitraum 1530-1700 rechnen Historiker in Europa mit etwa 60.000 (neuere Schätzungen) bis weit über 100.000 (ältere Schätzungen) Hinrichtungen von „Hexen“. Für das Gebiet des Deutschen Reiches schwanken die Zahlen ebenfalls. Manche gehen von 20.000 Opfern aus, manche von 100.000. Tendenziell gilt: Die Angaben über das Ausmaß mussten in den letzten Jahren nach unten korrigiert werden.

Genauer lässt sich die Zahl für Kiel bestimmen. Für einen Zeitraum von 130 Jahren verzeichnen die Akten 34 Hinrichtungen. Kiel zählt damit nicht zur Hochburg der Hexenverfolgung. Zum Vergleich: Das Gebiet Schleswig-Holstein verzeichnet im selben Zeitraum 846 Fälle, davon wohl 600 Hinrichtungen.

Im Jahr 1676 finden sich im deutschsprachigen Raum diverse Hexenverfolgungen. Der Erzbischof von Salzburg lässt 97 Frauen wegen Anstiftung einer Viehseuche verbrennen. Die Pfarrfrau von Heftrich wird am 22. März in Idstein enthauptet – eine von 39 verurteilten Personen im Verlauf des Prozesses. Chatrina Blanckenstein steht im sächsischen Naumburg auf dem Scheiterhaufen.

Die Vorgeschichte des Kieler Prozesses

Der Prozess 1676 in Kiel hat eine spezielle Vorgeschichte. Sie führt acht Jahre zu-rück, zu einer Verwandten der 1676 verdächtigen Personen. Diese Verwandte ist Teke Busch. Sie wird am 13. März 1668 wegen Hexerei und Verführung eines Knaben zu Zauberey und gotteslästerlichen Schwörens verbrannt.

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In den nächsten acht Jahren sind in Kiel keine weiteren Hexenverbrennungen verzeichnet. Im Jahr 1675 wird Claus Rönnefeld wegen Dieberei und Nothzucht verhört, gefoltert, zum Strang verurteilt – und begnadigt zum Tod durch Ent-hauptung. Sein Leichnam wird unter dem Galgen vergraben.

Doch vergessen ist der alte Fall keineswegs. Er ist dem Kieler Rat und auch der Kieler Bevölkerung 1676 noch bestens in Erinnerung. Der Leumund der Familie Busch/Preetzen scheint nachhaltig vergiftet zu sein.

Der zeitliche Verlauf

25.4.1676, Dienstag: Eine Kieler Delegation reist zum Gut Bülk an der Küste. Dessen Gutsherr Wolf v. Buchwaldt hat sie gerufen, denn ihm war ein Gerücht zu Ohren gekommen, das der Untersuchung bedarf: Hexerei. Der Kieler Syndicus (Hennings) und ein Ratsherr (Petzolt) verhören die auf dem Gut tätige Magd, „ein Metjen nah-mens Preetzen“. Das Mädchen, es heißt Anje Preetzen, gibt an, seine in Kiel wohn-hafte Stiefmutter namens Trinke Preetzen habe von ihm „allerhant Übles“ verlangt, auch gehe die besagte Stiefmutter auf den „düstern bergk“. Das Mädchen gibt fer-ner zu Protokoll, die Stiefmutter verübe „gottlose Sachen“ und habe „zu Bülk ge-huret“. Zurück in Kiel erstatten sie Bürgermeister von Lengerke Bericht.

26.4.1676, Mittwoch: Die in einem Keller in der Flämischen Straße wohnhafte Kielerin Trinke Preetzen wird zum Verhör auf das Rathaus gebracht und verhaftet. Trinke streitet alles ab und gibt zu Protokoll, Anje Preetzen nicht zu kennen. Da-raufhin wird Anjes Dienstherr aufgefordert, das Mädchen möge am 29. April nach Kiel kommen, um seiner Stiefmutter gegenübergestellt zu werden. Trinke Preetzen verbleibt im Gefängnis des Rathauses, der sogenannten Veste.

29.4.1676, Sonnabend: Über den Verlauf der Konfrontation gibt es keine Angaben. Dem Resultat nach darf angenommen werden, dass die Gegenüberstellung zur Er-härtung der Vorwürfe und zur Einleitung eines offiziellen Verfahrens führte. Trinke Preetzen wird vom Stadtgefängnis in die sogenannte Büttelei verlegt, einen stärker abgeschirmten Turm mit Folterkammer. Dort arbeitet der Büttel Paul Möller.

1.5.1676, Montag: Es wird beschlossen, dass Trinke nochmals vernommen und vom normalen Stadtgefängnis in die Büttelei gebracht werde; außerdem, dass Fiscalis (Staatsanwalt) und Defensor (Verteidiger) eingesetzt werden. Ob die juristische Fa-kultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel mit einer strafrechtlichen Exper-tise zu Rate gezogen wurde, ist nicht belegt, aber nicht ausgeschlossen. Zwei ihrer namhaftesten Repräsentanten dieser Zeit sind Professor Reyher und Professor Major.

Das nunmehr offiziell eröffnete Verfahren scheint für sieben Wochen etwas auf der Stelle zu treten. Trinke erleidet wiederholt Folter.

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19.6.1676, Montag: Die Rechtsbeistände erstatten Bericht. Trinke sei wiederholt ge-foltert worden; inzwischen sei sicher, dass sie sich mit dem Teufel eingelassen, Blasphemie begangen, die Oblate missbraucht und die Stieftochter zur Hexerei an-gestiftet habe. Außerdem habe Trinke ausgesagt, mit ihrem Vater Hinrich Busch auf dem Hexentanz gewesen zu sein. Busch sei ihr Lehrmeister gewesen. Das nimmt sie zunächst zurück, nach nochmaliger Tortur aber bleibt sie bei der Aussage. Darauf wird beschlossen, Busch zu verhaften. Er ist bei der Stadt angestellt als Viehhüter.

20.6.1676, Dienstag: Gemäß Dekret wird Hinrich Busch verhaftet und gefoltert. An seinem Körper wird die von Trinke bezeichnete weiße Stelle gefunden, die auf Nadelstiche nicht reagiert (kein Schmerz, kein Blut) und damit als Hexenmal identifiziert wird. Man beschließt, die Befragung fortzusetzen. Da Hinrich von Trin-ke unter Folter denunziert wurde, wird eine Gegenüberstellung angeordnet. Auch für Hinrich Busch werden Fiskal und Defensor eingesetzt. Ferner solle „wegen der Tortur ergehen und geschehen lassen was recht ist“.

27.6.1676, Dienstag: Die Rechtsbeistände referieren, Hinrich Busch habe nach der Folter ein Bekenntnis abgelegt. Seine Schuld an der Hexerei sei sicher. Er sei aller-dings weiter genau anhand der Aktstücke (die nicht überliefert sind) zu vernehmen.

30.6.1676, Freitag (noch gilt in Kiel der Julianische Kalender): Tag der Hinrichtung. Das Wetter ist laut Protokoll „übermäßig heiß“. Morgens vor der Predigt erhalten die Delinquenten das heilige Abendmahl.

Um 12 Uhr fährt ein Wagen vor, der die Verurteilten vor dem Gericht absetzt. Dort werden die Urteile verlesen, das Urteil für Trinke Preetzen und das Urteil für Hinrich Busch. Nach lautendem Recht müssen die Delinquenten das Urteil bestätigen.

Daraufhin werden sie auf die Richtstätte gebracht. Der Transport bereitet offenbar Probleme. Es gibt Engpässe bei der Beförderung, denn es ist für die Geistlichkeit, die die De-linquenten begleiten soll, kein Wagen verfügbar. Als Geist-liche abgestellt sind nicht der ranghöchste Geistliche Haupt-pastor Friedrich Jessen, sondern Diacon Gabriel Wedder-kopp und der Prediger der Heilig-Geist-Kirche Martin Büt-zer, der wiederum den erkrankten und „unpässlich“ gemel-deten Archidiacon Matthias Burchard vertritt. Im Vorfeld der Exekution bitten Wedderkopp und Bützer den Rat dringlich um einen Wagen, der ihnen nach einigem Hin und Her gewährt wird.

Die Delinquenten werden auf der Richtstätte hingerichtet und verbrannt. Die Aus-führung dürfte, obwohl namentlich nicht erwähnt, der amtierende Scharfrichter Paul Möller übernommen haben. Über die weitere Behandlung des Mädchens Anje Preetzen schweigen die Akten.

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„Wahn und Vernunft kringeln sich“

Wie erinnert man sich an einen Malefizprozess?

ein Gespräch zwischen

Gerald Koll (Buch, Regie) & Jörg Meyer (Musik)

JÖRG MEYER: Ursprünglich, also vor vier Jahren, wolltest Du doch einen Dokumentarfilm drehen. Was ist daraus geworden? GERALD KOLL: Ich würde sagen: ein Hörspiel mit Bildern. JÖRG MEYER: Wieso kein klassischer Dokumen-tarfilm? GERALD KOLL: Also mit Experteninterview und Reenactments? Mich stört daran oft, dass solche Dokumentarfilme zu selbstgefällig sind: Experten fällen Urteile im Bewusstsein moralischer Überlegenheit. Reenactments sind meist ein mieser Notbehelf voller Klischees und historischer Fehler. JÖRG MEYER: Was könnte man anders machen? GERALD KOLL: Man könnte sie aus dem Spiel lassen: die Experten, Reenactments und vor allem die Moral. Ich suche einen Weg, die Vergangenheit selbst zu Wort kommen zu las-sen. In diesem Fall ist das Anje Preetzen. Sie brachte den Prozess ins Rollen, indem sie ihre Stiefmutter der Hexerei bezichtigte. Wir hö-ren, was sie zu erzählen hat und machen so den Wahrnehmungshorizont des 17. Jahrhun-derts sichtbar. Zu dieser Zeit blickt man an-ders auf die Welt. Wer nachts einen Baum an-sieht, ist nicht romantisch verzaubert, sondern hat Angst vor Dämonen, die im Geäst lauern. Das ändert alles. JÖRG MEYER: Die Moral aus dem Spiel lassen? Was ist falsch daran, Hexenverbrennungen zu verurteilen? GERALD KOLL: Nichts, aber ich zweifle, ob moralische Verurteilungen dabei helfen, He-xenverbrennungen und ähnliche – aktuelle – Prozesse massiver Diskriminierung zu ver-

stehen. Schuldzuweisung und Empörung helfen nicht weiter. Die Frage wäre doch: Was steckt dahinter? JÖRG MEYER: Und das wäre? GERALD KOLL: Angst. Angst in allen ihren Ausprägungen. Angst vor Rechtsbruch. Angst davor, das Risiko einzugehen, dass womöglich doch Hexen in Kiel ihr Un-wesen treiben. Wer konnte das ausschlie-ßen? Anje bestimmt nicht. JÖRG MEYER: Weiß man, was Anje Preetzen gedacht und gesehen hat? GERALD KOLL: Nein. In den Protokollen steht darüber natürlich nichts. Die Frage ist, ob dieses 13-jährige Dienstmagd ihre Um-gebung überhaupt mit „eigenen“ Augen in-terpretieren konnte. Ich würde vermuten: Nein. Sie, die nichts selbst entscheidet oder beurteilt, hat Folge zu leisten. Sie ist inso-fern eine passive Leerstelle, die mit Bildern ihrer Umgebung – also Kirche, Obrigkeit, Nachbarn – gefüllt ist. Deshalb sagt der Film, die Erinnerung sei eine „geliehene Galerie“. JÖRG MEYER: Etwas bemüht, die Poesie ... GERALD KOLL: Mmh. JÖRG MEYER: Auch die Wissenschaft kommt zu Wort. Davon dürfte das Mädchen wenig erfah-ren haben. GERALD KOLL: Keine Frage, es ist ein erzäh-lerisches Manöver, das Mädchen in die Kieler Akademie zu verfrachten. Ich wollte nicht auf die Bilder und Visionen der dama-ligen Wissenschaft verzichten. Sie sagen viel aus über das Weltbild dieser Zeit. Das Mäd-

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chen ist – mit seinen heute 350 Jahren – eine sehr abstrakte Figur und zugleich eine mani-sche Sammlerin all dieser Bilder. JÖRG MEYER: Aber ob die historische Anje Preet-zen auch nur eines davon jemals gesehen hat? GERALD KOLL: Vielleicht nicht. Man müsste sogar sagen: höchstwahrscheinlich nicht. Es ist Erfindung, aber die Grenze zwischen Er-findung und Fund ist dünn. Es sind ja lauter Fundstücke. Sowohl Bilder als auch Drehbuch sind eine Art Collage, zusammengesetzt aus Bildern und Quellenzeugnissen. Was man hört, ist recherchiert in den Quellen. Was man sieht, entspringt zumeist dem 17. Jahrhundert. Es ist ein Blick der Zeit auf sich selbst. JÖRG MEYER: Was interessiert die Figur denn? GERALD KOLL: Alles. Und zwar sehr genau. Sie will wissen, wie genau in Kiel gefoltert wurde. Wer in welchem Haus wohnte. Wo-rüber gerade geforscht wurde. Wo genau die Richtstätte war (nicht etwa auf dem Kreien-barg, also Krähenberg, sondern am heutigen Jungfernstieg), wo der verrufene Hexenver-sammlungsplatz, der „düstern bergk“ war (nicht etwa im Düsternbrook, sondern auf dem Kahlenberg bei Schilksee). Sie ist eine Historikerin, die unbedingt alles ganz genau wissen will. JÖRG MEYER: Vielleicht hatte das Mädchen Prob-leme mit seiner Stiefmutter. GERALD KOLL: Möglich, aber persönliche Mo-tive sind weder belegbar noch ergiebig, wenn man verstehen will, weshalb so eine Hexen-verbrennung unausweichlich war. Mein An-satz ist da anders: Niemand hat ein Interesse an dem Prozess, aber keiner kann sich gegen die Indizien wehren. JÖRG MEYER: Nun ist das 17. Jahrhundert recht fern. Es ist die Wartezeit zwischen Reformation und Aufklärung, ein Loch, gefüllt mit Dreißig-jährigem Krieg. GERALD KOLL: Stimmt, aber hier ereignen sich Umbrüche und Umwälzungen. Die Wissen-schaft ist zugleich bibeltreu und unglaublich neugierig auf alles Unbekannte. In den Kunst- und Naturalienkammern stapelt sich die Beu-te der Expeditionen. Newton betreibt Alche-mie. In den Laboren entdeckt man im neuen Mikroskop all die winzigen dämonischen

Monster, die Gottes Natur zerstören. Fort schritt verläuft über Rückschritte. Wahn und Vernunft kringeln sich. Vielleicht kein Zufall, dass die Perücken immer lockiger werden. JÖRG MEYER: Der Barock ist uns nicht so fern, wie man denkt. Im Film fällt doch einmal das Jahr 1739 als Datum des voraussichtlichen Weltuntergangs. Der Mensch des 17. Jahr-hunderts stürmt dem Untergang gleichsam ent-gegen. Wie wir. Und dann Bach! Johann Sebas-tian Bach war ja auch in seiner „perückenden“ Rückwärtsgewandheit enorm zukunftsweisend, in seiner Zeit quasi überzeitlich. Bach, ein durch und durch barocker Mensch, verbindet in seiner Musik das Alt- mit dem Allzeitlichen, überwin-det damit den Barock, indem er ihn auf die Spit-ze und ins Übermorgen treibt. GERALD KOLL: Nun zwang ich Dich ja aber auch in die Noten des Schleswiger Hof-Komponisten Augustin Pfleger, der 1665 die Musik zur Einweihung der Kieler Uni-versität beisteuerte. Furchtbar olle Musik, findest Du nicht? Bach stand noch in den Sternen. JÖRG MEYER: D’accord. Pflegers „Odae Concertan-tes“ waren schnöde Loblie-der auf die jeweiligen Herrscher – ganz konven-tioneller „Pop des Barock“. Gleichwohl enthält der sämtliche Affekte, dem barocken Menschen entschlüsselbar wie uns heute die Versatzstücke eines Pop-Songs. Seine „Odae“ sind simpel aber handwerklich gut gemacht. Eine Alltagsmusik des 17. Jahrhunderts, die wir für den Film wie-derentdeckten. Wir haben sie wohl erstmals seit 350 Jahren wieder zum Klingen gebracht. GERALD KOLL: Und deine eigene Musik zum Film? JÖRG MEYER: Die versucht den Geist des Ba-rock wachzurufen, ohne die 350 Jahre zu ver-leugnen, die zwischen Pfleger, meinem geliebten Bach und mir liegen, und auch nicht die Erfah-rung der Moderne. Ich bin dabei so handwerk-lich „stoppelnd“ wie Pfleger, weil es Auftrags-musik ist – und ich nur ein Gelegenheits- und Hobby-Komponist. Ich setzte mir die Perücke auf, die ich freilich neu frisierte. Ich war und wollte auf Anjes „düstern bergk“ – und mich da mit ihr fürchten.

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Stab & Darsteller

Regie/Buch/Produktion Gerald Koll

geboren 1966 in Kiel, studierte Germanistik und Ge-schichte (u.a. Hexenforschung in der Frühen Neuzeit). Promotion 1995. Artikel, Aufsätze, Bücher (Pandoras Schätze/1998, henro boke/2011) sowie Dokumentar-filme für Arte und 3sat. Nach 88 – PILGERN AUF JAPA-

NISCH (2008) ist EIN METJEN NAHMENS PREETZEN sein zweiter abendfüllender Film. Lebt in Berlin. Filmografie (Regie, Buch) EIN METJEN NAHMENS PREETZEN (89 min, 2014) ALL TOGETHER NOW (Collab. with Damaged Goods/Meg Stuart, 90 min, 2009) 88 – PILGERN AUF JAPANISCH (88 min, 2008) HARRY PIEL – DER ENTFESSELTE (15 min, 2004) DAS SCHWEIGEN DER GÖTTER - PORTRAIT THEO ANGELOPOULOS (38 min, 2001) EIN SONDERLING IM ORIENT (29 min, 2001) WEEKEND AM WANNSEE (30 min, 2000)

Sprecherin Katja Hensel

geboren 1967 in Hamburg, ist Schauspielerin und Theaterautorin. Engagements u.a. am Schauspiel Essen, bremer shakespeare company. Theater Freiburg, Zürcher Schauspielhaus, Schauspielhaus Bochum. Studium „szenisches Schreiben“, ihre Stücke werden vom S. Fischer Verlag und dem Verlag für Kindertheater Weitendorf vertreten. Produzentin eigener Theaterstücke, u.a. „Wie Europa gelingt. Eine EU-Familienaufstellung“, „Lotte und Luis“ und „EU only live twice“. Lebt in Berlin.

www.katjahensel.de

Montage Friederike Anders

geboren 1958 in Hamburg, ist Dokumentarfilmerin, Cutterin und Dozentin für Schnittdramaturgie in Berlin. Sie ist Inhaberin des Schnittstudios urbanfilm. urban-film-berlin.de. Filme, an denen sie als Cutterin mitarbeitete, wurden u.a. mit dem Grimmepreis und der silbernen Taube/Leipzig ausgezeichnet.

www.urbanfilm-berlin.de

Musik Jörg Meyer

geboren 1964 in Kiel, ist Kulturjournalist, Autor, Netzkünstler (seit 15 Jahren Blogs) und seit kurzem auch wieder kompositorisch tätig (nämlich für diesen Film). Texte im Netz bei www.forum-der-13.de, www.litblogs.net, www.tage-bau.de und im eigenen Blog. Lebt und arbeitet in Kiel und Hannover.

www.schwungkunst.de/wordpress

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Prädikat besonders wertvoll

Begründung der Deutschen Film- und Medienbewertung

E I N M E T J E N N A H M E N S P R E E T Z E N Prädikat besonders wertvoll | Dokumentarfilm; Experimentalfilm, Deutschland 2014

Im Jahr 1676 wird die junge Dienstmagd Anje Preetzen vom Kieler Gericht verhört. Sie sagt aus, ihre Stiefmutter Trinke habe sie zur Hexerei ange-

stiftet und „gottlose Sachen“ verrichtet. Trinke Preetzen wird daraufhin verhaftet, gefoltert und als Hexe zum Tode verurteilt. Am 30. Juni desselben Jahres wird ihr als eines der letzten Opfer auf dem Scheiterhaufen das Leben genommen. Und An-je? Sie wäre jetzt 350 Jahre alt. Im experimentellen Dokumentarfilm von Gerald Koll, einem „bebilderten Hörspiel“, wie er es selbst nennt, erinnert sie sich an die Zeiten von damals. An die Namen der Ankläger, die Häuser, in denen sie wohnten, die Be-schuldigungen, die sie vorbrachten. Unglaublich, mit welch großer Genauigkeit und Materialfülle Koll seinen Film anreichert. Kupferstiche, Gemälde, Stadtansichten, Auszüge aus Stamm- und Stadtbüchern, Aktenvermerke, und vieles mehr. Aus die-sem Puzzle an Informationen webt Koll einen filmischen Teppich und erweckt mit dem METJEN NAHMENS PREETZEN eine historische Figur wieder zum Leben. Durch die Fiktion ihrer „Erinnerung“ gibt er zusätzlich dem Damals eine Stimme. Verkörpert wird Anje – und dazu auch alle anderen Sprechrollen – von der Schau-spielerin Katja Hensel. Je nach Figur variiert sie kunstvoll ihre Stimme und erschafft ein faszinierendes Figurenpanorama. Und trotz der fiktionalisierten Erweiterung von Anje Preetzen ist der Film ein wahrer Dokumentarfilm, denn das historische Material, das Koll mit der Kamera abfilmt und rhythmisch aneinander montiert, lie-fert Belege, die im historischen Bild nachweisbar sind. Gerald Kolls EIN METJEN NAHMENS PREETZEN ist keine Anklage. Der Film wirft lediglich einen Blick auf ein Stück Weltgeschichte, dessen Grundthemen – Glaube, Aberglaube, Demagogie und Hörigkeit – auch heute aktueller sind denn je. www.fbw-filmbewertung.com/film/ein_metjen_nahmens_preetzen

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EIN METJEN NAHMENS PREETZEN

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EIN METJEN NAHMENS PREETZEN ein Film von Gerald Koll DE 2014 | 89 Minuten | stereo | 16:9 | HD | Farbe Buch, Regie, Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerald Koll Bild, Ton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerald Koll Sprecherin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Hensel Montage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friederike Anders Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Meyer

Eine Koll-Filmproduktion mit freundlicher Unterstützung durch

Land Schleswig Holstein Amt für Kultur und Weiterbildung Künstlerhaus Kloster Cismar

Die Produktion dankt folgenden Institutionen und Archiven für die Überlassung von Bildmaterialien und anderweitige Unterstützung

Bildarchiv Foto Marburg. Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte. Philipps-Universität Marburg.

Christian-Albrechts-Universität Kiel foto renard

Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Landesamt für Denkmalpflege Schleswig-Holstein Landesarchiv Schleswig-Holstein/Landesfilmarchiv

Landeshauptstadt Kiel – Amt für Kultur und Weiterbildung Quagga Illustrations

Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloss Gottorf

Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Stadtarchiv Landeshauptstadt Kiel

Zentralbibliothek Zürich Bildnachweise S. 1 Hans Baldung-Grien (1514). Grafische Sammlung Albertina, Wien. S. 2 Obergerichtsprotokoll Nr. 8 (Protocollum civitatys Chiloniensis de anno 1666-1673). Datum: 25.4.1676 mit Protokoll der Vernehmung von Anje Preetzen. © Stadtarchiv Kiel. S. 3 Matthäus Merian: Chilonium. In: De rebus publicis Hanseaticis tractatus. Frankf. 1641. S. 4/5 Trogillus Arnkiel: Cimbrische Heyden-Religion (1702). © Herzog August Bibliothek Wolfen- büttel, http://diglib.hab.de/inkunabeln/14-astron/start.htm. S. 6 Hymnus in Christianum Albertum. In: Descriptio actorum promotionis in omnibus facultatibus academiae Christian-Albertinae (...) / Daniel Georgius Morhofius. [Kiel], 1666]. © Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, http://diglib.hab.de/drucke/9-4-1-1-pol-2f/start.htm. S. 8 Foto: Dieter Neidthardt.

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