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RECHTSKUNDE EINFÜHRUNG IN DAS RECHT DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND Ein Leitfaden nach Zeitungsmeldungen (Textsammlung) von Hans-Uwe Scharnweber Ein garstig Buch! Pfui! Ein politisch Buch! (In Rechtsanalogie zu »Faust«) Allen, denen Gerechtigkeit noch und immer 1

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R E C H T S K U N D E

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681

RECHTSKUNDE

EINFÜHRUNG IN DAS RECHT

DER

BUNDESREPUBLIK

DEUTSCHLAND

Ein Leitfaden nach Zeitungsmeldungen (Textsammlung)

von

Hans-Uwe Scharnweber

Ein garstig Buch! Pfui! Ein politisch Buch!

(In Rechtsanalogie zu »Faust«)

Allen, denen Gerechtigkeit noch und immer wieder ein Problem ist, sowie denjenigen, die unter ungerechten Gesetzen oder Urteilen leiden.

Und Dorothea, die viele Stunden auf meine Gesellschaft verzichten musste, um mir die Zeit zu lassen, an meinen Büchern zu arbeiten - die sie nicht mehr lesen kann.

Inhaltsübersicht

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

I. TEIL: Das Verhältnis von »Recht« und »Gesetz«

1. Das »Grundgesetz« (GG) als unsere »Verfassung«

2. »Gesetz« und »Recht«

II. TEIL: Die Funktion im Recht des NS-Herrschaftssystems

1. Rechtsprechung als Terrorinstrument

2. Grundrechte zur Disposition der Staatsmacht

3. „Furchtbare Juristen“ als Steigbügelhalter der braunen Diktatur

4. Wiederholte Straffreistellung für jeden, der bei politischen Morden ein braunes Hemd getragen hatte

5. Das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24.03.33 als „Verfassungsurkunde des Dritten Reiches“ und seine Auswirkungen

III. TEIL: Die Funktion des Rechts im SED-Herrschaftssystem der DDR

1. „Recht darf sich nie wieder mit dem zum Gesetz erhobenen Willen einer Klasse und ihrer Partei identifizieren.“

2. Organisiertes Verbrechen als Herrschaftssystem

3. Unrechtsregime wie die DDR unter SED-Herrschaft negieren Menschenrechte, Verfassung und eingegangene internationale Verpflichtungen

4. Ideologiebedingtes Geschichts-, Gesellschafts- und Rechtsverständnis

5. Volksdemokratien mangelt es an Rechtsstaatlichkeit als Fundament einer echten Demokratie

6. „Amnesty international“ zur Lage der Menschenrechte in der DDR

7. Staatlicher Terror bis zur physischen Vernichtung

8. Staatliches Kidnapping durch „Zwangsadoptionen“

9. Faktisch bestehende Abhängigkeit der Richter trotz anders lautender Verfassungsbestimmungen

10. Justiz in Diktaturen als wichtiges Instrument zur Durchsetzung der Staatsideologie

IV. TEIL: Das Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland

1. Privatrecht und öffentliches Recht

2. Erste Einblicke in das Privatrecht

3. Öffentliches Recht

4. Das Bundesverfassungsgericht als Hüter und Wächter des GG durch Urteil mit Gesetzesverwerfungskompetenz und durch mahnende Existenz

5. Überprüfung von Urteilen durch das BVerfG hinsichtlich möglicher Grundrechtsverletzungen

6. Mahnende Existenz und Rechtsprechung des BVerfGs

Abgrenzung gegenüber den Aufgaben der Politik an einem Beispielsfall

7. In bewusster Abkehr von den Bestimmungen der Weimarer Verfassung getroffene staatsorganisatorische Bestimmungen im Grundgesetz

8. Reform-Ideen zur Umgestaltung unserer durch Verschmelzung in der EU und Globalisierungsherausforderungen neuen Erfordernissen anzupassenden Verfassung

V. TEIL: Das Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit (JÖSCHG) als Beispiel für die Schwierigkeiten konkreter Gesetzesabfassung, -anwendung und möglicher –verbesserung

VI. TEIL: Tabellarischer Überblick über die wichtigsten Rechtlichen Entwicklungsstufen

(Recht und Lebensalter)

Index

Inhaltsverzeichnis

8Abkürzungsverzeichnis

9Einführung

40I. TEIL

40DAS VERHÄLTNIS VON »RECHT« UND »GESETZ«

401 Das »Grundgesetz« (GG) als unsere »Verfassung«

411.1 Präambel

421.1.1 Gott als in der Präambel herausgehobener Bezugspunkt staatlichen Handelns

471.1.2 Text der Präambel als Auslegungsregel für das GG

471.2 »Grundgesetz« oder »Verfassung«?

491.2.1 Der räumliche Geltungsbereich des GG

491.2.2 GG und Länderneugliederung

551.3 Das GG als oberste rechtliche Norm unseres Staates für insbesondere staatliches, eingeschränkt aber auch privates Handeln

571.3.1 GG und Zivilrecht

571.3.1.1 Grundsätzliche Vertragsfreiheit im Bereich des Zivilrechts und (meist nur) eingeschränkte »mittelbare Drittwirkung« der Grundrechte

571.3.1.2 Privates Hausrecht überwindet das Diskriminierungsverbot des (speziellen) Gleichheitssatzes aus Art. 3 III GG

611.3.2 Grundrechte und ihre Bedeutung am Beispiel des allgemeinen und des speziellen Gleichheitssatzes von Art. 3 GG

611.3.2.1 Allgemeiner Gleichheitssatz des Art. 3 I GG

621.3.2.1.1 Gleichheitssatz des Art. 3 GG als »Willkürverbot«

911.3.2.1.2 Unterschiedliche Geltung des Gleichheitssatzes im öffentlich-rechtlichen Bereich von Kirche und Staat

911.3.2.1.3 Art. 33 GG als den Staat verpflichtende spezielle Ausgestaltung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes

1171.3.2.2 Gleichberechtigungsproblematik

1171.3.2.2.1 Die in Art. 3 II GG angeordnete Gleichberechtigung von Frau und Mann als Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes

1231.3.2.2.2 Benachteiligung von Frauen unter der Geltung des GG seit 1949 im niederrangigeren Recht trotz Art. 3 II GG und allmähliche rechtliche Angleichung

1271.3.2.2.3 Art. 3 II GG und Ehenamensrecht

1371.3.2.2.4 »Schwangerschaftsurlaub« und die Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes in Art. 3 II GG

1371.3.2.2.5 Erziehungsurlaub und die Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 II GG

1371.3.2.2.6 »Mittelbare Drittwirkung« der Grundrechte, insbesondere des Gleichheitssatzes, im Arbeitsrecht

1401.3.2.2.7 Art. 3 II GG schützt auch die Männer

1511.3.2.2.8 Beispiele für den Kampf um Gleichberechtigung in einigen anderen Ländern

1531.3.3 Art. 3 III GG und Asylrecht

1541.3.4 »Wesensgehaltssperre« bei Grundrechtseinschränkungen und Asylrecht

1551.3.5 Auslegung von Grundrechtsbestimmungen am Beispiel von Art. 6 GG Ehe und Familie und Art. 16 GG Asylrecht

1642 »Gesetz« und »Recht«

1672.1 »Gesetz« und »Recht« in Art. 20 III GG

1692.2 »Gesetz«, »Recht« und »Gerechtigkeit«

1722.3 Gesellschaftliche Befriedungsfunktion des Rechts

1732.4 Das »Brett des Karneades« und die Frage nach »Gesetz«, »Recht« und »Gerechtigkeit«

1752.5 Strafrechtliche Prüfung des Falles „Brett des Karneades“

1792.6 Annäherung an die »Idee des Rechts«

1802.6.1. Widerstreit zwischen menschlichem und göttlichem Gesetz und Recht

1802.6.2 »Gesetz« und »Recht« in griechischen Tragödien

1832.7 »Gesetz«

1852.7.1 Die Notwendigkeit exakter Abfassung von Gesetzen

1892.7.2 Kampf um gesetzliche Neuregelungen auf Grund geänderter gesellschaftlicher Verhältnisse am Beispiel der Feiertagsruhe

1952.7.3 Juristisches Konfliktfeld Organ»spende«

2182.7.4 Das GG als lebender (Rechts-)Organismus

2182.7.5 Regelungen der Gesetzgebungskompetenz zwischen Bund und Ländern im GG

2192.7.6 Technische Neuerungen bewirken oft einen juristischen Regelungsbedarf

2202.7.7 BVerfG als "juristische Notbremse" unterlegener Politiker

2202.7.8 Beispiele für juristischen Regelungsbedarf aus dem Bereich der Biomedizin

2572.7.9 Notwendigkeit der ständigen Anpassung und Korrektur von Gesetzen am Beispiel möglicher Organentnahme bei anenzephalen Föten

2592.7.10 Wertungswidersprüche durch verschiedene - eventuell ungenau formulierte - Gesetze möglich

2632.7.11 Gesetzesinterpretationen durch Auslegung oder Analogiebildungen zur Ermöglichung juristisch gewollter Ergebnisse ohne Gesetzesänderungen

2652.7.12 »Einzelfall«-Gesetze trotz »abstrakt« (für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen) gehaltenen Wortlauts

2652.7.13 Auch unsinnig erscheinende Gesetze haben oder hatten meistens – aber nicht immer - einen nicht unbedingt billigenswerten, aber von der Intention des Gesetzgebers her nachvollziehbaren, zwischenzeitlich eventuell verschütteten Sinn

2782.7.14 Gesetze können legalisiertes Unrecht sein

2792.8 »Recht«

2802.8.1 »Recht« und subjektives Rechts-/Gerechtigkeitsempfinden

2822.8.2 »Recht« als Definition einer Machtelite

2832.8.3 »Recht« zur Absicherung der Herrschaft einer staatlichen Machtelite

2832.8.4 In einer Demokratie steht der Staat unter der Herrschaft des Rechts und nicht das Recht unter der Willkür der Exekutive

2842.8.5 Wer soll über die Auslegung von »Recht« entscheiden?

2882.8.6 Medien sind als publizistisches Wächteramt der kritischen Öffentlichkeit gegenüber richterlichen Entscheidungen die »vierte Gewalt« im Staate

2892.8.7 Willfährige und/oder dogmatisierte Richter als Büttel der Staatsmacht setz(t)en legalisiertes Unrecht durch

2902.8.8 Rechtsanalogien in der Hand fanatisierter Richter im Strafrecht

2922.8.9 Zivilrichter sorgten in der NS-Zeit für den "bürgerlichen Tod", Strafrichter schickten den Henker hinterher

2932.8.10 Die neuere deutsche Rechtsgeschichte in der NS- und der SED-Diktatur ist eine Geschichte der Gesinnungsjustiz

2942.8.11 "Kein Verbrechen, keine Strafe ohne entsprechendes Gesetz"

2952.8.12 Problemfeld: Hinreichende Bestimmtheit einer Strafbestimmung und "offene Rechtsbegriffe"

2972.8.13 Rechtsfragen sind oft Machtfragen

2972.8.14 Juristerei ist keine Mathematik, darum sind Rechtsfragen oft Wertungsfragen

2982.8.15 Was ist dann „Recht«?

3162.8.16 Vorstellungen von »Recht« in anderen Kulturkreisen anhand von Zeitungsmeldungen

3322.8.17 Unterschiedliche Ansichten über das »Recht« und den Rechtsgüterschutz innerhalb selbst einer kulturell einheitlich geprägten Gesellschaft

3332.8.18 Was »Recht« sein soll, ist in einer sich verändernden Gesellschaft ständig im Fluss, ständig umkämpft

3462.8.19 Notwendigkeit der Anpassung gesetzlicher Regelungen an geänderte gesellschaftliche Verhältnisse wegen sich wandelnden Rechtsbewusstseins in der Bevölkerung

3462.8.19.1 Wertewandel - eventuell durch wissenschaftlichen Fortschritt verursacht - bedingt Rechtswandel

3642.8.19.2 Gesellschaftliche Umbrüche sind immer auch gravierende Umbrüche im Rechtssystem

3662.8.19.3 Aus u.a. Gerechtigkeitsstreben heraus entstandene Revolutionen installieren oft ein neues Unrechtssystem

3672.8.19.4 Das Mehrheitsprinzip - unter rechtlich abgesicherter Achtung von Minderheitenrechten - ist der Königsweg demokratischer Willensbildung

3692.8.19.5 Ständige Kämpfe um »das Recht« auch in unserer demokratisch verfassten und damit auf ständigen Wandel angelegten Gesellschaft

3692.8.19.6 Beispiel Umweltschutz und Recht

3712.8.19.7 Vorzüge der demokratischen Staatsform aus ihren rechtlichen Grundentscheidungen heraus

3872.8.20 Rechtsunterworfenheit in Sonderbereichen nur durch Beitritt

3882.8.20.1 Verbandsgerichtsbarkeit im Bereich des Sports

3932.8.20.2 Rechtsunterworfenheit durch Kirchenbeitritt

4052.8.20.3 Allgemeinverbindliche Rechtsetzung im Bereich des Arbeitsrechts auch durch Übernahme privatrechtlicher Vereinbarungen

4102.8.21 »Vor-Rechtsnischen« Begnadigungen und Ordensverleihungen

4122.8.22 Wächteramt der Presse gegenüber der öffentlichen Gewalt als "vierte Gewalt" im Staate

4122.8.23 Rechtsprechung hat leider nicht zwangsläufig etwas mit Gerechtigkeit zu tun - und Verwaltung erst recht nicht!

4132.8.24 Opposition als demokratieunabdingbares »institutionalisiertes Misstrauen« und widerstehende Bürger u.a. zur Abwehr staatlichen Unrechts

4132.8.25 Recht und Moralvorstellungen

4132.8.25.1 Die Gesetze müssen den sich ständig wandelnden gesellschaftlichen Vorstellungen und Verhältnissen in einem ständigen Rückkopplungsprozess behutsam angepasst werden, weil sich die Vorstellungen über »das Recht« ändern.

4292.8.25.2 »Wilde Ehe« als Beispiel für die Notwendigkeit rechtlicher Anpassung an geänderte gesellschaftliche Verhältnisse

4372.8.25.3 Rechtlich umkämpfte »Schwulen- und Lesben-Ehen«

4622.8.25.4 Der Kampf um § 218 StGB als Beispiel für den Kampf um die Anpassung des Rechts an gewandelte gesellschaftliche Vorstellungen

4682.8.26 Die Menschenrechte als Beschwörungsformel der neuzeitlichen Menschheitsgeschichte

5142.9 »Gesetz« und »Recht«

5162.10 Recht und Rechtssicherheit

5182.10.1 Rechtssicherheit will durch die damit bezweckte rechtliche Stabilität der Zukunftsplanung und der Gerechtigkeit dienen

5192.10.2 Rechtssicherheit und ungerechte Urteile

5202.10.3 Rechtssicherheit durch Urteil vor Gerechtigkeit?

5212.10.4 Wiederaufnahmeverfahren zur Durchbrechung der durch Urteil geschaffenen Rechtssicherheit für die Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit

5232.10.5 Wiederaufnahmeverfahren zur Durchsetzung der Gerechtigkeit gegenüber der durch Urteil geschaffenen Rechtssicherheit in Strafsachen auch nach dem Tode eines Verurteilten durchführbar

5292.10.6 Das Problem verstärkter Rechtssicherheit, selbst zu Lasten der Wahrheit und Gerechtigkeit, im englischen »Fall-Recht« in Strafsachen

5332.10.7 Das Problem verstärkter Rechtssicherheit, selbst zu Lasten der Wahrheit und Gerechtigkeit, im Kirchenrecht der katholischen Kirche am Beispiel des Falles Kurie gegen Galilei

5412.10.8 Rechtssicherheit durch Fristablauf im deutschen Strafrecht

5422.10.9 Deliktbezogener Verjährungsbeginn bei sexuellem Missbrauch von Kindern

5442.10.10 Rechtssicherheit durch Fristablauf im Zivilrecht

5462.10.11 Rechtssicherheit durch Fristablauf allgemein

5482.11 Abschließende Betrachtungen zum Wesen des Rechts

5482.11.1 »Recht an sich« gibt es nicht

5492.11.2 »Recht« ist oft nur eine Antwort einer Machtelite auf eine historische Situation

5502.11.3 Historische Bedingtheit des »Rechts«

552II. TEIL

552DIE FUNKTION DES RECHTS IM NS-HERRSCHAFTSSYSTEM

5551 Rechtsprechung als Terrorinstrument

5551.1 Der Volksgerichtshof als Terrorinstrument zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Willkürherrschaft

5601.2 Durchsetzung des Naziterrors u.a. durch Juristenterror

5621.3 Die Richter machten das Volk wehrlos

5631.4 Charakterlose Juristen als Blutrichter

5641.5 Die "Polenstrafrechtsverordnung" als Beispiel gesetzlichen Unrechts und ein Beispiel ihrer darüber hinausgehend exzessiv gnadenlosen Anwendung

5661.6 Sondergerichte als "Standgerichte der inneren Front"

5671.7 Offene Rechtsbegriffe als Henkersstricke

5681.8 Die Deutschen: "Volk der Dichter und Denker" wie auch der NS-Richter und Henker

5691.9 Erschießungen ohne Gerichtsverfahren

5692 Grundrechte zur Disposition der Staatsmacht

5702.1 Art. 48 II WV als trojanisches Pferd der braunen Diktatur

5712.2 "Verfassungsfestes Minimum" des Art. 79 GG als Antwort des Verfassungsgesetzgebers auf diese historische Erfahrung

5723 "Furchtbare Juristen" als Steigbügelhalter der braunen Diktatur

5764 Wiederholte Straffreistellung für jeden, der bei politischen Morden ein braunes Hemd getragen hatte

5805 Das Ermächtigungsgesetz vom 24.03.33 als "Verfassungsurkunde des Dritten Reiches" und seine Auswirkungen

5825.1 Das »Ermächtigungsgesetz« als Schlussstein in der gesetzlichen Pervertierung der Weimarer Verfassung

5865.2 Die Bedeutung des Ermächtigungsgesetzes

5865.3 Der "Führer" als oberster Gerichtsherr

5875.4 »Recht« als Mittel zur Ausrottung weltanschaulicher Gegner

5885.5 § 2 StGB von 1935 als archimedischer Punkt für die Bestrafung jedes Missliebigen durch Beseitigung der Garantiefunktion der Straftatbestände

5895.6 Völlige Pervertierung des Rechts durch das Reichsgericht

5905.7 Die Fallbeiljustiz der "Mörder in den Roben" blieb in der Bundesrepublik durch gewollte Versäumnisse ungeahndet

5935.8 Die Geschichte der Justiz im Dritten Reich beweist, dass Juristen zu allem fähig sein können

5945.9 Weder die Einhaltung des vorgeschriebenen Rechtsweges noch die Autorität der wissenschaftlichen Rechtslehre gewährleisten einen automatischen Schutz vor der moralischen Entwurzelung einer der Form nach intakten Rechtsordnung und Rechtswissenschaft

5965.10 Euthanasie: Vernichtung „lebensunwerten Lebens“

601III. TEIL

601DIE FUNKTION DES RECHTS IM SED-HERRSCHAFTSSYSTEM DER DDR

6011 "Recht darf sich nie wieder mit dem zum Gesetz erhobenen Willen einer Klasse und ihrer Partei identifizieren."

6072 Organisiertes Verbrechen als Herrschaftssystem

6093 Unrechtsregime wie die DDR unter SED-Herrschaft negieren Menschenrechte, Verfassung und eingegangene internationale Verpflichtungen

6124 Ideologiebedingtes Geschichts-, Gesellschafts- und Rechtsverständnis

6124.1 Aus der Verfassung der DDR ersichtliches kommunistisches Gesellschaftsverständnis

6134.2 Untersuchung ausgewählter Artikel der DDR-Verfassung

6134.2.1 Führungsanspruch der SED mit Verfassungsrang festgeschrieben; keine Chance zum Machtwechsel

6144.2.2 Wahlen nach demokratischem und nach "volksdemokratischem" Verständnis

6164.2.3 Trotz offenen Wortlauts Grundrechte nur in den engen Grenzen kommunistischer Ideologie

6164.2.4 Meinungs-, Versammlungs- und Redefreiheit in der DDR als Verfassungstheorie und in der Verfassungswirklichkeit

6184.2.5 Verfassungsrechtliches System als Unterdrückungsinstrument gegen Oppositionelle

6205 Volksdemokratien mangelt es an Rechtsstaatlichkeit als Fundament einer echten Demokratie

6216 „Amnesty international“ zur Lage der Menschenrechte in der DDR

6217 Staatlicher Terror bis zur physischen Vernichtung

6238 Staatliches Kidnapping durch "Zwangsadoptionen"

6249 Faktisch bestehende Abhängigkeit der Richter trotz anders lautender Verfassungsbestimmungen

62710 Justiz in Diktaturen als wichtiges Instrument zur Durchsetzung der Staatsideologie

633IV. TEIL

633DAS RECHTSSYSTEM DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND

6331 Privatrecht und öffentliches Recht

6382 Erste Einblicke in das Privatrecht

6472.1 »Leihmutterschaft« und Zivilrecht

6522.2 »Offene« Rechtsbegriffe als Einfallstore für die Wertordnung des GG

6593 Öffentliches Recht

6633.1 Verzahnung von zivilem und öffentlichem Recht in ein und demselben Lebenssachverhalt

6643.2 Der Rechtsweg ist nicht immer eindeutig

6653.3 Rangordnung unter den Rechtsnormen im öffentlichen Recht

6694 Das Bundesverfassungsgericht als Hüter und Wächter des GG durch Urteil mit Gesetzesverwerfungskompetenz und durch mahnende Existenz

6725 Überprüfung von Urteilen durch das BVerfG hinsichtlich möglicher Grundrechtsverletzungen

6725.1 Staatliche Macht beschränkende Funktion der Grundrechte

6785.2 »Bluttransfusionsfall« und die in Art. 4 I GG geregelte Glaubensfreiheit

6835.3 Glücksspiel Rechtsprechung

6835.4 Grundrechtsabwägung bei Zielkonflikt zwischen gleichzeitig betroffenen, widerstreitenden gleichen oder unterschiedlichen Grundrechten (Grundrechtskollision)

6945.5 Justizielle Grundrechte der Art. 101 bis 104 GG

6985.6 Die Rechtsprechung des BVerfGs zur Kriegsdienstverweigerung aus individuellen Gewissensgründen (Art. 4 III GG) und zur Wehr- und Dienstpflicht (Art. 12 a GG) als Beispielsfälle für notwendige Abwägungen bei widerstreitenden grundgesetzlichen Regelungen

7246 Mahnende Existenz und Rechtsprechung des BVerfGs; Abgrenzung gegenüber den Aufgaben der Politik an einem Beispielsfall

7297 In bewusster Abkehr von den Bestimmungen der Weimarer Verfassung getroffene staatsorganisatorische Bestimmungen im Grundgesetz

7307.1 "Grundgesetz" contra "Verfassung"

7307.2 Grundrechte vorrangig vor Gesetzen als jederzeit gerichtlich einklagbare Rechte

7327.3 Grundrechte als Abwehrrechte

7337.4 Weiterentwicklung einiger Grundrechte von Abwehr- in Teilhaberechte

7347.5 Weiterentwicklung einiger Grundrechte von Abwehr- über Teilhabe- in Leistungsrechte

7347.6 Verfassungsgerichtsbarkeit zum Schutz der Grundrechte; Verwirkung von Grundrechten

7367.7 »Parteienprivileg« mit »Parteienirrtumsprivileg«; Parteienverbotsmonopol beim BVerfG; Widerstandsrecht

7447.8 »Ewigkeitsgarantie« für ein »verfassungsfestes Minimum«

7457.9 Wahlsystem der Bundesrepublik

7477.10 Konstruktives Misstrauensvotum

7487.11 Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung

7497.12 »Notstandsverfassung« statt Notverordnungen

7507.13 Föderaler Bundesstaat statt eines zentralistischen Einheitsstaates

7547.14 Abschaffung der Todesstrafe

7547.15 Äußerst eingeschränktes Selbstauflösungsrecht des Bundestages

7557.16 Gerichtswesen

7647.17 Volksbegehren, Volksentscheid

7698 Reform-Ideen zur Umgestaltung unserer durch Verschmelzung in der EU und Globalisierungsherausforderungen neuen Erfordernissen anzupassenden Verfassung

771V. TEIL

771DAS GESETZ ZUM SCHUTZ DER JUGEND IN DER ÖFFENTLICHKEIT (JÖSCHG) ALS BEISPIEL FÜR DIE SCHWIERIGKEITEN KONKRETER GESETZESABFASSUNG, -ANWENDUNG UND MÖGLICHER -VERBESSERUNG

780Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit (Artikel 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Jugendschutzes in der Öffentlichkeit)

780Stand: Änderung durch Art. 16 Abs. 2 G v. 28.10.1994 I 3186

785Jugendschutzgesetz (JuSchG) vom 23.Juli 2002

798VI. TEIL

798TABELLARISCHER ÜBERBLICK ÜBER DIE WICHTIGSTEN RECHTLICHEN ENTWICKLUNGSSTUFEN (RECHT UND LEBENSALTER)

803Index

Abkürzungsverzeichnis

a.F.=alter Fassung

AG=Amtsgericht

ArbG= Arbeitsgericht

Art.= Artikel

Az.= Aktenzeichen

BAG= Bundesarbeitsgericht

BGB= Bürgerliches Gesetzbuch

BGH= Bundesgerichtshof

BGHSt= Entscheidungssammlung des BGH in Strafsachen

BVerfG= Bundesverfassungsgericht

BVerfGE= Entscheidungssammlung des BVerfGs

BVerfGG= Bundesverfassungsgerichtsgesetz

BVerwG= Bundesverwaltungsgericht (auch BVG)

BWG= Bundeswahlgesetz

DLF= Deutschlandfunk

EheG= Ehegesetz

ESchG=Embryonenschutzgesetz

EuGH=Europäischer Gerichtshof

FR= Frankfurter Rundschau

GG= Grundgesetz

GVG= Gerichtsverfassungsgesetz

HH A= Hamburger Abendblatt

i.V.m.= in Verbindung mit (Paragraph ...)

JGG= Jugendgerichtsgesetz

JÖSchG= Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit

KDV= Kriegsdienstverweigerer

LAG= Landesarbeitsgericht

LG= Landgericht

n.F.= neuer Fassung

NJW= Neue Juristische Wochenschrift (verbreitetste juristische Fachzeitschrift)

OGHSt= Entscheidungssammlung des Obersten Gerichtshofes in Strafsachen für die brit. Zone

OLG= Oberlandesgericht

OVG= Oberverwaltungsgericht

OWiG= Gesetz über Ordnungswidrigkeiten

RGSt= Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen

Rn.= Randnummer

StGB= Strafgesetzbuch

StGB-DDR= Strafgesetzbuch der DDR

StPO= Strafprozessordnung

StVG= Straßenverkehrsgesetz

StVO= Straßenverkehrsordnung

SZ= Süddeutsche Zeitung

TierSchG=Tierschutzgesetz

TPG= Transplantationsgesetz

VA= Verwaltungsakt

Verf-DDR= Verfassung der DDR von 1974

VG= Verwaltungsgericht

VwVfG=Verwaltungsverfahrensgesetz

VO= Verordnung

WV= Weimarer Verfassung

Ziff.= Ziffer

ZPO= Zivilprozessordnung

Einführung

Viele Normalbürger und auch Juristen klagen über die Verrechtlichung des Lebens in einer immer komplizierter werdenden industriellen Massengesellschaft, in der u.a. der Bereich des Rechts - zwangsläufig - immer weiter ausufert: Es müssen immer mehr Problemfelder anders oder neu geregelt werden. Und die Juristen verteidigen ihr Revier wie alte Silberrückengorillas, die denken, einem ihrer Weibchen gehe es ans oder - schlimmer noch - ins Fell. Unternehmer klagen über die Flut immer neuer Reglementierungen, die sie davon abhielten, das zu tun, was sie als ihren Lebenszweck ansehen: etwas zu unternehmen. Es ist nicht unbedingt die einzelne Verordnung, von der sie sich gegängelt fühlen, obwohl das – wie z.B. im Fall der Pfandregelung auf Einweggetränkebehälter – auch der Fall sein kann. Aber die Flut der Verordnungen - und in deren Gefolge der Formulare - ist es, was bewirkt, dass sie sich wie Gulliver in Liliput fühlen. Sie fühlen sich von den Fangarmen der »Hydra bürocratica« so umschlungen und gefesselt wie Gulliver, als die Zwerge ihn, den »Riesen«, mit vielen kleinen Tauen gebunden hatten.

Aber wenn wieder einmal ein Umwelt- oder die Menschen und ihre Lebensgrundlagen sonst wie näher berührender Skandal aufgedeckt wird, dann wird in diesem Zusammenhang nicht nur über so behauptet zu laxe staatliche Kontrollen zur Durchsetzung von den Schutz der Bürger bezweckenden Eingriffsgesetzen, sondern öfters auch darüber geklagt, dass die staatliche Lebensvorsorge in Form von die Bürger und ihre Lebensgrundlagen schützenden Gesetzen offensichtlich nicht weit genug gehe. Auch aus einem legitimen Sicherheitsbedürfnis heraus entsteht Nachfrage nach Bürokratie. Und damit die gesetzestreu arbeiten kann, müssen die dazu erforderlichen Gesetze und Verordnungen erlassen werden.

Um notwendige staatliche Kontrollen vornehmen zu können, müssen zu einem großen Teil Lebensvorgänge erst einmal erfasst und dokumentiert werden, um sie dann gegebenenfalls analysieren zu können, damit möglichen Gefährdungen vorbeugende Gesetze und Verordnungen erlassen werden können: Gefahrenabwehr als ein vorrangiges Ziel juristischer Regelungen als Eingriffsgrundlage für die Exekutive. Man muss wissen, was auf welcher sachlichen Grundlage juristisch möglichst sinnvoll zu regeln ansteht, denn sonst wird die Gesetzgebung zu einem Ritt auf einer Rasierklinge. Und so benötigt man von der Wiege bis zur Bahre: Formulare, Formulare! Aber da wird bestimmt auch des Guten zu viel getan; das zeigen in manchen Bundesländern sehr erfolgreich durchgeführte »Gesetzesentrümpelungsaktionen«, als deren Auswirkungen ein Drittel und mehr der Landesgesetze und der auf ihnen gründenden Verordnungen ersatzlos gestrichen worden sind. Trotzdem gilt, trotz sich immer wieder einstellender Resignation relativ unverdrossen weiterzumachen. Wir können aus dem Regelungsgeflecht, das unser Leben gegen große Risiken absichernd mitgestaltet, nicht millionenfach ausbrechen.

Aber Vorschriften sollten auf ihre Notwendigkeit hin durchforstet werden. So hat der saarländische Ministerpräsident Müller seit seinem Regierungsantritt zwei Drittel aller saarländischen Vorschriften abgeschafft! Müllers im Wortsinne fragwürdiges und nicht ganz unproblematisches Prinzip ist die Umkehr des „Verbots mit Erlaubnisvorbehalt“ in eine „Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt“. Das kann aber nicht in allen Bereichen funktionieren. Beim nächsten Umweltskandal wird der Schädiger vorbringen, dass sein Verhalten ja nicht verboten gewesen war!

Und wenn die Leute sich nicht mit Formularen herumschlagen müssen, dann entdecken sie vielleicht andere »Probleme«: 1999 klagten zwanzig ostdeutsche bildende Künstler, weil ihre Bilder in der Weimarer Ausstellung »Aufstieg und Fall der Moderne« auf grauem Wandhintergrund aus Platzgründen dicht an dicht und übereinander mit Hunderten anderer DDR-Werke gezeigt wurden. Durch die ihrer Meinung nach „herabsetzende Art der Hängung“ der Bilder fühlten sie sich in ihrem „Urheberpersönlichkeitsrecht“ zutiefst verletzt und „diffamiert“. In der ersten Instanz vor dem Landgericht Erfurt obsiegte eine Künstlerin in dem ersten dieserhalb entschiedenen Verfahren wegen des auch nach Meinung des erstinstanzlichen Gerichts angeblich nicht mehr hinzunehmenden Eingriffs durch die Ausstellungsleitung in ihr Urheberpersönlichkeitsrecht. Daraufhin legte die Kunstsammlung Weimar Berufung bei dem Oberlandesgericht Jena ein, weil sie in dem Urteil nun ihrerseits einen unerlaubten Eingriff in ihre Meinungsfreiheit und wohl auch ihr eigenes Urheberpersönlichkeitsrecht von Ausstellungsmachern sah. Somit stand Künstler-Persönlichkeitsrecht gegen Aussteller-Persönlichkeitsrecht. Hätte die erstinstanzliche Entscheidung Bestand gehabt, hätte sie katastrophale Auswirkungen für Galerien und Museen nach sich gezogen, weil jeder (exaltierte, egomanisch-spinnerte) Künstler mit Hinweis auf sein von ihm so gesehenes »Urheberpersönlichkeitsrecht« wohl so ziemlich jede Ausstellung nachträglich entwerten oder vielleicht sogar kippen könnte. Was machen manche Menschen nicht alles, um ins Gerede zu kommen! Das streichelt das nach Anerkennung lechzende, oft überspannte Ego und kann in der überdrehten Schicki-Micki-Kunstszene den Marktwert der eigenen Produktion immens erhöhen! Das ist einem Künstler dann schon einmal eine gerichtliche Auseinandersetzung wert. So klagte z.B. (der damals aber schon bekannte) Beuys, weil eine Reinmachefrau, mit nur »natürlichem« und zu wenig beuysschem Kunstverständnis geschlagen, dafür aber mit ausgeprägtem natürlichem Reinigungsbedürfnis gesegnet, in einem Museum das von ihm auf einem Badewannenrand platzierte halbe Pfund Butter weggeworfen hatte, nachdem es ranzig geworden war. Streitwert: ein sechsstelliger Betrag wegen der Zerstörung seines ausgestellten »Kunstwerkes« »Badewanne mit Butter(?)« – anstatt, wenn es denn sein musste, durch die Museumsleitung einfach ein neues Paket hinlegen zu lassen. Das sei nicht mehr sein »Kunstwerk«. Darüber hatte dann das von Beuys angerufene Gericht zu entscheiden – und schmetterte den von ihm erhobenen spinnerten Schadensersatzanspruch ab. Wir sind ja schließlich nicht in den USA mit seinen teilweise mit dem gesunden Menschenverstand nicht nachvollziehbaren Gerichtsentscheidungen – ohne dass ich damit allen in Deutschland gefällten Gerichtsentscheidungen Nachvollziehbarkeit attestieren möchte: davon bin ich sehr weit entfernt; aber es scheint in Deutschland mit mehr gesundem Menschenverstand geurteilt zu werden, als in den USA. In Deutschland werden nicht so viele hanebüchene »Ausreißer« insbesondere in Schmerzensgeldprozessen produziert, die dann die Presse beschäftigen: Ein eiliger Autofahrer hatte sich bei einem Drive-in-Imbiss einen Becher mit heißem Kaffee gekauft, sich zwischen die Beine geklemmt und war dann losgefahren. Als er bremsen musste, schwappte heißer Kaffe auf eine seiner empfindlichsten Körperregionen, wofür er über eine Million Dollar Schmerzensgeld erhalten hat! Auswirkung der in diesem Punkt nicht mehr nachvollziehbaren us-amerikanischen Rechtsprechung sind die ausufernden blödsinnig anmutenden Warnhinweise auf Produkten, mit denen die Hersteller ihr unwägbar gewordenes Haftungsrisiko zu minimieren trachten.

Letztlich wird in solchen Prozessen wie dem der in dem Museeum »falsch« aufgehägten Bilder, in denen sich von jeder Prozesspartei als verletzt behauptete gleichlautende Persönlichkeitsrechte sich gegenseitig ausschließend gegenüberstehen, eventuell das Bundesverfassungsgericht entscheiden müssen, was »für Recht erkannt« werden soll, weil sich jede Seite auf ihr vom Grundgesetz garantiertes gleichlautendes Grundrecht berufen wird, wie sie es nun einmal von persönlichem Interesse geleitet - anders als die Gegenpartei - versteht.

Der Normalbürger steht dem Bereich des Rechts völlig überfordert gegenüber. Und der Bereich des Rechts überfordert nicht nur Herrn Otto Normalverbraucher oder seine Freundin Frau Lieschen Müller, sondern auch die Juristen – einschließlich der Richter, obwohl »das Gericht das Gesetz zu kennen hat«. Auch den Juristen geht es wie z.B. den Ingenieuren oder den Medizinern: Jeder versucht, über (s)einen Teilbereich möglichst weitgehend informiert zu bleiben, aber einen Überblick über den gesamten Bereich kann keiner mehr erreichen.

„Durch unser Wissen unterscheiden wir uns nur wenig, in unserer grenzenlosen Unwissenheit aber sind wir alle gleich.“ (Karl Popper)

Das ist bei rund 2197 bundesdeutschen Gesetzen, 3131 Verordnungen mit mehr als 86.500 in Paragraphen oder Artikel gefassten Einzelbestimmungen, die unser Zusammenleben regeln und oft auch noch geändert werden, gar nicht mehr möglich! Der Deutsche Bundestag erließ in der 12. Wahlperiode 507 Gesetzesbeschlüsse (Änderungen bestehender oder Schaffung neuer Gesetze), in der 13. Wahlperiode 565 und in der 14. Wahlperiode 558! Hinzu kommen die vielen Verordnungen aus »Berlin« und die von der EU vorgegebenen, die in Berlin dann in nationales Recht umgesetzt werden müssen.

Und selbst im »eigenen« Bereich, den zu überblicken man sich müht, sind Fehlbeurteilungen nicht nur möglich, sondern auch gang und gäbe - auch von Gerichten! Der Rechtsstreit um die Einführung der zum 01.08.98 endgültig in Kraft getretenen Rechtschreibreform mit seinen divergierenden Entscheidungen lieferte ein bundesweit beachtetes Beispiel.

Wie jeder andere Staatsbürger erfahren auch Juristen im Bereich des Rechts die Unvollkommenheit menschlichen Bemühens! Das gilt sogar für unser oberstes Gericht: Ende 1997 entschied der Erste Senat des BVerfGs, dass Mediziner schadenersatzpflichtig seien, wenn auf Grund eines Behandlungsfehlers bei einer Sterilisation eine ungewollte Schwangerschaft entstehe oder auf Grund einer falschen genetischen Beratung ein missgebildetes Kind zur Welt komme. Zusätzlich zu den von den Ärzten oder ihren Versicherungen zu tragenden Unterhaltskosten wurde den Eltern ein eigener Schmerzensgeldanspruch zugestanden. Das empörte den Zweiten Senat, der 1993 bei der von ihm vorgenommenen Überprüfung der damals mittels eines Normenkontrollverfahrens angegriffenen Abtreibungsregelung außer den »ratio decidendi« (den eine Entscheidung tragenden Gründen, ohne die eine Entscheidung nicht hinreichend schlüssig begründet wäre) in einem »obiter dictum« ganz nebenbei in einem eigentlich gar nicht zur Sache gehörenden Statement außerhalb seines Zuständigkeitsbereiches hatte verlauten lassen, dass ein Kind niemals als ein »Schaden«, sondern immer als ein Gottesgeschenk anzusehen sei. Der Erste Senat hatte dieses damalige »obiter dictum« des Zweiten Senats wohl als einen Eingriff in seinen eigenen Kompetenzbereich empfunden und ihn nun 1997 bei nächstpassender Gelegenheit - in einem bisher einmaligen Vorgang(!) - zurückgewiesen. Solch eine juristische Ohrfeige schmerzt; insbesondere dann, wenn man selber Verfassungsrichter ist und in seinem eigenen Zuständigkeitsbereich bei (teils behauptetem) Vorliegen der dafür erforderlichen Voraussetzungen die gesamte Gesetzgebung unseres Landes, alle Urteile aller anderen Gerichte und jegliches Verwaltungshandeln »mit (mehr als) einem Federstrich« kippen kann. Da hatte der aufjaulende Senat das Bewusstsein für seine eigenen, ihm vom Gesetzgeber gesetzten (Zuständigkeits-)Grenzen verloren, denn sonst hätte er sich nicht über den Spruch der Kollegen öffentlich, aber machtlos empört – und so seine ungedeckte Flanke geöffnet. Manche als solche empfundene Kränkung muss man im Leben ohne lautes Klagen hinnehmen können. Das gehört zu den psychischen Wachstumsschmerzen.

Auf Grund ihres Fachstudiums können sich Juristen aber natürlich besser in rechtliche Sachverhalte hineinarbeiten und dort mitdenken, aber adäquat lösen können sie sie auch längst nicht immer! Als Beispiel sei erinnernd auf die Berliner Justizposse verwiesen, der zufolge der Prozess gegen Honecker - eine der wenigen von Gerichten zugelassenen, von der PDS als „Siegerjustiz“ diffamierten Anklagen als Ergebnis ungefähr 13.000 eingeleiteter Ermittlungsverfahren - mit Rücksicht auf seine bei weiterer Inhaftierung durch "Leberkrebs im letzten Stadium" gesundheitlich gefährdete Menschenwürde XE "Menschenwürde" - die er den seiner Parteidiktatur Unterworfenen stets verweigert hatte - vorzeitig beendet, Honecker aus der Haft ent- und mit einem Pass nach Chile gelassen wurde, und ihm hinterher ein Bote des Gerichts mit einer neuerlichen Ladung zu einem erneuten Verhandlungstermin in Berlin nach Chile nachgeschickt wurde. Er solle doch bitte erneut noch ein paar weitere Verhandlungstage auf der ihm nun schon vertrauten Anklagebank Platz nehmen, um das Verfahren mit einem Urteil statt des erlassenen Beschlusses beenden zu können. Und es wurde die rechtliche Belehrung oder Drohung ausgesprochen, dass notfalls auch ohne ihn verhandelt würde! Bei seiner von zwei deutschen Gutachtern angenommenen angeblich geringen Belastbarkeit und Lebenserwartung von nur noch wenigen Monaten, die dann aber von chilenischen Ärzten gleich nach seiner Ankunft anders beurteilt wurde ("Der Gesundheitszustand ist ernst, aber nicht lebensbedrohlich, der Leberkrebs ist nicht im letzten Stadium."; Honecker lebte noch 16 Monate), wird er sich das letzte Jahr seines Lebens vielleicht über das Ansinnen der Berliner Richter totgelacht haben!

Übrigens: Chile scheint für Diktatoren ein hervorragendes Heilklima zu haben, denn der in Großbritannien nur noch im Rollstuhl bewegte, nach Befund britischer Ärzte völlig gebrechliche, demente und deswegen aus humanitär-rechtlichen Gründen wegen seiner zu großen Gebrechen aus britischer »Auslieferungsverwahrung« entlassene Ex-Diktator Pinochet konnte gleich nach seiner Heimkehr nach Chile sofort wieder auf seinen eigenen Füßen gehen und die Front der angetretenen Ehrenkompanie abschreiten!

Aber wie sollten Richter ohne - ausreichende - eigene Sachkenntnis über medizinische Detailfragen urteilen können? Das kann ihnen niemand vorwerfen, denn da sind sie auf das Untersuchungsergebnis hoffentlich sachverständiger Gutachter angewiesen.

Doch zurück zu den sowieso bestehenden, gerade angesprochenen Schwierigkeiten der Juristen mit der Juristerei: Noch schlimmer kann es werden, wenn Richter ihren Paragraphen-Dschungel verlassen und außerhalb der reinen Paragraphenanwendung Angeklagte beurteilen. Ein schon mehr als unappetitliches, abschreckend verdeutlichendes Beispiel: Die »Fast-Seligsprechung« eines früheren NPD-Vorsitzenden durch Richter einer Mannheimer Strafkammer in der Urteilsbegründung zu einem wegen der »Auschwitz-Lüge« angestrengten Verfahren.

Bei dieser grundsätzlichen Schwierigkeit der Materie des Rechts nützt es darum auch längst nicht immer etwas, mit einem Rechtsanwalt, Richter, Staatsanwalt, Verwaltungs- oder in der Privatwirtschaft tätigen Juristen verheiratet zu sein, aber in manchen Situationen hilft es, einen Juristen oder eine Juristin geheiratet zu haben. Doch wegen des Numerus-clausus auch in diesem Studienfach lässt sich die Lebensplanung nicht verlässlich darauf einstellen. Was bleibt, ist daher, sich selber ein bisschen um ein Anfangsverständnis gegenüber dem Bereich des Rechts zu mühen. Dabei zu helfen - und sicher auch manchmal subjektiv gefärbte Führung zu geben -, ist das Anliegen dieses Buches. Vielleicht machen Sie dann ja auch eine Entdeckung, die der Jurist Goethe an sich selber festgestellt hat: „Es ist mit der Jurisprudenz wie mit dem Bier: das erste Mal schaudert man, doch hat man’s einmal getrunken, kann man’s nicht mehr lassen.“ Mir geht es mit dem Strafrecht so, obwohl ich schon lange wieder in meinen ursprünglichen Beruf als Lehrer zurückgekehrt bin.

Wer nicht auf Grund seiner Ausbildung einen gewissen erleichternden Zugang zu dem Bereich des Rechts gefunden hat, der steht dieser Materie zunächst völlig hilflos gegenüber. Seine eigene Hilflosigkeit erfährt man als Nicht-Jurist sehr schmerzhaft, wenn es einmal »darauf ankommt«, und man nicht weiß, wie man sich in einer konkreten Situation am geschicktesten verhalten sollte, ohne später Rechtsnachteile zu erleiden. Noch schmerzhafter ist es, wenn es schon darauf angekommen war, und der Richter einem hinterher erklärt, wie man sich - seiner Meinung nach - anders hätte verhalten müssen, um sein angestrebtes Ziel ohne den nun eingetretenen rechtlichen Nachteil zu erreichen.

In der nächsten Instanz erzählen einem deren Richter dann vielleicht etwas ganz anderes! „Auf See und vor Gericht ist man nur noch in Gottes Hand!“ Das habe auch ich als Rechtsanwalt in eigener Sache in einem für mich existenziellen Rechtsfall am eigenen Leibe schmerzlichst erfahren. Ich weiß deshalb ganz genau, wovon ich rede! Wenn Sie kein Geld mehr haben, einen langjährigen Rechtsstreit finanziell durchzustehen, dann rettet Sie auch nicht Ihre (vielleicht nur eingebildete) überlegene Rechtskenntnis vor den Folgen, die Ihnen die Richter der Unterinstanz zumuten. Darum kann eine Rechtsschutzversicherung (= Rechtsverfolgungskostenversicherung) so hilfreich sein wie eine private Haftpflichtversicherung, auf deren Abschluss auch keiner verzichten sollte.

Um dem juristisch unverbildeten Laien einen Blick über die Mauern der Paragraphen hinweg in den Irrgarten des Rechts - in dem man sich nicht nur verirren, sondern manchmal sogar an seinem gesunden Menschenverstand irre werden kann - zu ermöglichen, soll ihm mit diesem Buch eine Leiter gereicht werden. Dabei wird nur ein kurzer Blick in den Irrgarten des Rechts angestrebt. Es wäre ein völliges Missverständnis, wenn der Leser hoffte, nach der Lektüre dieses Buches ohne weiteren sachkundigen Rat gegen die Fallstricke des Rechts hinreichend gewappnet und in der Lage zu sein, das Skalpell »Recht« in den ihn bedrängenden Fällen hinreichend sicher benutzen zu können!

Erreicht werden soll aber auf jeden Fall - durch einen interdisziplinären Ansatz mit Rückgriff auf Geschichte, Politik und Recht - die Vermittlung eines Gespürs dafür, dass »Recht und Gesetz« nicht - wie man früher oft glaubte oder die Leute Glauben machte - gottgegeben vom Himmel gefallen sind; dass sie grundsätzlich zwar befolgt werden müssen, so lange sie gültig sind, dass sie aber in einer Demokratie trotzdem nicht gottergeben hingenommen werden müssen, sondern bei nicht sachgerechter Regelung eines Lebenssachverhaltes durch zu organisierende Mehrheitsentscheidung des jeweiligen Gesetzgebungsorgans auch geändert werden können. Es soll ein Gefühl dafür geweckt werden zu erahnen, was »Recht und Gesetz« für ein Gemeinwesen bedeuten und zu leisten vermögen.

Damit soll auch der sich möglicherweise einstellenden Ehrfurcht vor dem den Einzelnen und seine Gelüste bezwingenden »Recht« und dessen Durchsetzung bezweckenden (gerade geltenden!) Gesetzen vorgebeugt werden: Was in einer Gesellschaft unter »Recht« und mehr noch unter einem von seiner (angeblichen) Intention her Rechtsfrieden stiftenden »Gesetz« verstanden wird, ist oft interessengebunden. »Recht« und »Gesetz« sind beileibe nichts »Heiliges«! Zum Beweis nur zwei Aussprüche: „Recht ist, was der proletarischen Klasse nützt“ (Lenin) und „Das Recht und der Wille des Führers sind eins“ (Göring). Und selbst die als höchstes anzustrebendes gesellschaftliches Ziel vielbeschworene »Gerechtigkeit« ist auch von unterschiedlichen Vorverständnissen abhängig und keine allerorts geltende verlässliche Elle! Wie schon früher vor der Einführung des Meters allein in Deutschland die Elle als Maßsystem unterschiedlichste Ausprägungsformen kannte, so ist auch heutzutage die Elle der Gerechtigkeit, an der alles gemessen werden soll, und erst recht die des Rechts, in der Welt sehr unterschiedlich definiert.

Als endlich 2004 im Rahmen der Agenda 2010 zur Rettung unserer angeknacksten sozialen Sicherungssysteme die ersten behutsamen Einschnitte in den nur noch verbliebenen »Rest-Kuchen« vorgenommen wurden, begehrten die Betroffenen auf: es sei ihrer Meinung nach bei der Neuverteilung der zu tragenden Lasten nicht sozial »gerecht« zugegangen. Abgenötigter sozialer Verzicht wird - menschlich durchaus verständlich - meistens als »ungerecht« empfunden. Und Forderungen nach mehr »Gerechtigkeit« dienen oft dazu, Eigeninteressen moralisch zu überhöhen.

Wenn Gerechtigkeitstheoretiker in akademischen Gedankenspielen fordern, der auszuhandelnde Gesellschaftsvertrag sollte von Leuten gemacht werden, die nicht wissen, ob sie unter diesem Vertrag als Reiche oder Arme, Starke oder Schwache leben müssen, dann ist das eine illusionistische Glasperlenspielerei, denn jeder ist in unsere Gesellschaft irgendwie eingebunden, und wenn er an verantwortlicher Stelle ein Gesetz schafft, dann hat er zu wissen, was die Folgen seines Tuns sein werden, dann weiß er genau, wo er seinen Platz in dem Koordinatensystem hat, ob er »stark« oder »schwach« ist.

Im Zusammenhang der Hartz-IV-Auseinandersetzung druckte der STERN (01.04.04) Antworten auf die Umfrage, was sozial »gerecht« sei. Die Antworten von Parteiführern, Kirchen und Verbänden waren vielfältig:

Der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering definierte »soziale Gerechtigkeit XE "Gerechtigkeit, soziale" « mit den Worten:

„Zur sozialen Gerechtigkeit gehört Chancengleichheit. Vor allem gleiche Bildungschancen für alle. Auch gleiche Berufschancen für Frauen und Männer. Verteilungsgerechtigkeit gehört dazu; sie muss Leistungswilligkeit berücksichtigen, aber auch Leistungsfähigkeit. Die Stärkeren müssen mehr leisten als die Schwächeren. Und gerecht ist Politik nur, wenn sie auch für morgen gut ist, die Verantwortung für die kommende Zeit ernst nimmt. Ohne Freiheit und Solidarität ist Gerechtigkeit unvollkommen. Deshalb bestimmen diese drei Grundwerte unsere Politik.“

Der Parteichef der Grünen, Reinhard Bütikofer, sekundierte:

„Gerechtigkeit meint Parteinahme für die Schwächsten. Sie will mehr als Verteilungsgerechtigkeit. Es geht darum, den Menschen zu ermöglichen, ihr eigenes Leben zu leben. Gerechtigkeit zielt auf Teilhabe für alle an Arbeit und Bildung. Generationengerechtigkeit soll das Verhältnis von Alt und Jung bestimmen. Gerechtigkeit fordert, die ökologischen Probleme zu lösen, um Lebensbedingungen und Lebensqualität zu sichern. Gerechtigkeit verlangt, die Globalisierung fairer zu gestalten und die Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann durchzusetzen.“

Als Vorsitzende der größten Oppositionspartei gab die CDU-Vorsitzende Angelika Merkel ihre Sicht sozialer Gerechtigkeit zu Protokoll:

„Sozial gerecht ist, was Menschen befähigt, für sich selbst sorgen zu können, und dort zum Ausgleich verpflichtet, wo diese Fähigkeit unzureichend ist. Viele Menschen haben heute das Gefühl, dass diese Grundsätze aus den Fugen geraten sind. Es fehlt an verlässlicher Politik, die dem Einzelnen deutlich macht, dass seine Leistung und die Gegenleistung des Staates in einem gesunden Verhältnis stehen. Wir brauchen einen klaren Vertrag: Wohlstand und Sicherheit für Leistung und Veränderungsbereitschaft.“

Der sich mit ihr in der Opposition befindende Parteivorsitzende der FDP definierte aus seiner Sicht als Wirtschaftsliberaler soziale Gerechtigkeit mit den Worten:

„Sozial gerecht ist, wenn sich Politik vor dem Verteilen um das Erwirtschaften kümmert. Eine Neidkultur, die Fleiß und Anstrengung bestraft, ist sozial ungerecht, denn sie treibt eine Gesellschaft in die kollektive Pleite. Sozial gerecht ist eine Anerkennungskultur, die Leistung befördert und belohnt, damit den Schwächeren geholfen werden kann. Sozial gerecht ist Hilfe für die sozial Bedürftigen, nicht die Findigen, denn es gibt kein Recht auf staatlich bezahlte Faulheit. Wir sitzen alle in einem Boot, aber einige müssen auch rudern, sonst kann man niemals soziale Gerechtigkeit in Deutschland finanzieren.“

Der Vorsitzende der größten Gewerkschaft der Welt, der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske, erklärte sichtlich um Volkstümlichkeit bemüht:

„Die 70-jährige Oma wird nicht den schweren Koffer schleppen müssen, wenn sie mit ihrer Familie in den Urlaub fährt. Das Tragen übernimmt der Enkel, während sich die Oma um die Wegzehrung für alle kümmert. Das heißt: Jeder übernimmt die Leistung, die seinen oder ihren Kräften und Fähigkeiten entspricht. Ich verstehe unter sozialer Gerechtigkeit: Alle leisten ihren Beitrag entsprechend ihren Möglichkeiten, soziale Risiken, die uns alle jederzeit treffen können, werden abgefedert. Dann funktioniert das Ganze, im Großen wie im Kleinen.“

Sein verbandspolitischer Gegenspieler, der Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, steuerte den folgenden Diskussionsbeitrag bei:

„Gerechtigkeit bedeutet für mich die Gleichheit aller Menschen in ihrer Würde und Freiheit sowie vor dem Gesetz. Sozial gerecht ist es, allen Menschen gleichermaßen die Teilhabe an Staat, Gesellschaft und Wirtschaft zu ermöglichen. Dazu gehört untrennbar, sie auch für ihr Handeln in die Pflicht zu nehmen: Eigenverantwortung und Solidarität mit den Schwachen sind die zwei Seiten derselben Medaille. Sozial gerecht ist, mehr Arbeitsplätze zu schaffen und nachhaltig für Generationengerechtigkeit in der Sozialpolitik zu sorgen.“

Das Mitglied des Attac-Koordinierungskreises Sven Giegold stellte als seine - teilweise stark idealistische - Sicht heraus:

„Sozial gerecht ist, wenn alle Menschen gleiche soziale Rechte, gleiche Chancen und einen angemessenen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum bekommen. Jeder Mensch hat ein Recht auf Nahrung, Wohnung, Gesundheit, sauberes Wasser, Bildung, eine intakte Umwelt sowie ein Einkommen, das die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Soziale Gerechtigkeit ist in Deutschland sowie zwischen den reichen und den armen Ländern massiv verletzt. Jede Politik, die soziale Ungerechtigkeit verstärkt, erfordert unseren Widerstand.“

Eine krasse Gegenposition nahm der verstorbene, gleichwohl zitierte liberale Ökonom Friedrich August Hayek ein:

„Womit wir im Falle der ‚sozialen Gerechtigkeit’ zu tun haben, ist einfach ein quasi religiöser Aberglaube von der Art, dass wir ihn respektvoll in Frieden lassen sollten, solange er lediglich seine Anhänger glücklich macht, den wir aber bekämpfen müssen, wenn er zum Vorwand wird, gegen Menschen Zwang auszuüben.“

Der PDS-Vorsitzende Lothar Bisky definierte ohne jede klassenkämpferische Attitüde:

„Soziale Gerechtigkeit ist modern. Sie ist das Gerüst der Demokratie. Armut macht es morsch. Gleiche Bildungschancen, Gesundheitsversorgung nicht nach dem Geldbeutel, Zugang zur Kultur für jedermann, menschenwürdige Alterssicherung, existenzsichernde Arbeit ermöglichen gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft. Damit das geht, müssen starke Schultern mehr tragen als schwache. Soziale Wohlfahrt ist auch das einzige Mittel, um den internationalen Terrorismus weltweit dauerhaft den Boden zu entziehen.“

Für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) definierte ihr Ratsvorsitzender Bischof Wolfgang Huber:

„Wie gerecht eine Gesellschaft ist, kann man daran sehen, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht. Es zeigt sich ebenso daran, wie sie für die nächsten Generationen Sorge trägt. Denn alle Menschen sind Gottes Kinder – mit gleicher Würde und mit gleichen Rechten. Weil nach uns nicht die Sintflut kommt, müssen wir zukunftsfest handeln und fair mit dem umgehen, was uns anvertraut ist. Die Weitergabe des Lebens, die Freude am Aufwachsen von Kindern, die Förderung von Familien und Geschlechtergerechtigkeit sind hohe Güter. Sie sollten nicht vergessen werden, wenn es um die Gestaltung einer gerechten Gesellschaft geht.“

Beschlossen wurden die vorstehend teilweise widergegebenen Stellungnahmen mit der Sicht des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Kardinal Karl Lehmann:

„Soziale Gerechtigkeit ist nichts Statisches. Eine Gesellschaft muss sich vielmehr immer wieder vergewissern, was hier und jetzt gerecht ist. Grundsätzlich gilt: Sozial gerecht ist ein Gemeinwesen, wenn es allen Bürgerinnen und Bürgern hilft beziehungsweise ermöglicht, durch eigenes Handeln ihr Wohl zu erreichen. Sozial gerecht handeln Menschen, wenn sie bereit sind, in das Gemeinwesen all das einzubringen, was um des Gemeinwohls willen notwendig ist, ob es gesetzlich vorgeschrieben ist oder darüber hinaus geht.“

In der zuletzt zitierten Stellungnahme kommt schon zum Ausdruck: In jeder Gesellschaft ist das System von Recht und Gesetz ein lebender Organismus, der - wie es lebenden Organismen eigen ist - ständigen Veränderungen unterworfen ist. Dieser Organismus muss laufend der Lebenswirklichkeit angepasst werden, um nicht irgendwann als drückendes Unrecht empfunden zu werden. Das gilt nicht nur für offene demokratisch-dynamische, sondern auch für konservativ-restaurativ ausgerichtete, dann oft ideologisch oder theokratisch geprägte Gesellschaften.

Um diese kritische Sichtweise auf das gerade geltende Recht und die jeweiligen Gesetze als oft durchaus fragwürdige rechtliche Regelungen deutlich zu machen, werden in diesem Buch an manchen Stellen alte Schlachten nachgezeichnet, auch wenn die Entwicklung von Recht und Gesetz inzwischen darüber hinweggegangen ist:

· Wer würde z.B. heute noch das Zusammenschlafen von Verlobten als strafwürdiges Kriminalunrecht ansehen und die Eltern, in deren Wohnung das geschieht, wegen Kuppelei bestrafen? Aber das war der Stand der Rechtsprechung in den frühen Jahren der Bundesrepublik.

· 1969 hatte Touropa in Rheinland-Pfalz ein Gerichtsverfahren wegen Verbreitung pornographischer Schriften zu bestehen, weil diese Firma es als erste gewagt hatte, einen - nur unter dem Verkaufstresen weitergereichten - bebilderten Katalog über FKK-Reisen bereithalten zu lassen.

· Wer würde heute noch durch ein Gesetz erzwingen wollen, dass eine Frau mit ihrer Heirat zwangsweise auf ihren bisherigen Namen verzichten müsste? (Anfang des 20. Jahrhunderts unterfiel sogar ihr Privatvermögen durch den Akt der Eheschließung automatisch der Zwangsverwaltung des ihr nun vorangestellten Ehemannes!) Wieso galt die bei uns bis noch vor kurzem allein zulässige und wegen (schließlich erfolgreicher) Änderungsbestrebungen lange Jahre heftig umkämpfte Ehenamensgebungsregelung in vielen Ländern Europas schon lange nicht mehr, ohne dass dort das gesellschaftliche System kollabierte, was von Reformgegnern bei uns als Folge einer diesbezüglichen gesetzlichen Regelung als Schreckgespenst an die Wand gemalt worden war? Bei uns wurde von konservativster Seite trotz des seit dem 23.05.49 mit all seinen anderen Bestimmungen geltenden Artikels 3 Grundgesetz: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Niemand darf wegen seines Geschlechtes ... benachteiligt oder bevorzugt werden“, noch Jahrzehnte verbissen an der alten, die heiratenden Frauen benachteiligenden und somit dem Gleichheitssatz widersprechenden Regelung festgehalten! Es wurde fast der Untergang des Abendlandes beschworen, wenn unser Ehenamensrecht geändert würde! Und dann wurde es - in mehreren klitzekleinen einzelnen Schritten – doch geändert. Der erste Schritt bestand darin, dass heiratende Frauen zwar weiterhin unverzichtbar den Namen des Ehemannes anzunehmen hatten, zusätzlich aber, dem etwas geläuterten neuen Rechtsgefühl der Männer entsprechend, ihren Geburtsnamen als Appendix daran anhängen und so einen Teil ihrer bis dahin eigenständigen und oft sogar im Vergleich zu der des Mannes erfolgreicheren Biographie retten durften. Doch warum musste der Name des Ehemannes dem der Ehefrau vorangestellt sein. Woher das Recht zu der Macho-Dominanz? Darum wurde als nächster Schritt gesetzlich die Möglichkeit eröffnet, dass eine heiratende Frau zwar immer noch den Namen des Mannes anzunehmen hätte, dem aber ihren bisherigen Namen voranstellen dürfe. Inzwischen dürfen die Eheschließenden nicht nur wählen, welchen der beiden Geburtsnamen sie als Ehenamen führen wollen, sondern sogar, ob sie einen der beiden Geburtsnamen als gemeinsamen Ehenamen wählen oder weiterhin so heißen wollen, wie sie bisher in ihrem sozialen Umfeld oder sonst wie einem größeren Kreis mehr oder weniger bekannt waren.

Und der deutsche Teil des christlichen Abendlandes steht immer noch!

Nur durch das Bewusstmachen der Relativität von dem, was sich oft hinter der Floskel von »Recht und Gesetz« verbirgt, nur wenn man sich auch die Geschichtlichkeit von »Recht und Gesetz« in ihren sozialen Bezügen und das Fundament des Rechts letztlich in der Religion vergegenwärtigt, erhält man die geistige Freiheit, diesen Problemkreis (je nach Sachlage ständig) zu hinterfragen und zeit- und damit sachgerechte(re) Lösungen für Probleme des Zusammenlebens in einer Gesellschaft zu erarbeiten.

Dazu sind wir als Staatsbürger alle aufgerufen. Wir müssen uns manchmal rechtzeitig empören können! Das Aufkommen des Nationalsozialismus hätte sich vielleicht verhindern lassen, wenn die Menschen sich in Massen gegen dessen durch ungerechte Gesetze verfolgte Ziele empört hätten, als noch gefahrlos Zeit dazu da war. Die von der »Heldenstadt Leipzig« ausgegangene, in den Montagsdemonstrationen zu Zehntausenden und damit für den Einzelnen gefahrloser öffentlich geäußerte Empörung brachte ja auch die rote Diktatur des Arbeiter- und Bauernstaates zum Einsturz!

Ein solches Engagement verlangt aber - neben Zivilcourage - auch ein etwas fundiertes Problembewusstsein und nicht nur ein dumpfes Unmutsgefühl im Oberbauch. Darum müssen wir uns um Fragen von Recht und Gesetz kümmern - was zur Voraussetzung hat, dass wir zumindest ein Gefühl für diesen Aspekt des gesellschaftlichen Zusammenlebens entwickeln. An dieser Elle müssen wir dann die uns durch die Massenmedien ins Haus gebrachten Tagesmeldungen über Regierungshandeln messen - und eventuell aktiv werden.

Wenn man dem zuzustimmen vermag, dann ist dieses Buch sogar ein Stück praktische Lebenshilfe.

Darum wurde dieses Buch bewusst um viele seit mehr als zwei Jahrzehnten hauptsächlich an den Schwerpunkten der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung orientiert gesammelte Zeitungsmeldungen herum aufgebaut, die in ihrem rechtlichen Zusammenhang betrachtet werden: Gleichberechtigung, Freiheit der Person in ihren verschiedensten Facetten bis hin zur bedarfsmäßig neu geschaffenen informationellen Selbstbestimmung und der Versammlungs- und Pressefreiheit als Wesenselemente eines freiheitlichen Staates. Die Demonstrationsfreiheit als Teil der Versammlungsfreiheit, die „Pressefreiheit des kleinen Mannes“, ist dabei größeren Gefahren der Einschränkung durch die Exekutive ausgesetzt als die in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nur einmal ernsthaft in Frage gestellte Pressefreiheit, als der CSU-Verteidigungsminister Strauß SPIEGEL-Redakteure wegen eines regierungskritischen Artikels über die Bundeswehr – „Bedingt abwehrbereit“ – wegen angeblichen Geheimnisverrats durch bei Gerichten erwirkte Haftbefehle vorübergehend einsperren ließ, wobei auch das Franco-Regime eingeschaltet wurde, um einen in Spanien urlaubenden SPIEGEL-Redakteur dort für die beantragte Auslieferung festsetzen zu lassen.

Aber Demonstrationen werden ständig mit einschränkenden Auflagen versehen; schon alleine, um die Kampfhähne bei den Demonstranten und den Gegendemonstranten auseinander zu halten, damit die sich nicht gegenseitig an die Gurgel gehen können, was manche von ihnen am liebsten täten: „Kein Mord fürs freie Wort!“

Manche Demonstrationen würde die Exekutive am liebsten an die Stadtränder verbannen, um sie dort wirkungslos verpuffen lassen zu können. Aber dann fallen die Gerichte den Polizeibehörden in die Arme: das in Art. 8 Grundgesetz (GG) gewährte Recht der Versammlungsfreiheit als Möglichkeit der kollektiven Meinungskundgabe

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

sei so konstitutiv für eine Demokratie, dass auch den Schmuddelkindern der Demokratie die Gelegenheit gegeben werden müsse, durch das Erregen von Aufsehen (und Ärgernis) auf ihr Anliegen aufmerksam machen zu können, wenn sie sich denn (relativ) friedlich und nicht offensichtlich mit Waffen versammeln.

Die vorstehend zitierte Formulierung des Art. 8 GG gibt Anlass, schon gleich zu Anfang des Buches auf einen Teilaspekt der Technik juristischen Arbeitens aufmerksam zu machen. Die besteht nämlich u.a. auch im Bilden von Rückschlüssen, die zur Begründung juristischer Argumentationen gebildet werden, wenn der Wortlaut eines Gesetzes, einer Verordnung oder Satzung nicht an jeder Stelle zweifelsfrei formuliert ist. Dann kommen oft nichtjuristische »Freunde des gespaltenen Haares«, wollen etwas für sich herausschlagen und die Richter, ebenfalls oft und gerne dem gleichen Freundeskreis angehörig, versuchen, ihnen zu weit gehende Gesetzesauslegungen zu unterbinden. Das kann sich bis zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG) durch viele Instanzen ziehen, weil sich Richter auch sehr gerne Argumente um die Ohren hauen: Wie konnte die Unterinstanz bloß so blöde sein! Das muss doch genau andersherum entschieden werden, meinen dann die jeweils zuständigen Berufungsrichter. In der Revisionsinstanz kann das Problem wieder anders gesehen werden, und letztlich entscheidet das BVerfG, was „für Recht erkannt“ wird.

Manchmal ist eine Interpretationsschwierigkeit aber auch gleich in der ersten Instanz erledigt. Lesen Sie bitte noch einmal den vorstehenden Art. 8 I GG und Sie werden erkennen, dass das Demonstrationsrecht zunächst uneingeschränkt gewährt wird; eine Einschränkungsmöglichkeit erfolgt erst in Art. 8 II GG für „Versammlungen unter freiem Himmel“. Rückschluss: Für Versammlungen, die nicht unter freiem Himmel stattfinden, bestehen keine Einschränkungen. Als 1949 der Parlamentarische Rat das Grundgesetz konzipierte und verfasste, dachte er natürlich »offline«. Konrad Zuse hatte zwar schon 1941 die erste programmgesteuerte Rechenanlage der Welt geschaffen, aber in meinen älteren Lexika bis 1975 wird er, werden Computer überhaupt nicht erwähnt. Wie sollten da die Mütter und Väter des Grundgesetztes die sich nur für einige wenige Insider unter den Physikern in der Morgendämmerung des Computerzeitalters am Horizont schemenhaft andeuteten technischen Möglichkeiten bei der Formulierung des Grundgesetzes mitbedenken? Technische Neuerungen fordern Juristen halt erst dann heraus, wenn ihre Relevanz absehbar ist. Und dann müssen sie sich den Anforderungen stellen, jedenfalls wenn sie Richter sind und ihnen ein solches Problem auf den Tisch kommt; und notfalls auch »online« denken. Warum dieser lange Vorspruch im Zusammenhang mit dem Demonstrations- und Versammlungsrecht? Lesen Sie die Zeitungsmeldung, die mich dazu veranlasst hat, diesen Aspekt in mein für juristisch Interesierte konzipiertes Lehrbuch aufzunehmen:

GERICHTSENTSCHEIDUNGAufruf zur Online-Demo ist strafbar

Von Martin Brust

Online ist nicht mit Offline vergleichbar, entschied das Amtsgericht Frankfurt, und wertete die Blockade der Lufthansa-Website im Juni 2001 als Nötigung. Die Organisatoren wollten mit der Blockade gegen das Abschiebegeschäft protestieren und beriefen sich auf das Recht auf Versammlungsfreiheit. Das Betätigen der Computer-Maus kann eine Form von physischer Gewalt sein, ausgeübt mittels der elektrischen Impulse, die der Mausklick bewirkt und die wiederum eine Aktion eines Computerprogramms auslösen. Das entschied jedenfalls das Amtsgericht Frankfurt/Main unter Richterin Bettina Wild im Prozess gegen den Inhaber der Domain www.libertad.de.

Der arbeitslose Schreiner Andreas-Thomas V. war angeklagt, im Jahr 2001 als Mitglied der Initiative "Libertad!" durch Texte auf der Webseite und in gedruckter Form zur Beteiligung an einer Online-Demo und damit zur Nötigung aufgerufen zu haben.

Am Tag der Hauptversammlung des Konzerns sollte zwischen zehn und zwölf Uhr massenhaft die URL www.lufthansa.com aufgerufen werden mit dem Ziel, die Zugriffszeiten deutlich zu verlangsamen. Die Initiative "Libertad!" warf der Lufthansa vor, von der Abschiebung von Flüchtlingen zu profitieren, die mit Maschinen der Airline nach Hause geschickt werden.

Im besten Fall erhofften sich die Aktivisten, dass die Webseite nicht mehr zugänglich sei - was, wie sich im Laufe des Prozesses herausstellte, für acht bis zehn Minuten auch tatsächlich der Fall war.

Auf einer weiteren Webseite wurde von anderen Protestierenden eine Software bereitgestellt, die diese Aufrufe automatisierte, beschleunigte und vor allem verhinderte, dass die Seite nach dem ersten Aufruf nur noch aus dem lokalen Cache geladen wurde. Von Libertad.de wurde zu dieser Seite verlinkt.

Nun wurde der Domaininhaber von libertad.de zu einer Strafe von 900 Euro verurteilt. Der Angeklagte und sein Anwalt kündigten noch im Gerichtssaal Revision an. In ihrem Urteil betonte die Richterin - wie bereits zuvor die Staatsanwältin -, dass es nicht um die Verurteilung der politischen Aktivität des Angeklagten gehe. Verurteilt werde auch nicht ein Aufruf zu einer Demonstration, sondern die öffentliche Aufforderung zu Straftaten. Denn die Blockade der Lufthansa-Webseite sei ebenso Gewalt mittels elektrischer Energie wie beispielsweise die Anwendung eines Elektro-Schockers, so die Richterin.

Dadurch seien User, die im fraglichen Zeitraum auf der Webseite beispielsweise Tickets hätten buchen wollen, genötigt worden. Und zwar unbeschadet von den Ausweichmöglichkeiten und ungeachtet der Tatsache, dass zwei Lufthansa-Zeugen keine konkreten Angaben zu Buchungsausfällen machen konnten.

In seinem Schlusswort sagte der Angeklagte, die Fluglinie versuche einen Spagat: Die Wirkung der Online-Demo werde geleugnet und zugleich Strafanzeige eingereicht. Der Konzern behaupte einen immensen Schaden, könne dazu aber keine Zahlen über die gut 42.000 Euro für technische Abwehrmaßnahmen hinaus vorlegen.

Die Airline trage auch selbst Schuld: "Die Blockier-Software sei lange nicht so effektiv gewesen wie die Lufthansa-eigenen Maßnahmen, etwa die, zwischen Servern, die die Seite lufthansa.com bereit hielten, hin und her zu switchen. Die "Demonstrierenden" hätten keinen Einfluss darauf gehabt, dass bei diesem Umschalten die in den Speichern gehaltenen Kundendaten und Buchungen nicht "mitgenommen" wurden, sagte der Angeklagte.

Der Anklageschrift zufolge gab es in den fraglichen zwei Stunden rund 1,2 Millionen Zugriffe von gut 13.600 verschiedenen Rechnern, darunter waren fast 160 IP-Adressen mit einer auffällig hohen Zahl von Zugriffen. Dies dürften vermutlich Rechner gewesen sein, die sich der Protestsoftware bedienten. Aber wer kann letzten Endes unterscheiden, warum jemand am fraglichen Tag zur fraglichen Zeit die Webseite aufrief? Der Klick der Kundin besteht wie der des Demonstranten aus Einsen und Nullen - damit sieht ein Klick dem anderen nun mal zum Verwechseln ähnlich.

Dass die rechtliche Beurteilung schwierig ist, darauf deutet nicht nur die lange Verfahrensdauer hin. Sondern auch, dass noch am Vorabend der Aktion das Bundesjustizministerium von Terrorismusverdacht sprach. Das förmliche Ermittlungsverfahren wurde dann aber erst nach einer Anzeige der Lufthansa aufgenommen und lautet auf "Verdacht auf Computersabotage und Eindringen in Datennetze". Übrig blieb dann nur noch die Anstiftung zur Nötigung - und zahlreiche Versuche der Staatsanwaltschaft, einen Prozess zu vermeiden.

"Wir wurden mit Kompromissangeboten geradezu überhäuft. So sollte das Verfahren wegen geringer Schuld gegen eine Geldbuße von 50 Euro eingestellt werden" hatte der Anwalt des Angeklagten im Vorfeld des Prozesses in einem Interview mit dem Onlinemagazin Telepolis gesagt.

SPIEGEL ONLINE 04.07.05

Zurück zum »Offline-Demonstrationsrecht«. Man war z.B. schon öfters bemüht, Aufmärsche von Rechtsextremisten zu verhindern. Aber die Gerichte erlaubten die Demonstrationen meistens doch, wenn mittels eines geringeren Eingriffs in das Versammlungsrecht als durch ein Verbot, nämlich durch die Erteilung von Auflagen, Sicherungen für einen ordnungsgemäßen Ablauf eingebaut werden konnten. So durfte die NPD sogar unter dem Motto "Deutschland ist größer als die Bundesrepublik" an der Grenze zu Polen demonstrieren. Immer wieder erlaubten Oberlandesgerichte Auftritte, hob das Bundesverfassungsgericht Versammlungsverbote auf. Begründung: Das Schutzgut der Versammlungs- und Meinungsfreiheit sei so wichtig, dass auch Extremisten ihre Ansichten in friedlichen Demonstrationen mitteilen dürften. „Demokratie ist nichts für ängstliche Menschen“, sagte der niederländische EU-Kommissar Frits Bolkestein.

Und es ist mehr als ungewiss, ob die Richter von dieser Grundposition der Meinungsfreiheit auch für Schmuddelkinder der Demokratie abgehen werden:

„Kein Aufstand der Richter

Der Präsident des Leipziger Bundesverwaltungsgerichtes lehnt es ab, gerichtlich Neonazi-Aufmärsche zu verhindern. Die Richter würden so ihre Unabhängigkeit verlieren

LEIPZIG epd Der Präsident des Bundesverwaltungsgerichtes, Eckart Hien, hat Forderungen nach richterlicher Zivilcourage bei Entscheidungen über Neonazi-Aufmärsche zurückgewiesen. Ein Richter gebe seine Unabhängigkeit auf, "wenn er politischen Mut in seine Entscheidungen legt", sagte Hien bei einer Diskussionsveranstaltung in der Leipziger Thomaskirche.

Wenn Neonazis sich eine Stadt für Versammlungen aussuchten, zögen viele Bürgermeister vor die Verwaltungsgerichte, "nur um den Richtern letztlich den schwarzen Peter zuschieben zu können", kritisierte Hien. Zuletzt war es vor dem NPD-Bundesparteitag im thüringischen Leinefelde und Neonazi-Aufmärschen in Leipzig zu rechtlichen Auseinandersetzungen gekommen. Verwaltungsrichter seien an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes gebunden, "an denen sie nicht ständig rütteln können", sagte Hien. Das NPD-Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht habe allerdings "in einem Fiasko geendet", kritisierte der Präsident des obersten deutschen Verwaltungsgerichtes. Gerichte könnten nur Aufmärsche von verbotene Parteien oder Gruppierungen verbieten.

Der Leipziger Thomaspfarrer Christian Wolff warnte vor einer "zu positivistischen Rechtshaltung". Leipzig war im Oktober vor dem Oberverwaltungsgericht Bautzen mit dem Vorschlag gescheitert, die Route einer Neonazi-Demonstration zu verlegen. Gegendemonstranten hatten daraufhin am 3. Oktober verhindert, dass Neonazis durch ein alternatives Stadtviertel ziehen konnten.“

(taz 10.11.04)

Der vorläufig letzte Versuch, den Wirkungsbereich der insbesondere in Ostdeutschland erstarkenden Neonazis mit administrativen Mitteln zu beschränken, bestand darin, ein Verbot von Demonstrationen vorzusehen, wenn "zu erwarten ist, dass in der Versammlung nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft verharmlost oder verherrlicht wird." Verherrlichen, das ist ziemlich klar, aber ab wann wird die Strafbarkeitsschwelle des „Verharmlosens“ überschritten? Man kann nicht jeden Unsinn unter eine Strafdrohung stellen. Das lässt schon der fragmentarische Charakter des Strafrechts, der nur die schwerwiegendsten Verstöße gegen grundlegende Normen des Zusammenlebens unter Strafe stellen will, gar nicht zu. Es bestehen Probleme mit der Verfassungsmäßigkeit, wenn bereits die „Verharmlosung der NS-Gewaltherrschaft“ unter Strafe gestellt würde. Das wäre ein zu weit gefasster „offener Rechtsbegriff“. Ähnliche juristische Schwierigkeiten ergäben sich bei einer auf die Anhängerschaft der NPD zielenden Einschränkung des Demonstrations- und Versammlungsrechts. Darum regte die CDU im Bundestag an, das demokratiekonstitutive Recht der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit an ihr wichtigen Orten zu einem im Öffentlichen Recht häufig so geregelten „Verbot mit Erlaubnisvorbehalt“ umzugestalten. Dieses juristische Konstrukt bedeutet, dass eine Sache grundsätzlich verboten ist und nach Antragsprüfung ausnahmsweise erlaubt werden kann. Damit würde eines der wichtigsten Rechte einer Demokratie oder eines der wichtigsten, unter Lebensgefahr in Anspruch genommenen Rechte eines Volkes, das um Demokratie kämpft und mit Demonstrationen schon Diktaturen zum Einsturz gebracht hat – siehe u.a. die Nelkenrevolution in Portugal, die Massenaufmärsche in Polen, der Ex-DDR und der Ukraine – zu einem Gnadenakt heruntergestuft. Das hatten wir in der Ex-DDR so, als Art. 28 Verf-DDR regelte, dass die Bürger sich ausschließlich „im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung“ des laut Art. 1 Verf-DDR als „sozialistisch“ definierten Staates versammeln durften – und damit Versammlungen der Willkür der SED-Diktatur anheimgegeben waren. (Dazu mehr im dritten Teil des Buches.)

Ein Verbot von Neonazi-Aufmärschen sollte an herausragenden Orten der Erinnerung gelten, die "an die Opfer einer organisierten menschenunwürdigen Behandlung erinnern und als nationales Symbol für diese Behandlung anzusehen sind." Die Absicht, etwas gegen die Neonazis zu tun, darf aber nicht zu einer generellen Einschränkung des Versammlungsrechts führen und auch nicht zu einer partiellen in Berlin-Mitte.

Es ist schwer, unseren jüdischen Mitbürgern als Nachfahren von (fälschlich als „Holocaust“ bezeichneten) Shoa-Opfern zu erklären, dass wir selbst an Orten der Erinnerung gegen die Gräuel des Nationalsozialismus wie dem „Holocaust“-Mahnmal nur mit am Grundgesetz geeichten rechtsstaatlichen Mitteln gegen rechtsextreme Provokationen vorgehen können. [Die durch Rechtsverordnung festzulegenden Orte waren unter den Parteien strittig: In Berlin sollten unstrittig das „Holocaust“-Mahnmal und das mit oder wegen des internen Streites der Zigeunergruppen ohne Inschrift geplante „Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma“ – so der Wunsch des Zentralrates der deutschen Sinti und Roma - oder allgemein „Mahnmal für die ermordeten Zigeuner“ – so die Sinti-Allianz -, die sich teilweise selbst als „Zigeuner“ bezeichnen und auf jeden Fall mehr als die Gruppe der Sinti und Roma umfassen, dazugehören; als strittig galten das Brandenburger Tor und die Neue Wache.]

Die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages, Nickels, wandte sich gegen das Demonstrations- und Versammlungsrecht einschränkend verschärfende gesetzliche Regelungen. Ihr Argument: „Man kann eine Demokratie nicht schützen, indem man sie einschränkt.“ Der stellvertretende Chefredakteur des STERN schrieb am 03.02.05 in seinem wöchentlichen Zwischenruf aus Berlin: „Ist die NPD verfassungswidrig, muss sie nach sorgfältiger Prüfung verboten werden. Rasch. Solange das nicht geschehen ist, hat sie Anspruch auf den Schutz des Grundgesetzes und die Wahrnehmung aller Freiheitsrechte. ’Freiheit ist immer nur Freiheit des Andersdenkenden’: dieser Satz Rosa Luxemburgs ist nicht allein nach links gesprochen – in der Demokratie sind alle Andersdenkende. Er gilt nur dann nicht, wenn die einen die Freiheit der anderen beseitigen wollen. Die NPD aber zuzulassen und sie unterhalb eines Verbots durch Spezialgesetze als verfassungswidrig zu behandeln ist in sich verfassungswidrig und macht die Demokratie unglaubwürdig – zum Nutzen der NPD. Alle bislang präsentierten Vorschläge empfehlen solche Spezialgesetze und –regeln, die den Neonazis Argumente liefern, um die Demokratie als undemokratisch verächtlich zu machen: Ausschluss aus der Parteienfinanzierung, Einschränkung der parlamentarischen Immunität, Wortentzug im Landtag, Aufhebung der Versammlungsfreiheit auf Verdacht, Verbot von Kundgebungen an Gedenkstätten. ... All das bestätigt NPD-Wähler und lockt neue.“

Mit der dann umgesetzten Gesetzesinitiative zur Verschärfung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts sollte der von der NPD angekündigte und angemeldete Marsch durch das Brandenburger Tor am 08.05.05, dem 60. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands, verhindert werden. Sollten die Neonazis am Abend des 60. Jahrestages der bedingungslosen Kapitulation - eventuell mit einem Fackelzug - in Marschkolonne durch das Brandenburger Tor ziehen, wie sie im Jahre 2000 dort schon marschiert sind, würde das fatal an den Fackelzug der Nazis durch das Brandenburger Tor erinnern, mit dem sie die „Machtergreifung“ und dann an jedem Jahrestag den Beginn der NS-Diktatur am 30.01.1933 gefeiert hatten. Das würde auch im Ausland - obwohl sich in praktisch jeder freien Gesellschaft an beiden politischen Rändern Extremisten in nicht ganz unerheblichen Prozentsätzen von in etwa 5-15 % tummeln - auf Grund der Belastung unserer Geschichte mit dem unter der Naziführung begangenen größten Menschheitsverbrechen der in eigens dafür konstruierten Hochleistungskrematorien industriell betriebenen Massenvergasung und anschließenden Verbrennung aller europäischer Juden, derer man habhaft werden konnte, wenn man es nicht vorzog, die Kräftigsten durch Schwerstarbeit unter Kalorienentzug durch Sklavenarbeit umzubringen, beklemmende Erinnerungen wecken! Deswegen versuchten demokratische Kräfte im Vorfeld der parlamentarischen Arbeit, ihrerseits eine Demonstration am Brandenburger Tor anzumelden, damit dann die Neonazis wegen der Vergabe des Platzes am Jahrestag der Kapitulation Großdeutschlands keine Demonstrationserlaubnis erhalten könnten. Die NPD scheiterte vor dem BVerfG mit ihrem Antrag, ihren Demonstrationszug gegen den "Schuldkult" und gegen die "Befreiungslüge" am 60. Jahrestag der Kapitulation Nazi-Deutschlands durch das Brandenburger Tor hindurch und am Mahnmal für die ermordeten Juden Europas entlang durchführen zu dürfen. Es wurde ihr nur eine nicht so »geschichtsträchtige« Ersatzstrecke vom Alexanderplatz zum Bahnhof Friedrichstraße zugebilligt. Diese Ersatzstrecke war dann zusätzlich von mindestens einer vierfachen Menge von Gegendemonstranten blockiert worden.

Die Umstände der blockierten Demonstration ließ Juristen aus grundgesetzlichen Erwägungen heraus die Einhaltung und Durchsetzung des Demonstrationsrechts fordern. Das Argument: Das Vorgehen der Polizei und der Gegendemonstranten sei "klar rechtswidrig" gewesen. Eine Demonstration, die genehmigt ist, müsse stattfinden können. Wegen des Gewaltmonopols des Staates unterliege die Polizei der Verpflichtung, alle Hindernisse auf der vorgeschriebenen Strecke aus dem Weg zu räumen. "Ihr steht heute hier für die Nazis", beschimpfte eine Frau aus dem Kreis der autonomen Gegendemonstranten am Hackeschen Markt die Polizisten: "Haut einfach ab." Doch das Demonstrations- und Versammlungsrecht gilt nicht nur für »die Guten«. Es kann nicht in das Belieben einer mehr oder minder zufälligen Mehrheit oder gewaltbereiten Minderheit gestellt werden, ob das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit wahrgenommen werden kann! Und rechtlich äußerst bedenklich ist es, wenn die Verbraucherschutzministerin Renate Künast (Grüne) als ausgebildete Juristin den Festbesuchern zu einem "lockeren Spaziergang" zur Brücke neben dem Dom riet, um dort die Demo-Route der NPD zu blockieren: "Wir sind viele, wir sind viel mehr, und wir sind stark", sagte Künast.

Die Polizei hätte mit Verweis auf die Rechtswidrigkeit der Demonstrationsbehinderung die Gegendemonstranten zum Verlassen der Straße auffordern müssen, bei deren Weigerung die Personalien der behindernden Gegendemonstranten aufnehmen, diese mit einer Polizeikette von der Straße drängen und notfalls sogar, wenn das alles nicht geholfen hätte, als letztes Mittel Gewalt anwenden müssen. Sie hätte nicht den rechtswidrig handelnden Gegendemonstranten von vornherein einen Freibrief ausstellen dürfen, indem sie vor Demonstrationsbeginn verlauten ließ, bei einer friedlichen Blockade würde sie nicht mit Gewalt einschreiten. Szenen wie eine Woche zuvor in Leipzig, wo linke Gegendemonstranten von der Straße gespritzt worden waren, wollte die politische Führung Berlins unter den Augen der Weltöffentlichkeit am 8. Mai vermeiden.

Doch gut gemeinte Deeskalationsmaßnahmen dürfen nicht so weit gehen, dass durch sie das demokratierelevante Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit außer Kraft gesetzt wird! Der Berliner Polizeipräsident liegt falsch mit seiner Entschuldigung, wenn er vorbringt: "Das geltende Recht läßt nicht zu, dass wir einen Aufzug durchprügeln." Wer weiß, ob es überhaupt dazu gekommen wäre, wenn die Polizei von vornherein klargestellt hätte, dass sie – wie es ihres Amtes ist! - dem Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit Geltung verschaffen werde! Das Verhalten der Berliner Polizeiführung provoziert geradezu die Frage nach dem umgekehrten Fall: "Wie würde die Diskussion aussehen, wenn 2.000 NPD-Anhänger eine genehmigte Demonstration von friedlichen Bürgern blockiert hätten und die Polizei nicht eingeschritten wäre?"

Es ist ein ständiges Katz-und-Maus-Spiel und zeigt, wenn man solcherart »Nadelstich-Demonstrationen« der Rechtsextremisten nicht glaubt ertragen zu können, die Notwendigkeit auf, das Problem so grundsätzlich zu regeln, dass demokratische Kräfte nicht für jeden Tag des Jahres und jede Stunde eine Demonstration am Brandenburger Tor anmelden müssen, damit die Neonazis als Bewahrer des Gedankengutes der braunen Faschisten nicht einen Fuß in das Tor stellen können; denn das Brandenburger Tor zu schließen geht ja auch nicht, nachdem man jahrzehntelang unter der Parole: „Macht das Tor auf!“ gegen die roten Faschisten der SED-Diktatur und ihren Mauerbau demonstriert hatte und in dieser Forderung direkt vor dem Brandenburger Tor von u.a. us-amerikanischen Präsidenten unterstützt worden war.

Würde das Problem durch ein Demonstrationsverbot am Brandenburger Tor durch z.B. die Ausweitung des um das Reichstagsgebäude geltenden befriedeten Bezirks geregelt, würde die Funktionsfähigkeit des Parlamentes nur zu dessen Sitzungszeiten geschützt; an sitzungsfreien Tagen könnte aber gleichwohl dort demonstriert werden. Die Ausweitung des befriedeten Bezirks wäre nur eine Verlegenheitslösung, denn am vom Parlament schon etwas entfernteren Brandenburger Tor schütze man nicht die Funktionsfähigkeit des Bundestages, was ja der Sinn eines befriedeten Bezirkes ist. Au0erdem könnten demokratische Kräfte auch nicht mehr zu besonderem Anlass dort demonstrieren, und das will man natürlich nicht unterbinden, denn kein Bauwerk symbolisiert die wechselvolle insbesondere neuere deutsche Geschichte mehr als das von 1788-91 nach den Plänen von Langhans erbaute, im Zuge der napoleonischen Kriege nach der Niederwerfung Preußens 1807 von den Franzosen geraubte, nach dem Sieg über Napoleon 1814 dann wieder zurückgeholte, im Zweiten Weltkrieg durch die Rote Armee eroberte und 1958 zur Beseitigung der Kriegsschäden nach erhalten gebliebenen Gipsabgüssen wiederhergestellte Brandenburger Tor.

Bleibt, wenn man es so will, rechtlich nur die inhaltliche Beschränkung der Demonstrationsfreiheit, wenn "zu erwarten ist, dass in der Versammlung nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft verharmlost oder verherrlicht (werden) wird." Auf die Schwierigkeit mit dem offenen Rechtsbegriff „verharmlosen“ war schon eingegangen worden. Hinzu kommt, dass man das im Genehmigungsverfahren für die beantragte Demonstration nicht im Vornherein zweifelsfrei prognostizieren kann.

Zur bestimmt nicht nur in Deutschland wahrgenommenen gesellschaftspolitischen Provokation unseres politischen, bei den Neonazis „verhassten Systems“ durch »Nadelstich-Demonstrationen« genügt es außerdem ja schon, dass NPDler unter mit NPD-Emblem versehenen nicht verbotenen schwarz-weiß-roten Fahnen durch das Brandenburger Tor marschieren. Denn gleich nach der „Machtergreifung“ war auf Betreiben der Nazis vom Reichspräsidenten von Hindenburg entgegen dem nicht misszuverstehenden Wortlaut des Art. 3 1 WV

„Die Reichsfarben sind schwarz-rot-gold.“

durch die sogenannte Flaggenverordnung (zur Einbindung der republikfeindlichen kaiserlich-konservativen Kräfte des gerade erst untergegangenen Kaiserreiches) neben die Hakenkreuzflagge (als Flagge der unter die Herrschaft der Nazis geratenen Weimarer Republik) die schwarz-weiß-rote Flagge des untergegangenen deutschen Kaiserreiches gesetzt worden. Bei offiziellen Anlässen der Nazis wurde nur noch die Hakenkreuzflagge gehisst oder schwarz-weiß-rot geflaggt. Auf jeden Fall wurden aber nicht mehr die schwarz-rot-goldenen Reichsfarben der von den Nazis so beschimpften „Judenrepublik“ gezeigt. Da muss heutigen Tages nicht erst noch expressis verbis eine Verherrlichung verbalisiert werden, wenn NPDler mit schwarz-weiß-roten Fahnen durchs Brandenburger Tor marschieren; es genügt, allein durch schwarz-weiß-rote Fahnen die Nazi-Herrschaft nur indirekt verherrlichend zu visualisieren! Die Gerichte werden, wenn die geistigen Nachfolger der den Zweiten Weltkrieg entfacht habenden Nazis so tun, als wären sie keine Neonazis, wegen der demokratiekonstitutiven Bedeutung des Versammlungsrechts den Demonstrationszug aus grundsätzlichen und grundgesetzlichen Erwägungen heraus trotzdem genehmigen, ohne die mit dem NPD-Emblem versehenen schwarz-weiß-roten Fahnen zu verbieten; höchstens die ähnlich gestaltet gewesene Vorlage der NPD-Fahnen, die von den Neonazis gern verwandte „Reichs-Kriegsflagge“, wird als einschränkende Demonstrationsauflage verboten werden.

Die NPD ist eine Partei, deren sich selbst als „nationalrevolutionär“ bezeichnender Vorsitzender u.a. gesagt hat: „Das Holocaust-Denkmal in Berlin eignet sich vorzüglich als Fundament für einen Neubau der Reichskanzlei!“, der im Zusammenschlagen von „Linken“ im schleswig-holsteinischen Landtagswahlkampf 2005 nicht mehr als eine „Abwehrmaßnahme“ zu sehen vermochte. Der dortige Fraktionschef im sächsischen Landtag gab nach der für die Neonazis triumphalen Wahl 2004 Äußerungen zum Schlechtesten wie: „Uns hat gewählt, wer noch Deutscher bleiben will.“ Und über 90 % der Wahlberechtigten, die zu Hause geblieben sind oder andere Parteien gewählt haben, wollen keine Deutschen mehr sein? Wie kommen solche Leute dazu, Mitbürgern deren Willen, sich als Deutscher zu sehen und zu fühlen, abzusprechen? Er sprach im sächsischen Landtag in Dresden vom „Bomben-Holocaust“ auf diese Stadt, als die Alliierten in einer auch heute noch und selbst in Großbritannien in ihrer Notwendigkeit zumindest umstrittenen Kriegsmaßnahme das mit Flüchtlingen aus dem Osten völlig überbelegte Dresden am 13./14.02.45 in Schutt und Asche gelegt hatten, wobei schätzungsweise 23.000-35.000 Menschen den Tod gefunden haben. Und legte damit geschickt den Finger in eine Wunde: Da es das vorrangige Ziel der alliierten Bombenangriffe war, möglichst viele Deutsche zu töten und nicht so sehr, kriegswichtige Anlagen außer Betrieb zu setzen oder gar hunderttausende Menschenleben zu retten, indem z.B. Auschwitz und andere Vernichtungslager, über deren Funktion die Alliierten u.a. durch die Kurie genau unterrichtet gewesen waren, und die dorthin führenden Eisenbahnstrecken bombardiert worden wären – die Bomber flogen über Auschwitz hinweg, ohne es anzugreifen, was relativ gefahrlos möglich gewesen wäre, da dort keine deutsche Flugabwehr zum Schutz kriegwichtiger Anlagen stationiert gewesen war -, ist der Angriff auf Dresden wohl eher als kleines Hiroshima zur Brechung des Durchhaltewillens der Bevölkerung zu werten. Mit der sprachlichen Gleichsetzung durch die Verwendung des Wortes „Holocaust“ versuchte er eine Gleichsetzung der von den Alliierten als Mittel der Kriegsführung eingesetzten Flächenbombardierung in einem ihnen von der Nazi-Führung Deutschlands aufgezwungenen Krieg mit einem von den Nazis als vorrangiges Ziel ihrer Herrschaft angesehenen ideologischen Zweck zu erreichen – und versuchte so bewusst zu vernebeln, dass Dresden ein (unverhältnismäßig eingesetztes?) Mittel der Verteidigung gewesen war, die Shoa aber ein ideologischer Zweck! Das betont auch der britische Historiker Taylor, wenn er in einem im SPIEGEL vom 13.02.05 abgedruckten Interview u.a. sagt: „Alle Seiten bombardierten im Krieg die Städte des anderen. Eine halbe Million Sowjetbürger starben in den Bombenangriffen der Deutschen, während der Invasion und der Besetzung Russlands. Das entspricht ungefähr der Anzahl der Deutschen, die bei den Angriffen der Alliierten umkamen. Aber die Bombardierungen hingen mit militärischen Operationen zusammen und endeten, sobald diese Operationen endeten. Der Holocaust und die Ermordung all dieser Millionen von Menschen, die die Nazis so sehr hassten, dass sie sie umbringen wollten, hätten jedoch nicht geendet, wenn die Deutschen den Krieg gewonnen hätten. Bombenangriffe sind eine rücksichtslose Form der Kriegsführung, aber das Wort Holocaust zu benutzen, um einen Krieg als unbarmherzig zu beschreiben, heißt zwei vollkommen verschiedene Dinge zu verwechseln. ... Auf die eigene Opferrolle zu schauen und Deutschlands unprovozierten a