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56 myops 17 / 2013 FALKO MAXIN / RUOMENG YANG In China sei die »rule by law« besser geworden, die »rule of law« aber weiterhin nicht ausreichend. So bilanzierte die deutsche Justiz- ministerin im vergangenen Juli das 12. Deutsch-Chinesische Rechts- staatssymposion in München. Eine sprachlich geschickte Differen- zierung, die Fortschritte würdigt, zugleich aber dem »sozialistischen Staat der demokratischen Diktatur des Volkes« mit seinem Primat der Politik ein weitergehendes Ziel vorhält. Westliche Beobachter der chinesischen Rechtsentwicklung knüp- fen ihre Hoffnungen auf einen chinesischen Rechtsstaat meist an Artikel 5 der chinesischen Verfassung, der seit 1999 das Prinzip des Regierens gemäß den Gesetzen sowie das Ziel der Errichtung eines »sozialistischen Rechtsstaats« proklamiert. Zudem lässt sich inzwi- schen auf eine Vielzahl von chinesischen Gesetzen neueren Datums mit rechtsstaatlichen Bausteinen verweisen. So geben beispielsweise Verwaltungsprozessgesetz (1989) und Verwaltungswiderspruchsge- setz (1999) einen gewissen Rechtsschutz gegen belastende Hoheits- akte vor. Das Staatshaftungsgesetz (1994) stellt Entschädigungs- ansprüche auf. Und im Gesetzgebungsgesetz (2000) finden sich Gesetzesvorbehalte für besonders eingriffsintensive Materien sowie Ansätze zur Etablierung einer Normenhierarchie und eines wider- spruchsfreien Rechtssystems. Konkrete Gestalt erhält ein Rechtsstaat aber erst durch seine Verfahren. Die »Legitimation durch Verfahren« 1 macht es möglich, die Versprechen des Gesetzgebers einzulösen. Unzufriedenheit lässt sich juristisch übersetzen, thematisch kanalisieren, und eventueller Protest kann absorbiert werden. Erst hier wird persönliche Macht durch eine viel anspruchsvollere Entscheidungsdetermination er- setzt. »Rule of law« ist ohne Verfahren nicht möglich. Die Anwendung des Rechts in der Volksrepublik wird wegen feh- lender Unabhängigkeit der Justiz meist weniger zuversichtlich be- urteilt als die Fortschritte der Gesetzgebung. Aber gerade auf der Rule of Law und Rule of

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56 myops 17 / 2013Falko Maxin / RuoMeng Yang

in China sei die »rule by law« besser geworden, die »rule of law« aber weiterhin nicht ausreichend. So bilanzierte die deutsche Justiz-ministerin im vergangenen Juli das 12. Deutsch-Chinesische Rechts-staatssymposion in München. eine sprachlich geschickte Differen-zierung, die Fortschritte würdigt, zugleich aber dem »sozialistischen Staat der demokratischen Diktatur des Volkes« mit seinem Primat der Politik ein weitergehendes Ziel vorhält.

Westliche Beobachter der chinesischen Rechtsentwicklung knüp-fen ihre Hoffnungen auf einen chinesischen Rechtsstaat meist an artikel 5 der chinesischen Verfassung, der seit 1999 das Prinzip des Regierens gemäß den gesetzen sowie das Ziel der errichtung eines »sozialistischen Rechtsstaats« proklamiert. Zudem lässt sich inzwi-schen auf eine Vielzahl von chinesischen gesetzen neueren Datums mit rechtsstaatlichen Bausteinen verweisen. So geben beispielsweise Verwaltungsprozessgesetz (1989) und Verwaltungswiderspruchsge-setz (1999) einen gewissen Rechtsschutz gegen belastende Hoheits-akte vor. Das Staatshaftungsgesetz (1994) stellt entschädigungs-ansprüche auf. und im gesetzgebungsgesetz (2000) finden sich gesetzesvorbehalte für besonders eingriffsintensive Materien sowie ansätze zur etablierung einer normenhierarchie und eines wider-spruchsfreien Rechtssystems.

konkrete gestalt erhält ein Rechtsstaat aber erst durch seine Verfahren. Die »legitimation durch Verfahren«1 macht es möglich, die Versprechen des gesetzgebers einzulösen. unzufriedenheit lässt sich juristisch übersetzen, thematisch kanalisieren, und eventueller Protest kann absorbiert werden. erst hier wird persönliche Macht durch eine viel anspruchsvollere entscheidungsdetermination er-setzt. »Rule of law« ist ohne Verfahren nicht möglich.

Die anwendung des Rechts in der Volksrepublik wird wegen feh-lender unabhängigkeit der Justiz meist weniger zuversichtlich be-urteilt als die Fortschritte der gesetzgebung. aber gerade auf der

Rule of Law und Rule of 法

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ebene der konkreten Streitbeilegung müsste sich eine »rule of law« bewähren.

Hier treffen Rechtskultur und allgemeine kultur zusammen. im Deutschen spannen der Begriff »Recht« und die ihn ausfüllenden Vorstellungen eine Brücke zwischen dem, was »im namen des Vol-kes« als »Recht« sanktioniert werden kann, und dem, was von der Bevölkerung als »recht« gelebt wird. Stets geht es um das »Rechte«. Wer zwischen Recht und unrecht unterscheidet, kann und will dabei nie ganz ausblenden, dass er zugleich zwischen dem Rechten und unrechten unterscheidet.

Das formale und materiale aspekte bündelnde leitbild »Recht« ist für die juristische Verfahrenskultur eine unentbehrliche grund-lage. Die Beteiligten eines gerichtsverfahrens sind auf ein ständi- ges Changieren zwischen formalen und materialen Perspektiven auf den jeweiligen Streitgegenstand angewiesen. grundlage einer erfolg-reichen Verfahrensstrategie ist selten eine formalistisch anmutende Rechtsposition. Das geheimnis ihres erfolges dürfte meist darin liegen, die eigene dogmatisch abgesicherte Position auch als die »rechte« präsentieren zu können.

gerade diese Verbindung von abstrakter Rechtmäßigkeit und gerechten Motiven im leitbild »Recht« ist der chinesischen kultur weitgehend fremd. lange haben westliche Forscher sogar geglaubt, Recht hätte in der chinesischen gesellschaft überhaupt nie eine große Rolle gespielt. insbesondere habe es traditionell kein erwäh-nenswertes Zivilrecht gegeben, das die ansprüche unter Privat- personen regelte. noch in der letzten kaiserdynastie habe man mit »Recht« vor allem Strafdrohungen gemeint, die eine auf der kon- fuzianischen Familienhierarchie basierende Sozialordnung sichern, nicht aber diese selbst konstituieren sollten. Das Standardwerk von Derk Bodde und Clarence Morris2 zeigte, wie das imperiale Recht Chinas die hierarchischen Verhältnisse der patriarchalen Familie, zwischen eltern und kindern, zwischen ehemann und ehefrau, mit den Machtbeziehungen im Staatswesen und der gesellschaft ana-logisierte. Das Sicheinfügen in den kosmos der Familie als Teil des kosmos des Himmels mit seinem Himmelssohn, dem kaiser, war der eigentliche inhalt des Rechts.

Mittlerweile wird von der Wissenschaft deutlich mehr Recht in der chinesischen Tradition erkannt. Philip Huang plädierte für die unterscheidung zwischen einer ideologischen Repräsentation des Rechts durch die kaiserliche administration und den praktischen

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Realitäten des Rechts vor ort.3 er machte auch schon für die kai-serzeitliche gesellschaft zivilrechtliche ordnungen beobachtbar und stieß zahlreiche weitere Studien an. So weiß man beispielsweise nun, dass um ländliche gerichte nicht selten ein erstaunlich reges Treiben herrschte und oft sogenannte »Meister des Rechtsstreits« zum ent-setzen lokaler Magistrate den Bauern bei der Verfolgung ihrer Rechte halfen.4

ein dem deutschen »Recht« vergleichbares leitbild dürfte sich in China trotzdem nicht finden lassen. Der grundlegende Begriff im Chinesischen, der unserem »Recht« am nächsten kommt, ist 法 (fa). Dieses heute gebräuchliche Zeichen ist eine optisch vereinfachte Form von 灋 (fa). in seiner noch älteren gestalt als (fa) wird es vom ersten Zeichenlexikon der chinesischen Schrift aus dem Jahr 121, dem Shuowen jiezi (說文解字), folgendermaßen erklärt: meine Strafe; es sei so eben und glatt wie das Wasser, weswegen das Zeichen für Wasser (im heutigen Chinesisch: 水 / shui, Wasser) ein grund-bestandteil sei (linke Seite); die weitere komponente (rechts oben) (im heutigen Chinesisch: 廌 / zhi) sei ein Tier mit der Fähigkeit, aus einer Menge von Verdächtigen die gesuchten Täter aufzuspüren und anschließend zu beseitigen. Daraus erkläre sich auch der dritte Bes-tandteil (rechts unten) (im heutigen Chinesisch: 去 / qu, beseitigen oder entfernen). Deutlich ist die ursprüngliche Bedeutung als Strafe. 法 (fa) verbindet sich traditionell mit der Vorstellung, dass es um eine durch höhere autorität auferlegte und mit Strafe bewehrte ordnung geht, an welche sich die Menschen anzupassen haben. Die positive konnotation von Recht als Freiheitssicherung fehlt dem chinesischen法 (fa) gänzlich. es repräsentiert eine bloße »rule by law«, die das Recht nur als sekundäres instrument nutzt.

im heutigen Sprachgebrauch steht 法 (fa) im Wesentlichen für »gesetz« und bezeichnet damit das positivierte, förmliche Recht. um materiale gerechtigkeitsfragen anzusprechen, bezieht man sich nicht auf 法 (fa), sondern in der Regel auf 义 (yi) oder 正义 (zhengyi), was sich als »das Rechte«, »gerechtigkeitssinn« oder »Rechtschaffen-heit« übersetzen lässt und eine der konfuzianischen kardinaltugen-den darstellt. 义 (yi) steht traditionell sowohl für das, was einem als Pflicht vorgegeben ist, als auch für das, worauf man ein Recht hat. es bezieht sich dabei jeweils auf das für eine konkrete konstellation angemessene und Billige. 义 (yi) lässt sich schwer als inhalt einer ab-strakten Rechtsordnung oder »rule of law« vorstellen. es ist vielmehr das ideal einer »rule of people«.

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Die Behauptung eines anspruchs als Recht im Sinne von 法 (fa) gilt in China dementsprechend deutlich seltener als hierzulande als der richtige Weg, seine Position zum ausdruck zu bringen. Für die deutsche Rechtswissenschaft sind subjektive Rechte seit dem 19. Jahrhundert die grundbausteine der Rechtsordnung. Das Denken in materiellrechtlichen ansprüchen ist heute selbstverständlich und dem Rechtssoziologen luhmann zufolge sogar eine weitere Con- ditio-sine-qua-non eines modernen Rechtssystems.5

Bevor man in China begann, sich mit westlichem Recht auseinan-der zu setzen und dieses zu rezipieren, existierte kein dem westlichen »subjektiven Recht« entsprechendes konzept. Der gedanke von sub-jektiven Rechten war nicht vorhanden und deshalb auch sprachlich nicht auszudrücken, da es kein solches Schriftzeichen gab. als erster und wirkmächtigster Versuch, diesen gedanken ins Chinesische zu übertragen, gilt die Übersetzung des englischen »rights« durch den amerikanischen Missionar William a. P. Martin aus dem Jahr 1864. Dieser bediente sich dabei einer künstlichen und neuen Zeichenkom-bination. er stellte das traditionelle Zeichen 权 (quan) mit Macht als ursprünglicher Bedeutung und 利 (li) mit interesse, Vorteil oder ge-winn als gebräuchlichem inhalt zusammen und übersetzte so »right« mit dem neuen und heute noch allgemein verwendeten Begriff 权利 (quanli). Wiederum ist die Semantik von 权利 (quanli) weit entfernt von der des subjektiven Rechts.

Die Doppeldeutigkeit des Begriffs 权利 (quanli), der auch in seiner heutigen Verwendung noch Macht und Recht vermischt, war für die ersten chinesischen Übersetzer westlicher Rechtsliteratur kein großes Problem. Sie erklärten schlicht, der Begriff drücke nun nicht mehr bloß die Machtposition einer Person, sondern auch »the share ordi-nary people ought to obtain (›rights‹)« aus.6 Bei 权利 (quanli) geht es mehr um Teilhabe auf grund von Status in einer gemeinschaft als um durchsetzbare ansprüche gegenüber staatlicher Hoheit. es bleibt immer die politische »rule over law«.

Die zweite Zeichenkomponente 利 (li) lässt sich in der chinesi-schen Vorstellung leicht mit dem gedanken des persönlichen eigen-tums in Verbindung bringen. auf Freiheit oder gesundheit als in-dividuelle güter kann sie aber nur sehr schwer bezogen werden. Vor allem aber ist 权利 (quanli) im gegensatz zum subjektiven Recht, dem juristischen ausdruck von Freiheit schlechthin, moralisch-ethisch eher negativ besetzt. 利 (li) ist im konfuzianischen Sinne gerade als das gegenteil der kardinaltugend (s. o.) 义 (yi) bestimmt.

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Den moralischen gegensatz der beiden Begriffe macht ein berühmter ausspruch des konfuzius (lunyu 4, 16) deutlich: »Der edle versteht sich auf das, was recht ist [义 (yi)]; der gemeine versteht sich auf das, was Vorteil bringt [利 (li)].« und konfuzius warnt (lunyu 4, 12): »Handelt man auf Vorteil [利 (li)] gerichtet, so gibt es viel groll.«7 in der chinesischen Tradition hat 义 (yi) stets den Vorrang vor 利 (li), und letzteres ist nicht von sich aus positiv konnotiert.

Dem chinesischen »subjektiven Recht« als 权利 (quanli) fehlt daher ein ethisch positiver Bedeutungsgehalt. es wird heute vor allem als funktionaler Terminus in juristisch-technischen kontex-ten gebraucht. Wer in China die Durchsetzung eines anliegens in der Form eines rechtlichen anspruchs verfolgt, kann also nicht auf einen legitimitätsvorschuss hoffen, wie es hierzulande derjenige kann, der lediglich sein »gutes Recht« geltend macht. Dementspre-chend wird konfliktlösung in China auf sehr pragmatische und sel-ten rein juristisch formalisierte Weise angegangen. Die kosten einer Durchsetzung per streitiger gerichtsentscheidung werden dabei häu-fig als zu hoch eingeschätzt, Vergleich und Mediation erfreuen sich aber großer Beliebtheit.

natürlich ist die Realität des Rechts und seiner institutionen im Reich der Mitte komplexer als seine sprachliche Repräsentation. auch hängen Wünsch- und Machbarkeit eines Rechtsstaats nicht allein von semantischen Chancen ab. experten verweisen durchaus auf wach-sende Möglichkeiten und zunehmende Bereitschaft der chinesischen Bürger, juristisch-staatliche institutionen für die eigene interessen-verfolgung zu engagieren.8 an juristischen Fakultäten in China gilt die »rule of law« als erstrebenswertes ideal. aber es geht längst nicht mehr um den bloßen Transfer einer westlichen gesellschaftstech-nologie. in China hat sich eine selbstbewusste Rechtswissenschaft entwickelt. Die Rezeptionsvorgänge seit dem 19. Jahrhundert sieht man nicht mehr einfach als Übertragungen fortschrittlicher kon-zepte auf dem Weg zur Moderne. Vielmehr werden die verschlun-genen Wege der umdeutung, anpassung und schöpferischen Wei-terentwicklung hervorgehoben. Zugleich sind Rechtswissenschaft und Theorie darauf bedacht, individuelle Rechtspositionen mit der chinesischen Tradition sowie lokalen gewohnheiten in einklang zu bringen und durch eine »lehre von den subjektiven Rechten als Standard der Rechtsordnung« zu schützen.9 Diese Betonung der kul-turellen eigenständigkeit, sowohl mit Blick auf die geschichte als auch auf künftige Ziele, sollten Dialogpartner Chinas ernstnehmen.

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es geht nicht darum, wann endlich sich »rule of law« gegen »rule by law« durchsetzt, sondern vielmehr darum, was der inhalt einer zu-künftigen »rule of 法« sein wird. ein Dialog, auch ein Rechtsstaats-dialog, bedarf einer gemeinsamen Sprache.

Falko Maxin / RuoMeng Yang

anmerkungen

1 niklas luhmann, legitimation durch Verfahren, Frankfurt a. M. 1969. 2 law in imperial China. exemplified by 190 Ch’ing Dynasty Cases, Philadelphia 1967. 3 Civil Justice in China. Representation and Practice in the Qing, Stanford 1996. 4 Melissa Macauley, Social Power and legal Culture. litigation Masters in late imperial

China, Stanford 1998. 5 niklas luhmann, Subjektive Rechte: Zum umbau des Rechtsbewußtseins für die

moderne gesellschaft, in: Ders., gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen gesellschaft, Band 2, Frankfurt am Main 1993, S. 45 – 104.

6 Rune Svarverud, The notions of ‘Power’ and ‘Rights’ in Chinese Political Discourse, in: Michael lackner, iwo amelung and Joachim kurtz (eds.), new Terms for new ideas. Western knowledge and lexical Change in late imperial China, leiden et al. 2001, pp. 125 – 144, 134.

7 Beides zitiert nach ulrich unger, grundbegriffe der altchinesischen Philosophie. ein Wörterbuch für die klassische Periode, Darmstadt 2000, S. 56.

8 neil J. Diamant, Stanley B. lubman and kevin J. o’Brien (eds.), engaging the law in China. State, Society, and Possibilities for Justice, Stanford 2005.

9 Robert Heuser, Subjektives Recht und Rule of law in China: Rechtstheorie und Rechtssystem, in: Matthias kötter, gunnar Folke Schuppert (Hg.), normative Plura-lität ordnen. Rechtsbegriffe, normenkollisionen und Rule of law in kontexten dies- und jenseites des Staates, Baden-Baden 2009, S. 231 – 256.