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1 Schauspielhaus Zürich Zeitung #6

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SchauspielhausZürichZeitung#6

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2 3 Barbara Frey

Der Himmel auf Erden

Inhalt

3 Vorwort

4 Jan Assmann über das Buch Genesis – „Genesis. Die Bibel, Teil 1“ im Schiffbau/Halle

7 Köbi Gantenbein über Baumeister Solness und die Architekten – „Baumeister Solness“ im Pfauen

9 Das Paradies hat eine Heimat – „Heidis Alptraum. Ein assoziatives Alpenexperiment“ im Pfauen/Kammer

12 Gesamtkunstwerk Theater – Der Regisseur Sebastian Baumgarten im Porträt

14 Schon gesehen? Szenen aus dem Repertoire – Fotogalerie

20 Die Scherben des Unbewussten – Gespräch mit dem Regisseur Bastian Kraft

22 Das Leben untersuchen – Franziska Machens im Porträt

24 Geschichte einer ungleichen Freundschaft – „Pünktchen & Anton“ im Pfauen

26 Einmal bis ganz nach oben – Schicht mit der Theaterplastikerin Christine Rippmann

28 Erproben der Sprache – Ins Theater mit Ilma Rakusa 30 Neulich in Zürich – Kolumne von Lukas Bärfuss

TitelJörg Ratjen, Susanne-Marie Wrage, Christian Baumbach in „Genesis. Die Bibel, Teil 1“

RücktitelRoger Bonjour und Tobias Bienz in „Heidis Alptraum. Ein assoziatives Alpenexperiment“

Dass es keinerlei „Himmel“ geben könne, war schon dem ganz jungen Friedrich Nietzsche klar: „Dass Gott Mensch geworden ist, weist nur darauf hin, dass der Mensch nicht im Unendlichen seine Seligkeit gründen soll, sondern auf der Erde seinen Himmel gründe; der Wahn einer überirdischen Welt hatte die Menschengeister in eine falsche Stellung zu der irdischen Welt gebracht.“

Nietzsches Idee, den Himmel auf Erden zu gründen und allen transzendentalen Sehnsüchten abzuschwören, ist noch heute einleuchtend und man kann sich sehr behaglich fühlen in einer komplett säkularisierten Welt. Tröstungen scheint es genügend zu geben im konsumgesättigten Diesseits. Trotzdem sind die Grenzen unserer Selbstgewissheit immer wieder und immer öfter spürbar. Die Medienlandschaft, unser moderner Orakel-Ersatz, ist voll von Berichten über den Zweifel an den Errungenschaften der exakten Wissenschaften, den Verlust direkter Kommunikation in einer digitalen Welt, die Grenzen der Rechtsprechung, das Scheitern der Psychoanalyse – und nicht zuletzt über beängstigende Szenarien des Niedergangs jeglicher Liebesromantik zwischen den Menschen. Um der wachsenden Beunruhigung entgegenzuwirken, müssen in der Katastrophen-Hierarchie zumindest die ganz grossen Ereignisse wegmoderiert werden. Im Imaginären aber, in den verschiedensten Kunstformen, verschwinden weder die Katastrophen, noch die transzendentalen Sehnsüchte, noch der Diskurs darüber. Das, zumindest, ist tröstlich.

„Fukushima“ zum Beispiel ist in der grossen Öffentlichkeit fast versickert, buchstäblich zu Tode mediatisiert worden. In Bice Curigers Ausstellung „Deftig Barock“ im Kunsthaus hat die amerikanische Künstlerin Diana Thater als böses, unheimliches Echo auf die vermeintlich länger zurückliegende Tschernobyl-Katastrophe eine Videoarbeit gezeigt, in der Urpferde und Schwäne zu sehen sind, die die zerstörte Trümmerlandschaft neu bevölkern. Man sah eine Art Wiederkehr eines

Paradieses, aus dem der Mensch verschwunden ist – und in dem auch die Tiere nicht mehr lange sein werden.

Die zweifelhaften Heldinnen und Helden von Ibsen bis Brecht, von Shakespeare bis Hesse und Harrower sind alle auf einer „mission impossible“ zwischen ihrer Hybris und dem gleichzeitigen Wissen um die Vergeblichkeit ihrer Anstrengungen; sie bekommen keine Antworten auf die bohrenden Fragen, die sie der Menschheit stellen. Sie sind, wie Nietzsche meinte, „in eine falsche Stellung zu der irdischen Welt“ geraten, verloren gegangen in einer Ruinenlandschaft aus zerbrochenen Ritualen. Dass der Himmel nicht im Himmel ist, mögen sie begriffen haben, aber ob er auf der Erde sein kann, ist mindestens so fragwürdig.

Als Partner stehen wir dem Schauspielhaus Zürich tatkräftig zur Seite.

Grosse Auftritte sind ohne starke Partner im Hintergrund nicht denkbar. Deshalb unter stützen wir das Schauspielhaus Zürich und andere ausgewählte Kultur institutionen. Erfahren Sie mehr über unser kulturelles Engagement unter www.swissre.com/sponsoring

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„Jetzt nimmt er mir auch noch den Segen.“ – Christian Baumbach und Michael Neuenschwander als Esau und Jakob

Das Buch Genesis

Der Religionswissenschaftler und Ägyptologe Jan Assmann schreibt über das 1. Buch der Bibel als Mythos, Geschichte und grosse Literatur.

Das Buch Genesis ist der erste Teil eines Geschichtswerks, das mit der Schöpfung beginnt und mit der Gründung des Volkes Israel am Sinai endet. Man nennt dieses ursprüngliche, aus den Teilen Genesis = „Entstehung“ (der Welt) und Exodus = „Auszug“ (aus Ägypten) bestehende Werk „Priesterschrift“, denn der mit der Schöpfung anhebende Erzählbogen endet nicht etwa mit Staatsgründung und Verfassung, sondern mit der Errichtung eines Zeltheiligtums, in dem Gott „inmitten seines Volkes“ Wohnung nimmt. Der Bogen führt also von der intimen Gottesnähe der Schöpfung über die äusserste Gottesferne in Ägypten zur institutionalisierten Gottesnähe durch Heiligtum und Priestertum am Sinai, zwischen Ägypten und Kanaan.Als Geschichtsschreibung folgt die Priesterschrift dem Vorbild Babyloniens und Ägyptens, deren Königslisten auch mit der Entstehung der Welt beginnen und anhand der Regierungszeiten ihrer Herrscher ein lückenloses chronologisches Gerüst erstellen. Die Priesterschrift übernimmt das Prinzip, ersetzt die Regierungszeiten aber durch Generationen, hebr. toledôt, eigentlich „Zeugungen“ von jalad „zeugen“. An die Stelle der herrscherlich-politischen tritt hier die genealogisch-biologische Kontinuität. Indem die Priesterschrift dieses chronologische Gerüst narrativ ausgestaltet, fügt sie auch bestehende Erzählungen aus älteren Traditionen ein, wobei sich gelegentlich Dubletten und Widersprüche ergeben. Ihre Entstehung datiert man ins späte 6. Jahrhundert v. Chr. Später wurden Einschübe sowie zwei weitere Bücher (Leviticus und Numeri) hinzugefügt und zuletzt wurde sie mit einem anderen Geschichtswerk, dem Deuteronomium, zum Pentateuch (5-Bücher-Schrift) oder Tora verbunden.

Altorientalische Geschichtsschreibung ist und will etwas anderes als das, was wir seit den Griechen darunter verstehen. Sie macht keinen Unterschied zwischen Geschichte und Mythos, dokumentierten

Ereignissen und fundierenden Erzählungen. Sie ist selbst eine fundierende Erzählung, die in der Art des Gedächtnisses eine gegenwärtige Situation – die Wiedererfindung Israels nach der Katastrophe und der Rückkehr aus dem Exil – auf den Boden einer Identität und Kontinuität verbürgenden Vergangenheit stellt. Vom Mythos unterscheidet sie das strenge chronologische Gerüst, von Geschichte die weitgehende Fiktionalität dieses retrospektiven Selbstentwurfs.

Wie schon die ursprüngliche Priesterschrift zweigeteilt ist, in Vorgeschichte (Genesis) und Geschichte (Exodus), ist auch das Buch Genesis zweigeteilt: in Urgeschichte (1–11) und Vätergeschichte (12–50). Aber auch die Urgeschichte ist durch die starke Zäsur der Sintflut zweigeteilt, von Adam bis Noah (2–9) und von Noah bis zum Turmbau zu Babel (9–11). Anders als das Buch Exodus, das etwas stringenter durcherzählt ist, ist das Buch Genesis reich an längeren und kürzeren Einzelerzählungen, bis hin zur Übernahme eines babylonischen Mythos (Sintflut) und eines literarisch anspruchsvollen „Romans“ (Josefsgeschichte). Die Schrift beginnt mit dem Bericht der Welt- und Menschenschöpfung, an den sich dann ein der älteren Quelle „J“ entnommener, auf die Menschen konzentrierter zweiter Schöpfungsbericht anschliesst. (J steht für den Gottesnahmen Jahweh, den diese Quelle verwendet, im Unterschied zu Elohim, dem von der Priesterschrift verwendeten Gottesnamen.) Auch im ersten Schöpfungsbericht herrscht die chronologische Ordnung. Der Bericht gliedert die Weltentstehung in sechs Tage Arbeit und einen Tag Ruhe, nach dem von J. G. Herder um 1775 entdeckten Schema:

ILicht

II IIIHimmel & Erde

IVZeit (Sonne, Mond und Sterne)

V VIWasser- & Lufttiere Erdtiere & Menschen

VIIRuhe

Gott erschafft die Welt nicht aus einem Stoff, sondern durch sein Wort. Damit ist die grösstmögliche Distanz zwischen Schöpfer und Schöpfung gesetzt. Gott hat die Welt gerufen und er kann sie auch widerrufen. Der zweite Schöpfungsbericht (J) erzählt von der Erschaffung Adam und Evas, dem Paradies und dem Sündenfall. Hier geht es um die Fundamentalien des Menschseins: Scham und Schuld, Liebe und Fruchtbarkeit, Arbeit, Mühe, Schmerzen und vor allem: den Tod und das Wissen darum. Vom Baum der Erkenntnis haben die Menschen gegessen, aber bevor sie auch vom Baum des Lebens essen und unsterblich werden konnten, wurden sie aus dem Paradies vertrieben. In beiden Versionen geht es um die Entzauberung der Welt. Während nach ägyptischer Vorstellung zum Beispiel die Welt aus der Sonne entsteht, wird die Sonne hier erst am vierten Tag geschaffen, wie eine Lampe an den Himmel gehängt und durch ihre Bewegung als Uhr verwendet. Der Mensch wird angehalten, sich die Erde mit allen Lebewesen untertan zu machen (anstatt sie anzubeten) und zudem wird sie durch den Sündenfall mit einem Fluch belegt.

Dessen Wirksamkeit zeigt sich schon in der nächsten Generation mit dem Brudermord von Kain, dem Ackersmann, an Abel, dem Hirten. Der Konflikt von Bauer und Hirte liegt vielen Erzählungen zugrunde; in der Bibel aber verbindet er sich mit dem Begriff der „Sünde“, die dem Menschen auflauert. Die auf Erden überhandnehmende Gewalt und Bosheit lässt Gott die Schöpfung bereuen, sodass er zuletzt die Flut schickt, die alles Leben auf Erden auslöscht und nur Noah mit seiner Familie und den in die Arche geretteten Tieren verschont. Der Flutmythos ist mit vielen Einzelheiten mesopotamischen Vorlagen entnommen. Mit Noah und seiner Familie macht Gott einen neuen Anfang und schliesst einen Bund, der für alle Menschen gelten und die Gewalt einschränken soll. Auch er selbst verspricht, nie wieder eine Sintflut zu schicken und setzt zum Zeichen der Versöhnung den Regenbogen an den Himmel. Die Urgeschichte endet mit dem Turmbau zu Babel, dem Symbol des

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6 7 Essay

Grossreichs, in dem sich die Menschen „einen Namen machen“ wollen, um nicht „zerstreut zu werden über die Erde“. Gott vereitelt den Plan, indem er die Sprachen trennt und damit Einheit und Weltherrschaft verhindert.

Mit der Berufung und Auswanderung Abrahams aus Mesopotamien setzt Gott wieder einen neuen Anfang, jetzt aber nicht absolut wie mit Noah, sondern unter den Bedingungen der bevölkerten Welt. Damit beginnt die Vätergeschichte in der Form dreier Novellenzyklen um Abraham, Isaak und Jakob. Mit Abraham schliesst Gott einen zweiten Bund, der aber nun nicht der Menschheit, sondern „Abrahams Samen“, dem aus ihm hervorgehenden und durch das „Zeichen der Beschneidung“ aus den anderen Völkern ausgegrenzten Volk gilt – eine gewaltige Verheissung, die sich jedoch zunächst nicht erfüllen will, denn Sarah, Abrahams Frau, ist unfruchtbar. Endlich wird der Sohn, Isaak, geboren – und dann verlangt Gott, dass Abraham ihn als Opfer schlachten und darbringen soll. Abraham gehorcht schweigend dem absurden Ansinnen und besteht die furchtbare Prüfung, aber Isaak wird im letzten Augenblick gerettet und durch einen Widder ersetzt. Isaak und Rebekka bekommen Zwillinge: Jakob und Esau. Esau kommt zuerst aus dem Mutterleib, aber Jakob wird sich das Erstgeburtsrecht und den Segen erschleichen. Immer wiederholt sich das Schicksal, dass einer verstossen wird: Ham deckte die Blösse des schlafenden Noah auf und so wurde sein Sohn Kanaan verflucht (und zum Stammvater der Kanaanäer); Ismael, Abrahams erster Sohn, war von einer Magd geboren und wurde auf Sarahs Bitte verstossen (und zum Stammvater der Araber); Esau musste auswandern und wurde zum Stammvater der Edomiter.

Mit Jakob kommt die Verheissung ihrer Erfüllung einen grossen Schritt näher, denn er wird mit seinen beiden Frauen Lea und Rachel und deren Mägden Bilha und Silpa zum Vater von 12 Söhnen, den Stammvätern der 12 Stämme. Er ist es auch, der sich beim nächtlichen Ringen am Jabbok – mit wem auch immer – den Namen „Israel“ erwirbt. Doch

kommt es auch hier wieder zu einer Verstossung. Josef, der Sohn der Rachel, erregt die Eifersucht seiner Brüder, die ihn in einen Brunnen werfen und dann nach Ägypten verkaufen. Diesmal aber folgt die Erzählung dem Verstossenen und nicht der Hauptlinie. Damit verlagert sich die Handlung nach Ägypten.

Im Gegensatz nun zum Jakob-Zyklus ist die in den Kapiteln 37 bis 50 erzählte Josefsgeschichte, sieht man einmal von dem eingeschobenen Kapitel 38 mit der Tamar-Novelle ab, kein Novellenkranz, sondern eine durchkomponierte Lang-Erzählung, die man in den Grössenordnungen der damaligen Schriftkultur einen „Roman“ nennen könnte. Dazu kommt eine inhaltliche Besonderheit: In den Abraham-, Isaak- und Jakobsgeschichten tritt Gott ständig auf, redet entweder real oder im Traum mit den Personen und gibt ihnen Direktiven. Das ist mit Josef völlig anders. Zwar wird auch hier viel geträumt, aber Gott spricht kein einziges Mal zu Josef oder dem Pharao im Traum, sodass diese Träume rein bildlich, nicht sprachlich sind und gedeutet werden müssen. Jakob dagegen wird auch hier einer Traumrede Gottes gewürdigt (46, 2–4). Der „Josefsroman“ ist also viel weltlicher und realistischer als die anderen Vätergeschichten. Ausserdem spielt er weitgehend in Ägypten, das hier so ausführlich wie sonst nie wieder in der Bibel in seinen Gebräuchen und Institutionen dargestellt wird.

Stärker als alle anderen Erzählungen der Bibel hat der Josefsroman in die Weltliteratur ausgestrahlt. Im Koran bildet er das Thema der 12. Sure, jüdische, persische und christliche Romane erzählen ihn weiter bis hin zu Thomas Manns Josephstetralogie. Überall bildet die Episode mit Potiphars Weib Höhe- und Mittelpunkt der Erzählung. Im kulturellen Gedächtnis lebt Joseph als Inbegriff der Keuschheit und Gesetzestreue, der auch in der Situation höchster Versuchung der „Sünde“ widersteht. In der Bibel jedoch liegt der Höhepunkt ganz woanders. Die Episode der versuchten Verführung, die einem ägyptischen Vorbild, dem

Zweibrüdermärchen, entnommen ist, soll nur erklären, wie Josef ins Staatsgefängnis und damit in die Nähe des Königs gekommen ist, dessen Träume er dann als Einziger deuten kann. Als er daraufhin zum Grosswesir aufsteigt und die von der allgemeinen Hungersnot nach Ägypten getriebenen Brüder empfängt, gelangt die Erzählung auf ihren Höhepunkt und malt in mehreren Kapiteln die Wiederbegegnung und endliche Wiedererkennung der Brüder aus. Mehrfach bricht Josef dabei in Tränen aus. In ihrer empfindsamen Psychologie hat die Erzählung in der altorientalischen Literatur nicht ihresgleichen.

Die biblische Josefsgeschichte ist ein Diaspora-Roman, der zeigt, zu welchen allerhöchsten Ehren ein Jude in der Fremde aufsteigen kann, wenn er Treue und Assimilation zu verbinden weiss. Im Rahmen der Priesterschrift oder der Tora, in die er vermutlich nachträglich integriert wurde, bildet er das Ende der Vorgeschichte und den Übergang zur Hauptgeschichte. Er erzählt den Einzug, dem dann der im Buche Exodus erzählte Auszug folgt und erklärt, warum es überhaupt zum Aufenthalt der Kinder Israels in Ägypten kam. Biblische Geschichtsschreibung verbindet nicht nur Mythos und Geschichte, sondern auch – das zeigt sich hier besonders deutlich – grosse Literatur.

Genesis. Die Bibel, Teil 1Regie Stefan Bachmann, Bühne Simeon Meier, Kostüme Annabelle Witt, Musik Max Küng, Video Christoph MenziMit Christian Baumbach, Timo Fakhravar, Fritz Fenne, Marek Harloff, Simon Kirsch, Niklas Kohrt, Julia Kreusch, Michael Neuenschwander, Jörg Ratjen, Susanne-Marie WrageNoch bis 23. Oktober im Schiffbau/Halle

„Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben.“aus „Genesis. Die Bibel, Teil 1“

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Baumeister Solness und die Architekten

Köbi Gantenbein, Chefredakteur von „Hochparterre“, denkt über die Soziologie des Architekten nach – anlässlich von Barbara Freys Inszenierung von „Baumeister Solness“ im Pfauen.

Baumeister Solness weiss, wie die Welt funktioniert. Er hat Anspruch, Werte und Kommandoton. Auf seinen Schultern liegt eine jahrhundertealte Zumutung: Die Welt lenken, der Vordermann sein, mit Hauen und Stechen das eigene Weltbild durchsetzen. Gegen den Widerstand von Gesellschaft und Material. Solness aber ist der Getriebene, kein Treibender. Wenn er treibt, dann seine Angestellten. Auf seinem Buckel drückt „Arché“ den Charakter: die Last des Führens ohne Macht. Der „Architéktos“ machte in der griechischen Antike Karriere als Vordermann auf dem Bau. Sklavenarbeit zwar, aber nahe an der Macht. Er war zuständig für deren bauliche Gestalt. Dafür musste er sich aber mit dem Bildhauer messen, der höher im Ansehen stand. Vor allem aber war er der Organisator und der Statiker, der die Häuser gegen die Fremden sicherte. Parallel mit den Kriegstechniken wuchs sein Können, das in der Karriere als Festungsbauer grösseren Glanz erfuhr als im Design von Räumen, Fassaden und Plätzen. Der römische Baumeister Vitruv war kein Schöngeist, sondern ein erfahrener Militäringenieur, bevor er seine zehn Bücher zur Architektur schrieb, die ihn zum Gründervater der abendländischen Architekturtheorie machten. Militäranlagen und Heerstrassen nehmen in den Werkverzeichnissen von Michelangelo, Bramante und Leonardo da Vinci viel Platz ein. Wie sie sassen die grossen Baumeister des Mittelalters und der Renaissance immer in unmittelbarer Nähe zu Kirchen- und Weltfürsten. Sie waren deren Bühnenbildner und ihnen als Dienstadelige verpflichtet. Oft von bescheidener Herkunft, gar Bergbuben aus dem Tessin. Präzise hat Henrik Ibsen die Soziologie des Architekten begriffen: Er sitzt am Tischlein der Mächtigen und übernimmt, als Handwerker in den höheren Dienstadel aufgestiegen, deren Habitus und Gestus. Eine bemerkenswerte Figur in der grossen Zeitenwende des Abendlandes

im 18. Jahrhundert war Claude-Nicolas Ledoux, einer der letzten „Architectes du Roi“ von Versailles. Er baute für den König, den Kardinal, den General der Schweizergarde und die Maitressen in nüchtern klassizistischem Stil. Plastisch stark wirkende Bauten, mit klar gegliederten Fassaden, wohl geordnet und gesittet. Seine wenigen übrig gebliebenen Bauten lassen eine Saite in meinem Herzen klingen – ihre räumliche Ordnung ist wunderschön. Ledoux galt, obschon von kleiner Herkunft, dank seiner Manieren als Liebling des Hofes. Sein erster Bau war das Café Militaire, der Treffpunkt der alten Pariser Gesellschaft. Die lebte aber nach dessen Eröffnung nicht mehr lange, ihr Bühnenbildner schon. Dank seines rhetorischen Talents konnte er nach der grossen Revolution das Volkstribunal 1795 überzeugen, ihn nicht aufzuhängen. Er deutete dem Tribunal seine Bauten für das repressive Zollsystem des Königs, sein Lustschlösschen für Madame Dubarry und seine baukünstlerische Meisterleistung für die königlichen Salinen in Chaux als Vorboten republikanischen und demokratischen Lebens. Claude-Nicolas Ledoux hat dank eines Könnens

überlebt, das zum Beruf des Architekten gehört. Er war ein perfekter Opportunist, der die Druck- und Zugkräfte kühl berechnet und sich als sozialer Aufsteiger in ihnen einzurichten im Stande ist. Henrik Ibsen zeigt, wie diese Forderung den Baumeister Solness zerreisst. Und er bildet damit ein Leiden ab, das etlichen Architekten auch heutzutage ihren Beruf versauert.

2500 Jahre im Dienst von Macht, als Führer des Baus und dennoch nur Dienstadel, mitten im Getriebe und, wenn es die Not erfordert, eleganter Opportunist – das bestimmt die kulturellen Gene von Baumeister Solness. Das prägt den Charakter von Jahrhundertbaumeistern wie Le Corbusier, der sich skrupellos dem Vichy-Regime in Frankreich andiente und davon träumte, für Mussolini bauen zu können. Die jahrhundertealte Zumutung drückt auf das Werk des in den Adelsstand beförderten zeitgenössischen Grossarchitekten Norman Foster und seines japanischen Starkollegen Kisho- Kurokawa, die für den Tyrannen und Erdölfürsten Nursultan Nasarbajew vor ein paar Jahren Astana geplant haben, eine neue Hauptstadt für

Robert Hunger-Bühler und Franziska Machens in „Baumeister Solness“

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8 9 Reportage

Heidi ist die Schweiz und die Schweiz ist Heidi: Natur, Idyll und Alpenglühen – es geht um paradiesische Werte. Zusammen mit Schauspielstudenten der Zürcher Hochschule der Künste untersucht Hannes Weiler in der Kammer des Pfauen das Potential des Heidi-Stoffes auf Bruchstellen im alpinen Mythos. Dass sich das Heidi als Botschafterin ihres Landes in den Vordergrund drängt, führt zu der Frage, ob hier und heute das Heidi und ihr Paradies aufzuspüren sind …Von Meike Sasse

Das Paradies hat einen Namen. Heidiland. Und da fahre ich nun hin. Aber wo soll das sein? – Im „fact sheet“, dem Informationsblatt der Heidiland

Tourismus AG, ist die Region zwischen Weesen und Malans, vom Walensee bis zur Bündner Herrschaft ausgewiesen. Insgesamt gehören 17 Gemeinden und 39 Ortschaften zu diesem Gebiet. Dem war aber nicht immer so. Als 1997 die Ferienregion Sarganserland-Walensee mit 14 Gemeinden offiziell in Heidiland umgetauft wurde, hatte dieser Marketingkniff noch einen kleinen literarischen Kunstfehler: Heidis „tatsächliches Heimatdorf“ Maienfeld machte im Tourismusverband nicht mit. Die Kantonsgrenzen schlängeln sich durch den Rhein, Wirtschaftsförderungsgelder flossen also getrennt voneinander. Somit verlegte die Heidiland AG die Topographie des Heidi-Paradieses auf

das andere Rheinufer; der Kurort Bad Ragaz avancierte zum neuen „Dörfli“. Und das ist längst noch nicht alles: Auf einem vergnüglichen Heidipfad erreicht der neugierige Ausflügler die als Heidialp bezeichnete Bergwiese Schwarzbüel, auf welcher er auf den Alp-Öhi Heini trifft; es gibt ein Heidi-Festival, ein Heidi-Treffen sowie eine extra eingestellte Geissenhirtin, die jeden Tag mit ihren vielen Ziegen vom Dorfplatz Vilters in die Berge zieht. Eine offensiv gelenkte Touristisierung. Heidiho. Nach dieser Vorrecherche ahne ich Unausweichliches: Es wird vermarktet, was es zu vermarkten gibt. Die Konsequenz daraus: jodelnde Japaner, mit Geissen spielende Saudis,

Kasachstan mit monströsen Hausungetümen mitten in der Steppe. Die grossen Spannungen zwischen Form und Sinn haben wohl auch die Architekten Herzog & DeMeuron ab und zu unruhig schlafen lassen, die mit dem technisch und gestalterisch grossartigen Stadion für die olympischen Spiele in Peking den chinesischen Machthabern zu einem grossartig bengalisch beleuchteten Auftritt verholfen haben. Die opportune Not und Wendigkeit beschäftigt natürlich nicht nur die Architekten der grossen und weltweit leuchtenden Gesten, sie bestimmt auch den Bauplatz der Alltäglichkeiten mit. Architekten von Hans Feldwaldwiesen bis zu Maria Muster verstehen es gut, sich in die Richtung zu drehen, die ihnen Auftraggeber und Investor vorgeben. Noch ein Haus in den ehemaligen Park stopfen? Bitte sehr. Eine Fassade, vorgefertigt, in China? Warum nicht. Ein altes Bauernhaus mit dickem Polster in ein Minergie-P-Monster verwandeln? Jawoll. Noch ein Zweitwohnungshaus, bevor am 31. Dezember die Schranke herunterfällt? Gewiss, kostet aber zehn Prozent extra fürs Pressieren. Baumeister Solness ist nicht nur ein

Getriebener und Gediensteter. Er hat Willen und will machen. Form und Gestalt erschüttern ihn. Er kennt die sperrigen Widerstände, die Stein, Holz und Glas seinem Formwillen entgegensetzen. Sie überwinden und in seine Formvorstellung zwingen zu können – das unterscheidet ihn von anderen künstlerischen Berufen. Was ist schon das leere Blatt des Schriftstellers gegen die Druck- und Zugkräfte einer Betonmauer, was die leere Bühne der Regisseurin gegen einen seichten Untergrund für ein Hochhaus?

Der unerschütterliche Glaube ans Werk geboren aus dem Widerstand ist das Gegenbild zum Opportunismus. Auch für ihn ist Claude-Nicolas Ledoux ein Taktgeber. Er hat mit geschickten Klimmzügen sein Leben vor den Revolutionsgarden gerettet, seine Schriften zur Theorie der Architektur „L’Architecture considérée sous le rapport de l’art, des moeurs et de la législation“ färben nicht nur sein Werk als „Architecte du Roi“ schön. Die Rechtfertigung ist auch ein eindrückliches Zeugnis eines Baumeisters, der glaubt, dass sein steinernes Werk eine utopische Kraft habe, weil es gemacht und gegen alle

möglichen Widerstände durchgesetzt worden ist mit dem Ziel, die Welt und die Lage der Menschheit zu verbessern. In den grossen bürgerlichen Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts spielten Architekten und Designer als Lebensgestalter eine wichtige Rolle. Der Werkbund zu Beginn des 20. Jahrhunderts und das Bauhaus nach dem 1. Weltkrieg waren von Architekten getragene Hoffnungsprojekte, die die Moderne in Architektur und Design angeschoben haben mit dem grossen Projekt: Alles wird gut, vieles wird besser.

Auch was Claude-Nicolas Ledoux ihnen rhetorisch vorgemacht hat, haben sie ihm nachgemacht – die schriftstellerische Lobpreisung des eigenen Werks, nachdem es aufgemauert war. William Morris’ Tapeten und Möbel sind zauberhaft, seine Bücher über sein Werk und Wollen machen ihn zum feurigen Weltverbesserer; im Werkbund sassen Architekten und Essayisten im selben Club; den Bauhausmeistern war die Wirkung von Zeitungen, Büchern und Reklame klar, sie konnten sie meisterhaft einsetzen. Und es gibt keinen Held der Moderne, der nicht mehrere Bücher schrieb oder über sein Werk schreiben liess. Eine Pflicht, die heute zu jeder anständigen Architektenkarriere gehört: Baue, schreib darüber oder lass darüber schreiben. Henrik Ibsen hat das schon vor 120 Jahren gemerkt und dem Architekten sein spätes Drama gewidmet. Auf seinen Buckel legte er ihm eine lange Geschichte, die sich tief eingegraben hat in den Habitus, ins Herzen setzte er ihm den Zweifel des Sensiblen, in die Erfahrung den Widerstand des Materials und vor ihn stellte er den letzten und grossartigen Turm.

Baumeister Solnessvon Henrik IbsenRegie Barbara Frey, Bühne Bettina Meyer, Kostüme Bettina WalterMit Robert Hunger-Bühler, Roland Kenda, Franziska Machens, Yanna Rüger, Siggi Schwientek, Friederike Wagner, Milian ZerzawySeit 13. September im Pfauen

Das Paradies hat eine Heimat

„Es muss so sein! Weil ich es will!“aus „Baumeister Solness“ von Henrik Ibsen

Gelangt zu einer ausserliterarischen Existenz: das Heidi

Siggi Schwientek, Milian Zerzawy und Robert Hunger-Bühler

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fotografierende Deutsche, deren Kinder mit Heidi am Küchentisch oder im Heidibett ambitioniert abgelichtet werden.

Seit 2011 ist das Problem der Ausgrenzung Maienfelds überwunden, dennoch müssen sich Heidis Spurensucher der quälenden Wahl zwischen linker und rechter Rheinseite stellen. Ich entscheide mich werkimmanent: Die literarischen Spürnasen verorten Heidis Heimat, also das „Dörfli“, im oberhalb von Maienfeld liegenden Dorf Rofels, genauer gesagt Oberrofels. Unweit von diesem Schauplatz, nämlich in Jenins, wohnte eine Jugendfreundin der Begründerin des Heidi-Mythos. „Heute habe ich einen glücklichen Tag erlebt“, hält Johanna Spyri nach einem Tagesausflug mit ihr nach Rofels fest, „jetzt habe ich die Grundlage für eine neue Geschichte: das Heidi!“ Ein Segen für die Region. Ein Alptraum für Heidi? – Zumindest gelangt sie zu einer ausserliterarischen Existenz mit ansehnlicher, doch zuweilen zweifelhafter Wirksamkeit.

Auf geht’s! Bahnhof Maienfeld: Es sind keine Horden Touristen, die mit mir aus dem Zug steigen und auch sonst erscheint mir der Ort recht ausgestorben. Der bahnhofsnahe Souvenirshop – zielbewusst steuere ich darauf zu, schliesslich brauche ich eine adäquate Begleiterin, wenn ich an einem Sonntagmittag auf die Alp steige – ist geschlossen. Also weiter, ich ziehe den vorher ausgedruckten Heidiweg-Beschrieb aus dem Rucksack. Vorbereitung ist alles. „Lieber Besucher und Heidifan. Hier am Bahnhof Maienfeld beginnt nun deine idyllische Reise auf Heidis Spuren. Wenn du in die Ferne blickst, siehst du geradeaus vor dir den stattlichen Berg Falknis, welcher in der Abendstimmung manchmal rot zu glühen scheint.“ Im Moment glühe nur ich. 32 Grad. Wer bei diesen Temperaturen den Alp-Öhi besuchen will, outet sich sofort als Tourist. Den Schatten suchend geht es zwischen Weinhängen durch schmale Gassen in Richtung Rofels. Von Wein hat Spyri gar nichts geschrieben ... Das Heididorf begrüsst am Eingang in vier Sprachen und verweist auf das Originale. Von dem literarisch überlieferten

Schauplatz lässt sich die Authentizität des Angebots ableiten. Im Bemühen um ein Qualitätssiegel des Echten, Ursprünglichen und Reinen nimmt die Region einen Sonderstatus im Kampf um profitable Heidi-Inszenierungen ein. Hier im Dorf ist das Souvenir-Angebot gross. Und ich werde fündig: meine Heidi, meine kleine Alp-Kollegin. Nur nebenbei, der Souvenirladen beherbergt ebenfalls das Johanna Spyri-Museum sowie die kleinste Poststelle der Schweiz. Gewissermassen stellvertretend für Heidi sorgt die eigene Post mit einem Heidi-Stempel für eine rasche und unkomplizierte Versendung aller Kartengrüsse.

Die Geissen sind gestreichelt, ein Foto ist gemacht, so kann es geradewegs zum Heidihaus gehen. Mit dem Kombiticket für Museum und Haus in der Tasche treten wir ein und sehen erst einmal nichts. Im Dunkel des Kellers erkennen wir schemenhaft Reliquien aus vergangenen Zeiten – ja, so könnte Heidi gewohnt haben. Naja, leicht windschief ist die Hütte und das sagt man ja eher der vom Geissen-Peter nach ... Als das Haus gerade neu hergerichtet wurde, war in der Zeitung zu lesen: „Auch das mit Laub angefüllte Heidibett ist nicht ganz stilecht. Das stört die japanischen und amerikanischen Invasoren, die beim Heidi-Sightseeing in den Sommermonaten durch das Haus geschleust werden, mitnichten.“ Dass bei 30 Personen das Drehkreuz dichtmacht, erleben wir nicht. Weit und breit keine Japaner zu sehen. Apropos Japaner: Die Abenteuer der kleinen Schweizerin werden in Japan von Germanistikstudenten sogar als Klassiker neben Schiller und Goethe gelesen. Doch sollte ich mich jetzt konzentrieren, schliesslich geht es darum, den „Geist Heidis“ zu erleben …Ich betrachte mein lichtes Alpenmädchen genauer und sehe ein grundnaives Mädchen mit Weltruhm. Sie ist eine wohltätige Göttin, ja, die personifizierte Unschuld. Sie inspiriert und tröstet als Hirtin und Heilerin – ich bin bereit, ihr zu folgen ...

Im Heididorf betreten wir den Heidi-Erlebnisweg mit den zwölf Stationen, der in sportlichen zwei Stunden

auf die Alp auf den Ochsenberg führt. „Wenn du diesen Weg begehst, erlebst du die Heidigeschichte in einzigartiger, naturbezogener Umgebung und erfasst die beeindruckende Schönheit dieser Gegend.“ Stimmt. Und man merkt, dass auf dieser Talseite die wirklich grossen Touristenströme gar nicht gefragt sind; Heidi gilt als Synonym für Reinheit und Unverdorbenheit, ja Natürlichkeit. Und daran wollen sich die Initiatoren des Heididorfes halten. Eine damalige bäuerliche Welt wird in der unverfälschten Natur rekonstruiert und an den jeweiligen Stationen tauchen wir wieder ein in die Geschichte, die man vermeintlich so gut kennt.

Als wir oben die Alp-Hütte erreichen, haben wir 607 Höhenmeter überwunden. Ein Gefühl von Behaglichkeit umarmt den Pilger. Und auch die Fotoapparate in den behandschuhten Händen japanischer Touristen – wir sind tatsächlich noch einer Familie begegnet – bringen uns von der Rousseau’schen „zurück-zur-Natur“-Empfindung nicht ab. Für die Japaner ist im Übrigen ganz Helvetien ein Heidiland – je weiter entfernt der Standort der Betrachtung, desto grösser das Gebiet. Ich konzentriere mich, sehe dunkelblau den Himmel, saftig grün die Alpenhänge, sehe drunten die sanfte Zeichnung des Bündner Rheintals. Ich schliesse die Augen, „Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude, denn da waren ganze Trüppchen feiner, roter Himmelsschlüsselchen beieinander ...“ – Ja, das Paradies hat eine Heimat.

Heidis AlptraumEin assoziatives Alpenexperiment Vol. I–VKonzept Meike Sasse, Hannes Weiler Regie Hannes Weiler, Bühne Lisa Dässler, Kostüme Lena HiebelMit Tobias Bienz, Roger Bonjour, Felician Hohnloser, Sophie Hutter, Bianca Kriel Kooperation mit der ZHdK, Departement Darstellende Künste und FilmNoch bis 26. Oktober im Pfauen/Kammer

Raus aus dem Souvenirladen und dem Himmel entgegen: Heidi als Botschafterin ihres Landes

„Die Berge müssen zittern und die Felsen schmelzen wie Wachs vor dir.“aus „Heidis Alptraum. Ein assoziatives Alpenexperiment Vol. I–V“

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12 1312 Porträt Sebastian Baumgarten 13

(2011) als auch am Theater Neumarkt mit einer eigenen Version von Offenbachs „Banditen“ bewusst die Auseinandersetzung mit dem Genre der Boulevardkomödie bzw. der Operette gesucht, er hat deren Grenzen ausgelotet und sie in grotesk überdrehten, rasant schnellen und urkomischen Inszenierungen überschritten. Nun setzt er sich zum vierten Mal (zuletzt "Der gute Mensch von Sezuan" in Leipzig) mit Bertolt Brecht auseinander – einem Autor, der ihm durch sein dialektisches Denken und die Forderung nach Verfremdung auf der Bühne zum einen sehr nahe ist – im Grunde sind viele von Baumgartens

Inszenierungen Brecht’sches, verfremdetes, ausgestelltes, nicht psychologisches Theater mit modernen Mitteln. Zum anderen wird er genau dadurch vor grosse Herausforderungen gestellt. Brechts Auseinandersetzung mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise von 1929, mit den Börsenspekulationen und einer fast märchenhaft an das Gute glaubenden Figur wie Johanna im Zentrum wird bei Baumgarten zu einer alptraumhaften Groteske, die in überzeichneten Bildern die Dialektik zwischen Gut und Böse in einer kapitalistisch funktionierenden Gesellschaft befragt, in der alle

gemeinsam im selben Boot sitzen und versuchen, einen Ausweg aus der Finanzkrise zu finden.

Die heilige Johanna der Schlachthöfevon Bertolt BrechtRegie Sebastian Baumgarten, Bühne Thilo Reuther, Kostüme Jana Findeklee und Joki Tewes, Musik Jean-Paul Brodbeck, Video Stefan BischoffMit Jan Bluthardt, Samuel Braun, Gottfried Breitfuss, Alejandra Cardona, Carolin Conrad, Lukas Holzhausen, Yvon Jansen, Sean McDonagh, Isabelle Menke, Markus Scheumann Seit 29. September im Pfauen

Nach Labiches „Die Affäre Rue de Lourcine“ vor knapp zwei Jahren in der Box inszeniert Sebastian Baumgarten nun erstmals im Pfauen: Bertolt Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“. Geboren wurde Sebastian Baumgarten 1969 in Ostberlin – und nach einem Studium der Musiktheaterregie an der renommierten Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin wurde er Assistent bei Ruth Berghaus, Einar Schleef und Robert Wilson und zeigte ab 1992 eigene Regiearbeiten. Von 1999 bis 2002 war er Oberspielleiter am Staatstheater Kassel, von 2003 bis 2005 Chefregisseur am Theater Meiningen. Seither ist erals freischaffender Regisseur sowohl im Schauspiel als auch in der Oper tätig – zuletzt inszenierte er Wagners „Tannhäuser“ bei den Bayreuther Festspielen, Bizets „Carmen“ an der Komischen Oper Berlin sowie Schillers „Die Räuber“ am Staatsschauspiel Dresden.Von Andrea Schwieter

Ohne Musik geht gar nichts. Unabhängig davon, ob Sebastian Baumgarten gerade Oper oder Schauspiel inszeniert – und in beidem ist er gleichermassen zu Hause – wird sehr schnell deutlich, dass die Musik eine zentrale Rolle im künstlerischen Schaffen des Regisseurs einnimmt. Es gibt kaum eine Szene in seinen Inszenierungen, die nicht musikalisch durchsetzt, untermalt, manchmal auch bewusst gestört wäre, sei es live oder per Toneinspielung. Die Musik scheint ihn schon immer verfolgt zu haben. Schon als kleiner Junge durfte er seinen Grossvater Hans Pischner, langjähriger Intendant der Staatsoper Unter den Linden in Berlin, bei der Arbeit begleiten. Und dass auf seine musikalische Ausbildung bereits in jungen Jahren sehr viel Wert gelegt wurde, wird jedem klar, der ihm nur einmal zugehört hat, wie er mit Musikern oder Sängern spricht. Ursprünglich hatte Sebastian Baumgarten vor, Jazzpianist zu werden – schliesslich entschloss er sich aber doch zum Studium der Musiktheaterregie, um seither an vielen grossen Opern- und Schauspielhäusern von Berlin bis Bayreuth, von Stuttgart bis Hannover, seine besondere und ihm eigene Art des

Gesamtkunstwerkes zu schaffen. „Ihr macht noch keine Musik miteinander“, ist immer wieder von ihm auf den Proben zu hören – und damit ist nicht gemeint, dass die Schauspieler mit Instrumenten miteinander musizieren würden, sondern durch ihre Mittel der Sprache und des Zusammenspiels. Jeder Text kann auch musikalisch verstanden werden, gewissermassen als Partitur der Sprache. Mit kleinen Verschiebungen und Irritationen in der Sprache sucht Sebastian Baumgarten nach dem Musikalischen auch in Texten und nach einer bestimmten Form, in der Sprache zu Musik wird und damit den Realismus bricht. Tatsächlich sind es Gesamtkunstwerke, die er mit seinen Theater- und Operninszenierungen schafft – Inszenierungen, in denen Sprache, Musik, Video, die Körper der Schauspielerinnen und Schauspieler, Kostüme, Bühnenbild gleichberechtigt nebeneinanderstehen und miteinander in Dialog treten. Dadurch entstehen Arbeiten, die sich eher durch ein Übermass an Theatermitteln hervortun als durch Kargheit – die Opulenz liegt Sebastian Baumgarten näher als die unbedingte Reduktion, die Überforderung näher als die Unterforderung. Es sind sinnliche, lebendige, kluge, rauschhafte und äusserst humorvolle Theaterabende, die dadurch entstehen. Und sie haben ihren Reiz darin, dass sie einem trotz (oder gerade aufgrund) der temporären Reizüberflutung und Überforderung viel Raum für assoziative Gedanken lassen. Und zu denken gibt es meist genug. Nachdem in früheren Inszenierungen immer wieder Philosophen wie Slavoj Žižek, Giorgio Agamben oder Boris Groys durch eingebaute Fremdtexte, in Ton- oder Videoeinspielungen zu Wort kamen – Denker, die neben Künstlern wie Jean-Luc Godard, David Lynch oder Lars von Trier die gedankliche Welt Baumgartens sehr geprägt haben – sucht er heute die Reibung vermehrt innerhalb der Texte, die er inszeniert.

Er mache politisches Theater, wird häufig über Sebastian Baumgarten gesagt und geschrieben – ein insofern relativ ungenauer Begriff, weil er offen lässt, ob damit die Beschäftigung mit politischen

Themen auf dem Theater gemeint ist, die Reaktion auf aktuelle politische Ereignisse oder die politische Aufladung historischer Zusammenhänge. Sebastian Baumgarten hingegen begreift seine Arbeiten nicht im Sinne eines aktuellen Bezugs als politisch, sondern im Sinne einer Dialektik. Politisches Theater ist für ihn Denken im Selbstwiderspruch.

Fakt ist, dass es sowohl in der Oper als auch im Schauspiel meist grosse Stoffe sind, die er auf die Bühne bringt – Stoffe, die grosse Fragen stellen und einen ebenso grossen und eigenen Zugriff erlauben.Jean-Paul Sartres „Die schmutzigen Hände“ beispielsweise befragte Baumgarten in einer fast an Agitprop erinnernden Ästhetik und Spielweise nach dem Entstehen linken revolutionären Denkens und Handelns (Düsseldorf, 2006). In Hannover inszenierte er 2007 beide Teile von Goethes „Faust“ als dialektischen Kursus über den modernen Menschen. Seine gefeierte Inszenierung von Händels „Oreste“ an der Komischen Oper Berlin (für die er 2006 zum Opernregisseur des Jahres gekürt wurde) spielte im postkommunistischen Ostblock, während seine Dresdner Inszenierung von Schillers „Die Räuber“ (2012) sich mit dem Gespenst des aufkommenden Nationalismus auseinandersetzte. Dazwischen lagen künstlerische Auseinandersetzungen u.a. mit Camus’ „Der Fremde“, Puccinis „Tosca“, Bizets „Carmen“, Benatzkys „Im weissen Rössl“, immer wieder mit Jean-Paul Sartre (zuletzt „Das Spiel ist aus“ am Staatstheater Stuttgart) und vor allen Dingen mit Michail Bulgakow – „Der Meister und Margarita“ (2008 in Düsseldorf). Bulgakows satirisch-allegorischer, auf mehreren Ebenen wild wuchernder Roman, der den Stalinismus und die starre Bürokratie anprangert, war in einer rauschhaften, geisterhaften Inszenierung zu sehen, die durchaus auch als Kommentar zur Lage im heutigen Russland zu lesen war.

In Zürich hat sich Sebastian Baumgarten bisher – eher untypisch – mit zwei Komödien vorgestellt und sowohl am Schauspielhaus mit Labiches „Die Affäre Rue de Lourcine“ in der Box im Schiffbau

Gesamtkunstwerk Theater

Der Regisseur Sebastian Baumgarten

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„Baumeister Solness“ von Henrik Ibsen, Regie Barbara FreyOben: „Sturm“ von W. Shakespeare, Regie Barbara Frey; unten: „Das Versprechen“ nach F. Dürrenmatt, Regie Daniela Löffner

Schon gesehen? Szenen aus dem Repertoire

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„Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ von Bertolt Brecht, Regie Sebastian Baumgarten

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SCÉNARIO THOMAS BIDEGAIN ET JACQUES AUDIARD D’APRÈS UN GOÛT DE ROUILLE ET D’OS DE CRAIG DAVIDSON ÉDITIONS ALBIN-MICHEL IMAGE STÉPHANE FONTAINE (A.F.C.) MONTAGE JULIETTE WELFLING MUSIQUE ORIGINALE ALEXANDRE DESPLAT DÉCORS MICHEL BARTHÉLÉMY (A.D.C)

SON BRIGITTE TAILLANDIER MIXAGE JEAN-PAUL HURIER COSTUMES VIRGINIE MONTEL CASTING RICHARD ROUSSEAU PRODUCTION EXÉCUTIVE MARTINE CASSINELLI UNE COPRODUCTION WHY NOT PRODUCTIONS PAGE 114 FRANCE 2 CINÉMA LES FILMS DU FLEUVE RTBF (TÉLÉVISION BELGE) LUMIÈRE ET LUNANIME AVEC LA PARTICIPATION DE CANAL + CINÉ + FRANCE TÉLÉVISIONS DU CENTRE DU CINÉMA ET DE L’AUDIOVISUEL DE LA FÉDÉRATION WALLONIE-BRUXELLES ET DE VOO ET DU FONDS AUDIOVISUEL FLAMAND AVEC LE SOUTIEN DE LA RÉGION PROVENCE ALPES CÔTE D’AZUR DU DÉPARTEMENT DES ALPES-MARITIMES EN PARTENARIAT AVEC LE CNC DE LA WALLONIE ET DE CASA KAFKA PICTURES - DEXIA DISTRIBUTION SALLES ET ÉDITION VIDÉO FRANCE UGC

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AB 18. OKTOBER IM RIFFRAFF

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KLASSIKPROGRAMM SAISON 2012/13 ZÜRICH

Karten-Vorverkauf: Billett-Service, Migros City, Tel. 044 221 16 71;Tonhalle, Billettkasse, Tel. 044 206 34 34 und übliche Vorverkaufsstellen.www.migros-kultuprozent-classics.ch

Tonhalle Zürich, Grosser Saal, jeweils 19.30 Uhr Sa, 27. Oktober 2012 TSCHAIKOWSKY SINFONIEORCHESTER MOSKAU Vladimir Fedoseyev (Leitung), Teo Gheorghiu (Klavier)* Werke von Beethoven und Tschaikowski

Di, 20. November 2012 ORCHESTRE DE PARIS Paavo Järvi (Leitung), Andreas Haefl iger (Klavier)* Werke von Debussy, Mozart, Strawinski

Di, 15. Januar 2013 ORCHESTRE DE LA SUISSE ROMANDE Charles Dutoit (Leitung), Emmanuel Pahud (Flöte)* Werke von Berlioz, Mozart, Martin, Mussorgski

Do, 14. März 2013 MÜNCHNER PHILHARMONIKER Semyon Bychkov (Leitung), Katia und Marielle Labèque (Klavier) Werke von Mendelssohn, Brahms

Sa, 13. April 2013 ORCHESTRA DELL’ ACCADEMIA NAZIONALE DI SANTA CECILIA Antonio Pappano (Leitung), Marie-Nicole Lemieux (Alt) Werke von Verdi, Chausson, Tschaikowski

Di, 21. Mai 2013 KAMMERORCHESTER WIEN-BERLIN (Musiker der Wiener- und der Berliner Philharmoniker) Yefi m Bronfman (Klavier), Rainer Honeck (Violine), Dieter Flury (Flöte)*, Gábor Tarkövi (Trompete) Werke von Schubert, Mendelssohn, Martin, Bartók, Schostakowitsch

Extrakonzert WIENER VIRTUOSENMi, 13. Februar 2013 Thomas Hampson (Bariton) Werke von Wagner, Mahler, Mozart, Dvorák * Schweizer Solisten

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20 Gespräch Bastian Kraft 21

Bastian Krafts erste Inszenierungen entstanden im Rahmen des Studiums der Angewandten Theaterwissenschaft in Giessen, das er 2007 mit seiner Diplominszenierung von Marguerite Duras’ „Die Krankheit Tod“ abschloss. Es folgten drei Spielzeiten als Regieassistent am Wiener Burgtheater, wo er 2008 den Abend „Schöner lügen. Hochstapler bekennen“ und 2010 Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“ inszenierte. Mit seiner Inszenierung von Franz Kafkas „Amerika“ gewann er beim Festival „Radikal jung“ des Münchner Volkstheaters 2010 den Publikumspreis, 2012 für Thomas Manns „Felix Krull“.

Kraft arbeitete u.a. am Deutschen Theater Berlin, am Schauspielhaus Wien und am Schauspiel Frankfurt und hat immer wieder Romanadaptionen auf die Bühne gebracht – neben Kafka und Wilde u.a. Helene Hegemanns „Axolotl Roadkill“ und Virginia Woolfs „Orlando“. Mit „Der Steppenwolf“ stellt er sich dem Zürcher Publikum erstmalig vor.

Bastian Kraft (Regie) im Gespräch mit Thomas Jonigk (Dramaturgie)

TJ – Hermann Hesse ist ein Autor, der trotz seiner Berühmtheit immer wieder neu entdeckt wird: „Der Spiegel“

zum Beispiel deklarierte jüngst, er sei aufgrund seiner Themen („der Lebensentwurf des Einzelnen, der Schutz der Natur, die Suche nach einem höheren Seinszweck als dem Konsum“) „aktueller denn je“. Was macht für dich die Faszination an Hesse aus?

BK – Hesses Texte werden ja gern als Selbstverwirklichungsprosa abgetan. Seine obsessive Auseinandersetzung mit dem Selbst ist jedoch genau der Punkt, an dem ich andocke. Ich frage mich immer wieder, wie Identität funktioniert: Was ist das, was da als meine Person in der Welt herumläuft? Gibt es so etwas

Die Scherben des Unbewussten

wie mein „wahres Ich“, das ich finden und ausleben muss, um glücklich zu sein? Oder liegt vielleicht die Wahrheit meines Ichs darin, dass es sehr flexibel ist, dass ich heute so und morgen ganz anders sein kann, und liegt dann vielleicht das Glück darin, dies zu akzeptieren und nicht in einer vermeintlich authentischen sozialen Schablone gefangen zu sein? Die Frage nach der Konstitution von Persönlichkeit, die mich heute sehr beschäftigt, hat Hesse schon früh in seinen Texten aufgegriffen, zum Beispiel in „Demian“, „Klein und Wagner“ oder seinen Essays über Dostojewskij, dessen „Brüder Karamasow“ ihn verständlicherweise sehr fasziniert hat. Hesse hat dazu beigetragen, dass wir Identität nicht mehr automatisch durch möglichst scharfe Grenzen, sondern vielmehr über möglichst grosse Offenheit definieren können.

TJ – „Der Steppenwolf“ ist Hesses berühmtestes Buch und bis heute weltweit ein Bestseller. Wie erklärst du dir diese ungebrochene Popularität?

BK – Viele Menschen erkennen sich im Dilemma des Steppenwolfs wieder. Während man die Aufzeichnungen Harry Hallers liest, denkt man oft: „Das kenne ich“ oder „Genauso empfinde ich es auch“ – nur, dass man es zuvor nicht so klar formuliert vor Augen hatte. Viele Leser sehen sich deshalb ganz persönlich in diesem Buch gespiegelt. Das geht so weit, dass man das Gefühl bekommt, als sei dieses Buch nur für einen ganz persönlich geschrieben worden, als könne kein anderer Leser es so gut verstehen wie man selbst. Dieses Paradox, dass ein Aussenseiter als Identifikationsfigur für die Massen taugt, bringt mich auf die Frage: Sind wir vielleicht alle Aussenseiter? Ist das Gefühl, in dieser Welt ein Fremdkörper zu sein, vielleicht etwas, das uns mehr verbindet als voneinander trennt?

TJ – Harry Haller ist 48 Jahre alt, eine zerrissene Persönlichkeit, die sich nach kleinbürgerlicher Harmonie und der Sicherheit gesellschaftlicher Anpassung sehnt, diese gleichzeitig nicht erträgt und intellektuell ablehnt und immer mehr

zum heimatlosen Einzelgänger wird. Für dich eine zeitlose Figur bzw. ein zeitübergreifender Charakter?

BK – Ich glaube, diese Figur ist nur in einer bürgerlichen Gesellschaft denkbar, insofern nicht völlig zeitlos. Allerdings ist es erstaunlich, dass Harry Haller 1930 ebenso als Zeitgenosse erscheint wie 2012. Das Verhältnis zwischen dem Bürgertum und seinen Aussenseitern, auch die gegenseitige Abhängigkeit voneinander, scheint sich nicht grundlegend geändert zu haben. Im „Traktat vom Steppenwolf“ heisst es: „Denn dem Bürgertum gilt der umgekehrte Grundsatz der Grossen: Wer nicht wider mich ist, der ist für mich.“ Es ist ein weit verbreitetes Phänomen, kritische Strömungen einfach zu vereinnahmen und ihnen dadurch ihre subversive Kraft zu nehmen. Jede Protestkultur scheint früher oder später von der Massenkultur geschluckt zu werden.

TJ – Welche Herausforderungen stellen sich dir bei der Adaption dieses Stoffes mit seinen Figuren für die Bühne?

BK – Der Roman ist weniger durch eine klassische Handlung strukturiert als durch das immer engere Umkreisen der zentralen Figur, es ist eine Reise in die Psyche dieses Menschen. Hesse nannte seine Bücher einmal „Seelenbiographien“, das trifft es sehr gut. Für diese Reise möchte ich eine spezielle theatrale Form finden: Die Bühne wird zur Analyse-Couch für eine literarische Figur und das Publikum taucht gemeinsam mit dem Ensemble ins Innere Harry Hallers ein. Dieser Harry Haller ist eine sehr komplexe Figur, die verschiedene Persönlichkeiten in sich vereint: den Wolf und den Bürger, den Eremiten und den Lebemann, Männlichkeit und Weiblichkeit, den Alten und den kleinen Jungen und viele mehr. Um dieser Vielfalt gerecht zu werden, werden fünf Schauspieler gemeinsam Harry Haller spielen, gemeinsam und abwechselnd, und ausserdem auch die Nebenfiguren des Romans, die alle Spiegelungen der Hauptfigur sind. Rollenwechsel und das Spiel mit Identitäten wird also Thema des Abends sein. Und da das Theater an sich

eine zentrale Metapher des Romans darstellt, drängt sich eine theatrale Auseinandersetzung mit dem „Steppenwolf“ ohnehin auf.

TJ – Theater beziehungsweise das „Magische Theater“, in das Harry Haller mit der Prostituierten Hermine gelangt. Dort gibt es nur „Bilder, keine Wirklichkeit“. Was bedeutet es für dich?

BK – Das „Magische Theater“ ist für Harry Haller ein Ort der Selbsterkenntnis. Nachdem er im Mittelteil des Romans einen neuen Zugang zum Leben gelernt hat, ist er nun bereit, einen neuen Zugang zu seiner eigenen Person zu wagen. Ein wichtiger Bezugspunkt ist hier die Psychoanalyse, die man in gewisser Hinsicht als Grund-Metapher für den ganzen Roman verstehen kann. Harry öffnet sich im „Magischen Theater“ nach und nach seinen verschütteten Persönlichkeitsanteilen und konfrontiert sich mit all den Anteilen seines Ichs, die in seinem Leben bisher keinen Platz gefunden haben oder verdrängt wurden. Die Erlebnisse im „Magischen Theater“ sind so etwas wie Scherben des Unbewussten, kurze Einblicke in all das, was unter der Oberfläche von Harrys bewusster Persönlichkeit brodelt: kurze traumartige Szenen, in denen sich das Unbewusste seinen Weg an die Oberfläche bahnt. Wenn Hesse hier also das Theater als einen Ort vorstellt, an dem in einem geschützten Rahmen die Konfrontation mit all dem möglich ist, was im Alltag ausgeschlossen wird, empfinde ich das als sehr positive Vision.

Der Steppenwolfvon Hermann Hessefür die Bühne bearbeitet von Joachim LuxRegie Bastian Kraft, Bühne Simeon Meier, Kostüme Inga Timm, Musik Arthur FussyMit Anna Blomeier, Timo Fakhravar, Fritz Fenne, Arnd Klawitter, Yanna RügerAb 3. November im Schiffbau/Box

Der Regisseur Bastian Kraft

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22 23 Porträt Franziska Machens

Die Schauspielerin Franziska Machens

Das Leben untersuchen

Franziska Machens will sich später nicht fragen „Was wäre wenn ...?“. Sie erschüttert als Hilde Wangel in der Eröffnungsinszenierung der Spielzeit 2012/13 von Barbara Frey das Leben des Baumeisters Solness in seinen Grundfesten. Zurzeit probt sie mit Sebastian Nübling „Wie es euch gefällt“ von William Shakespeare, worin sie als Rosalinde zu sehen sein wird.Von Katja Hagedorn

Wenn man Franziska Machens zu ihrem Leben und ihrem Beruf befragt, unterbricht sie sich häufig selbst mit dem Satz: „Aber ich weiss nicht, ob das so interessant ist ...“, wirft dem Gesprächspartner einen zweifelnden Blick zu und schweigt dann. Manchmal wird das Schweigen endgültig und man spürt: Sie hat entschieden, dass ihre Meinung zu der eben gestellten Frage nicht erhellend genug ist, um veröffentlicht zu werden. Manchmal nimmt sie aber auch noch einen Anlauf und formuliert ihre Gedanken neu. Zum Glück. Denn auch wenn die 29-jährige Hildesheimerin es selbst noch nicht immer zu wissen scheint: Was sie zu sagen und auf der Bühne zu zeigen hat, ist sehr interessant. Wie zum Beispiel bei unserer ersten Begegnung vor drei Jahren: Frisch von der Münchner Otto-Falkenberg-Schule, sprach sie am Schauspielhaus für ein Engagement vor und war so überzeugend, dass die anschliessende Diskussion relativ kurz ausfiel und sie noch am selben Tag ein Angebot erhielt. Sie hat es sehr gerne angenommen, auch, weil sie die Stadt schon ein bisschen kannte und mochte. Denn bevor sie fest nach Zürich kam, hatte sie für ihre erste Rolle nach der Schule als Alexandra Iwanowna in Dostojewskijs „Der Idiot“ schon einmal im Schiffbau auf der Bühne gestanden.

Seitdem war sie am Schauspielhaus in zahlreichen Rollen zu sehen. Ob als verwöhnte und dauerbetrunkene Marja Antonowna in „Der Revisor“ oder als Violas Zwillingsbruder Sebastian in „Was ihr wollt“: Franziska Machens wusste schon ihre ersten kleineren Rollen mit einer Intensität zu spielen, die ihre Figuren zum Leuchten brachte. Ihr Spiel

ist von bezwingender Einfachheit und Klarheit, man hört von ihr keine falschen Töne auf der Bühne. Aber was so leicht und direkt daher kommt, ist immer wieder das Ergebnis intensiver Arbeit: Franziska Machens ist eine Schauspielerin, die sich ihren Rollen und Texten über genaues Nachdenken annähert. Wenn es möglich ist – denn in der Begegnung mit unpsychologischeren Texten wie „Volksvernichtung“ von Werner Schwab, wo sie an einen Kollegen gekettet ein grandios infernalisches Zwillingspaar gab und dabei ihr komisches Talent zeigte, hat sie inzwischen die Erfahrung gemacht, dass man „manchmal auch einfach drauflos spielen muss, um dann zu schauen, was dabei herauskommt.“ Überhaupt habe sie in der Arbeit mit verschiedenen Regisseuren (darunter Stefan Bachmann, Werner Düggelin, Barbara Frey, Heike M. Goetze, Alvis Hermanis, Sebastian Nübling und Lars-Ole Walburg) noch immer so viel Neues erlebt, dass sie bisher aus jeder Arbeit etwas mitgenommen habe. Ganz wider eigenes Erwarten auch bei dem Tanztheaterprojekt S A N D. Denn dass ausgerechnet sie, die sich im Hip Hop-Workshop an der Schule so fehl am Platze fühlte, dass sie regelmässig Lachanfälle bekam, tanzen und singen sollte, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Heute ist sie froh, dass sie über ihren Schatten gesprungen ist – und die Zuschauer waren es auch: Wie sie und ihre Kollegen anderthalb Stunden lang über ihre körperlichen Grenzen hinweg tanzten und wie Franziska Machens am Ende des Abends ein Lied sang, das in seiner entrückten Traumverlorenheit so unheimlich wie tröstend durch den Raum schwebte, war ein Ereignis.

Wenn Franziska Machens sich für etwas begeistert, verfolgt sie es. In den vergangenen Sommerferien stand sie im Operationssaal und hat sich Gehirnoperationen angeschaut. Warum sie nicht einfach Urlaub gemacht und sich ausgeruht habe? „Weil ich mich nicht in zehn Jahren fragen will: Was wäre gewesen, wenn ...?“ Dieser Gedanke trieb sie schon, als es darum ging, die Aufnahmeprüfungen für die

Schauspielschule durchzuhalten. Und seit sie im Beruf ist, interessiert sie sich nun mal für die Medizin – vielleicht, weil sich der Arzt mit dem beschäftigt, was sie auch an ihrem eigenen Beruf fasziniert: „das Leben untersuchen, Zusammenhänge begreifen“. Wenn es nach Franziska Machens geht, am liebsten gemeinsam, mit dem Regisseur und den Kollegen, aber auch mit dem Publikum. Sie liebt – und das gilt nicht für jeden Schauspieler – Publikumsgespräche. „Aber nicht um zu hören, ob ich gut war. Sondern um zu hören, was die Zuschauer gesehen und gedacht haben.“ In der laufenden Spielzeit kann man ihr in gleich zwei grossen Frauenrollen dabei zuschauen, wie sie das Leben und seine Gesetzmässigkeiten untersucht: als Hilde Wangel in „Baumeister Solness“ – bei Franziska Machens eine moderne junge Frau und archaische Urkraft zugleich, die den alternden Künstlerarchitekten durch die Klarheit ihrer Argumente wie ihre Unbedingtheit in den Tod treibt. Und als Rosalinde in Shakespeares „Wie es euch gefällt“, ab dem 27. Oktober im Pfauen zu sehen.

Baumeister Solnessvon Henrik IbsenRegie Barbara Frey, Bühne Bettina Meyer, Kostüme Bettina WalterMit Robert Hunger-Bühler, Roland Kenda, Franziska Machens, Yanna Rüger, Siggi Schwientek, Friederike Wagner, Milian ZerzawySeit 13. September im Pfauen

Wie es euch gefälltvon William ShakespeareRegie Sebastian Nübling, Bühne/Kostüme Muriel Gerstner, Musik Lars WittershagenMit Christian Baumbach, Jan Bluthardt, Ludwig Boettger, Patrick Güldenberg, Lukas Holzhausen, Franziska Machens, Isabelle Menke, Markus Scheumann, Katharina Schüttler, Susanne-Marie Wrage, Milian Zerzawy Ab 27. Oktober im Pfauen

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24 2524 Textauszug „Pünktchen & Anton“ 25

Erich Kästners Geschichte zweier Freunde, die sich trotz aller Unterschiede treu sind, ist heute in Zürich ebenso aktuell wie 1931 in Berlin. Die Welt ist nach wie vor von wachsenden sozialen Widersprüchen geprägt, Kinder, Jugendliche und Erwachsene suchen darin ihren Platz. Was für Pünktchen ein Abenteuer ist, ist für Anton harte Arbeit. Wie nähern sich beide an? Wie schützen sie sich gegen die Anfeindungen ihrer Umgebung? Wie gehen sie mit den offensichtlichen Ungleichheiten in ihrem Leben um?Für das diesjährige Familienstück im Pfauen hat der Autor Lorenz Langenegger im Auftrag des Schauspielhaus Zürich eine moderne Bühnenfassung auf Schweizerdeutsch geschrieben. Der hier abgedruckte Auszug aus dem 4. Bild – in Kästners Roman ist dies die Anfangsszene – und dem 7. Bild vermittelt einen Eindruck von der Sprache und der Phantasie der Figuren.

4. Bild Tag 2Mittag – Bei Pogge

Pünktchen Chömmer endli ässe?Berta Häsch Hunger?Pünktchen Ich haBerta So so, z’tue.Pünktchen verkauft Berta eine Portion Pommes. Herr Pogge schaut ihr zu.Frites de luxe!Pommes wie na nie!Jede Tag handgmacht.Nur acht Franke.Herr Pogge Acht Franke?Pünktchen erschrickt Häsch du de Piefke verschreckt!Berta Du bisch au da.Herr Pogge Es isch doch Dsiischtig.Was sind das für Pommes?Pünktchen Wänd Sie probiere?Herr Pogge Ja bitte.Pünktchen Nächster Halt Yverdon-les-Bains. Prochain arrêt Yverdon-les-Bains. Bitte alle einsteigen. Ce train continue à Zurich.Herr Pogge Nöd schlächt.Pünktchen Grüezi mitenand. Bitte alle Billette vorweisen.Danke.Danke schön.

De Herr. Ihres Billett bitte.Herr Pogge Aber Frau Kondiktör. Ich bin doch de Verchersminischter.Pünktchen Ach so.Herr Pogge Wie isch’s i de Schuel gsi?Pünktchen Am liebschte wäri en Zwilling. Also zwei. Dänn chönti da und det gliichzitig si.Herr Pogge Drü mal acht?Pünktchen Einhundertzwänzg dur foif.Berta An Tisch, Pünktchen.Pünktchen Endli.Berta Häsch d’Händ gwäsche?Wo isch d’Andacht?Pünktchen Na dobe.Berta Immer en Extraiiladig, s’Frölein.Pünktchen Marie! Ässe!Herr Pogge schluckt seine Tabletten und verzieht das Gesicht.Pünktchen Mir wäred beid gliich azoge und hetted di gliich Haarfarb und ganz genau gliichi Gsichter. Käne wüsst, wer ich bin und wer sie isch. Und wenner meined, ich bin’s, isch es sie, und wenner meined sie isch’s, dänn bin ich’s.Herr Pogge Nöd zum ushalte.Pünktchen Ihr würed gar nöd merke, dass ich nöd da bin, will sie da isch, und ich wär scho lang det.Marie Zwillinge sehen meistens sehr verschieden aus.Pünktchen Mir jedefalls nöd. So öpis ähndlichs händer na nie gseh. Nöd emal de Papi chönt eus usenand halte.Herr Pogge Ich ha scho a dir gnueg.Berta zu Marie Hät s’Pünktchen Ufzgi.Pünktchen Chani is Zimmer?Herr Pogge Ich bin extra heicho.Pünktchen Usgrächnet hüt.Herr Pogge Ich bin immer am Dsiischtig da.Was muesch denn so dringend?Pünktchen Susch isch am Dsiischtig au nie Dsiischtig, sondern Sitzig.Sie steht auf, geht in ihr Zimmer und schleicht sich aus dem Haus. Sie macht sich auf den langen Weg zu Anton.

7. Bild Tag 3 Mittag – Auf der Strasse / Am Pommesstand

Pünktchen macht sich auf die Suche nach Lehrer Bremser. Die Umgebung

verändert sich. Das Wohlbehütete weicht dem Rauen. Pünktchen überwindet Hindernisse, fragt sich durch, wird weiterverwiesen und abgewimmelt, schliesslich findet sie ihn.

Pünktchen En Guete.Bremser Danke.Pünktchen Sie müend de Herr Bremser si?Bremser Ich mues wiiter.Pünktchen Bitte.Bremser Du ghörsch nöd zu eusne.Pünktchen Luise Pogge. Bremser Pogge, Pogge, das kenni doch.Pünktchen Ich ghör nöd zu Ihrne.Bremser Das gsehtmer uf de erscht Blick.Berta De erscht Blick chasch vergesse, de isch wie de erscht Ufguss vom Tee, starch aber bitter.Bremser Wie bitte?Pünktchen Das seit oisi Chöchin.Bremser Det vorne fahrts Tram. Ich mues. Lehrerkonferenz, zwei Schtund Rechne mit foifezwänzg Wilde.Pünktchen Foifezwänzg Wildi geteilt dur de Chreis foif macht foif Bravi.Bremser D’Iiladig für de Elterenabig i sibe Sprache übersetze.Pünktchen Invitation pour une soirée des parents à l’école.Bremser Franz isch nöd so gfräget.Pünktchen Sie kenned doch de Anton Gast. Er gaht i Ihri Klass.Bremser Eine vo villne. Und vill gänd en Hufe z’tue.Pünktchen Er isch zmittst i de Schtund iigschlafe. Und er hät sini Ufzgi nöd gmacht.Bremser Los Luise –Pünktchen Ich bin am Anton sini Fründin.Bremser geht. Denn hilf em doch bi de Ufzgi.Pünktchen Am Anton sini Mueter isch chrank. Sie liit sit Wuche dähei im Bett.Bremser zögert. Das hani nöd gwüsst.Pünktchen Sie cha nöd choche, aber öper mues ja choche! Und wüssed Sie wer chocht?Bremser ...Pünktchen Sie verdient au ke Geld, aber öper mues ja Geld verdiene. Und wüssed Sie wer Geld verdient? Das händ

Geschichte einer ungleichen Freundschaft

Sie au nöd gwüsst, klar, was wüssed Sie eigentlich?Bremser Wie verdient de Anton das Geld?Pünktchen Er schafft Tag und Nacht und wenn Sie jetzt en Brief schriibed, dass er fuul isch, denn wird sini Mueter grad wider chrank vor Schreck. Und lang haltet de Anton das nüme us.Bremser Und wieso chunt er nöd zu mir?Anton Lieber biisimer Zunge ab.Pünktchen Ich glaub, er isch sehr stolz.Bremser ...Pünktchen Sie sind en guete Lehrer, das hani grad denkt.Bremser ...

Pünktchen Sie isch scho fascht wider gsund.Bremser Ich schriib de Brief nüme vor de Ferie. Aber s’Problem isch dademit nöd glöst.Pünktchen Sicher. Und na öpis, säged Sie am Anton bitte nöd, dass ich da gsi bin.Bremser Du bisch doch sini Fründin?Pünktchen Scho aber –Bremser Deux ou trois fois rien?

Der abgedruckte Text entspricht dem Stand vor Probenbeginn.

Pünktchen & Antonnach Erich KästnerFamilienstück ab 7 JahrenFassung für das Schauspielhaus Zürich von Lorenz Langenegger, Regie Philippe Besson, Bühne und Kostüme Henrike Engel, Musik Andreas Dziuk und Lukas Langenegger, Theaterpädagogik Milena MüllerMit Pan Aurel Bucher, Veronique Doleyres, Adrian Furrer, Sarah Hostettler, Rahel Hubacher, Dominique Jann, Fabian Müller, Gian Rupf, Pia WaibelAb 18. November im Pfauen

Sarah Hostettler und Fabian Müller spielen die Titelrollen

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2726 27 Schicht mit der Theaterplastikerin Christine Rippmann

Christine Rippmann, Theaterplastikerin am Schauspielhaus Zürich, bekommt man als Theaterbesucher nie zu Gesicht, aber ohne ihre Arbeit ist ein gelungener Theaterabend kaum möglich. Eva-Maria Krainz hat sie einen Tag lang bei ihrer Arbeit an Muriel Gerstners Bühnenbild für Sebastian Nüblings Inszenierung von „Wie es euch gefällt“ begleitet.

10.30 Uhr Vorbei an halbfertigen Kirchenbänken und -mauern (für „Messer in Hennen“ in der Regie von Heike M. Goetze) gehe ich durch die Montagehalle in Richtung Malsaal, wo ich mit Christine Rippmann verabredet bin. Ich treffe sie im ersten Stock, wo sie am Styropor-„Fell“ einer lebensgrossen Kuh schnitzt, die bald in Bertolt Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ (in der Regie von Sebastian Baumgarten) auf der Bühne zu sehen sein wird.

10.34 Uhr Der Grund meines Besuches ist ein riesengrosser Baum, der das Herzstück des Bühnenbilds von Muriel Gerstner sein wird. Zuerst führt mich Christine zum Modell: Eine Baumkrone gibt es nicht, dafür aber umso dichteres Wurzelwerk. Rund um den Stamm schlängeln sich unzählige Wurzel-Arme – oder sind es vielleicht Schlangen? – von unterschiedlicher Grösse und Dicke, bevor sie scheinbar im Boden verschwinden. Das Modell sieht toll aus, nur: Wie und woraus baut, formt man so etwas für die Bühne? Eine der ersten Fragen von vielen, die auch Christine beschäftigt und ihr ein paar schlaflose Nächte bereitet haben …

10.52 Uhr Es bleibe einem nichts anderes übrig, als einfach irgendwo anzufangen, meint sie pragmatisch. Zuerst gilt es, Vorschläge zu erarbeiten, wie die Vorgaben der Bühnenbildnerin mit den vorhandenen Ressourcen an Zeit, Geld und Arbeitskraft sinnvoll umgesetzt werden können. Abgesehen von den technischen Fragen, die sich dabei stellen, bedeutet ein Projekt dieser Grössenordnung – laut Christine eines der grössten, an denen sie je gearbeitet hat – vor allem auch eine immense logistische Herausforderung: Unmengen an Material müssen im Wettlauf mit der

Zeit verarbeitet werden; das Endergebnis muss sämtlichen Sicherheitsbestimmungen entsprechen, stabil, aber nicht zu schwer, transportfähig und rasch auf- und abbaubar sein – alles in allem ein riesengrosses Puzzle, in diesem Fall aus Eisen, Holz, Styropor und Jute.

11.06 Uhr Christine breitet einen grossen Plan vor mir aus, genauer gesagt eine Handzeichnung, die sie als „Fahrplan“ angefertigt hat und auf der die einzelnen Segmente des Baums mit „R“ (rechts), „M“ (Mitte) oder „L“ (links) bezeichnet und durchnummeriert sind. Zusammen mit Farbmarkierungen dient dieses System der Orientierung und sorgt später auch dafür, dass das Bühnenbild schnell und fehlerfrei aufgebaut werden kann. Sie zeigt mir am Plan den Ast, mit dem sie begonnen hat und meint lachend, am Anfang habe sie sich schon „ein bisschen wie im Märchen“ gefühlt – genauer gesagt wie eine Märchenheldin, die eine scheinbar unlösbare Aufgabe gestellt bekommt!

11.18 Uhr Aber die Heldin hat eine ganz reale Lösung gefunden, die ich jetzt zu sehen bekomme. Wir gehen in die Montagehalle, in der die bereits fertigen Teile des Baumes derzeit lagern: Die riesigen gewundenen, vom Stamm nach aussen hin immer dünner werdenden Äste bestehen aus vielen kleinen Styroporzylindern unterschiedlicher Dicke, die Christine zusammengesetzt und dann in die gewünschte Form geschnitzt hat. Anschliessend wurde alles mit Jute eingekleidet und mit einer Mischung aus Kontaktleim und Lack überzogen. Einige der Äste mussten nachträglich noch einmal aufgeschnitten und von der Schlosserei mit einer massgeschneiderten Innenkonstruktion aus Eisen versehen werden, damit die Schauspieler darauf klettern können. Normalerweise, erklärt Christine, würde man natürlich mit der Innenkonstruktion beginnen, aber in diesem speziellen Fall musste man einfach von allen Seiten gleichzeitig arbeiten, um das Projekt zeitlich bewältigen zu können.

11.55 Uhr Ein Blick auf die Uhr unterbricht uns, Christine muss zu einer Besprechung für die Produktion "Der Steppenwolf" (von

Hermann Hesse), die Anfang November Premiere haben wird (Regie Bastian Kraft) – wie immer wird in den Werkstätten an mehreren Produktionen gleichzeitig gearbeitet.

16.30 Uhr Als wir uns am Nachmittag wieder treffen, statten die „Wie es euch gefällt“-Schauspieler Christine gerade einen Besuch ab, um einen Eindruck davon zu bekommen, was sie auf der Bühne erwartet. Schliesslich werden sie nicht „nur“ Shakespeare spielen, sondern sich auch über das Wurzelwerk bewegen müssen, ohne daran hängenzubleiben oder zu stolpern. Auf der Probebühne gibt es zwar einen provisorischen Aufbau aus Holz und Karton in Originalgrösse, aber es ist für alle Beteiligten wichtig und hilfreich, die für die Bühne verwendeten Materialien auf ihre Tauglichkeit hin zu prüfen. Die Schauspieler haben Bedenken, dass sie die Styropor-Äste beschädigen könnten, wenn sie sich mit ihren Schuhen darauf bewegen. Aber Christine beruhigt: Der Überzug sorgt für Stabilität und sollte es dennoch zu Beschädigungen kommen, wird eben nachgebessert.

17.01 Uhr Als die Schauspieler gegangen sind, um sich auf die Abendprobe vorzubereiten, zeigt mir Christine noch ein paar Bilder vom ersten Teilaufbau des Baumes im oberen Malsaal. Mit seinen fast zehn Metern Höhe hat er weder im Malsaal noch auf der Probebühne Platz und wird erst für die Bühnenproben vollständig zusammengesetzt werden könnten. Ein Moment, den Christine mit Spannung erwartet. Einmal will sie unbedingt bis ganz nach oben klettern, das hat sie sich fest vorgenommen. Um zu sehen, wie ihr Werk von dort aussieht.

Wie es euch gefälltvon William ShakespeareRegie Sebastian Nübling, Bühne/Kostüme Muriel Gerstner, Musik Lars WittershagenMit Christian Baumbach, Jan Bluthardt, Ludwig Boettger, Patrick Güldenberg, Lukas Holzhausen, Franziska Machens, Isabelle Menke, Markus Scheumann, Katharina Schüttler, Susanne-Marie Wrage, Milian ZerzawyAb 27. Oktober im Pfauen

Einmal bis ganz nach oben

Ein riesengrosses Puzzle im Wettlauf gegen die Zeit: Theaterplastikerin Christine Rippmann und der „Wie es euch gefällt“-Baum

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29 28 Ins Theater mit Ilma Rakusa

Erproben der Sprache

Am 20. September besuchte Ilma Rakusa auf unsere Einladung in Begleitung ihres Sohnes die Premiere von „Messer in Hennen“ von David Harrower in der Regie von Heike M. Goetze. Sie sass im Block D, in der 10. Reihe auf Platz 9 in der Box im Schiffbau. Ilma Rakusa ist Schriftstellerin, Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin und lebt in Zürich. Am Tag nach der Vorstellung hat sie unseren Fragebogen beantwortet.

Von woher kamen Sie zur Vorstellung im Schiffbau? Wie war der erste Eindruck, den das Haus auf Sie gemacht hat? Ich bin von zu Hause gekommen, mit dem Bus 33. Den Schiffbau kenne ich seit langem, war ich doch ein Marthaler-Fan.

Was hatten Sie an? Sind Sie aufgefallen? Braunes Kostüm, nicht auffallend, nicht extravagant. Wobei mich gleich jemand darauf aufmerksam machte, dass Eleganz am heutigen Abend definitiv fehl am Platz wäre.

In welcher Stimmung waren Sie in dem Moment, als im Zuschauerraum das Licht ausging? Das Licht ging nicht aus, wir waren schon vor Beginn des Stücks quasi mittendrin, in einem ungewöhnlichen Dekor. Haufen von Stroh, lebendige Hühner, die herumliefen. Keine Normalbestuhlung, sondern alte Kirchenbänke. Die Schiffbau-Box verwandelt in eine Kirchenruine mit gotischen Spitzbogenfenstern, darin eine

Hütte und Stallgeruch. Das alles hat neugierig gemacht.

Haben Sie während der Vorstellung gelacht? Höchstens über das Verhalten der Tiere. Lebendige, zartrosa Ferkel rannten im Raum herum, grunzten, jagten die Hühner, die ihrerseits herumflatterten und sich ungeniert zwischen den Zuschauern niederliessen. Es gab ulkige Szenen. Allerdings lenkten sie vom eigentlichen Geschehen ab.

Hat Sie etwas an der Vorstellung berührt? Die Vorstellung hatte starke Momente. Besonders die junge Frau in ihrer unschuldigen Archaik, mit ihrem Erproben

„Die Dinge verändern sich jedesmal, wenn ich sie anschau.“ Nicolas Rosat, Sarah Hostettler und Jirka Zett

„Zweifelst du an Gott?“ Sarah Hostettler als Junge Frau in „Messer in Hennen“

der Sprache, als würde sie diese erfinden, hat mich berührt. Wo die Handlung ins Dramatische und Grausame kippt, haben die beiden Live-Musiker (Klavier und Cello) markante, ja markerschütternde Akzente gesetzt.

Wann haben Sie zum ersten Mal auf die Uhr geschaut?Kein einziges Mal. Mein Sohn (32) dafür umso häufiger. Nach zwanzig Minuten wurde er unruhig.

Entsprach die Aufführung Ihren Erwartungen?Ich hatte bei diesem mir völlig unbekannten Stück keine Erwartungen, wollte mich einfach überraschen lassen. Überrascht war ich in der Tat, allerdings auch etwas ratlos. Es handelt sich um ein Stück, das etwas suggeriert, nur weiss man nicht genau, was.

Hatten Sie während des Zusehens den Gedanken, dass es besser gewesen wäre, wenn Sie sich vor Ihrem Besuch noch einmal genauer über den Text und den Autor informiert hätten? Durchaus. Aber ich bin das Wagnis eingegangen, den Text nicht zu lesen. Jetzt möchte ich das Versäumte nachholen – und mir danach die Vorstellung vielleicht nochmal anschauen.

Finden Sie, dass die Aufführung etwas mit Ihnen zu tun hat? Die Fragen, die in dem Stück aufgeworfen werden, sind grosse und gewissermassen zeitlose Fragen: Was ist Glaube, Individualität, Sprache? Mich persönlich interessiert vor allem das Thema Sprache. Die junge Frau verwendet sie zunächst in einem archaisch-magischen Sinne, als wäre ein Wort eine reale Sache. Erst nach und nach lernt sie, dass Sprache relativ, ja arbiträr ist, und gleichzeitig entdeckt sie sich selbst als Individuum, als Subjekt.

Hätten Sie Lust, das Bühnenbild zu betreten? Welchen Platz würden Sie sich darin suchen? Mir war es in meiner Kirchenbank gerade recht. Über zig gestapelte Mehlsäcke in das weit oben thronende Schreibstübchen

des Gilbert Horn zu klettern, hätte mich wenig gereizt. Alles andere noch weniger.

Wie zufrieden waren Sie mit dem Publikum? Haben Sie sich geärgert oder gefreut? Das Publikum war angenehm und aufgeschlossen. Niemand schien sich über das fröhliche Getier zu ärgern, obwohl die Hühner schon etwas aufdringlich waren und es nach Schwein roch.

Haben Sie sich nach der Vorstellung über das Stück unterhalten? Harrowers Stück ist radikal und provokativ, es hat das Zeug, Meinungen zu polarisieren. Mein Sohn und einige Freunde haben dezidiert ablehnend reagiert, ich selber habe mich eher gefragt, worauf das Ganze abzielt. Sollen wir uns in einen Zustand zurückbuchstabieren, der wie ein Anfang aussieht? Liegt darin die Chance? Oder liegt sie im unentwegten Fragen, in der ständigen Selbsterfindung?

Welche Frage würden Sie dem Regieteam dieser Aufführung gerne stellen?Wie der Naturalismus der die

Aufmerksamkeit allzu stark absorbierenden Tiere zusammengeht mit der komplexen Frage nach Sprache, Erkenntnis, Individuation. Oder soll uns die sprachlose Kreatur vorführen, dass wir ganz woanders zu Hause sind?

Welches Stück würden Sie gerne als nächstes sehen? Den „Hamlet“, zum x-ten Mal. Den von Zadek und von Nekrošius habe ich in starker Erinnerung. Auf Neues bin ich gespannt.

Messer in Hennenvon David Harrower Regie Heike M. Goetze, Bühne Bettina Meyer, Kostüme Heike M. Goetze, Musik Laurenz Wannenmacher und Christian DeckerMit Sarah Hostettler, Nicolas Rosat, Jirka Zett Noch bis 15. Oktober im Schiffbau/Box

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3130 Lukas Bärfuss

Schauspielhaus Zürich Zeitung #6

Herausgegeben von der Schauspielhaus Zürich AGZeltweg 5, 8032 Zürichwww.schauspielhaus.ch

Intendanz Barbara Frey

Redaktion Lukas Bärfuss, Katja Hagedorn,Thomas Jonigk, Eva-Maria Krainz, Meike Sasse, Andrea Schwieter, Karolin Trachte (Leitung)

Fotos Matthias Horn S. 7/8/14 oben/15/28/29, Eke Miedaner S. 20, Meike Sasse S. 9/10, T+T Fotografie S. 1/4/13/14 unten/ 16–17/22/25/26/32

Gestaltung velvet.ch / Nina OppligerDruck Speck Print AG, BaarAuflage 20 000Erscheint am 5. Oktober 2012

Partner des Schauspielhauses Zürich

Man sitzt in einem Café, trinkt seinen Cappuccino und sieht, wie gegenüber eine junge Frau ihr schickes Cabriolet parkt – und zwar mitten im Halteverbot. Die Fahrerin steigt aus, kramt in ihrer Chanel-Handtasche und zieht schliesslich einen Bussenzettel hervor, den sie unter den Scheibenwischer ihres Wagens klemmt. Dann geht sie ihrer Wege, und nach einer Sekunde der Verwunderung fühlt man, wie einem die Empörung über diese Unverfrorenheit in den Kopf steigt. Ein typisches Verhalten für eine Generation, denkt man bei sich, die nichts als den eigenen Vorteil kennt, Luxuskarossen für eine Selbstverständlichkeit, Parkgebühren aber für eine Zumutung hält. Und man erinnert sich vielleicht an die Inszenierung der Genesis, die Stefan Bachmann in der Halle des Schiffbaus auf die Bühne gebracht hat. Dort werden Sünder ohne Nachsicht verfolgt. Die verdorbenen und gewalttätigen Menschen werden mit Stumpf und Stiel ausgerottet, ertränkt in einer grossen Flut. Nur der tugendhafte Noach wird mit seiner Familie gerettet. Auf Sodom und Gomorra, diesen Sündenpfuhl, lässt der Herr Feuer regnen, aber Lot, der sich gegen die Drohungen seiner Nachbarn stellt und die beiden Gesandten des Herrn als Gäste in sein Haus aufnimmt, diesen selbstlosen, redlichen Mann, ihn alleine rettet Er. Man wünscht der eitlen, asozialen Dame nicht gerade ein solches Strafgericht, aber ungeschoren darf sie nicht davonkommen. So jubelt man innerlich, als einige Minuten später eine Politesse um die Ecke biegt und ihr unbestechliches Auge auf das falsch

parkierte Cabriolet heftet. Sehr bald wird man Zeuge sein, wie die Gerechtigkeit siegt, doch während die Ordnungshüterin den Wagen unter die Lupe nimmt, fällt einem plötzlich ein, dass Noach seine Rettung vorm Ersaufen mit einem Besäufnis feierte, bis er nackt und besinnungslos in seinem Zelt lag. Und Lot ging noch weiter, betrank sich ebenfalls und krönte seine Feier nach dem Feuer mit der Schwängerung der eigenen Töchter. Sehr tugendhaft waren diese Gerechten nicht. Auch Jakob nicht, immerhin der Vater der zwölf Stämme Israels, von Gott behütet und gesegnet. Er war ein Betrüger, der seinem halbverhungerten Bruder Esau für einen Teller Linsen das Erstgeburtsrecht abnahm. Seinen blinden und sterbenden Vater betrog dieser Jakob, gab sich als Esau aus und erschlich sich den Segen, der ihn zum Herrscher über seinen Bruder machte. Und später wird ein Verbrecher sogar zum Verkünder des Gesetzes, Moses mit Namen, der einen ägyptischen Aufseher erschlägt. Ja, wenn man es recht betrachtet, ist der Stifter des Abendlandes, jener, der mit den zehn Geboten vom Berg Sinai kam, nichts weniger als ein Polizistenmörder. So betrachtet man die Politesse, die jetzt den Bussenzettel entdeckt hat, mit anderen Augen, fragt sich, wer auf welcher Seite stehe; die Dame mit dem Wagen vielleicht auf jener Noahs, Jakobs, Lots und Moses? Und man selbst gemeinsam mit der Politesse könnte womöglich unter jenen sein, die sich zu den Gerechten zählten und doch ersäuft und verbrannt wurden von einem Gott, der eine etwas seltsame

Vorstellung von der Rechtschaffenheit zu haben scheint. Sein eigenes Schicksal hat Er an Betrüger und Mörder geknüpft, selten an Ordnungshüter und Polizeibeamte. Während also die Politesse die fingierte Busse unter die Lupe nimmt, denkt man über die eigene moralische Verwirrung nach, und auf eine seltsame Weise ist man getröstet, als sie nach einer Weile das Corpus Delicti zurück unter den Scheibenwischer klemmt und von dannen zieht. Der Trick hat funktioniert. Gottes Wege sind eben untergründlich. Dann und wann scheint Er ein kreatives Verbrechen dem faden Vollzug der Gerechtigkeit vorzuziehen.

Neulich in Zürich

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Die Credit Suisse ist langjähriger Partner des Schauspielhauses Zürich.

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„Nimm dich in Acht vor dem frühkapitalistischen Sündenfall hier auf der Alp!“aus „Heidis Alptraum. Ein assoziatives Alpenexperiment“Konzept Meike Sasse, Hannes WeilerNoch bis 26. Oktober im Pfauen/Kammer