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SCHLEUDER DAS TRAUMA INFO Ausgabe 2 /2012 Beschwerden differenzieren! Kinesio Taping Eingliederung nach IV 6a Aus dem Gerichtssaal

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SCHLEUDERDASTRAUMAINFO Ausgabe

2 /2012

• Beschwerdendifferenzieren!

• KinesioTaping

• EingliederungnachIV6a

• AusdemGerichtssaal

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Inhaltsverzeichnis

Editorial

Intern

Neu im Vorstand

Medizin

Einer Differenzierung nicht zugänglich

Kinesiotaping

Politik

Eingliederung, IV

36 Fragen zur IV

Finanzperspektiven der IV

Justiz

Gerichtsurteil Schwyz

Gerichtsurteile

Literatur

Weiterhin lesenswert

Impressum

Herausgeber Schleudertraumaverband, Zürich

Redaktion Geschäftsstelle Zürich

Anschrift Schleudertraumaverband Horneggstrasse 9, 8008 Zürich Tel. 044 388 57 00, Fax 044 388 57 01 [email protected] www.schleudertraumaverband.ch

Beratungszeiten Montag / Dienstag 09.00 – 12.00 Uhr Donnerstag / Freitag 09.00 – 12.00 Uhr

Spendenkonto PC: 80-11032-6

Erscheinungsweise 2 x jährlich, Auflage je 2500 Exemplare

Copyright Schleudertraumaverband, Zürich Für Fachbeiträge liegt das Copyright bei den Autoren

Haftung Der Verband übernimmt für die Richtigkeit von Informationen sowie für unbestellt erhaltene Unterlagen keine Haftung.

Besonderes Die Autoren und Autorinnen vertreten je-weils ihre Meinung, die sich nicht unbedingt mit der Meinung des Schleudertraumaver-bandes decken muss. Artikel zu bestimmten Therapieformen können deshalb nicht als Therapieempfehlung im eigentlichen Sinn verstanden werden, sondern sind lediglich ein Hinweis auf mögliche Behandlungs - formen. Von «Heilversprechen» jeglicher Art distanziert sich der Schleudertrauma-verband an dieser Stelle.

Inserateverkauf Schleudertraumaverband Horneggstrasse 9, 8008 Zürich Tel. 044 388 57 00, Fax 044 388 57 01 [email protected] www.schleudertraumaverband.ch

Titelseite Thinkstock.com

Vorstand Gerda Braun, Zürich, Frank Goecke, Zürich, Pierre Seidler, Delémont, Herbert Schober, Zürich, Philip Stolkin, Zürich

Geschäftsstelle Pia Ernst, Geschäftsführung Susanne Elsener, Administration Barbara Raymann, Beratung Margrith Stalder, Beratung, Felsberg GR

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3SCHLEUDERDASTRAUMAINFO

Liebe Leserinlieber Leserliebe Mitglieder

Als Schleudertrauma-Betroffene mit IV-Leistungen haben Sie eventuell in den letzten Monaten ein Schreiben der Invalidenversicherung erhalten. Seit Anfang Jahr wird die Verordnung zur IV-Revision 6a «umgesetzt».

Weiterhin gilt bei der IV der schönfärberische Grundsatz Eingliederung vor Rente – nur nicht für Schleudertrauma-Betroffene oder andere «Päusbo-nogrus»1. Für diese gilt: «Rente sicher nicht, Einglie-derung geht oft nicht, bleibt noch das Sozialamt». – Ja, oft bleibt nur der Galgenhumor. Denn eine Eingliederung, die eine auf Jahre hinaus finanziell tragfähige Lösung für den Betroffenen darstellt, würde ja eine Arbeitsstelle im 80 – 100% Pensum voraussetzen. Wie bitte, soll man dies mit persistie-renden Beschwerden bewältigen können?

Es zeigt sich, dass die IV-Stellen bei der Umsetzung des IV6a-Ungeheuers oft überfordert sind. Erkun-digt man sich bei fünf IV-Stellen über den genauen Ablauf des Verfahrens, erhält man in etwa gleich viele verschiedene Antworten. So wird dann erst mal bei den Betroffenen Verunsicherung gestiftet und Angst geschürt.

Da nützt es auch nicht viel, wenn die IV ihre Ver-sicherten und Rentner eher euphemistisch als «Kunden» und die IV-Sachbearbeiter sich selbst als

«Kundenberater» bezeichnen. – An diesen Bezeich-nungen ist nämlich so ziemlich alles falsch. Kunden haben einen Einfluss auf den Vertrag den sie unter-schreiben und können danach selbst entscheiden, welche Leistung in welchem Umfang sie wann in Anspruch nehmen wollen. Kundendienst bezweckt, eine gute, tragfähige Beziehung zu erhalten und für beide Seiten tragbare Lösungen zu finden – und der Kunde ist König – eben!

Nun der Gesetzgeber hat also per 1. Januar 2012 erkannt, dass Schmerzen und andere Schleuder-traumafolgen wie chronische Müdigkeit willentlich überwindbar seien.

Da tut es gut, zu hören, dass sich nicht jeder Richter dieser unserer Alltagserfahrung zuwiderlaufenden «Erkenntnis» anschliesst. Einerseits hat das Be-zirksgericht Schwyz hier sorgfältig differenziert und sich nicht der grassierenden Meinung «du kannst schon, wenn du nur fest genug willst» angeschlos-sen, sondern zumindest im Haftpflichtrecht eine mögliche Einschränkung anerkannt.

Betreffend Wille übrigens ein interessanter Ausriss aus der Begriffserklärung in Wikipedia: Mit dem Begriff des Willens wird in aller Regel ein Gefühl oder vages Bewusstsein, der Eindruck oder die mehr oder weniger feste Überzeugung verbunden, in seinem Wollen frei zu sein. Was genau unter dieser sogenannten Willensfreiheit zu verstehen ist und ob sie tatsächlich gegeben ist, ist um-stritten.

Das St. Galler Versicherungsgericht hat erkannt, dass eine Depression die Fähigkeit zur willentlichen Überwindung der Arbeitsunfähigkeit beeinflussen könne. Der Wille ist also eben nicht frei und über alle Einschränkungen erhaben.

Wenn man durch einen Unfall, sei es beim Sport, bei der Arbeit oder im Strassenverkehr ein Schleuder-trauma erleidet, erschreckt dies im ersten Moment

Editorial

Einleitung

1 pathogenetisch-ätiologisch unklare syndromale Beschwerde-bilder ohne nachweisbare organische Grundlage

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und verunsichert. Was sind die ersten, wichtigen medizinischen und therapeutischen Schritte, die zu unternehmen sind. Weiss mein Arzt, was zu tun ist, und wo finde ich eine gute Therapeutin? Dass die allermeisten Betroffenen eines akuten Schleuder-traumas nach einigen Wochen mit der schnellen und richtigen Behandlung wieder «ins Lot» kom-men, ist sehr beruhigend zu wissen.

Jedes Jahr wieder müssen sich aber eben auch viele Patienten mit weiteren Folgen, sowohl medizi-nisch wie auch finanziell und juristisch, herum-schlagen. Ihnen wollen wir Partner und Verbündete sein und mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Ihnen, lieber Leser, liebe Leserin, ob betroffen oder nicht, danken wir für die aktive Unterstützung.

Sagen Sie es weiter, dass es uns gibt, und helfen Sie so, die unselige Entwicklung in der Gesellschaft und bei den Gerichten dort, wo Sie es können, zu beein-flussen. Jedes Statement ist wichtig. Wir dürfen uns nicht verstecken.

Pia ErnstGeschäftsführerin

WasistdennGesundheit?

WHO (1948): Gesundheit ist ein Zustand des umfassenden körperlichen, geistigen und sozialen Wohl-befindens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Behinderung.

– Sozialversicherungsrecht: Gesundheit ist die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit.

– Friedrich Nietzsche (Philosoph): «Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch er-laubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen.»

– T. Parsons (Soziologe): «Gesundheit ist ein Zustand optimaler Leistungsfähigkeit eines Individuums, für die wirksame Erfüllung der Rollen und Aufgaben für die es sozialisiert worden ist.»

– Pschyrembel med. Wörterbuch (1986): Gesundheit ist die subjektive Empfindung des Fehlens von körperlicher, seelischer und geistiger Störung bzw. Veränderung.

– Klaus Hurrelmann (Soziologe): «Gesundheit ist der Zustand des objektiven und subjektiven Befin-dens einer Person, der gegeben ist, wenn diese Person sich in den physischen, psychischen und sozialen Bereichen ihrer Entwicklung im Einklang mit den eigenen Möglichkeiten und Zielvorstel-lungen und den jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen befindet.»

– Jakob Klaesi, Psychiater: Gesundheit ist auch das Vermögen, Gebrechen fruchtbar zu ertragen.

Diese Liste ist beliebig erweiterbar. Welches ist Ihre Definition?

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5SCHLEUDERDASTRAUMAINFO

Intern

Marlise Iten, Allschwil

Seit der Generalversammlung vom Mai 2012 bin ich als Betroffenenvertreterin im Vorstand aktiv.

Mein erster Unfall ereignete sich 1993. Danach er-litt ich drei weitere Auffahrunfälle, zu guter Letzt noch einen Sturz im Garten nach einem Fehltritt.

Bereits der erste Unfall riss mich total aus meinem bisherigen Leben. Ich hatte keine Ahnung, was mit mir passiert war. Zwei Telefongespräche mit dem Schleudertraumaverband brachten mich damals zu kompetenten Ärzten und zum richtigen Anwalt.

Als 2003 der Schleudertraumaverband zur Grün-dung einer Selbsthilfegruppe in Basel aufrief, fühlte ich mich berufen, meine Erfahrungen und mein Wissen an Mitbetroffene weiter zu geben, um damit aufklärend das Leid etwas zu mildern.

Seit mehreren Jahren leite ich die Gruppe Basel Stadt. Dabei ist es mir wichtig, dass auch die mitbe-troffenen Angehörigen Unterstützung erhalten. Dies ist so wichtig für die Gesundung von Unfallopfern.

Dank der Solidarität meines Arbeitsgebers konnte ich meine Arbeitstelle behalten. Immer wieder war auch von meinen Vorgesetzten viel Verständnis ge-fordert. Das Arbeitsgebiet musste meinen Behinde-rungen angepasst werden.

Meine Freizeit brauche ich oft, um mich vom Ar-beitseinsatz zu erholen. Einen grossen Teil nimmt auch unser Rauhaardackel «Einstein» mit Freuden und Hartnäckigkeit in Anspruch. Er fordert seine Unterhaltung, auch wenn es mir nicht so gut geht.

Ich bedanke mich herzlich für das Vertrauen und-freue mich sehr, mich als Vertreterin von Betroffe-nen im Vorstand und als Leiterin einer Selbsthilfe-gruppe im Vorstand einbringen zu können.

NeuimVorstand

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von Herbert Schober, Fürsprecher, Zürich

Auf der Suche nach der Lösung – wieso Justizirrtümer bei Schleudertraumafällen

Heute wird nicht mehr von Schleudertraumatikern sondern von Päusbonog-Fällen («pathogenetisch-ätiologisch unklare syndromale Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage» – also «PÄUSBONOG») geredet und geschrieben. Der Begriff ist ein Monstrum. Deshalb der Vorschlag: Ersetzen wir ihn durch NOBOP (nicht objektivier-bare Beschwerden organischer oder psychischer Natur).

Der Schleudertraumatiker ist dann ein Nobobber im Gegensatz zum Sobobber (strukturell objektivier-bare Beschwerden organischer und psychischer Natur).

Alle diese Bezeichnungen alleine helfen uns jedoch nicht weiter – wichtig ist, dass wir es schaffen, dass alle Schleudertrauma-Opfer ihre Beschwerden differenziert beschreiben können und dass die Ärzte mit diesen Beschreibungen richtig umgehen. Dann werden Schleudertrauma-Betroffene von No-bobbern zu Sobobbern.

Wenn man Schleudertrauma-Opfer (Nobobber) zu ihren Beschwerden befragt, äussern sie sich meist sehr unglücklich und undifferenziert. Zum Beispiel: «an schlechten Tagen geht gar nichts mehr…», «Kopfweh…», «der Nacken tut weh…», «ich muss mir alles auf Zettel aufschreiben…», «ich habe Angst vor Stürzen…», «ich schlafe schlecht…» und derartige Äusserungen mehr.

Kein Wunder, dass das Bundesgericht dann sagt, die Beschwerden seien «einer Differenzierung nicht zugänglich». Denn alle diese Äusserungen können keiner bestimmten organischen Schädigung zuge-ordnet werden. Entsprechend sind dann auch die ärztlichen Diagnosen.

Differenzierung ist möglich

Es geht aber auch anders – und das ist die Lösung: Schleudertrauma-Beschwerden müssen differen-ziert in einzelne klar umschriebene Beschwerden aufgeteilt werden, welche sich einer Diagnose zu-ordnen lassen.

Lassen Sie uns bei einigen häufigen Beschwerden kurz sehen, wie sich das machen liesse:

KopfschmerzenMeist sind diese sie vom Nacken ausgehend und verbreiten sich dann über den Hinterkopf und an schlimmen Tagen bis zur Stirn.

Wir wissen heute, dass solche Kopfschmerzbilder – wenn sie genau beschrieben sind – sich be-stimmten Triggerpunkten der Nackenmuskulatur zuordnen lassen.1

Ein bestimmter Triggerpunkt bewirkt einen ganz bestimmten sogenannten referred pain (damit zu-sammenhängenden Schmerz).

Kopf-, Nacken- und Schulter-Arm-Schmerzen las-sen sich oft auch ganz bestimmten Facettenge-lenksverletzungen der Halswirbelsäule zuordnen. Der australische Anatom Prof. Dr. Nikolai Bogduk assoziiert gewisse Schmerzbilder mit ganz be-

EinerDifferenzierungnichtzugänglich…

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stimmten Facettenschäden und präsentierte be-reits 1992 in der sogenannten Lord Studie ein Kon-zept, wie sich diese Facettengelenksverletzung zuverlässig orten und diagnostizieren lassen.

Energielosigkeit, schlechter Schlaf, ErschöpfungAusgehend vom Konzept einer Schädigung des Zellstoffwechsels durch das HWS-Trauma2 machen heute (leider erst ein paar wenige) spezialisierte Ärzte die Erfahrung, dass Schleudertrauma-Opfer unter sogenanntem Nitrostress leiden. Nitrostress entsteht, wenn an den traumatisierten Gelenken der Halswirbelsäule durch die C-Nerven-Enden ein Übermass an Stickstoffmonoxid produziert wird. Dieser Stoff wirkt also im Übermass auf den mito-chondrialen Zellstoffwechsel und behindert die Energieaufbereitung in den Zellen. Insbesondere die Treibstoff-Aufbereitung für das Hirn ist beein-trächtigt. Die Folgen sind Energielosigkeit, schnelle Erschöpfbarkeit, schlechter Schlaf, und so weiter.

Der Nitrostress lässt sich ganz einfach mit einem Urintest diagnostizieren. Wird Nitrostress festge-stellt, ist aus biochemischen Gründen klar, weshalb die entsprechenden Beschwerden bestehen. Nitro-stress kann behandelt werden.

Schwindel, Sturzangst, StürzeDie Halswirbelsäule ist ein Gleichgewichtsorgan. Sind einzelne Facettengelenke beschädigt, entsteht – kurz gesagt – häufig Schwindel.

Diese kleinen HWS-Verletzungen können klar diag-nostiziert und in der Folge auch behandelt werden.

Dies sind nur drei Beispiele von Beschwerdebildern, die Folgen eines Schleudertraumas sein können. Sie sind ganz klar differenzierbar, diagnostizierbar und sehr häufig auch behandelbar. Voraussetzung dafür ist aber, dass die Beschwerden dem Arzt auch sehr differenziert beschrieben werden. Und natür-lich ist auch sehr wichtig, dass der Arzt die differen-

zierte Beschreibung so in der Krankengeschichte vermerkt.

Dies muss vom ersten «Nachunfalltag» an richtig laufen. Dann werden wir in Zukunft nicht mehr von Schleudertrauma, sondern von Facettengelenks-verletzung mit der Folge von Triggerpunkten und damit zusammenhängenden Kopf- und Nacken-schmerzen und Schwindel reden. Wir werden auch von einer Stoffwechselstörung als Folge des HWS-Traumas reden.

Der Schlüssel zu all diesen Schädigungen ist die Facettengelenksverletzung: Behandelnde Ärzte soll-ten Patienten mit HWS-Trauma zur Facettenge-lenksdiagnostik nach Bogduk überweisen.

Adressen von Anlaufstellen für die verschiedenen Fachgebiete erhalten Sie bei der Geschäftsstelle des Verbandes.

Medizin

1 Dr. Beat Dejung: Triggerpunkt-Therapie, Verlag Huber, Bern. ISBN: 978-3456843759

2 Dr. Bodo Kuklinski, das HWS-Trauma, Aurum im Kamphausen Verlag. ISBN: 978-3899010688

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von Gerda Braun, Physiotherapeutin dipl. Psychologin IAP, Zürich

Bei den Olympischen Spielen in London sah man kaum noch einen Athleten ohne die bunten Strei-fen: Ein Kinesio-Tape auf der nackten Haut zu tra-gen, gehört heute für Spitzensportler fast schon zum guten Ton. Aber die Tapes sind auch in der alltäglichen physiotherapeutischen Praxis längst angekommen.

Woher kommen sie?

Anfang der siebziger Jahre suchte Dr. Kenzo Kase, ein japanischer Chiropraktiker, nach neuen Thera-pietechniken. Er suchte nach sanfteren Ansätzen, um negative Auswirkungen durch die konventio-nelle chiropraktische Behandlung möglichst gering zu halten. Sein Augenmerk richtete er speziell auf die Strukturen von Muskeln und Muskelfaszien so-wie den Lymphfluss. Dabei kamen verschiedene Konzepte zur Anwendung und er entwickelte unter anderem das klassische Sporttape und das erste kinesiologische Tape.

Das Kinesio-Tape besteht aus elastischem Ge-webe (Baumwolle) mit einer speziellen Faser-An-ordnung, es ist beschichtet mit einem Acrylkleber auf Papierstreifen, den man abzieht. Dieses Tape passt sich der Körperstruktur gut an und ist nicht zu verwechseln mit dem viel festeren Gelenktape, welches zur Gelenkstabilisation verwendet wird. (Bei Sportlern z.B. für die Finger- oder Fussgelenk-stabilität.)

Wie wirken die Tapes?

Die Wirkung kommt zustande durch die unter-schiedliche Dehnung und die Art und Weise des Klebens und Anlegens der einzelnen Tapes.

Die wichtigste Wirkung ist der «Lifting Effekt» auf die Haut. Das Tape hebt die Haut leicht an und sorgt

dadurch für eine Reduktion der Kompression in den Kapillargefässen. Häufig berichten Patienten auch von einem warmen Gefühl. Dies lässt sich mit der Verbesserung der Durchblutung erklären. Die Hautoberfläche wird zusätzlich stimuliert. Dies be-wirkt eine Schmerzlinderung durch den «Gate Con-trol Effekt». Forscher der Universität Lübeck konn-ten in einer Studie nachweisen, dass diese Stimu-lation der Hautrezeptoren zu einer Reduktion der Schmerzhormone führt.

Zusätzlich üben die Tapes einen Drainageeffekt auf das Lymphsystem aus, was zu einem verbesserten Abfluss der angestauten Flüssigkeit im Gewebe und aus dem extrazellulären Raum führt.

Wenn Kinesio-Tapes auf den Muskelketten ange-legt werden, üben diese eine unterstützende Wir-kung auf die Muskelfunktionen aus. Man kann also einen verspannten Muskel entlasten, das heisst detonisieren, oder umgekehrt ein Muskel stärken-des Tape zur Tonisierung anlegen. Je nach Stärke des Zuges, welcher beim Anlegen auf das Tape ausgeübt wird und abhängig von der Klebe-Rich-tung, können unterschiedliche Wirkungen erzielt werden.

SeitneuesteminallerMunde:KINESIO-TAPE

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Medizin

Wie anlegen?

Bei der Anlagetechnik ist es häufig sinnvoll, auch die Muskelkette auf der Gegenseite zu tapen, der Effekt wird dadurch verstärkt.

Das Tape soll von einer Fachperson angelegt wer-den, damit es an der richtigen Stelle und mit der idealen Dehnung geklebt ist. Man kann das Kinesio-Tape je nach Anlage und Zielsetzung bis zu maximal 100% dehnen. Durch die Dehnung kann das Tape die Körperbewegungen auch unter hoher Belastung problemlos begleiten.

Damit die Tapes beim Anlegen gut haften, muss die Haut frei sein von Crèmes oder sonstigen Stoffen, am besten mit einem Spezial-Reiniger oder Alkohol gereinigt, der Klebstoff des Tapes kann sich so bes-ser verteilen und wirken. Der Zug soll richtig dosiert sein und die Ursprungs- und Ansatzpunkte der Muskeln sollen jeweils miteinbezogen werden. Je nach Zielsetzung (detonisierend oder aufbauend) wird das Tape vom Ursprung zum Ansatz eines Muskels oder umgekehrt geklebt. Eine unsachge-mässe Anlage, zu starker Zug oder eine Tape-An-lage am falschen Ort, können zu Irritationen oder zu einer verminderten Wirksamkeit führen. Nebenwir-

kungen sind selten, falls doch, sind dies meist Hau-tirritationen oder dass das Tape auf der Haut nicht vertragen wird.

Ein Kinesio-Tape kann 4 – 6 Tage an der gleichen Stelle kleben bleiben, die lange Wirkdauer ist von entscheidender Bedeutung für die Schmerzblo-ckade. Das Tape darf nass werden (duschen, schwimmen), es trocknet innerhalb von Minuten und bleibt bei einer guten Anlage problemlos kle-ben.

Auf einzelnen Schmerzpunkten können auch soge-nannte Schmerztapes angelegt werden, welche kompakt sind und sehr punktuell wirken. Dabei wird das Tape sternförmig angelegt. Der der Liftingeffekt auf die Haut und die Hautrezeptoren wird so stark verstärkt. Durch die Durchblutungsverbesserung wird nach meiner Erfahrung auch hier oft ein ange-nehmes Wärmegefühl verspürt, was zusätzlich Schmerz reduzierend wirkt.

Von einigen Autoren wird zusätzlich auch den Far-ben der Tapes eine Wirkung zugeschrieben: rot = tonisierend und energieaufbauend, blau = entspan-nend, schwarz = neutral. Dies wird ganz unter-

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schiedlich gehandhabt und angewendet. Man kann auch den Klienten in die Farbwahl mit einbeziehen.

Gut wirksam auch bei Halswirbelsäulen- Distorsion

Bei HWS-Verletzungen wie Distorsionsverletzungen ist es wichtig, das Tape über dem richtigen Muskel und am richtigen Ort anzulegen, damit es seinen Effekt entfalten kann. Neben dem Hals – hinten und seitlich – sollen auch der Rücken und die Schultern miteinbezogen werden. Die myofaszialen Anlagen für den Rücken werden von unten nach oben ge-klebt. Am Nacken wird das Tape dem Schultermus-kel (M. trapezius) entlang und neben der Wirbel-säule geklebt. Man kann bis in den Hinterkopf-bereich und so weit wie möglich hoch kleben, um die oberen Nackenmuskeln möglichst einzubezie-hen. Ein chronisch verspannter Muskel führt häufig eine Lymphstauung mit sich. Dies ist besonders bei HWS-Patienten häufig anzutreffen. Durch den Lifting-Effekt werden die Lymphgefässe entkompri-

miert und der Transport von Lymphe und Blut wird verbessert. Hier zeigt sich ein hervorragendes Ein-satzgebiet von Kinesio-Tapes.

Das Kinesiotape eignet sich hervorragend zur Un-terstützung der Behandlung von HWS-Distorsionen, zur Muskelentlastung und zur Durchblutungsver-besserung.

Tapeanlagen, Tape-Kurse und Informationen:

Gerda BraunFuture Health PointBremgartnerstrasse 188003 Zü[email protected]

Praxis für Craniosacral- und Komplementär-therapie. Vorstandsmitglied des Schleuder-traumaverbands

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Medizin

Weil man bei einem Aufprall von hinten etwas aus dem Sitz gehoben wird, muss die Kopfstütze einer-seits nahe hinter dem Kopf, aber auch genügend hoch eingestellt sein. Sind Höhe und Abstand der Kopfstütze richtig eingestellt, wird der Kopf bei einem Aufprall deutlich schonender abgefangen.

1. Die richtige Höhe einstellen: Die Oberkante der Kopfstütze befindet sich auf der gleichen Höhe wie die Oberkante des Kopfes.

2. Den richtigen Abstand einstellen: Der Hinterkopf berührt die Kopfstütze. Falls der direkte Kontakt des Kopfs mit der Kopfstütze als unangenehm empfunden wird, soll der Abstand so klein wie möglich sein.

Neue Autos sind besser

Die neueren Testergebnisse lassen hoffen. Viele Autohersteller bieten heute neben passiven Kopf-stützen auch diverse verbesserte Konzepte an. Wenn sich Ihre Stütze nicht sauber an Ihre Bedürf-nisse anpassen lässt, bestellen Sie bei uns die Kopf-stützenergänzung ContiCuraPlus®. Sie passt auf praktisch alle Sitze und kann übrigens auch auf die Rücksitzstützen montiert werden.

Wir freuen uns, dass wir die Kopfstützenergänzun-gen aufgrund verbesserter Einkaufskonditionen neu um 25% reduziert anbieten können. Neuer Preis: Fr. 59.–, ab zwei Stück, Fr. 54.–

AufdierichtigeEinstellungkommtesan

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Das erste Massnahmenpaket der 6. IV-Revision trat Anfang 2012 in Kraft. Die Revision verfolgt unter an-derem die Förderung der Wiedereingliederung von Rentenbezügerinnen und -bezügern. Es sollen auf-grund somatoformer Schmerzstörungen, Fibromyal-gie, Schleudertrauma oder ähnlicher Krankheits-bilder ausgerichtete Renten überprüft werden. Die Rente wird bei allen Personen, die keine Zusatzvor-aussetzungen erfüllen, aufgehoben oder herabge-setzt. Nach der Herabsetzung oder Aufhebung der Rente, können die Betroffenen Massnahmen zur Wiedereingliederung in Anspruch nehmen. Während der Durchführung dieser Massnahmen wird die Rente während längstens zwei Jahren weiterhin ausgerichtet. Versicherte, die das 55. Altersjahr zu-rückgelegt haben oder die zum Zeitpunkt, zu dem die Überprüfung eingeleitet wird, seit mehr als 15 Jah-ren eine IV-Rente beziehen, sind von dieser Überprü-fung nicht betroffen. (Auszug aus: Faktenblatt 6. IV-Revision erstes Massnahmenpaket, Hrsg.: Informa-tionsstelle AHV/IV in Zusammenarbeit mit BSV.)

Wir haben uns umgehört und Informationen und Empfehlungen für Betroffene zusammen getragen:

Es zeigt sich, dass die einzelnen Kantone die Ren-tenüberprüfung mit unterschiedlicher Geschwin-digkeit und unterschiedlicher Verfahrensweise an-gehen. So haben uns aus den Kantonen Schaffhau-sen, Aargau, Zürich schon zahlreiche Anfragen und Berichte zum Thema erreicht.

In Schaffhausen wird beispielweise eine Einladung zum Gespräch versandt, wo dann der Rentenaufhe-bungsentscheid kommuniziert wird. Die Frage nach Bereitschaft zur Mitarbeit bei Eingliederungsmass-nahmen wird an diesem Erstgespräch gleich aufge-worfen. Bedenkzeit zehn Tage.

In St. Gallen wird ein Vorbescheid mit Androhung der Rentenaufhebung erlassen, dazu wurden For-

mularschreiben zugestellt mit der Frage, ob Einglie-derungsmassnahmen nach IVG 6a erwünscht seien oder nicht.

In anderen Kantonen ist bis jetzt noch nicht die grosse Unruhe ausgebrochen.

Werden Sie von der IV-Stelle zum «Gespräch» ein-geladen, nehmen Sie diese Einladung wahr. Wenn Sie sie verweigern, bringt dies wohl nur zusätzliche Schwierigkeiten; man legt Ihnen ihre Reaktion eventuell sogar als Verletzung der Mitwirkungs-pflicht aus. Zu empfehlen ist unbedingt, eine Ver-trauensperson (ihr Partner, Arzt, Anwalt) zum Termin mitzunehmen, damit Sie nicht mit Sugges-tivfragen in die Enge getrieben werden können. Ausserdem hören vier Ohren mehr als zwei.

Mit der Einwilligung zum Gespräch kann unter Um-ständen auch auf ein konstruktiveres Vorgehen hin-gearbeitet werden.

Auf keinen Fall sollten Sie sich erpressen lassen. Sie haben das Recht, die Überprüfung der Zumutbar-keitskriterien zu verlangen, ohne dass dies gleich heisst, dass sie arbeitsunwillig wären. Falls Ihr IV-Sachbearbeiter so argumentieren will, müssen Sie sich unbedingt zur Wehr setzen. Allerdings kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass Betrof-fene Anspruch auf eine aktuelle Beurteilung Ihres Gesundheitszustands durch eine unabhängige Gut-achterstelle anhand der Überwindbarkeitskriterien haben.

Ausserdem sind mehrere Beschwerdeverfahren laufend, weil die IV-Stelle die Bezugsdauer (Limite 15 Jahre) auf das Datum des Erlasses der Renten-verfügung und nicht auf den Beginn des Rentenan-spruches abgestellt hatte.

Falls sich aus dem Gespräch ergibt dass keine Chancen für ein Einwand- und Beschwerdeverfah-ren bestehen, sollten Sie die angebotenen Einglie-

ErsteUmsetzungsmassnahmeninfolgederIV-Revision6a

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Politik

SCHLEUDERDASTRAUMAINFO 13

derungsmassnahmen ernsthaft prüfen. Einerseits lässt sich eventuell doch noch eine (teilweise) Ein-gliederung realisieren. Andererseits bleiben wäh-rend der Massnahmen während bis zu zwei Jahren weitere Rentenzahlungen möglich.

Falls Sie sich entscheiden, Einwand gegen den Vor-bescheid der IV zu erheben, ist es sinnvoll, festzu-halten, «dass Sie (die versicherte Person) zu Wie-dereingliederungsmassnahmen bereit wären, falls die Überwindbarkeit der Beschwerden rechtskräftig bejaht werden sollte».

Unerfreulicherweise muss gesagt werden, dass der Weg, der vor Ihnen liegt, wohl lang und steinig sein wird, egal ob Sie sich für oder gegen arbeitsinteg-rierende Massnahmen entscheiden

In den ersten Monaten der Umsetzung der IV-Revi-sion 6a hat sich gezeigt, dass jede IV-Stelle ihre eigene Vorgehensweise hat, mal mit Gespräch mal ohne, mal mit RAD-Beurteilung mal ohne. Dies ist stossend. Es lohnt sich also, sehr aufmerksam zu bleiben und auf eine Beurteilung sowohl des aktu-

ellen Gesundheitszustandes und der daraus resul-tierenden Erwerbsfähigkeit hinzuwirken.

Lassen Sie sich auf jeden Fall juristisch beraten und halten Sie ein genaues Augenmerk darauf, keine Fristen zu versäumen.

Zu gewärtigen ist ausserdem, dass, sollen Einglie-derungsmassnahmen erfolgreich sein, eine Mehr-zahl von Faktoren – geeigneter Betrieb und Arbeits-platz, passende Arbeitsbelastung (Pensum, Kraft, mentale Belastung), etc. – zusammenpassen müs-sen. Ausserdem hängt wohl viel vom Engagement der sachbearbeitenden Person bei der IV und des Eingliederungs-Verantwortlichen ab.

Bis dato ist uns kein Fall bekannt, bei dem ein HWS-Opfer erfolgreich, das heisst dauerhaft in einem Teilpensum oder vollständig hätte in den ersten Arbeitsmarkt eingegliedert werden können. Es gibt kaum Arbeitgeber, welche ein HWS-Opfer nach langjähriger «IV-Karriere» einstellen würde, wenn sich für die gleiche Arbeitsstelle mehrere Gesunde bewerben!

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Vom Redaktionsteam «agile – Behinderung und Politik»

36 Fragen an die Adresse von Parlamentariern und Parlamentarierinnen, politischen Akteuren und wei-teren Entscheidungsträgern – generelle Fragen zu Behinderung und Invalidenversicherung, Fragen zu früheren Revisionen, zur aktuellen «6b» und Fragen zur Missbrauchsthematik.

Generelle Fragen zu Behinderung und Invali-denversicherung

1. Wissen Sie, wie die IV finanziert wird?

2. Kennen Sie den Unterschied zwischen behin-dert sein und invalid sein?

3. Wann werden IV-Renten gemäss Verfassungs-auftrag existenzsichernd?

4. Muss es das Ziel einer Sozialversicherung sein, auf dem Buckel der Versicherten Gewinne zu schreiben?

5. Kann man mit 1570 Franken im Monat ein Le-ben in Würde führen?

6. Muss man arm sein, um ein guter Behinderter zu sein?

7. Können Sie sich erklären, weshalb im letzten Jahr fast 39% der IV-Rentner auf Ergänzungs-leistungen angewiesen waren?

8. Warum steigen die Krankenkassenprämien von Jahr zu Jahr, blieben aber die Lohnbeiträge an die IV seit 1995 unverändert?

9. Einer von vier Arbeitern, der das AHV-Alter er-reicht, war zuletzt IV-Rentner. Warum ist das so?

10. Ist Behinderung eine selbstgewählte Lebens-form?

Fragen zur 4. und 5. IVG-Revision und zur «6a»

11. Wissen Sie, wie viel bei der IV seit der 4. IVG-Revision eingespart wurde?

12. Wie viele Personen sind dank der Integrations-massnahmen der 5. IVG-Revision wieder in die Arbeitswelt eingegliedert worden?

13. Wissen Sie, wie viele Personen auch noch nach fünf Jahren erfolgreich beruflich wiedereinge-gliedert sind?

14. Was ist aus den IV-Rentnern geworden, die mit der IVG-Revision 6a ausgeschlossen wurden?

15. Wie sieht die tatsächliche Bilanz der mit der 4. und 5. IVG-Revision neu eingeführten, teuren Massnahmen zur (Wieder)-Eingliederung aus?

Zur IV-Revision 6b

16. Wie können Nationalräte über die Notwendig-keit von weiterem Leistungsabbau bei der IV entscheiden, ohne die tatsächliche Wirkung der letzten Revisionsschritte zu kennen?

17. Mit wie vielen von der IVG-Revision 6b Betrof-fenen spricht ein Nationalrat durchschnittlich in der Phase seiner Meinungsbildung?

18. Warum soll die IV weiter auf dem Buckel der Behinderten sparen, wenn doch das Defizit ab-gebaut und die Schulden bei der AHV mittelfris-tig zurückbezahlt sind?

19. Welches Opfer bringen Nationalräte zur Sanie-rung der IV?

20. Auf welchen Fakten gründet die Annahme von Bundesrat und Ständerats-Mehrheit, dass fast alle Menschen mit Behinderung eine ihnen ent-sprechende Teilzeitstelle finden?

21. Viele Menschen mit Teilinvalidität möchten ar-beiten, aber nur ca. 30 Prozent von ihnen finden eine Stelle. – Ist das Parlament bereit, in der «6b» konkrete Massnahmen zu formulieren, um

36Fragenzur6.IV-Revision–FragenohneAntworten,notabene

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Politik

die Job-Chancen für IV-Rentner im ersten Ar-beitsmarkt massiv zu verbessern?

22. Wie viele 20 %-Stellen bietet die Bundesverwal-tung an, damit Menschen mit einer Behinderung ihre Restarbeitsfähigkeit verwerten können?

23. Wie lassen sich Arbeitgeber mit der «6b» ver-pflichten, Teilzeitjobs mit qualifizierten, schwer-behinderten Personen zu besetzen?

24. Zielt das vorgeschlagene Rentensystem darauf ab, Versicherte mit Behinderung tatsächlich und nicht nur theoretisch in den ersten Arbeits-markt (wieder-) einzugliedern?

25. Wie messen die IV-Stellen die IV-Grade in 1-Prozent-Genauigkeit?

26. Warum darf ein neues, feiner abgestuftes Ren-tenmodel mit Blick auf die erfolgreiche Sanie-rung der IV nicht kostenneutral ausfallen?

27. Dürfen Kinder von Staates wegen unter der Be-hinderung ihrer Eltern leiden?

28. Mit der Senkung der Kinderrenten geraten viele Familien in die Abhängigkeit anderer Sozialleis-tungen: Ist dieser Vorschlag damit sinnvoll und nachhaltig?

29. Wie erklären Sie einem Menschen mit Behinde-rung, weshalb IV-Renten um bis zu 30% ge-senkt werden müssen, während im letzten Jahr die Zahl der (Multi)millionäre in der Schweiz um 6% auf 262’245 gestiegen ist?

30. Wann nutzen Bundesrat und Verwaltung das Kooperations-Angebot der Behindertenorgani-sationen und entwickeln gemeinsam ein neues praktikables, kostenneutrales und mehrheitsfä-higes Rentenmodell?

31. Was genau fällt unter medizinische Behandlun-gen, die eine IV-Stelle mit der «6b» neu verfügen könnte, um die Erwerbsfähigkeit der betroffe-nen Person zu erhalten oder zu verbessern?

32. Die finanzielle Dringlichkeit für eine weitere IV-Revision fehlt – sind weitere Sparmassnahmen deshalb Beweis für eine Sparobsession einzel-ner Parlamentarier?

33. Bereiten die vorgeschlagenen Sparmassnah-men der «6b» einzelnen Nationalräten schlaf-lose Nächte?

Missbrauch und Betrug

34. Wissen Sie, dass 2011 tatsächlich nur 30 von total 275 000 IV-Bezügern unter einem konkre-ten Betrugsverdacht standen?

35. Wissen Sie, dass die Privatversicherungen davon ausgehen, dass rund 10 Prozent ihrer Schaden-zahlungen im Schadenversicherungsgeschäft auf betrügerischen Forderungen beruhen?

36. Fühlen Sie sich mitverantwortlich, dass IV-Be-zügern unter einem generellen Missbrauchs-verdacht stehen?

Schlussfrage mit Antwort

Nach 36 Fragen ohne Antworten fragt sich das Re-daktionsteam von «agile - Behinderung und Politik», wer diese Fragen beantworten oder Antworten aus-lösen kann? Diese Frage können wir allerdings gleich selbst beantworten: Parlament, Bundesrat, Verwaltung und IV-Stellen. Die nächsten Schritte stehen im Nationalrat an.

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2008 trat die 5. IVG-Revision in Kraft, seit dem 1. Januar 2012 entfaltet die erste Tranche der 6. IVG-Revision ihre Wirkung. Mit ihr sollen innerhalb von wenigen Jahren 17’000 Renten gestrichen wer-den. Die Ziele dieser Revisionen – Senkung der Zahl der Neurenten und Senkung der Zahl der Rentner und Rentnerinnen insgesamt – sind per Ende 2010 bereits erreicht und teilweise übertroffen worden. So ist die Zahl der Neurentner Ende 2010 im Ver-gleich zu 2003 um 45% gesunken (Zielgrösse des Bundesrates für 2025: 20%). Entsprechend ist auch die Quote der Neuberentungen deutlich gesunken. Ende 2010 betrug sie auf 1000 Personen im IV-Alter 3,1, Zielgrösse des Bundesrates war 4,8 zu 1000.

Die Einsparungen der letzten drei IV-Revisionen auf Seiten von Menschen mit gesundheitlichen Ein-schränkungen und Behinderungen betragen rund 700 Millionen Franken pro Jahr, Tendenz steigend. Ob die betroffenen Personen heute eine Stelle ha-ben, wenn ihre Rente aufgehoben wurde oder wenn

ihnen trotz gesundheitlichen Einschränkungen keine mehr zugesprochen wird, wissen wir nicht. Denn bisher liegt keine Evaluation der Wirkung der 5. IVG-Revision vor.

Im Jahr 2009 hat die Schweizer Bevölkerung einer bis 2017 befristeten Erhöhung der MWSt. zuge-stimmt. Gleichzeitig übernimmt der Bund in dieser Zeit die Zinsschuld der IV gegenüber der AHV. Bis 2017 wird die IV-Rechnung damit um jährlich gut 1,1 Milliarden Franken entlastet. 2011 weist die IV-Rechnung eine rote Null von minus 3 Millionen Franken aus (im Vorjahr: minus 1’045 Millionen). Bis 2017 wird die Rechnung mit einem Überschuss von 1’154 Millionen Franken abschliessen. Die Schuld der IV gegenüber der AHV belief sich 2011 auf 14,9 Milliarden Franken. Bis 2017 wird die IV 5 Milliarden Franken Schulden an die AHV zurückzahlen.

Auch das BSV rechnet neu

Das BSV hat im April 2012 neue Finanzperspektiven für die IV vorgelegt. Demnach wird die IV per Ende 2012 bei einem mittleren Szenario einen Über-schuss von 368 Millionen Franken erwirtschaften. Der Rechnungsüberschuss steigt bis 2017 auf 1’154 Millionen Franken an und beträgt 2030 933 Millionen Franken. (Quelle: «Finanzperspektiven der IV bis 2030»)

Trotzdem weiterer Leistungsabbau

Der Bundesrat schlägt mit der IV-Revision 6b ver-schiedene Sparmassnahmen zur Tilgung des struk-turellen Defizits und zur Schuldenrückzahlung vor. Insbesondere sind das stufenlose Rentensystem, zusätzliche Hürde für den Zugang zu IV-Renten, Kürzung der Kinderrenten, weiterer Leistungsabbau in andern Bereichen, und verstärkte Verfolgung des Versicherungsmissbrauchs. Mit den vorgeschlage-nen Sparmassnahmen sollen gemäss Bundesrat pro Jahr rund 320 Millionen Franken eingespart werden.

FinanzperspektivenderIV

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Politik

Einschätzung der Behindertenverbände

Aufgrund der aktuellen Finanzperspektiven zeigt sich: Der vorgeschlagene weitere Leistungsabbau durch die IV-Revision 6b ist unnötig. Dank der be-reits heute wirkenden, unbefristeten Massnahmen wird das strukturelle Defizit in der IV-Rechnung be-seitigt, die Rechnung der IV wird in absehbarer Zeit ausgeglichen sein und es werden sogar Über-schüsse produziert. Diese Überschüsse können zum Abbau der Schulden der IV beim AHV-Fonds verwendet werden. Und zwar auch nach Auslaufen der Zusatzfinanzierung.

Bisher tragen vor allem die Menschen mit Behinde-rung die Lasten einer verfehlten Politik, welche zum finanziellen Ungleichgewicht der IV geführt hat. Die

heutige finanzielle Lage der IV ist allerdings auch von anderen Akteuren zu verantworten. Sollte das Parlament der Meinung sein, die Schulden seien kurzfristig abzubauen, müssten auch Bund und Wirtschaft ihren Teil der Verantwortung am finanzi-ellen Desaster der IV übernehmen. In einer mittel-fristigen Perspektive kann es im Übrigen nicht Ziel der IV sein, nach dem vollständigen Schuldenabbau und einem massiven Leistungsabbau zu Lasten der Versicherten Überschüsse zu produzieren. Nur um in der Folge womöglich noch die Beiträge an diese Sozialversicherung zu senken.

Quelle: DOK Fact-sheet zur zweiten Tranche 6. IVG-Revision, Mai 2012

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Keine«Überwindbarkeitsvermutung» imHaftpflichtrecht!Von Rainer Deecke, Rechtsanwalt und Notar, Zug

Das Bezirksgericht Schwyz hat in einem bemer-kenswerten Urteil vom 26. Juni 2012 * dem unter einem chronischen Müdigkeitssyndrom leidenden Kläger eine Entschädigung für erlittenen Er-werbsausfall in der Höhe von 1,2 Millionen zuge-sprochen.

Worum ging es

Der Kläger verletzte sich am 9. September 1997 bei einem Verkehrsunfall mittelschwer. Er war früh morgens auf dem Weg zur Arbeit in einem Kleinbus auf dem hintersten Platz unterwegs, als ein unvor-sichtiger Autofahrer den Vortritt missachtete. Der Bus verlor daraufhin die Spur und prallte mit voller Wucht gegen eine Strassenlaterne. Durch die starke Kollisionseinwirkung wurde der nicht ange-schnallte Kläger durch den Bus geschleudert und prallte heftig gegen den Vordersitz. Er zog sich dabei unter anderem diverse Frakturen an der Wirbelsäule und den Rippen zu. Der Kläger litt nach dem Unfallereignis und in den Jahren danach un-ter starker und zunehmender Müdigkeit sowie unter Konzentra tionsschwierigkeiten. Erste Abklä-rungen ergaben, dass die Beschwerden auf eine milde traumatische Hirnverletzung zurückzufüh-ren seien. Die erheb lichen Einschränkungen im Beruf und im Alltag führten zur Aufgabe seiner Tätigkeit als Geschäftsführer. Zwölf Jahre nach dem Unfallereignis klagte der Geschädigte die Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers auf Ersatz des erlittenen Erwerbsschadens ein. Der vom Gericht ernannte medizinische Gutachter konnte beim Kläger eine milde traumatische Hirn-verletzung nicht mit genügender Wahrscheinlich-keit feststellen. Hingegen diagnostizierte er ein chronisches Müdigkeitssyndrom (CFS). Dieses sei zu einem Drittel als nicht-organische Unfallfolge zu betrachten und zu zwei Dritteln auf unfallfremde

Mechanismen zurückzuführen. Unter anderem sei der Kläger aus schulmedizinischer Sicht falsch therapiert worden.

Das Bezirksgericht wies in seinem Urteil zuerst nochmals auf die unterschiedliche Handhabe der adäquaten Kausalität im Haftpflichtrecht hin. Diese sei vorliegend milder zu beurteilen, als im Sozialversicherungsrecht. Im Haftpflichtrecht ge-nüge es für die Bejahung der Adäquanz, wenn das schädigende Ereignis geeignet gewesen war, ir-gendwelche psychoneurotischen funktionellen Störungen zu verursachen, wobei selbst ausser-gewöhnliche Folgen als adäquat zu gelten haben. Die Tatsache, dass beim Kläger im Laufe der Jahre immer mehr unfallfremde Unfallfolgen hinzuge-treten seien, liessen den Unfall nicht derart in den Hintergrund rücken, dass er nicht mehr in einem adäquaten Kausalzusammenhang zu den Beschwerden stehen würde. In einem weiteren Schritt stellte das Gericht klar, dass die sozialver-sicherungsrechtliche Rechtsprechung bezüglich der Überwindbarkeit von somatoformen Schmerz-störungen und HWS-Distor sionsverletzungen nicht in das Haftpflichtrecht übernommen werden könne. Es gäbe, gestützt auf die ständige Recht-sprechung im Zivilrecht, gute Gründe, die sozial-versicherungsrechtlichen Eigenheiten nicht in das Haftpflichtrecht zu übertragen. Das Bezirksgericht trug jedoch den gesamten Umständen Rechnung, indem es wegen der überwiegenden unfallfrem-den Faktoren sowie dem Nichttragen der Gurte den Schadenersatzanspruch des Klägers um 2/3 kürzte.

Das Urteil stellt in aller Deutlichkeit klar, dass die im Sozialversicherungsrecht beschlossenen Verschär-fungen in der Rechtsprechung und Gesetzgebung bezüglich nicht-objektivierbarer Verletzungen im Haftpflichtrecht nicht zur Anwendung kommen können. Währenddem im Sozialversicherungsrecht

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19SCHLEUDERDASTRAUMAINFO

Justiz

das «alles-oder-nichts-Prinzip» gilt, erlaubt das Haftpflichtrecht mit seinen individuellen Korrektur-möglichkeiten eine im Einzelfall sachgerechte und angemessene Zurechnung von Unfallfolgen. Auch rein mittelbare Unfallfolgen führen demnach, im Gegensatz zum Unfallversicherungsrecht, im Haft-

pflichtrecht keineswegs zum Untergang von Ent-schädigungsansprüchen.

* Urteil des Bezirksgerichts Schwyz vom 28. Juni 2012, BZ 09 34

NützlicheBroschürenderCaritasZürich«Finanzielle Probleme – wohin wende ich mich?»

Die Broschüre hilft Menschen, sich selbst zu helfen, und zeigt ihnen, an wen sie sich in finanziellen, persönlichen, familiären oder arbeitsbedingten Notlagen wenden können. Die Broschüre ist ein nütz-licher Führer durch das Zürcher Sozialwesen.

Anhand von konkreten Beispielen finden Hilfesuchende die zuständige Fachstelle im Kanton Zürich. In einfacher Sprache werden Rechtsansprüche und Verordnungen erklärt. Praktische Anleitungen helfen, ein eigenes Haushaltsbudget zu erstellen. Über 100 Adressen staatlicher, privater und kirchlicher Institutionen sind mit ihren Angeboten und Zuständigkeiten aufgeführt und erklärt.

Die Broschüre kann bei Caritas Zürich mit einem frankierten Antwortkuvert im Format C5 gratis bezogen werden. Sie steht auch online zum Download zur Verfügung unter: www.caritas-zuerich.ch

Auch andere kantonale Caritas-Stellen vertreiben ähnliche Publikationen. Zum Beispiel: www.caritas-aargau.ch, www.caritas-beider-basel.ch

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von Kurt Pfändler, advo5 Rechtsanwälte, Zürich

Haftpflichtrecht

Keine Adäquanzhürde im HaftpflichtrechtBei leichten und mittelschweren Auffahrunfällen scheitern viele Unfallopfer mit Distorsionsverlet-zungen der Halswirbelsäule an der Adäquanzrecht-sprechung des Bundesgerichts. Sie erhalten seit einigen Jahren in aller Regel keine Dauerleistungen mehr von der obligatorischen Unfallversicherung (UVG). Im Haftpflichtrecht gelten andere Regeln. Dort genügt es, wenn der Unfallverursacher eine Schadensursache für den aufgetretenen Gesund-heitsschaden gesetzt hat. Im Haftpflichtrecht muss weiterhin nur gefragt werden, ob das Unfallereignis nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet war, den Gesundheitsschaden herbeizuführen.

Es ging um einen 39-jährigen Mann, der 2003 einen Auffahrunfall erlitten hatte und seither dauernd an Nacken- und Schulterbeschwerden leidet, die eine medizinisch-theoretische Invalidität von zehn Pro-zent verursachten.

Die Zürich-Versicherung war als Haftpflichtversi-cherer für den Unfall haftbar. Sie lehnte Schadener-satzansprüche ab, weil es ein Bagatellunfall gewe-sen sei und es am adäquaten Kausalzusammen-hang fehle. Bei der Zürcher Justiz fand die Zürich Gehör: Beide Instanzen wollten in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts die im UVG-Bereich geltenden Adäquanzhürden neu auch im Haftpflichtrecht anwenden. Der Unfall war zwar mittelschwer, aber die sozialversicherungs-rechtlich geltenden Adäquanzkriterien waren nicht erfüllt, der Mann war nicht lange arbeitsunfähig, der Unfall war nicht besonders eindrücklich, der Hei-lungsverlauf nicht schwierig und die medizinische Behandlung weder lange noch belastend. Und so

liessen die Zürcher Richter den Geschädigten auf der ganzen Linie abblitzen.

Das Bundesgericht hat die Sache geklärt und fest-gehalten, der Leitentscheid 123 III 110 aus den 90er Jahren gelte weiterhin. Dies bedeutet, dass nach-gewiesener natürlicher Kausalität auch die Ad-äquanz zu bejahen ist. Der Haftpflichtversicherer kann dann nur einwenden, dass ein Abzug zu ma-chen sei wegen des schwachen Kausalzusammen-hangs oder weil unfallfremde Mitursachen den Schaden vergrössern. Die Haftpflichtversicherer können sich also bei Schleudertrauma-Fällen nicht gänzlich aus der Verantwortung entziehen, auch in Fällen wo die Unfallversicherung und die Invaliden-versicherung keine Renten bezahlen müssen.

Bundesgerichtsurteil 4A_171 / 2012 vom 25. Juni 2012.

Haushalt: Dank EFL-Abklärung kein SchadenersatzDas Aargauer Obergericht lehnte die Schadener-satzansprüche einer Frau ab, die eine Gehirner-schütterung und ein Schleudertrauma erlitten hatte. Seit dem Unfall war die Frau im Beruf zu 65 Prozent erwerbsunfähig geworden. Die Richter stützten sich auf ein Haushaltgutachten nach der Methode der Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit (EFL), wie sie von der Versicherungswirtschaft seit ein paar Jahren gefordert und etwa in der SUVA Rehaklinik Bellikon angeboten wird. Das Gutachten kam im Haushalt nur auf eine Einschränkung von 5 Prozent. Diese geringe Beeinträchtigung gebe kein Anrecht auf Schadenersatz, fanden die Aargauer Richter, denn sie liesse sich durch zumutbare Massnahmen, wie eine zweckmässige Gestaltung der Hausarbeit und entsprechende Arbeitsteilung, auffangen. Das Bundesgericht prüfte, ob der Ent-scheid willkürlich sei, und fand kein Haar in der Suppe. Ein EFL-Verfahren könne relevante Aussa-

UrteileausdemHaftpflicht-undVersicherungsrecht

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21SCHLEUDERDASTRAUMAINFO

gen zum Leistungsverhalten machen und eine all-fällige Selbstlimitierung der Betroffenen aufspüren. Dass sich im Beruf eine grosse Einschränkung er-gebe und im Haushalt keine erhebliche, lasse noch nicht auf eine offensichtlich unhaltbare Beurteilung schliessen.

Nicht gesagt hat das Bundesgericht damit, dass die EFL-Testung die Methode der Wahl sei. In fachlich kontroversen Fragen könne mit vertretbaren Grün-den auch einer anderen Ansicht gefolgt werden, darum sei das Abstellen auf EFL nicht willkürlich. Bruno Häfliger hat in seiner Urteilsbesprechung in Plädoyer 5/2012 S.43 darauf hingewiesen, damit sei künftig nicht zwingend eine EFL-Abklärung von-nöten. Im Gegenteil: Wenn umgekehrt eine kanto-nale Instanz auf ein herkömmliches Gutachten einer Hauswirtschafterin oder einer Ergotherapeutin ab-stellen sollte, so würde dies vor dem Willkürverbot offensichtlich ebenfalls standhalten.

Bundesgericht, Urteil 4A_264 / 2011 vom 14. November 2011

Unfallversicherung

Tinnitus fast immer nach Psycho-Praxis zu prüfenEin 59-jähriger Betriebsleiter wurde auf dem Renn-velo von einem nicht vortrittsberechtigten Autolen-ker angefahren und erheblich verletzt. Die SUVA bezahlte Heilbehandlung und Taggeld, nach einem halben Jahr liess sich der Mann vorzeitig pensionie-ren. Die SUVA schloss den Fall ohne weitere Leis-tungen ab. Der fortbestehende Tinnitus lasse sich keiner organisch objektiv ausgewiesenen Unfall-folge zuordnen. Die Adäquanz sei nach der Schleu-dertrauma-Praxis zu prüfen, die Kriterien seien nicht erfüllt, es geben also keine Leistungen. Das Solothurner Versicherungsgericht sieht keine Ver-letzung, welche die Anwendung der Schleuder-trauma-Praxis rechtfertigen würde. Es prüft die

Adäquanz nach der noch strengeren Psychopraxis und lehnt gleichfalls ab.

Das Bundesgericht revidiert seine frühere Praxis, die den Tinnitus als körperliches Leiden behandelte, was dazu führte, dass die Adäquanz nicht gesondert zu prüfen war. Diesen Entscheid hatte das Bundes-gericht bereits im Urteil 8C_390 / 2010 relativiert. Jetzt haben die Bundesrichter wieder einmal den Medizinerkittel übergestreift und nach Sichtung diverser Literatur entschieden, es gebe keine medi-zinisch gesicherten Grundlagen, um einen Tinnitus als körperliches Leiden zu betrachten oder ihn (zwingend) einer organischen Ursache zuzuordnen. Dies gilt jedenfalls für die meistens anzutreffende Form des subjektiven Tinnitus, der nicht mittels ob-jektiver Messungen, sondern ausschliesslich auf-grund von Angaben der betroffenen Person und deren subjektiv empfundenen Beeinträchtigungen festgelegt wird. Anders verhält es sich nur in den seltenen Fällen eines objektiven Tinnitus, der ein Ohrgeräusch bezeichnet, welches aufgrund von pathologisch-anatomischen Veränderungen ent-steht und grundsätzlich auch durch Aussenste-hende – allenfalls mit technischen Hilfsmitteln – hörbar wird, meist bei gefässreichen Missbildun-gen, Tumoren oder muskulär bedingten Schallgeräuschen. Das bedeutet, dass in fast allen Tinnitus-Fällen kein Anspruch mehr auf Dauerleis-tungen nach Unfall besteht.

BGE 138 V 248, Urteil 8C_498 / 2011 vom 3. Mai 2012-10-03

Rentenrevision: UVG-Renten nur für die Zukunft herabsetzbarDas Gesetz regelt nicht, ab wann Unfallversiche-rungsrenten herabgesetzt werden können. Das Bundesgericht hat entschieden, dass dies nur für die Zukunft möglich ist, also ab Einspracheent-scheid.

Justiz

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Es ging um einen heute 48jährigen Mann, der 1992 einen schweren Autounfall in Italien erlitten hatte mit mehreren Frakturen an der Halswirbelsäule. Die Halswirbelsäule wurde operiert und mit einer Me-tallplatte fixiert, was zu einer massiven Bewegungs-einschränkung führte. Die UVG-Versicherung sprach ihm 1998 eine 70% Komplementär-Rente zu, plus eine 30%ige Integritätsentschädigung. Die Allianz als UVG-Versicherer holte 2005 im Rahmen einer Revision ein Gutachten ein, das ihn als 75% arbeits-fähig einstufte. Die IV versuchte vergeblich eine be-rufliche Eingliederung, holte ein neues Gutachten ein und stellte die IV-Rente am 30. März 2010 ein. Die Allianz verfügte im Einspracheentscheid vom Oktober 2010 einen ab Dezember 2005 geltenden Invaliditätsgrad von 25% und einen tieferen versi-cherten Verdienst als bei Rentenzusprechung. Sie verzichtete aber auf eine Rückforderung der zuviel bezahlten Renten. Das Versicherungsgericht Aargau sprach eine Invalidenrente von 33% zu, ab Dezem-ber 2005. Das Bundesgericht korrigierte den Revi-sionszeitpunkt auf Oktober 2010 und den versicher-ten Verdienst auf den höheren Betrag, der ver-gleichsweise im Jahr 1998 festgelegt worden war.

Anmerkung: Das Urteil zeigt, dass auch HWS-Pa-tienten mit organischen Unfallfolgen nicht gefeit sind vor Rentenrevisionen.

Bundesgericht, Urteil 8C_580 / 2011 und 8C_704 / 2011 vom 5. Juli 2012

Invalidenversicherung

Gutachterstelle: Konsens bloss wünschens-wert – Verfügung und Medas aber PflichtIm Rahmen eines Revisionsgesuches des Versi-cherten, dessen frühere Rente eingestellt worden war, ordnete die IV-Stelle eine Medas-Begutach-tung bei der Medas X an. Der Versicherte machte Ausstandsgründe gegen zwei dort tätige Ärzte gel-

tend. Die IV-Stelle hielt mit Zwischenverfügung an der Medas X fest. Dagegen gelangte der Versicherte an das Zürcher Sozialversicherungsgericht. Die Richter hielten fest, ein Konsens über die Gutach-terstelle sei zwar erstrebenswert, doch bestehe darauf kein Rechtsanspruch. Immerhin könnten heute die Gründe gerichtlich überprüft werden, die gegen eine vorgesehene Stelle sprächen. Interes-sant ist die Bemerkung in Erwägung 2.2. des Ur-teils, die IV-Stellen seien gehalten, grundsätzlich eine Medas mit der Begutachtung zu betrauen. Damit ist die Praxis gewisser IV-Stellen als unzuläs-sig einzustufen, die statt einer polydisziplinären Medas-Begutachtung ein bidisziplinäres Gutachten bei vom BSV nicht geprüften und vertraglich gebun-denen Stellen in Auftrag zu geben.

Sozialversicherungsgericht Zürich, Urteil vom 20. Juni 2012 (IV.2012.00076)

Schmerzstörung und Depression zusammen nicht überwindbarDas St. Galler Versicherungsgericht hat ein ABI-Gutachten als beweistauglich eingestuft und dem Versicherten gestützt darauf eine halbe IV-Rente zugesprochen. Die Gutachter hatten neben einer somatoformen Schmerzstörung eine mittelgradige depressive Episode diagnostiziert. Weil der Versi-cherte an einer Kombination dieser Krankheiten leide, sei er nur zum Teil in der Lage, seine Arbeits-unfähigkeitsüberzeugung zu überwinden. Wörtlich heisst es im Urteil: Entgegen der von der Beschwer-degegnerin offenbar vertretenen Auffassung ist nämlich nicht generell jede durch eine somato-forme Schmerzstörung oder durch eine Depression ausgelöste Arbeitsunfähigkeitsüberzeugung durch eine objektiv zumutbare Willensanstrengung voll-ständig überwindbar (vgl. Entscheid des Bundesge-richts 8C_958/2010 und 8C_1039/2010 vom 25. Februar 2011). Vielmehr ist das Ausmass der Über-

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Justiz

windbarkeit in jedem Einzelfall durch den medizini-schen Sachverständigen zu ermitteln. Das Gericht hielt fest, wenn die Gutachter die Überwindbarkeit nur zu 50% für zumutbar hielten, so sei dies plau-sibel und einer „juristischen Korrektur“ durch die

IV-Stelle nicht mehr zugänglich, unter Hinweis auf weitere Urteile.

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, Urteil IV 2010 / 131 vom 30. August 2012

Literatur–Weiterhinlesenswert

Schleudertrauma–DasunterschätzteRisikoKeine sichtbaren Verletzungen und nur ein kleiner Blechschaden: Glück gehabt! Doch dann setzen Kopf-schmerzen und Schwindelgefühl ein.

Für Menschen mit einem Schleudertrauma beginnt nach dem scheinbar glimpflichen Ausgang eines Un-falls oft ein langwieriger Leidensweg. Von Ärzten zu wenig ernst genommen, von Versicherungen zu Un-recht als Simulanten abgetan und von ihrem Umfeld misstrauisch beäugt, kämpfen sie an mehreren Fron-ten um ihre Glaubwürdigkeit und für die Rückkehr in ein lebenswertes Leben.

R. Huonker beleuchtet unterschiedlichste Aspekte des unterschätzten Risikos, das ein Schleudertrauma birgt. Sie berichtet darüber, wie Betroffene mit dem Leiden umgehen, und gibt in einem ausführlichen Sachteil wertvolle Tipps, was zu beachten ist und wo man Hilfe bekommt.

Ein Buch, das erklärt und berührt und den betroffenen Menschen den ihnen gebührenden Respekt entgegenbringt. Ein Buch für Therapeuten, Mediziner, Juristen und Versicherer und für Schleuder-trauma-Patienten und ihr Umfeld.

Renata Huonker-Jenny240 Seiten, Fr. 38.–ISBN: 978-3-907625-53-8 (überarbeitete Neuauflage)

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