scrum - einführung in der unternehmenspraxis || erfolge konsolidieren und weitere veränderungen...

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11 Erfolge konsolidieren und weitere Veränderungen einleiten Sie haben bei Ihrer Veränderungsinitiative erste Erfolge erzielt. Mitarbeiter sowie Kollegen sind informiert und folgen Ihrer Führung. Dringlichkeit und Strategie sind allen bewusst. Sie haben das Gefühl, dass alles wie von selbst „läuſt“. Sie sind erschöpſt, denn die Anstren- gungen der letzten Wochen und Monate waren enorm. Zeit, sich auszuruhen. Ein wenig Urlaub wäre jetzt genau das Richtige. Sonne, das Meer, ein einsamer Strand – wunderbar! Für Sie mag das zwar stimmen, für den Wandel wäre das aber Giſt. Um auch langfristige Erfolge sichern zu können, müssen Sie das kurzfristig Erreichte konsolidieren und Ihre Bemühungen sogar noch intensivieren. 11.1 Beförderungen und andere Kapitalverbrechen Das Problem mit Organisationsveränderungen ist, dass sie in ganz erheblichem Maße von der Führung abhängen. Auch wenn Sie über eine schlagkräſtige Führungskoalition verfü- gen, bleibt der Erfolg doch immer auch von einigen wenigen Schlüsselfiguren abhängig, solange die neuen Ansätze nicht in der Kultur verankert sind. Fallen diese Personen aus, so gerät der Wandel ins Stocken. Schon bald kehrt man zu den altbekannten Spielregeln zurück und alle Fortschritte sind verloren. Gründe für einen solchen Ausfall gibt es viele: Von Krankheit und Pensionierung über Erschöpfung und Kündigung bis hin zur Beför- derung ist alles möglich und sogar wahrscheinlich. Bei einer Scrumeinführung kommt noch hinzu, dass möglicherweise das Pilotteam aufgelöst wird und somit die agile Keim- zelle vernichtet wird. Betrachten wir den Kontext: Der Kopf einer Veränderungsinitiative ist entweder schon etwas älter und sehr erfahren, ein „Silberrücken“ 1 also, oder ein junger erfolgshungriger Jäger. Der Silberrücken hat meist das Unternehmen schon lange geführt 1 Zum Silberrücken werden männliche Gorillas etwa ab dem 12. Lebensjahr durch die charakteristi- sche Färbung ihres Rückenfells. Meist wird diese Bezeichnung aber nur für den Anführer der Gruppe verwendet. 95 D. Maximini, Scrum - Einführung in der Unternehmenspraxis, DOI 10.1007/978-3-642-34823-5_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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Page 1: Scrum - Einführung in der Unternehmenspraxis || Erfolge konsolidieren und weitere Veränderungen einleiten

11Erfolge konsolidierenundweitere Veränderungen einleiten

Sie haben bei Ihrer Veränderungsinitiative erste Erfolge erzielt. Mitarbeiter sowie Kollegensind informiert und folgen Ihrer Führung. Dringlichkeit und Strategie sind allen bewusst.Sie haben das Gefühl, dass alles wie von selbst „läuft“. Sie sind erschöpft, denn die Anstren-gungen der letzten Wochen und Monate waren enorm. Zeit, sich auszuruhen. Ein wenigUrlaub wäre jetzt genau das Richtige. Sonne, das Meer, ein einsamer Strand – wunderbar!

Für Sie mag das zwar stimmen, für denWandel wäre das aber Gift. Um auch langfristigeErfolge sichern zu können, müssen Sie das kurzfristig Erreichte konsolidieren und IhreBemühungen sogar noch intensivieren.

11.1 Beförderungen und andere Kapitalverbrechen

Das Problem mit Organisationsveränderungen ist, dass sie in ganz erheblichemMaße vonder Führung abhängen. Auch wenn Sie über eine schlagkräftige Führungskoalition verfü-gen, bleibt der Erfolg doch immer auch von einigen wenigen Schlüsselfiguren abhängig,solange die neuen Ansätze nicht in der Kultur verankert sind. Fallen diese Personen aus,so gerät der Wandel ins Stocken. Schon bald kehrt man zu den altbekannten Spielregelnzurück und alle Fortschritte sind verloren. Gründe für einen solchen Ausfall gibt es viele:Von Krankheit und Pensionierung über Erschöpfung und Kündigung bis hin zur Beför-derung ist alles möglich und sogar wahrscheinlich. Bei einer Scrumeinführung kommtnoch hinzu, dass möglicherweise das Pilotteam aufgelöst wird und somit die agile Keim-zelle vernichtet wird. Betrachten wir den Kontext: Der Kopf einer Veränderungsinitiativeist entweder schon etwas älter und sehr erfahren, ein „Silberrücken“1 also, oder ein jungererfolgshungriger Jäger. Der Silberrücken hat meist das Unternehmen schon lange geführt

1 Zum Silberrücken werden männliche Gorillas etwa ab dem 12. Lebensjahr durch die charakteristi-sche Färbung ihres Rückenfells.Meist wird diese Bezeichnung aber nur für denAnführer derGruppeverwendet.

95D. Maximini, Scrum - Einführung in der Unternehmenspraxis,DOI 10.1007/978-3-642-34823-5_11,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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und die Zeichen der Zeit erkannt. Er möchte sein Vermächtnis zukunftsfähig hinterlassenund stößt daher den Wandel an. Dieser Veränderungsprozess kann aber durchaus zehnJahre dauern – Zeit, die der ältere Kollege vielleicht nicht mehr aufwenden kann oder will.Zeit ist auch für den Jäger ein Problem, denn er stößt den Wandel an, um sich zu profilie-ren und für eine höhere Position zu qualifizieren. Macht er seine Sache gut und zeigt ersteErfolge, so wird ihm in der Regel auch schnell eine Beförderung angeboten. Es erfordertschon eine ganze Menge Selbstbeherrschung, um solch eine Chance abzulehnen. Natür-lich gibt es nicht nur diese beiden extremen Ausprägungen, jedoch ist jede erfolgreicheFührungspersönlichkeit entweder vom Ausstieg oder vom Aufstieg bedroht. Der Ausstiegkann dabei auch auf eigene Veranlassung erfolgen. Organisationsveränderung erfordertüber Jahre hinweg höchsten persönlichen Einsatz. Außerdem fängtman ständigwieder vonvorne an – aus irgendeinem Grund tendieren Menschen dazu, Dinge zu vergessen, selbstso wichtige wie Dringlichkeit und Vision. Die dadurch notwendigen ständigen Wieder-holungen können auf die Mitglieder der Führungskoalition zermürbend wirken und einenführendenKopf zurAufgabe bewegen. ErschöpfungsbedingteAuszeiten undKündigungensind keine Seltenheit. Der häufigste Grund für das Versagen eines solchen Veränderungs-projektes in dieser Phase ist aber eine übertriebene Selbstherrlichkeit. Diese entsteht, weilman nach den Anstrengungen der ersten Monate endlich Erfolge sieht und fälschlicher-weise glaubt, ab jetzt würde alles wie von selbst funktionieren. Vor diesem Hintergrundwird dann oft die Kommunikation der Dringlichkeit sowie der Vision reduziert, was rechtschnell dazu führt, dass die Geschwindigkeit des Wandels zunächst abnimmt und schließ-lich ganz zum Stillstand kommt. Die abnehmende Phase wird noch dadurch unterstützt,dassman denMitarbeitern eine Pause genehmigenwill – schließlich haben sie ja viel durch-gemacht – und nicht interveniert. Geht die Dringlichkeit im Zuge dieser Entschleunigungverloren, muss sie mühsam neu aufgebaut werden, was in der Regel aber nicht gelingt, dadie Glaubwürdigkeit zusammen mit der Dringlichkeit aufgegeben wurde. Entweder etwasist wichtig, oder nicht – Dringlichkeit nach dem Blinkerprinzip gibt es nicht.

Bei agilen Einführungsprojekten kommt eine weitere Komponente hinzu: Große Un-ternehmen haben häufig eine Vielzahl paralleler Projekte, um die sich ein Team kümmernmuss. Hat man das Team mit Mühe für ein bestimmtes agiles Pilotprojekt freigeschaufelt,so steigt beinahe sofort die Produktivität. Das wiederummacht dieMitglieder dieses Teamsinteressant für die anderen Projekte der Firma. Ist das Pilotprojekt dann beendet, wird dasTeamzerrissen undmuss in den etablierten klassischen Strukturen anderer Projekteweiter-arbeiten. Die zuvor erreichten Fortschritte, insbesondere auf persönlicher Ebene, könnenso sehr schnell verloren gehen.

11.2 Jetzt geht es erst richtig los

Lassen Sie nicht nach!Wenn Sie erste Erfolge erzeugt haben, feiern Sie den Erfolg – aberder Dringlichkeit angemessen. Beinhaltet die Dringlichkeit beispielsweise finanzielle Pro-bleme, sollten Sie kein rauschendes Fest veranstalten. Vermutlich reichen auch ein paar

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Brezeln in den Abteilungen und ehrlich sowie herzlich vorgebrachter Dank. Nutzen Sieauch Atempausen dazu, immer wieder auf die Dringlichkeit hinzuweisen und die Strategieklar aufzuzeigen.

Ihre Hauptaufgabe während der Konsolidierungsphase ist es, die Erfolge zu nutzen, umdie Motivation der Beteiligten zu erhöhen und diese Motivation wiederum dafür einzu-setzen, die Veränderungen voranzutreiben oder sogar neue Veränderungsinitiativen imKontext der bestehenden Dringlichkeit zu starten. Einfacher ausgedrückt: Lassen Sie nichtnach, sondern geben Sie jetzt so richtig Gas.

Die kurzfristigen Erfolge haben Ihre Strategie validiert. Sie sind unanfechtbar und fürjeden transparent. Selbst Ihre Kritiker werden zugeben müssen, dass Fortschritte erzieltwurden. Ihre Unterstützer sind in hohem Maße motiviert. Das ist der ideale Nährbodenfür Ihre Strategie. Im Zusammenhang einer Einführung von Tiefen-Scrum werden Sie bei-spielsweise in die Situation kommen, dass ein Pilot-Team Scrum erfolgreich einsetzt. DieMitglieder dieses Teamswerden in höchstemMaßemotiviert an dieArbeit gehen, währenddas Management sich über die gewonnene Produktivität und Transparenz freut. Statt sichjetzt zurückzulehnen und dem Team bei der Arbeit zuzusehen, ist es an der Zeit, weiterePilot-Teams einzusetzen und eine Systematik für das Aufsetzen solcher Teams zu etablie-ren. Gleichzeitig können die größten systemischen Probleme der Organisation mit denErfolgen im Rücken einfacher angesprochen werden.

BeispielIm Entwicklungsbereich eines großen Unternehmens hatte man erfolgreich ein Pilot-Team aufgesetzt. Dieses brauchte die üblichen drei Sprints um sich zu finden und arbei-tete ab diesem Zeitpunkt engagiert, motiviert und vor allem produktiv. Aufgrund äuße-rer Umstände entschied das Unternehmen, die Mitarbeiter von dem Pilotprojekt abzu-ziehen und sie auf andere Projekte zu verteilen, die wichtiger erschienen. Die Entwicklerwurden auf mehrere nicht nach Scrum organisierte Projekte verstreut. Der Führungs-koalition blieb nichts anderes übrig, als von vorne zu beginnen – mit neuen Projektenund neuen Entwicklern. Für diesen zweiten Anlauf wurde dann entschieden, mehrerePilot-Projekte parallel aufzusetzen.Würde hier ein einzelnes Projekt gestoppt, so könn-ten die übrigen trotzdem weiter machen und ihre ganze Strahlkraft entfalten.

Die Chancen stehen gut, dass Sie sich schnell in einem Umfeld wiederfinden, in demSie gleichzeitig mehrere Veränderungsprojekte gleichzeitig durchführen müssen. Natür-lich zielen alle darauf ab, die Strategie zu erfüllen und der Dringlichkeit gerecht zu werden.Trotzdemkönnen Sie nicht alles alleinemachen.Hier zeigt sich jetzt, ob Sie IhreMitarbeiterwirklich erfolgreich auf breiter Basis befähigt haben. Nur dann können Sie sich auf derenUnterstützung verlassen und brechen nicht unter der Last der Anforderungen zusammen.Egal wie gut Sie sind: Die Summe Ihrer Mitarbeiter wird mehr Arbeit bewältigen könnenals Sie alleine. Konzentrieren Sie sich auf die Führung und überlassen Sie das ManagementIhren Mitarbeitern. Halten Sie Ausschau nach Situationen, in denen Ihre Mitarbeiter nichtalleine zurechtkommen. Hier können Sie gezielt durch Qualifizierungsmaßnahmen oder

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durch das Lösen von systemischen Problemen helfen. Solche systemischen Probleme ma-chen meist dadurch auf sich aufmerksam, dass eine Vielzahl von Personen benötigt wird,um eine Entscheidung zu treffen oder diese Entscheidungen über eine lange Zeit und vieleBesprechungen hinweg nicht getroffen werden können.Oft treten auch beide Bedingungengleichzeitig auf. Hinterfragen Sie kritisch, ob die identifizierten systemischen Gegebenhei-ten, die den Fortschritt hemmen, wirklich notwendig sind, oder ob der Grund für ihrenBestand nur noch in Geschichtsbüchern nachgelesen werden kann.

BeispielIn einem Unternehmen der Automobilbranche hatten die Bereichs- und Abteilungs-leiter Budgets, über die sie nicht frei verfügen konnten. Zu Beginn eines jeden Jahresmussten die Budgets angefordert, begründet und genehmigt werden. War diese Hürdegenommen, so musste trotzdem noch jede Ausgabe unabhängig vom Betrag durch dasControlling genehmigt werden. Ein solches Vorgehen war in Krisenzeiten angebracht,um unnötige Kosten zu vermeiden. Außerhalb von Krisen lähmten diese Strukturenaber das Unternehmen in hohem Maße und drückten darüber hinaus ein erheblichesMisstrauen gegenüber den Mitarbeitern aus. Sie stellten de facto eine Entmündigungder Führungskräfte dar. Die Überprüfung dieser Abhängigkeiten war angebracht.

11.3 Das sollten Sie sichmerken

Wenn die ersten Erfolge Sie in einen ekstatischen Freudentaumel katapultieren, sollten Sietrotzdem einen kühlen Kopf bewahren. Insbesondere die folgenden Punkte sind beach-tenswert:

1. Organisationsveränderungen stehen und fallen mit den Menschen, die sie anführen.2. Fallen diese Menschen aus, beispielsweise durch Krankheit, Erschöpfung, Pensionie-

rung, Kündigung oder Beförderung, so ist der Wandel ernsthaft gefährdet.3. Die Auflösung ganzer Teams, zum Beispiel der Pilotteams bei Scrumeinführungen,

wirkt sich ebenfalls sehr negativ auf die Veränderungsbemühungen aus.4. Achten Sie auf Silberrücken und auf Jäger. Binden Sie diese an das Unternehmen und

damit an den Veränderungsprozess.5. Halten Sie Ihre Selbstherrlichkeit im Zaum und behalten Sie die Dringlichkeit stets fest

im Blick.6. Nutzen Sie die erzielten Erfolge, um die Veränderungen voranzutreiben oder sogar neue

Veränderungsinitiativen im Kontext der bestehenden Dringlichkeit zu starten.7. Sie werden unweigerlich mehreren parallel durchzuführenden Veränderungsprojekten

im Kontext Ihrer Dringlichkeit gegenüberstehen.8. UmdieVielzahl anAufgaben bewältigen zu können, sind Sie auf dieUnterstützung Ihrer

Mitarbeiter angewiesen. Hoffentlich haben Sie diese zuvor auch dazu befähigt.9. Lösen Sie auftretende Probleme, insbesondere systemische, die unnötige Abhängigkei-

ten aufzeigen.