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Juristische Grundlagen für die Beratung bei häuslicher Gewalt Skript Polizeirecht ©

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Juristische Grundlagen für die Beratung bei häuslicher Gewalt

Skript Polizeirecht

©

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Impressum Herausgegeben vom Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit und vom Landespräventionsrat Niedersachsen, Koordinationsprojekt Häusliche Gewalt Text: Dr. Gesa Schirrmacher unter Mitarbeit von Heike Schmalhofer, Silke Nicklas und Roger Fladung Redaktion: Gesa Schirrmacher, Karin Steinbach, Andrea Buskotte, Gerd Lewin Hannover 2008

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 1

Vorwort der Herausgeber

Das vorliegende Skript wurde als Fortbildungsmaterial für die Seminarreihe „Ju-

ristische Grundlagen für die Beratung bei häuslicher Gewalt“ entwickelt und er-

probt.

Diese Fortbildungsreihe wurde in den Jahren 2006 und 2007 dreimal an unter-

schiedlichen Standorten in Niedersachsen durchgeführt. Insgesamt haben 75

Mitarbeiterinnen aus Frauenhäusern, Frauennotrufen sowie Beratungs- und

Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt – BISS daran teilgenommen.

Die Veranstaltungsreihe wurde auf Initiative des Niedersächsischen Ministeriums

für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit entwickelt und in Kooperation mit

dem Koordinationsprojekt „Häusliche Gewalt“ beim Landespräventionsrat durch-

geführt. Weitere Kooperationspartner waren das Niedersächsische Ministerium

für Inneres, Sport und Integration sowie das Niedersächsische Justizministerium.

„Juristische Grundlagen für die Beratung bei häuslicher Gewalt“ ist Teil der Um-

setzung des niedersächsischen Landesaktionsplans zur Bekämpfung häuslicher

Gewalt. Mit der Fortbildung wird der Erkenntnis aus der wissenschaftlichen Be-

gleitung der BISS-Stellen Rechnung getragen, dass Handlungssicherheit im

Hinblick auf die komplexen rechtlichen Rahmenbedingungen ein wesentlicher

Aspekt der Beratungsarbeit mit Betroffenen ist. Vor diesem Hintergrund bot die

Veranstaltung an jeweils vier Seminartagen umfangreiche Informationen zu den

Themenkomplexen Polizeirecht, Zivilrecht, Strafrecht sowie zum Kindschafts-,

Sozial- und Ausländerrecht. Die Seminarreihe ist insgesamt auf sehr große posi-

tive Resonanz gestoßen. Wir stellen diese Fortbildungsmaterialien daher der

Fachöffentlichkeit als Datei im Internet zur Verfügung; eine gedruckte Veröffentli-

chung gibt es nicht.

Es handelt sich bei diesen Texten nicht um Rechtsratgeber für Betroffene, son-

dern um Fortbildungsmaterialien für Beraterinnen und Berater. Die juristischen

Themen sind auf die konkreten Fragenstellungen bei der Beratung Opfer häusli-

cher Gewalt ausgerichtet. Die Skripte sind wie juristische Lernbücher konzipiert –

mit vielen Fallgestaltungen, die die Realität jeweils immer nur verkürzt wiederge-

ben und pointiert auf juristische Problemkonstellationen ausgerichtet sind. Es

handelt sich um Materialien, die das Seminar ergänzen, die aber auch geeignet

sind, sich das Themenfeld selbständig zu erarbeiten.

Für die Konzeptentwicklung, das Engagement sowie die Unterstützung bei der

Erstellung und Überarbeitung der Materialien bedanken wir uns herzlich bei

Jens Buck, Richter am Amtsgericht Hannover, Roger Fladung, Vizepräsident der

Polizeidirektion Göttingen, Dagmar Freudenberg, Staatsanwaltschaft Göttingen,

Karin Sehr, Rechtsanwältin Hannover, Dr. Gesa Schirrmacher, Referentin Nie-

dersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, den

Kolleginnen und Kollegen der beteiligten Ministerien sowie den engagierten Prak-

tikantinnen des Sozialministeriums.

Karin Pienschke / Karin Steinbach, MS / Andrea Buskotte, Landespräventionsrat

2 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Übersicht

TEIL I

ÜBERBLICK ÜBER DIE GRUNDFRAGEN UND

DIE SYSTEMATIK DES POLIZEIRECHTS 4

TEIL II

FRAGEN UND ANTWORTEN 28

TEIL III

POLIZEIRECHT IN DER PRAXIS - FÄLLE UND LÖSUNGEN - 30

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 3

Gliederung:

I. Aufgabenbereich der Polizei

Gefahrenabwehr, Strafverfolgung, Verfolgung von Ord-nungswidrigkeiten, Schutz privater Rechte

Gefahrenabwehr: Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicher-heit und Ordnung

Definition öffentliche Sicherheit und öffentliche Ordnung

häusliche Gewalt = Gefahr für die öffentliche Sicherheit

II. Aufgabe und Befugnis Eingriffsmaßnahmen und Ermächtigungen

Generalklausel

besondere Befugnisnormen

Verhältnis: Generalklausel besondere Befugnisnormen

III. Gefahrenabwehrrechtliche Eingriffsmaßnahmen bei häusli-cher Gewalt

1. Polizeilicher Platzverweis, § 17 Nds. SOG

Gesetzestext

Tatbestandsvoraussetzungen Definition: Gefahr Definition: Gegenwärtige Gefahr Definition: Erhebliche Gefahr

Gefahrenprognose

Verhältnismäßigkeit

Dauer

Zusammenfassung

2. Ingewahrsamnahme, § 18 Nds. SOG

Gesetzestext

Tatbestandsvoraussetzungen

Verhältnismäßigkeit

Gefahrenprognose

Wesentliche Formvorschriften

3. Weitere Maßnahmen

Sicherstellung

Betreten von Wohnungen

Maßnahmen gem. § 11 Nds. SOG

4 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Einleitung

Die Polizei ist bei häuslicher Gewalt oft das erste Glied in der Interventi-

onskette. Sie wird häufig in der akuten Krisensituation gerufen und soll

möglichst sofort und vor Ort handeln.

Zudem sollen die Handlungen geeignet sein:

die Gewalt zu unterbrechen,

die Fortsetzung zu verhindern,

den Frauen gleichzeitig Schutz und Sicherheit zu bieten,

Opfer, Täter und ggf. von der Gewalt mitbetroffene Kinder zu bera-

ten.

Materielles Polizeirecht

Das polizeiliche Handeln – im Verhältnis Staat : Bürger – ein Handeln im

sog. Über- Unterordnungsverhältnis – unterliegt engen Voraus-

setzungen, was seine Zulässigkeit und Rechtmäßigkeit betrifft. Es handelt

sich um sog. hoheitliches Handeln. Hieraus folgt: Die Polizei ist im Rah-

men des hoheitlichen Handelns befugt, in Grundrechte des/der Einzelnen

einzugreifen. Zu beachten ist:

Art. 1 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG): Kein Handeln

ohne Gesetz, kein Handeln gegen das Gesetz. D.h.: Die Polizei ist

bei ihrem Handeln daran gebunden, dass es für die ergriffenen Maß-

nahmen eine rechtliche Grundlage gibt.

Zudem: Jedes Handeln muss dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

entsprechen; d.h. es darf immer nur das mildeste zur Verfügung ste-

hende Mittel gegen den Bürger/die Bürgerin eingesetzt werden.

I. Aufgabenbereich der Polizei

Die Polizei ist in mehreren Bereichen tätig:

Strafverfolgung (§ 163 StPO)

Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten: § 53 OWiG

Gefahrenabwehr: § 1 Abs. 1 und 2 Nds. SOG

Schutz privater Rechte: § 1 Abs. 3 Nds. SOG

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 5

Sie darf grundsätzlich nur dann handeln, wenn die Handlung in ihren ge-

setzlich festgelegten Aufgabenbereich fällt.

DEFINITIONEN

AUFGABENBEREICH

Die Polizei ist gleichermaßen für

Gefahrenabwehr und Strafverfolgung

(und Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten sowie Schutz privater Rechte)

zuständig.

flächendeckend / Tag und Nacht

Schutz der öffentlichen Ordnung umfasst die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln, deren Einhaltung eine unentbehrliche Vor-aussetzung für ein geordnetes Gemein-schaftsleben ist.

Gefahrenabwehr Die Polizei hat hier die Aufgabe, für die Auf-rechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und

Ordnung zu sorgen.

GRUNDSATZ

Die Auf-gaben der

Polizei

Schutz der öffentlichen Sicherheit umfasst die Unversehrtheit von Leben, Gesundheit, Ehre, Freiheit und Vermögen Einzelner, sowie die gesamte geschriebene Rechtsordnung (z.B. die Straf-gesetze).

6 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

II. Aufgabe und Befugnis Eingriffsmaßnahmen und Ermächtigungen

Innerhalb des Aufgabenbereichs der Polizei muss eine Eingriffs-

befugnis, d.h. eine Ermächtigung für das polizeiliche Handeln vorliegen.

Aus einer polizeilichen Aufgabe als solcher folgt noch keine Befugnis zum

Einzeleingriff. Die Polizei darf in die Rechte anderer ohne oder gegen de-

ren Willen nur eingreifen, wenn dies innerhalb ihrer Aufgaben liegt und

sie mit einer entsprechenden Befugnis/Ermächtigung ausgestattet ist.

Fazit

Die Bekämpfung häuslicher Gewalt kann eine Aufgabe der Polizei sein

(Schutz der öffentlichen Sicherheit). Für die notwendigen Maßnahmen

müssen jedoch Eingriffsbefugnisse vorliegen.

Rechtsgrundlage

Für die Anforderungen an die Befugnisnorm wird unterschieden, ob die

polizeiliche Maßnahme in die Rechte anderer eingreift, sie einschränkt,

oder ob es sich um einen schlichten Polizeiakt handelt.

Bsp. schlichter Polizeiakt: Streifengang, unverbindliches Befragen

Eingriffsbefugnisse ergeben sich für die Polizei entweder aus der

Generalklausel (= allgemeine Befugnisnorm) oder aus einer speziellen

gesetzlichen Rechtsgrundlage (= besondere Befugnisnormen).

Befugnis

Aufgabe +

Generalklausel § 11 Nds. SOG

Voraussetzung:

konkrete Gefahr

Die Polizei kann die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine Ge-

fahr abzuwehren, soweit nicht spe-zielle Vorschriften die Befugnisse

der Polizei besonders regeln.

Besondere Befugnisnormen für Standardmaßnahmen

§§ 12 ff Nds. SOG (und Nebengesetze)

Voraussetzung:

Tatbestandsmerkmale aus einer

speziellen Befugnisnorm

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§ 11 Nds. SOG – Allgemeine Befugnisse

Die Verwaltungsbehörden und die Polizei können die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine Gefahr abzuwehren, soweit nicht die Vorschriften des Dritten Teils die Befugnisse der Verwaltungsbehörden und der Polizei besonders regeln.

Häusliche Gewalt wird grundsätzlich als Gefahr für die öffentliche Si-

cherheit im Sinne des Gefahrenabwehrrechts angesehen. Die Polizei hat

demnach die Aufgabe, häusliche Gewalt als Gefahr für die öffentliche Si-

cherheit abzuwehren.

Ergibt sich die Eingriffsbefugnis für eine Maßnahme der Polizei aus ei-

ner konkreten gesetzlichen Regelung, tritt die Generalklausel hinter dieser

zurück und darf nicht mehr angewendet werden; es müssen vielmehr die

engen und genau bestimmten Voraussetzungen der speziellen Befugnis-

norm erfüllt sein.

Ist das nicht der Fall, muss die Maßnahme unterbleiben; ein Rückgriff auf

die Generalklausel ist dann unzulässig.

Befugnisnormen für Stan-dardmaßnahmen

sind in den §§ 12 - 48 Nds. SOG normiert

Beispiele: - Identitätsfeststellung, - Prüfung von

Berechtigungsscheinen, - erkennungsdienstliche

Maßnahmen, - Vorladung, - Durchsuchung von Perso-

nen und/oder Sachen, - Sicherstellung, - Gebührenbescheid - Platzverweis - Ingewahrsamnahme

Handlungen nach der Gene-ralklausel

Beispiele für polizeiliche Maßnah-men gegen

Untersagungsverfügungen

Sofortige Beseitigung einer Gefahrenstelle (z.B. Glas-scherben aufsammeln)

8 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

GRUNDSATZ

Verhältnis Generalklausel spezielle gesetzliche Befugnisnorm

Die speziell geregelten Maßnahmen (Standardmaß-nahmen) verdrängen die Anwendbarkeit der General-

klausel.

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 9

III. Befugnisnormen bei häuslicher Gewalt

Gefahrenabwehrrechtliche Standardmaßnahmen zur Gefahrenabwehr

bei häuslicher Gewalt können vor allem sein:

1. Polizeilicher Platzverweis, § 17 Nds. SOG

§ 17 Nds. SOG ermöglicht den Platzverweis aus der Wohnung, wenn dies

erforderlich ist, um eine gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben, Freiheit

oder sexuelle Selbstbestimmung von an der Wohnung berechtigten Per-

sonen abzuwehren.

Noch vor einer möglichen zivilrechtlichen Entscheidung zur Wohnungs-

überlassung ist die Verhängung eines längerfristigen Platzverweises ein

wichtiger Beitrag der Polizei zur aktuellen Krisenbewältigung. Dieser er-

gänzt neben der akuten Gewaltverhinderung die mit dem GewSchG ver-

folgten Ziele des effektiven Schutzes der Opfer und der konsequenten

Inverantwortungnahme der gewalttätigen Personen

GRUNDSATZ

Ingewahrsamnahme,

§ 18 Nds. SOG

Platzverweis,

§ 17 Nds. SOG

Verhältnis Platzverweis, § 17 Nds. SOG GewSchG

Beim polizeilichen Platzverweis handelt es sich um einen notwendigen Bestandteil eines umfassenden Schutzkonzeptes. Der Platzverweis dient der akuten Gewalt-verhinderung und soll einen Interventionsverlauf un-ter Inanspruchnahme des GewSchG ermöglichen.

Sicherstellung

Betreten von

Wohnungen

Maßnahmen gem. § 11 Nds.

SOG (z.B. Kommunikations-

verbot)

10 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Die Polizei ist auf Grund ihrer Organisation und der Aufgabenzuweisung in

Fällen häuslicher Gewalt meist die erste Institution, die in einer akuten Kri-

sensituation gerufen wird. Ihre Maßnahmen im Rahmen des gesetzlichen

Auftrages sind besonders wichtig, weil sie

im akuten Fall das Opfer schützen und durch erste Maßnahmen

(wie z.B. die Wegweisung des Mannes aus der Wohnung) die Ge-

walthandlung unterbinden kann,

durch konsequentes Einschreiten gegenüber dem Täter verdeut-

licht, dass sein Handeln nicht hinnehmbar und ggf. strafbar ist,

durch Opferschutzmaßnahmen dem Opfer verdeutlicht, dass es

ernst genommen und nicht allein gelassen wird,

durch Zusammenarbeit, Information und Dokumentation die Inter-

ventionsmaßnahmen anderer Einrichtungen (z.B. BISS, Frauen-

häuser, Nothilfeeinrichtungen oder Opferhilfebüros) unterstützt,

durch eine professionelle und konsequente Vorgehensweise gene-

ralpräventiv wirkt und mit dazu beiträgt, die Öffentlichkeit im erfor-

derlichen Maße zu sensibilisieren.

§ 17 Nds. SOG – Platzverweis

(1) 1Die Verwaltungsbehörden und die Polizei können zur Abwehr einer Gefahr jede

Person vorübergehend von einem Ort verweisen oder ihr vorübergehend das Betreten eines Ortes verbieten.

2Die Platzverweisung kann gegen eine Person angeordnet wer-

den, die den Einsatz der Feuerwehr oder von Hilfs- und Rettungsdiensten behindert. (2)

1Betrifft eine Maßnahme nach Absatz 1 eine Wohnung, so ist sie gegen den erkenn-

baren oder mutmaßlichen Willen der berechtigten Person nur zur Abwehr einer gegen-wärtigen erheblichen Gefahr zulässig.

2Die Polizei kann eine Person aus ihrer Wohnung

verweisen und ihr das Betreten der Wohnung und deren unmittelbarer Umgebung für die Dauer von höchstens 14 Tagen verbieten, wenn dies erforderlich ist, um eine von dieser Person ausgehende gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben, Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung von in derselben Wohnung wohnenden Personen abzuwehren.

3Der

von einer Maßnahme nach Satz 2 betroffenen Person ist Gelegenheit zu geben, dringend benötigte Gegenstände des persönlichen Bedarfs mitzunehmen.

4Die Polizei unterrichtet

die gefährdete Person unverzüglich über die Dauer der Maßnahme nach Satz 2. (3)

1Stellt die gefährdete Person einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

von Schutzmaßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz , so wird eine Anordnung nach Absatz 2 Satz 2 mit dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung unwirksam.

2Das Ge-

richt hat die Polizei über die in Verfahren nach dem Gewaltschutzgesetz ergangenen Entscheidungen unverzüglich in Kenntnis zu setzen. (4)

1Rechtfertigen Tatsachen die Annahme, dass eine Person in einem bestimmten örtli-

chen Bereich eine Straftat begehen wird, so kann ihr für eine bestimmte Zeit verboten werden, diesen Bereich zu betreten oder sich dort aufzuhalten, es sei denn, sie hat dort ihre Wohnung.

2Örtlicher Bereich im Sinne des Satzes 1 ist ein Ort oder ein Gebiet inner-

halb einer Gemeinde oder auch ein gesamtes Gemeindegebiet. 3Die Platzverweisung

nach Satz 1 ist zeitlich und örtlich auf den zur Verhütung der Straftat erforderlichen Um-fang zu beschränken.

4Die Vorschriften des Versammlungsrechts bleiben unberührt.

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 11

Tatbestandsvoraussetzungen

Die im Gesetz genannten Eingriffsvoraussetzungen müssen vorliegen.

Für das polizeiliche Einschreiten beim Platzverweis aus Wohnungen wird

gem. § 17 Abs. 2 Nds. SOG eine gegenwärtige erhebliche Gefahr vor-

ausgesetzt.

DEFINITIONEN und wichtige GRUNDBEGRIFFE

Gefahr

ist eine konkrete Gefahr, das heißt eine Sachlage, bei der im einzelnen

Fall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit

ein Schaden für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung eintreten wird.

§ 2 Nr. 1a Nds. SOG

Gegenwärtige Gefahr

ist eine Gefahr, bei der die Einwirkung des schädigenden Ereignisses be-

reits begonnen hat oder bei der diese Einwirkung unmittelbar oder in aller-

nächster Zeit mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit be-

vorsteht.

§ 2 Nr. 1b Nds. SOG

Erheblich

ist eine Gefahr für ein bedeutsames Rechtsgut, wie Bestand des Staates,

Leben, Gesundheit, Freiheit, nicht unwesentliche Vermögenswerte sowie

andere strafrechtlich geschützte Güter.

§ 2 Nr. 1c Nds. SOG

Verhältnismäßigkeit, § 4 Nds. SOG

Der Platzverweis muss nach den polizeilichen Grundsätzen erforderlich,

geeignet und angemessen sein, die Gefahr zu beseitigen.

12 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Erforderlich ist der Platzverweis, wenn auf andere Weise, insbesondere

durch die Zuhilfenahme eines Gerichtes, die akute Gefahr von tätlichen

Auseinandersetzungen nicht beseitigt werden kann.

Zu prüfen ist dafür:

Ist das ausgewählte Mittel geeignet, um die Gefahr zu beseitigen?

Wenn ja, gibt es ein weiteres Mittel, das die Gefahr ebenfalls beseiti-

gen kann?

Wenn ja, ist es milder, also greift es weniger stark in die Rechte der

Bürgerinnen und Bürger ein?

Wenn nein: dann ist die Maßnahme verhältnismäßig

Gefahrenprognose

Die Polizeibeamtinnen/-beamten vor Ort müssen im Zeitpunkt ihres Ein-

schreitens bewerten, ob eine Verletzung von Rechtsgütern droht.

Hierfür hat sie zunächst möglichst umfassend alle Tatsachen zu erheben,

die für sie im Rahmen ihrer gesetzlichen Möglichkeiten erkennbar sind.

Gefahrenprognose

Die Eingriffsvoraussetzung Gefahr erfordert eine

Prognoseentscheidung durch die einschreiten-

den Polizeibeamtinnen und -beamten

Aktuelle Gefahren-situation

Gefahrenprognose für die Zukunft +

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 13

„Störer“

Grundsätzlich ist Adressat einer polizeilichen Maßnahme derjenige, der

die Gefahr verursacht hat (§ 6 Abs. 1 Nds. SOG) – der sog. Störer.

Nur unter engen Voraussetzungen (vgl. § 8 Nds. SOG) dürfen auch ande-

re Personen in Anspruch genommen werden, beispielsweise wenn die

Maßnahmen gegen die eigentlich Verantwortlichen nicht oder nicht rech-

tzeitig möglich sind oder keinen Erfolg versprechen.

Indikatoren für die Gefahrenprognose

akute Gewaltanwendung

aktuelle Gefahrensituation

Art und Intensität der Gewalt

- Dauer, Art, Umfang u. Schwere

von Verletzungen

- massive Gewalteinwirkung

- Tatwerkzeuge und -waffen

- Verletzung der in § 1 GewSchG

benannten Rechtsgüter

Aggressionen unter Alkohol- /

Drogeneinfluss

Gewalt gegen Polizeibeam-

te/innen

Verhalten u. Spontanäußerungen

des Täters

psychische Verfassung des Op-

fers

Opfer- / Zeugenaussagen

Zustand der Tatwohnung

physische und psychische Ver-

fassung anwesender Kinder

Gewaltentwicklung

polizeiliche Erkenntnisse über die

gewalttätige Person; ggf. Vorstra-

fen des Täters

Feststellungen zur Gewalt-

bereitschaft

wiederholte Gewaltanwendung

oder Drohungen ohne Bezug zum

aktuellen Sachverhalt

Misshandlungsgeschichte

vorherige Einsätze

Verletzungsmuster beim Opfer,

die auf zurückliegende Gewalt

schließen lassen

Sucht u./o. Abhängigkeit

Opfer- / Zeugenaussagen

subjektive Gefahreneinschätzung

des Opfers

physische und psychische Ver-

fassung anwesender Kinder

gerichtliche Schutzanordnungen

bzw. Zuwiderhandlungen bei po-

lizeilichen Anordnungen

14 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Gefahrenprognose

Gefahrenprognose trifft allein die Polizei

Zukunftsorientierte Beurteilung der Gefahrenwahrscheinlichkeit und

zeitliche Gefahrennähe)

Gegenwärtige erhebliche Gefahr für bedeutsame Rechtsgüter

Hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass sich die Tat in der Wohnung

wiederholen wird

Prognose über den weiteren Geschehensablauf:

o „Aufklärungspflicht“ zum Erhalt einer breiten Prognosebasis: ob-

jektiv zutreffend und mit entscheidungsökonomisch vertretba-

rem Aufwand sorgfältig ermittelter Sachverhalt

o sachgerechte Abwägung der für und gegen Bestehen einer ent-

sprechenden Gefahr sprechenden Umstände

Tatsachen aus dem aktuellen Geschehen (Spuren /

Verletzungen / Tatwerkzeuge)

Erkenntnisse aus zurückliegenden Gewalttaten inner-

halb der häuslichen Gemeinschaft

o siehe Indikatoren akute Gewaltanwendung und Gewaltentwick-

lung

Gewaltdelikte im häuslichen Bereich sind oft „Seriendelikte“, die eine

Wiederholung in immer kürzeren Abständen und eine Steigerung der

Gewaltintensität erwarten lassen.

Intensität des Angriffs, Schwere der Verletzungen sowie Anhaltspunkte

für wiederholte Gewaltanwendungen besorgen mit an Sicherheit gren-

zender Wahrscheinlichkeit, dass die betroffene Person erneut gewalt-

tätig wird

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 15

Prüfung gefahrenabwehrrechtlicher Maßnahmen

Platzverweis

Maßnahme zum Schutz des Opfers, weil nur so die vom Täter ausge-

hende Gefahr für die Gesundheit des Opfers begegnet werden kann,

ohne dass dieses selbst die gemeinsame Wohnung verlassen muss.

Erste kurzfristige Krisenintervention mit dem Ziel,

o akute Auseinandersetzungen mit Gefahren für Leib, Leben oder

Freiheit einer Person zu entschärfen,

o den Beteiligten Wege aus der Krise zu eröffnen und

o ihnen die Möglichkeit zu verschaffen, in größerer Ruhe und oh-

ne das Risiko von Gewalttätigkeiten Entscheidungen über ihre

künftige Lebensführung sowie ggf. die Inanspruchnahme gerich-

tlichen Schutzes nach Maßgabe des GewSchG zu treffen

Akute Gewaltverhinderung und Krisenbewältigung der Polizei durch

Verhängung eines längerfristigen Platzverweises.

Die Anordnung darf nicht daran gekoppelt werden, dass Regelungen

des GewSchG in Anspruch genommen werden.

Enge Eingriffsvoraussetzungen des § 17 Nds. SOG unter bes. Beach-

tung der Verhältnismäßigkeit (Gefahrenstufe: gegenwärtige erhebliche

Gefahr für bedeutsame Rechtsgüter).

Der polizeirechtliche Rechtsgüterschutz liegt im öffentlichen Interesse

und steht nicht zur Disposition des Opfers

16 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Einzelfallprüfung

unter besonderer Beachtung

der Verhältnismäßigkeit

Dauer des Platzverweises

Dauer der polizeilichen Maßnahme orientiert sich an der zu prognosti-

zierenden zeitlichen Gefahrennähe und den gefährdeten Rechtsgütern

Der Gesetzgeber beschreibt eine auf phänomenologischen Erkenn-

tnissen und Erfahrungen der Gerichtspraxis beruhende Maximaldauer

von 14 Tagen

- die als Schutzraum das Opfer vor erneuter (schwerer)

Gewaltanwendung bewahren und

- Möglichkeiten weiterer Schutzalternative eröffnen soll.

Je schwerer die (akute) Gewaltanwendung oder konkreter die Erkenn-

tnisse, die nach akuter Gewalt auf wiederholte, zurückliegende Ge-

walthandlungen schließen lassen (s. Indikatoren) „akute Gewaltsituati-

on“ und „Gewaltentwicklung“, desto umfassender ist dem Opfer ein

Schutzraum zu schaffen (Ermessensreduzierung).

Akute Gewaltanwendung Gewaltwiederholung

Der Wille des Opfers, frühzeitig eine Schutzanordnung nach dem

GewSchG zu erwirken, kann Indizwirkung für die Dauer der Maßnah-

me entfalten.

Die Maßnahme muss in ihrer Begründung Ermessenerwägungen zur

Frage der notwendigen Dauer des Platzverweises erkennen lassen

(Dokumentation: Indikatoren, Gefahrenprognose).

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 17

Dokumentation

Strafanzeige, Platzverweisprotokoll, Formularbericht häusliche Ge-

walt

umfangreiche Angaben zum

o Tathergang, Täter, Opfer, Zeugen

o aktenkundige Vorgeschichte

o polizeiliche Maßnahmen

o Anwesenheit u. Verfassung von Kindern

Spontanäußerungen des Täters

ggf. Sofortvernehmung von Zeugen

subjektive Gefahreneinschätzung des Opfers

Gefahrenprognose

Bilddokumentation von Verletzungsbildern als wesentliche Ent-

scheidungsgrundlage bei Beantragung einer Schutzanordnung

Sicherstellung von Tatwaffen

Fotos vom Tatort

ggf. Bericht an Jugendamt

Weitere Schutzmaßnahmen

Sicherstellung der Haustürschlüssel

Kontaktverbot

Gefährderansprache

Notruf bei Rückkehr des Gewalttäters

begleitende gefahrenabwehrende Verfügungen

o Kontakt- u. Kommunikationsverbot

o Annäherungsverbot am Arbeitsplatz o.a.

polizeiliche Begleitung bei unabwendbaren Kontakten zwischen Opfer und

Täter

ggf. Kontrollen im Rahmen der Streife

abgestufte Überprüfung der Einhaltung des Platzverweises (24 Std. bis 3

Tage)

ggf. Möglichkeit der Unterbringung im Frauenhaus prüfen

telefonischen Kontakt zum Opfer durch die Polizei

frühzeitige Information an u. pro-aktive Beratung durch Interventionsstel-

len

18 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Beendigung oder vorzeitige Aufhebung

des Platzverweises

Ablauf der Frist der polizeilichen Verfü-

gung

Kein Fortbestehen konkreter Gefahren

Erlass einer Schutz-anordnung

Variante Vorzeitige Rückkehr des

Gefahrverursachers

Ohne Zustimmung des Opfers:

Durchsetzung

Platzverweis

Mit Zustimmung des Opfers:

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 19

Rückkehr des Täters bei erklärtem

Versöhnungswillen des Opfers

Der Wille des Opfers, einen Platzverweis wieder aufzuheben, wird an-

gesichts der erfolgten Tätlichkeiten erst nach sorgfältiger und kritischer

Prüfung weiterer substantieller Entscheidungsfaktoren, die für das En-

de der Gefahrensituation sprechen, zu einer vorzeitigen Aufhebung

führen.

Diese Entscheidung trifft allein die Polizei.

Ein erklärter, ernstzunehmender Versöhnungswille des Opfers kann

Indizwirkung auf die bereits vorgenommene Gefahrenprognose und

Fortwirkung der Maßnahme haben.

Besteht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass es bei einem Ver-

bleib des Gewalttäters in der gemeinsamen Wohnung, auch unter Be-

rücksichtigung der besonderen Opfersituation, zu erneuten Gewalttä-

tigkeiten kommt, so ist eine Durchsetzung der Maßnahme – auch ge-

gen den erklärten Willen des Opfers – erforderlich und nicht zu beans-

tanden.

Beachte: Opfer befinden sich in besonderen Zwangssituationen, die

sie oft vorschnell einer Versöhnung zustimmen lassen oder sie stehen

derart unter dem Einfluss des gewalttätigen Mannes, dass sie zu kei-

ner eigenen Willensentschließung fähig sind.

Je schwerer die Gewaltanwendung oder konkreter die Erkenntnisse,

die nach akuter Gewalt auf wiederholte, zurückliegende Gewalthand-

lungen haben schließen lassen und zu einem längerfristigen Platzver-

weis geführt haben, desto höher sind die Anforderungen an Entschei-

dungsfaktoren, die zu einer vorzeitigen Aufhebung der Platzverwei-

sung führen können.

20 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Entscheidungsfaktoren

Indikatoren (s. oben)

- zur akuten Gewaltanwendung

- zur Gewaltwiederholung

Situation des Opfers / der Frau

- ängstlich / eingeschüchtert

- bedroht / Hilfe suchend

- labil / wenig aufnahmebereit

Beratungsstelle bereits einbezo-

gen

„bisherige Versöhnungen“ nach

Gewalttaten

Situation der Kinder

- ängstlich / eingeschüchtert

- auffälliges Verhalten

Zustand des Täters

- Aggressionsbereitschaft

- Alkoholisierung

- verbales Auftreten

- Verhalten gegenüber Opfer /

Kindern

- Hinweise auf Hemmschwelle

Zustand der Wohnung

Ergänzende Hinweise

möglichst getrennte Befragung

Befragung „verlässlicher“ Zeugen

Gefährderansprache

Notruf bei erneuter Gewalt-

anwendung / Kommunikation si-

cherstellen

ggf. Beratungsstelle einbeziehen

weitere Beratungsangebote

Dokumentation der Aufhebung

der Maßnahme

- im VBS-NIVADIS

- Info an Beratungs- / Interventi-

onsstelle

- bei Kindern: Bericht an Ju-

gendamt

ggf. Kontrollen im Rahmen der

Streife

telefonisch Kontakt zum Opfer

durch die Polizei

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 21

Zusammenfassung: Platzverweis

Platzverweis

§ 17 Nds. SOG

Der Platzverweis aus Wohnungen stellt für die Polizei in der akuten Kri-

senintervention ein wirksames und Ziel führendes Mittel zur Bekämpfung

der häuslichen Gewalt dar.

Mögliche Dauer: bis zu 14 Tagen (= befristeter Platzverweis)

Nicht von einem Antrag des Opfers abhängig.

Geeignet:

- um die Gewalt zu unterbrechen,

- um deren Fortsetzung zu verhindern

- und gleichzeitig den Frauen einen Freiraum zu schaffen, sich mit der

Situation und den möglichen Konsequenzen auseinanderzusetzen,

- um nachhaltigen Opferschutz zu ermöglichen, da durch den (polizeili-

chen) Platzverweis eine (zivil)richterliche Entscheidung nach dem

GewSchG (vor allem in Eilverfahren) grundsätzlich bereits auf der Ba-

sis der polizeilichen Dokumentation zum polizeilichen Platzverweis er-

folgen kann,

- um zeitnah eine gerichtlich angeordnete Nutzungsüberlassung der

gemeinsamen Wohnung nach § 2 GewSchG zu ermöglichen.

Hält sich der Täter nicht an den Platzverweis, kann das Opfer erneut die

Hilfe der Polizei in Anspruch nehmen.

Der polizeiliche Platzverweise endet entweder nach Fristablauf, oder wenn

das Gericht eine Schutzanordnung nach dem Gewaltschutzgesetz erlas-

sen hat.

Platzverweis in Niedersachsen

In Niedersachsen ist die Polizei angehalten, bei entsprechender Gefah-

renprognose einen Platzverweis gegen den Täter auszusprechen und so-

mit einen Beitrag zur Bekämpfung der Gewalt im häuslichen Bereich zu

leisten, auf dem andere Einrichtungen aufbauen können.

22 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

2. Gewahrsam, § 18 Nds. SOG

Unter anderem zur Durchsetzung eines Platzverweises nach § 17 Nds.

SOG kann die Polizei den Täter in Gewahrsam nehmen, wenn dies uner-

lässlich ist, § 18 Abs. 1 Nr. 3 Nds. SOG.

§ 18 Nds. SOG – Gewahrsam

(1) Die Verwaltungsbehörden und die Polizei können eine Person in Gewahrsam neh-

men, wenn dies

1. zum Schutz der Person gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist, in-

sbesondere weil die Person sich erkennbar in einem die freie Willensbestimmung

ausschließenden Zustand oder sonst hilfloser Lage befindet,

2. unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung

a.) einer Straftat oder

b.) einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die

Allgemeinheit

zu verhindern, oder

3. unerlässlich ist, um eine Platzverweisung nach § 17 durchzusetzen.

(2) Die Verwaltungsbehörden und die Polizei können eine Person, die aus dem Vollzug

einer richterlich angeordneten Freiheitsentziehung entwichen ist oder sich sonst ohne

Erlaubnis außerhalb der Vollzugsanstalt aufhält, in Gewahrsam nehmen und in die Ans-

talt zurückbringen.

(3) Die Polizei kann eine minderjährige Person, die sich der Sorge der erziehungsberech-

tigten Personen entzogen hat, in Obhut nehmen, um sie einer erziehungsberechtigten

Person oder dem Jugendamt zuzuführen.

Tatbestandsvoraussetzungen für § 18 Abs. 1 Nr. 3 Nds.

SOG:

Die im Gesetz genannten Eingriffsvoraussetzungen müssen vorliegen:

Vorliegen eines Platzverweises nach § 17 Nds. SOG

Für die Ingewahrsamnahme durch die Polizei wird vorausgesetzt, dass

dies unerlässlich ist zur Durchsetzung des polizeilichen Platzver-

weises, d.h. es ist Voraussetzung, dass der Täter dem Platzverweis

nicht Folge geleistet hat.

Die Ingewahrsamnahme soll verhindern, dass der angeordnete Platzver-

weis durch das wiederholte Betreten unterlaufen werden kann

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 23

Tatbestandsvoraussetzungen für § 18 Abs. 1 Nr. 1 und 2

Nds. SOG:

Neben Nr. 1 kann bei häuslicher Gewalt im Einzelfall auch eine Anwen-

dung der anderen Nummern in Betracht kommen:

Nr. 1 kommt dann zur Anwendung, wenn der Täter sehr stark alkoholi-

siert ist und zu seinem eigenen Schutz zur Ausnüchterung in Gewahr-

sam genommen wird.

Nr. 2 kommt z.B. bei Fällen von hartnäckigem Stalking in Betracht,

wenn permanent gegen Schutzanordnungen verstoßen wird (Straftat-

bestand: § 4 GewSchG).

Verhältnismäßigkeit, § 4 Nds. SOG

Insbesondere die Dauer dieser polizeilichen Maßnahme muss – auch bei

Vorliegen aller Tatbestandsvoraussetzungen – nach den polizeilichen

Grundsätzen erforderlich und angemessen sein.

Der Gewalttäter ist zu entlassen, wenn in der nächsten Zeit keine weitere

Gewalttätigkeit zu erwarten ist.

Gefahrenprognose

Aufgrund der Intensität der Maßnahme (schwerwiegendster Eingriff) ist es

unabdingbar, dass die erstellte Gefahrenprognose ein entsprechend ho-

hes Gefährdungspotenzial des Täters beinhaltet.

Die Ingewahrsamnahme greift in das Grundrecht auf Freiheit der Person

gem. Art. 2 GG ein.

Um den Eingriff dennoch zu rechtfertigen, muss die Polizei die schwierige

Prognoseentscheidung treffen

24 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Wesentliche Formvorschriften

Damit eine Ingewahrsamnahme zulässig ist, müssen darüber hinaus auch

verschiedene weitere Vorschriften zu beachten:

§ 19 Nds. SOG: Richterliche Entscheidung

Es ist unverzüglich eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und

Fortdauer der Freiheitsentziehung zu beantragen. Der Herbeiführung der rich-

terlichen Entscheidung bedarf es nur dann nicht, wenn anzunehmen ist, dass

die Entscheidung erst nach Wegfall des Grundes der Maßnahme ergehen

wird.

§ 20 Nds. SOG: Behandlung festgehaltener Personen

Der festgehaltenen Person ist unverzüglich der Grund für die Ingewahrsam-

nahme bekannt zu geben. Sie ist über die ihr zustehenden Rechtsbehelfe zu

belehren. Der festgehaltenen Person ist unverzüglich Gelegenheit zu geben,

eine Person ihrer Wahl zu benachrichtigen und zu ihrer Beratung hinzuzuzie-

hen, soweit dadurch der Zweck oder die Durchführung der Maßnahme nicht

gefährdet wird. Die festgehaltene Person soll gesondert, insbesondere ohne

ihre Einwilligung nicht in demselben Raum mit Straf- oder Untersuchungsge-

fangenen untergebracht werden.

§ 21 Nds. SOG: Dauer

Die festgehaltene Person ist zu entlassen,

1. entweder sobald der Grund für die Maßnahme der Verwaltungsbehörde

oder der Polizei weggefallen ist,

2. oder wenn die Fortdauer der Freiheitsentziehung durch richterliche Ent-

scheidung nach § 19 für unzulässig erklärt wird,

3. in jedem Fall spätestens bis zum Ende des Tages nach dem Ergreifen,

wenn nicht vorher die Fortdauer der Freiheitsentziehung durch richterliche

Entscheidung angeordnet ist.

In der richterlichen Entscheidung ist die höchstzulässige Dauer der Freiheits-

entziehung zu bestimmen; sie darf im Fall des § 18 Abs. 1 Nr. 2 Nds. SOG

nicht mehr als zehn Tage, in den übrigen Fällen nicht mehr als vier Tage be-

tragen.

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 25

3. Weitere Maßnahmen

Alle Maßnahmen der Polizei, die in die Rechte der Bürgerinnen und Bür-

ger eingreifen, brauchen – wie schon ausgeführt – eine rechtliche Grund-

lage. Da neben den Maßnahmen des Platzverweise und der Ingewahr-

samnahme noch weitere Maßnahmen möglich und erforderlich sind, sind

auch weitere Normen des Nds. SOG für die Praxis wichtig.

So stellt sich schon am Anfang eines Einsatzes wegen häuslicher Gewalt

die Frage, ob die Polizeibeamtinnen und -beamten befugt sind, die Woh-

nung zu betreten – insbesondere wenn der Mann den Zutritt verweigert.

Auch wenn bestimmte Dinge aus der Wohnung mitgenommen werden

sollen, um ggf. weitere Gefährdungen zu verhindern, ist eine Rechtsgrund-

lage hierfür erforderlich (z.B. Herausgabe der Wohnungsschlüssel).

Einige Maßnahmen, die bei Einsätzen wegen häuslicher Gewalt notwen-

dig sein können, sind nicht in dem Katalog der Standardmaßnahmen

enthalten. Zum Beispiel kann es sinnvoll sein, dem Täter nicht nur des

Platzes zu verweisen, sondern auch zugleich ein Verbot der weiteren Kon-

taktaufnahme anzuordnen, um ggf. weitere telefonische Belästigungen

auszuschließen. Dann sind die Vorgaben der Generalklausel zu beachten

(vgl. oben S. 6).

§ 24 Nds. SOG – Betreten und Durchsuchung von Wohnungen

(1) Wohnungen im Sinne dieser Vorschrift sind Wohn- und Nebenräume, Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräume sowie anderes befriedetes Besitztum, das mit diesen Räumen im Zusammenhang steht.

(2) Die Verwaltungsbehörden und die Polizei können eine Wohnung ohne Einwilligung der Inhaberin oder des Inhabers betreten und durchsuchen, wenn

1. Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich in ihr eine Person befindet, die nach § 16 Abs. 3 vorgeführt oder nach § 18 in Gewahrsam genommen werden darf,

2. Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich in ihr eine Sache befindet, die nach § 26 Nr. 1 sichergestellt werden darf,

3. dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder für Sachen von bedeutendem Wert erforderlich ist oder

4. von der Wohnung Emissionen ausgehen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, die Gesundheit in der Nachbarschaft wohnender Personen zu beschädigen.

Sicherstellung

Betreten von

Wohnungen

Maßnahmen gem. § 11 Nds.

SOG (z.B. Kommunikations-

verbot)

26 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

(3) Rechtfertigen Tatsachen die Annahme, dass sich in einem Gebäude eine Person befindet, die widerrechtlich festgehalten wird oder hilflos ist und für die dadurch Gefahr für Leib oder Leben besteht, so kann die Verwaltungsbehörde oder die Polizei die in die-sem Gebäude befindlichen Wohnungen ohne Einwilligung der Inhaberin oder des Inha-bers betreten und durchsuchen, wenn die Gefahr auf andere Weise nicht beseitigt wer-den kann.

(4) Während der Nachtzeit (§ 104 Abs. 3 der Strafprozessordnung) ist das Betreten und Durchsuchen einer Wohnung nur in den Fällen des Absatzes 2 Nrn. 3 und 4 und in den Fällen des Absatzes 3 zulässig.

(5) Wohnungen dürfen jedoch zur Verhütung des Eintritts erheblicher Gefahren jederzeit betreten werden, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dort

1. Personen Straftaten von erheblicher Bedeutung oder die in § 180 Abs. 1 und § 180b des Strafgesetzbuchs genannten Straftaten verabreden, vorbereiten oder verüben,

2. sich Personen aufhalten, die gegen aufenthaltsrechtliche Strafvorschriften

verstoßen, oder

3. sich Personen verbergen, die wegen Straftaten gesucht werden.

(6) Zum Zweck der Gefahrenabwehr dürfen Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräume, andere der Öffentlichkeit zugängliche Räume sowie befriedetes Besitztum, das mit den genannten Räumen im Zusammenhang steht, während der Arbeits-, Betriebs-, Ge-schäfts- oder Öffnungszeit sowie in der Zeit, in der sich Beschäftigte oder Publikum dort aufhalten, betreten werden.

§ 26 Nds. SOG – Sicherstellung

Die Verwaltungsbehörden und die Polizei können eine Sache sicherstellen,

1. um eine gegenwärtige Gefahr abzuwehren,

2. um die Eigentümerin oder den Eigentümer oder die Person, die rechtmäßig die tatsächliche Gewalt innehat, vor Verlust oder Beschädigung einer Sache zu schützen oder

3. wenn sie von einer Person mitgeführt wird, die nach diesem Gesetz oder anderen Rechtsvorschriften festgehalten wird, und sie oder ein anderer die Sache verwenden kann, um

a) sich zu töten oder zu verletzen,

b) Leben oder Gesundheit anderer zu schädigen,

c) fremde Sachen zu beschädigen oder

d) die Flucht zu ermöglichen oder zu erleichtern.

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 27

IV. Rechtsmittel

Der Täter (Störer) kann gegen die polizeilichen Maßnahmen und Anord-

nungen vorläufigen Rechtsschutz beantragen.

Ein Platzverweis wird immer für sofort vollziehbar erklärt. Das bedeutet

auch, dass Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung haben; d.h. der

Täter muss sich trotz der Einlegung eines Rechtmittels an die Anordnung

halten.

Gem. § 80 Abs. 5 VwGO kann beantragt werden, dass diese aufschie-

bende Wirkung wiederhergestellt wird; dann könnte der Täter wieder in die

Wohnung zurückkehren.

Täter : Antragssteller

Opfer : Beigeladene

gegen polizeiliche Maßnahmen

und Anordnungen

vorläufiger Rechtsschutz

Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO

28 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Teil II Fragen und Antworten

Fragen Frage 1: Kann ich die Aufhebung des Platzverweises beantragen? Frage 2: Was macht das Opfer, wenn es trotz des Platzverweises Angst vor dem Täter hat? Frage 3: Kann der Platzverweis auch auf Dauer angeordnet werden? Frage 4: Was macht man, wenn der Täter zurückkommt? Frage 5: Ist der polizeiliche Platzverweis zulässig, obwohl das Opfer nach dem GewSchG die Nutzungsüberlassung der Woh-nung beantragen kann?

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 29

Fragen und Antworten

Frage 1

Kann ich die Aufhebung des Platzverweises beantragen?

Nein. Der Platzverweis ist nicht von einem Antrag abhängig. Die Polizei

hebt einen Platzverweis nur dann auf, wenn sie zu der Auffassung kommt,

dass keine Gefahr mehr besteht.

Frage 2

Was macht das Opfer, wenn es trotz des Platzverweises Angst vor

dem Täter hat?

Es sollte mit der Polizei und der Beratungsstelle über die Befürchtungen

sprechen. Fühlt es sich durch den Platzverweis nicht ausreichend ge-

schützt, kann es z.B. vorübergehend in einem Frauenhaus wohnen.

Frage 3

Kann der Platzverweis auch auf Dauer angeordnet werden?

Nein. Polizeiliche Maßnahmen sind grds. nur von vorübergehender Dauer.

Für längerfristige Schutzanordnungen ist das Zivilgericht zuständig.

Frage 4

Was macht man, wenn der Täter zurückkommt?

Dann sollte das Opfer sofort die Polizei rufen. Verstößt der Täter gegen

den Platzverweis, so kann die Polizei ihn erforderlichenfalls in Gewahrsam

nehmen.

Frage 5

Ist der polizeiliche Platzverweis zulässig, obwohl das Opfer nach

dem GewSchG die Nutzungsüberlassung der Wohnung beantragen

kann?

Der polizeiliche Platzverweis ist eine Ergänzung zum GewSchG und deren

Maßnahmen – auch zu der Nutzungsüberlassung der Wohnung. Als erster

Ansprechpartner muss die Polizei in der akuten Krisensituation die Mög-

lichkeit haben, das Opfer zu schützen und ihm den nötigen Freiraum zu

verschaffen, den es braucht, bis die gerichtliche Maßnahme nach dem

GewSchG greift.

30 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Teil III Polizeirecht in der Praxis

- Fälle und Lösungen -

Hinweis: Die hier dargestellten Fälle und Lösungshinweise sind anhand

veröffentlichter Entscheidungen von Verwaltungsgerichten entwickelt wor-

den. Dennoch ist in der Praxis jeder Fall anders gelagert. Auch ähnliche

Fälle können (zulässigerweise!) anders entschieden werden. Diese Fälle

sollen dazu dienen, ein Grundverständnis für die von der Polizeibeamtin-

nen und -beamten bzw. den Verwaltungsgerichten zu treffenden Ent-

scheidungen vermitteln.

Fälle:

Fall 1

Klaus und Ute sind verheiratet, leben aber in ihrer gemeinsamen Woh-

nung räumlich getrennt, weil es zwischen ihnen immer wieder zu – auch

gewalttätigen – Auseinandersetzungen kommt. Ute hat bereits mehrfach

die Polizei gerufen und Klaus angezeigt. Sie hat die Anzeige jedoch jedes

Mal wieder zurückgezogen. Klaus kommt eines Abends volltrunken nach

Hause und fängt an zu randalieren. Er droht Ute Gewalt an und schlägt ihr

schließlich mit der Faust ins Gesicht. Ute hat Angst und ruft die Polizei.

Als die Polizeibeamten eintreffen, stellen sie bei Ute eine leichte Rötung

der Wange fest. Als Klaus die Polizeibeamten sieht, wird er wieder agg-

ressiv und erklärt diesen, in seiner Wohnung könne er machen, was er

wolle. Klaus stößt noch weitere Drohungen gegen seine Frau aus. Reicht

dies aus, um gegenüber Klaus einen Platzverweis auszusprechen?

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 31

Fall 2

Gitta erstattet abends bei der Polizeidienstelle in ihrem Viertel Anzeige

gegen ihren Ehemann Bernd, nachdem es zwischen ihnen am Abend zu

gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen ist. Nachdem Gitta ihre

Situation geschildert hat und die Anzeige in der Polizeidienststelle aufge-

nommen worden ist, suchen die Polizeibeamten die Wohnung von Bernd

und Gitta auf, um gegenüber Bernd einen Platzverweis auszusprechen.

Als sie dort eintreffen, ist Bernd nicht mehr da. Auch auf Gittas Hinweis,

dass sich Bernd in der Eckkneipe, die er regelmäßig aufsucht, aufhalten

könne, finden sie ihn nicht.

Der Platzverweis kann deshalb an diesem Abend nicht gegenüber Bernd

ausgesprochen werden. Gitta kommt – weil sie sich nicht sicher fühlt – bei

einer Freundin unter, möchte aber gerne am nächsten Tag in die Woh-

nung zurückkehren. Kann der Platzverweis gegenüber Bernd am nächsten

Tag „nachgeholt“ werden?

Fall 3

Wie verhält es sich, wenn Gitta am 26.02. die Polizei aufsucht, am 01.03.

aber ohnehin in eine eigene Wohnung ziehen will? Als die Polizeibeamten

eintreffen, treffen sie auch Bernd in der Wohnung an.

Fall 4

Kathrin geht zur Polizei und stellt eine Strafanzeige gegen ihren Ehemann

Frank. Den Polizeibeamtinnen teilt sie mit, Frank habe ihr in der Vergan-

genheit mehrfach per SMS einen Selbstmordversuch angekündigt und

auch schon mehrfach versucht, sich das Leben zu nehmen. Infolge des

letzten Selbstmordversuches habe sie einen Schlaganfall erlitten. Nun

habe er erneut mit Selbstmord gedroht. Detaillierte Angaben kann Kathrin

nicht machen. Kann ein Platzverweis ausgesprochen werden?

Fall 5

Anne zeigt ihren Ehemann Christian bei der Polizei an. Dieser habe ihr

heißen Tee ins Gesicht geschüttet und das Teeglas in ihre Richtung ge-

worfen; er habe ihr dann die Haustürschlüssel weggenommen und ver-

steckt. Außerdem habe Christian auch mit Gewalttätigkeiten gedroht und

die Hand drohend gegen sie erhoben. Eine Verletzung durch den heißen

Tee habe sie aber glücklicherweise nicht davongetragen. Seine Drohung

mit Gewalttätigkeiten gegenüber Anne hat Christian bislang auch nicht

wahr gemacht. Kann die Polizei gegen Christian einen Platzverweis aus-

sprechen?

32 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Fall 6

Petra erstattet Anzeige gegen ihren Ehemann Wolfgang bei den herbeige-

rufenen Polizeibeamten nach einer nächtlichen Auseinandersetzung. Sie

stellt hierbei dar, dass sie in der Vergangenheit bereits mehrfach von

Wolfgang geschlagen worden ist. Am Abend sei sie von einer Weihnachts-

feier zurückgekehrt; ihr Ehemann habe bereits auf sie gewartet, habe sie

dann am Nacken gepackt, an den Haaren gezogen und mit den Worten

bedroht, dass sie das nächste Mal nicht mehr aufstehen werde. Wolfgang

sagt dagegen, dass er seine Ehefrau lediglich aus seinem Schlafzimmer

„geschoben“ habe, weil er schlafen wollte. Er teilt den Beamten auch mit,

dass es sich lediglich um eine „Rachehandlung“ seiner Ehefrau handele,

weil es wiederholt zwischen den Eheleuten zu Auseinandersetzungen ge-

kommen sei; derartige „Racheaktionen“ habe Petra aus diesem Grunde

schon häufiger unternommen.

Die Polizeibeamten stellen bei ihrem Eintreffen in der Wohnung von Petra

und Wolfgang fest, dass Petra einen sehr verängstigten Eindruck macht

und sie den Vorfall glaubhaft schildert. Wolfgang dagegen zeigt sich ge-

genüber den Polizeibeamten aggressiv und herausfordernd. Kann ein

Platzverweis ausgesprochen werden?

Fall 7

Gegen Jörg wird ein Platzverweis ausgesprochen, nachdem die Polizei

von seiner Ehefrau Anja aufgrund von häuslicher Gewalt herbeigerufen

worden ist. Jörg beantragt einstweiligen Rechtsschutz beim Verwaltungs-

gericht, damit die sofortige Vollziehung des Bescheides ausgesetzt wird

und er vorzeitig, d.h. vor Ablauf der im Platzverweis angeordneten Frist

(Dauer), in die Wohnung zurückkehren kann. Anja hat den Polizeibeam-

tinnen seinerzeit erklärt, dass sie in der Vergangenheit immer wieder von

ihrem Ehemann körperlich schwer misshandelt worden sei und dass es

auch aktuell immer wieder körperliche Übergriffe gebe. Die Tochter Julia,

die vor zwei Jahren von zuhause ausgezogen ist, kann bestätigen, dass

es in der Zeit bis zu ihrem Auszug immer wieder zu derartigen Übergriffen

und Drohungen gekommen ist. Der noch im Haushalt seiner Eltern leben-

de Sohn Philipp sagt dagegen, dass sein Vater sich ruhig verhalte und

seiner Mutter nichts täte. Aktuell können die Polizeibeamtinnen bei Anja

keine Spuren von Gewaltanwendung oder Verletzungen feststellen. Wird

Jörgs Antrag Erfolg haben?

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 33

Fall 8

Luigi schlägt seine Frau Corinna und droht ihr zusätzlich damit, das ge-

meinsame Kind Mario zu entführen und es mit nach Italien zu nehmen.

Nach Herbeirufen der Polizei wird gegen Luigi ein Platzverweis für die

Dauer von zwei Wochen ausgesprochen, in dem es ihm verboten wird,

das Hausgrundstück, einen Bereich von 50 m um das Haus herum und

auch den Kindergarten von Mario sowie einen Bereich von 200 m um den

Kindergarten herum zu betreten. Luigi beantragt dagegen die aufschie-

bende Wirkung vor dem Verwaltungsgericht. Er begründet sein Begehren

damit, dass er selbstständiger Versicherungsvertreter sei, sich sein Büro

und sämtliche Unterlagen in seinem Haus befänden und er für die Dauer

des Platzverweises nun nicht arbeiten könne. Dies würde für ihn erhebli-

che Verluste bedeuten.

Fall 9

Sandra und Matthias sind verheiratet und haben drei Kinder, Simon, Sa-

rah und Mathilda. Zwischen Sandra und Matthias kommt es immer wieder

zu Gewalttätigkeiten, wobei diese einmal von dem einen und einmal von

dem anderen ausgehen. Als es wieder einmal zwischen den beiden zu

derartigen Auseinandersetzungen kommt, ruft Sandra die Polizei. Bei der

Befragung geben beide jeweils an, dass der andere ihnen gegenüber re-

gelmäßig gewalttätig wird. Bei beiden stellen die Polizeibeamten leichtere

Verletzungen fest. Wird die Polizei einen Platzverweis aussprechen?

Wenn ja, gegen wen?

Fall 10

Erna und Otto sind verheiratet. Nach Gewalttätigkeiten und Drohungen

wird Otto aus der Wohnung, dessen Mieter er allein ist, verwiesen. Otto

begehrt einstweiligen Rechtsschutz, den er allerdings erst beantragt,

nachdem er bereits einige Tage im Männerwohnheim und dann in seinem

Auto übernachtet hat. Er trägt außerdem vor, dass er zu 30% schwer be-

hindert sei. Die hygienischen Verhältnisse im Männerwohnheim seien eine

Zumutung, er habe sich den Schlafraum mit Betrunkenen teilen und be-

fürchten müssen, bestohlen zu werden. Übernachtungen in einem Hotel

oder einer Pension – und seien es auch nur wenige – könne er sich nicht

leisten, da er zurzeit arbeitslos sei. Seit zwei Tagen übernachte er deshalb

in seinem Auto. Wie wird das Gericht entscheiden?

34 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Fall 11

Wie verhält es sich zum Beispiel, wenn in Ergänzung zu Fall 10 Otto allei-

niger Mieter der Wohnung ist, im Rollstuhl sitzt und die Wohnung de-

mentsprechend behindertengerecht umgebaut ist? Wie wird das Verwal-

tungsgericht über Ottos Antrag auf aufschiebende Wirkung des Platzver-

weises entscheiden?

Fall 12

Frau Schmidt ist eine aufmerksame Nachbarin. Sie hört aus der Neben-

wohnung immer wieder ihre Nachbarin Elke rufen: „Nein Peter!“, „Nicht!“,

„Hör auf!“. Wenn Frau Schmidt Elke auf dem Hausflur trifft, sieht diese

nicht aus, als wenn sie von ihrem Ehemann Peter geschlagen würde; die

Kinder von Elke und Peter, Klara und Klausi, sehen allerdings immer sehr

schlecht aus und machen einen verstörten Eindruck. Frau Schmidt be-

fürchtet das Schlimmste und ruft eines Tages die Polizei. Als diese in der

Wohnung von Elke und Peter eintrifft, stellt sich heraus, dass Peter zwar

nicht gegenüber seiner Frau Elke gewalttätig wird, jedoch regelmäßig im-

mer wieder die Kinder schlägt und diese am ganzen Körper blaue Flecken

haben. Auf die Frage, warum Elke sich nicht von sich aus an die Polizei

gewandt habe, sagt sie, dass sie vor Peter Angst habe. Aber bisher sei ihr

persönlich nichts geschehen. Was werden die Polizeibeamtinnen unter-

nehmen?

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 35

Lösungen:

Trotz der mittlerweile recht umfassenden und ausführlichen gesetzlichen

Regelungen und der Festlegung der Voraussetzungen, unter denen die

Polizei einen Platzverweis gem. § 17 Nds. SOG aussprechen oder den

Täter von häuslicher Gewalt gem. § 18 Nds. SOG in Gewahrsam nehmen

kann, können sich für die Polizeibeamtinnen und -beamten dennoch er-

hebliche Schwierigkeiten für die Einschätzung und Beurteilung der Ge-

waltsituation ergeben.

Ein weiteres Problemfeld stellt die Möglichkeit für die Weggewiesenen –

also für die Täter von häuslicher Gewalt – dar, im Wege des vorläufigen

Rechtsschutzes (§ 80 Abs. 5 VwGO) eine aufschiebende Wirkung gegen

den Platzverweis der Polizei zu erwirken und eher wieder in die Wohnung

zurückkehren zu dürfen als nach der im Platzverweis angegebenen

Dauer.

Fall 1

Klaus und Ute sind verheiratet, leben aber in ihrer gemeinsamen Woh-

nung räumlich getrennt, weil es zwischen ihnen immer wieder zu – auch

gewalttätigen – Auseinandersetzungen kommt. Ute hat bereits mehrfach

die Polizei gerufen und Klaus angezeigt. Sie hat die Anzeige jedoch jedes

Mal wieder zurückgezogen. Klaus kommt eines Abends volltrunken nach

Hause und fängt an zu randalieren. Er droht Ute Gewalt an und schlägt ihr

schließlich mit der Faust ins Gesicht. Ute hat Angst und ruft die Polizei.

Als die Polizeibeamten eintreffen, stellen sie bei Ute eine leichte Rötung

der Wange fest. Als Klaus die Polizeibeamten sieht, wird er wieder agg-

ressiv und erklärt diesen, in seiner Wohnung könne er machen, was er

wolle. Klaus stößt noch weitere Drohungen gegen seine Frau aus. Reicht

dies aus, um gegenüber Klaus einen Platzverweis auszusprechen?

In den Fällen, in denen eine Person vorsätzlich den Körper, die Gesund-

heit oder die Freiheit einer anderen Person widerrechtlich verletzt, ist ein

Platzverweis nach § 17 Nds. SOG als vorübergehende und verhältnis-

mäßige Maßnahme anzusehen. Der Platzverweis dient dazu, sowohl eine

gerade bestehende, also eine gegenwärtige erhebliche Gefahr als auch

eine in unmittelbarer Zukunft zu befürchtende Gefahr vom Opfer der

Gewaltbeziehung abzuwehren. Darüber hinaus muss diese Gefahr für

die gesamte Dauer des Platzverweises vorliegen.

Die Polizeibeamtinnen und -beamten müssen also zum einen die aktuelle

Gefahrensituation beurteilen und zum anderen eine Gefahrenprognose für

die Zukunft treffen. Sie ermitteln so, welches die geeignetste Maßnahme

36 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

ist, um das Opfer vor neuen Gewalttätigkeiten zu schützen (Ermessens-

entscheidung).

Häusliche Gewalt umfasst neben den einmaligen Ereignissen auch die

verhältnismäßig häufiger auftretenden „Seriendelikte“. Hierbei entwickelt

sich die Gewaltbeziehung im Laufe der Zeit und es wiederholen sich in

meist kurzen Zeitabständen die Gewaltdelikte, die an Intensität ständig

zunehmen („Gewaltspirale“). Gerade bei letzterer besteht eine hohe

Wahrscheinlichkeit künftiger neuer Gewalt. Dies wissen auch die Polizei-

beamtinnen und -beamten und müssen es bei ihrer Gefahrenprognose

zwingend berücksichtigen.

Im Fall von Klaus und Ute liegen die erforderlichen Voraussetzungen für

einen Platzverweis der Polizei vor. Zwischen Klaus und Ute ist es schon

des Öfteren zu Auseinandersetzungen gekommen, die auch von Gewalt

geprägt gewesen sind. An diesem Abend stellt Klaus insbesondere durch

seine Aggressivität infolge der Trunkenheit eine gegenwärtige erhebliche

Gefahr für Ute dar.

Nun kann man darüber unterschiedlicher Auffassung sein, ob und für wie

lange Klaus aus der Wohnung verwiesen werden muss, damit Ute vor wei-

teren Gewaltübergriffen geschützt werden kann.

Möglicherweise reicht es aus, Klaus lediglich über Nacht in Gewahrsam zu

nehmen, bis er ausgenüchtert ist. Danach könnte man erneut feststellen,

ob weitere Maßnahmen – der Platzverweis – überhaupt noch notwendig

sind. Auf der anderen Seite ist es schon mehrfach zu diesen Auseinan-

dersetzungen gekommen und Ute hat schon mehrfach die Polizei einge-

schaltet und die Taten angezeigt. Dies spricht für das Vorliegen einer Ge-

waltspirale, sodass hier die erforderlichen Voraussetzungen für einen

Platzverweis gegenüber Klaus vorliegen.

Problematisch kann immer sein, die Dauer des Platzverweises zu be-

stimmen. Gem. § 17 Abs. 1 S. 2 Nds. SOG kann der Gewalttäter bis zu 14

Tagen aus der Wohnung verwiesen werden.

Dabei orientiert sich die Dauer der polizeilichen Maßnahme an einer zu

prognostizierenden zeitlichen Gefahrennähe, d.h. für welchen Zeitraum

ein erneuter Gefahreneintritt zu erwarten ist.

In der Praxis sind daher im Einzelfall Beweisanzeichen und Erkenntnisse

zu gewinnen, die eine Indizwirkung haben können, die eine solche Prog-

noseentscheidung manifestieren. Es gilt die Grundregel:

Je schwerer die (akute) Gewaltanwendung und je konkreter die Erkenn-

tnisse, die nach akuter Gewalt auf wiederholte, zurückliegende Gewalt-

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 37

handlungen schließen lassen, desto umfassender – auch in zeitlicher Hin-

sicht – ist dem Opfer ein Schutzraum zu schaffen.

Der Gesetzgeber hat im § 17 Nds. SOG mit einer Maximaldauer von 14

Tagen einen auf phänomenologischen Erkenntnissen und Erfahrungen

der Gerichtspraxis beruhenden Zeitraum definiert,

der als Schutzraum das Opfer vor erneuter (schwerer) Gewaltan-

wendung bewahren und

die Inanspruchnahme weiterer Schutzmöglichkeiten eröffnen soll.

Der Wille des Opfers, frühzeitig eine Schutzanordnung nach dem Gewalt-

schutzgesetz zu erwirken, kann Indizwirkung für die Dauer der Maßnahme

entfalten. Allerdings darf die polizeiliche Entscheidung, einen Platzverweis

zu verfügen, nicht im Sinne einer Bedingung daran gekoppelt werden,

dass das Opfer Regelungen nach dem Gewaltschutzgesetz in Anspruch

nehmen wird.

Im konkreten Fall von Klaus und Ute wissen wir, dass er ihr dieses Mal mit

der Faust ins Gesicht geschlagen hat (akute Gewalt) und dass es schon

wiederholt zu entsprechenden Gewalttaten gekommen ist. Zudem hat

Klaus konkret mit weiterer Gewalt gedroht. Daher ist es in diesen Fall ver-

tretbar, dass ein Platzverweis zwischen 10 und 14 Tagen ausgesprochen

wird.

Die konkrete Dauer müssen die Polizeibeamten vor Ort bestimmen. Sie

haben selbstverständlich noch viel mehr Indizien für ihre Entscheidung zur

Verfügung, als dies ein Sachverhalt wiedergeben könnte (z.B. Zustand

von Ute, ggf. Situation von Kindern, Zustand der Wohnung usw.).

38 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Fall 2

Gitta erstattet abends bei der Polizeidienstelle in ihrem Viertel Anzeige

gegen ihren Ehemann Bernd, nachdem es zwischen ihnen am Abend zu

gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen ist. Nachdem Gitta ihre

Situation geschildert hat und die Anzeige in der Polizeidienststelle aufge-

nommen worden ist, suchen die Polizeibeamten die Wohnung von Bernd

und Gitta auf, um gegenüber Bernd einen Platzverweis auszusprechen.

Als sie dort eintreffen, ist Bernd nicht mehr da. Auch auf Gittas Hinweis,

dass sich Bernd in der Eckkneipe, die er regelmäßig aufsucht, aufhalten

könne, finden sie ihn nicht.

Der Platzverweis kann deshalb an diesem Abend nicht gegenüber Bernd

ausgesprochen werden. Gitta kommt – weil sie sich nicht sicher fühlt – bei

einer Freundin unter, möchte aber gerne am nächsten Tag in die Woh-

nung zurückkehren. Kann der Platzverweis gegenüber Bernd am nächsten

Tag „nachgeholt“ werden?

Wird ein Platzverweis gegenüber dem Gewalttäter ausgesprochen, muss

es sich immer um eine unaufschiebbare Maßnahme handeln. Sie ist so-

fort vollziehbar, d.h. derjenige, dem gegenüber der Platzverweis aus-

gesprochen wurde, hat die Möglichkeit seine für die Dauer des Platzver-

weises dringend benötigten persönlichen Gegenstände zusammen zu pa-

cken und muss dann sofort mit den Polizeibeamtinnen und -beamten die

Wohnung verlassen.

Aus § 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ergibt sich nach Auffassung der Verwal-

tungsgerichte grundsätzlich die sofortige Vollziehbarkeit des Platzverwei-

ses, weil der Polizeibeamte mit diesem eine unaufschiebbare Maßnahme

trifft. Im Fall von Gitta und Bernd hätte der Platzverweis gegenüber Bernd

noch an demselben Abend ausgesprochen werden müssen. Er dürfte

nicht erst am nächsten Morgen gegenüber Bernd ausgesprochen werden,

nur weil er am Vorabend unauffindbar war.

Dies kann jedoch nicht für den Fall gelten, dass Bernd sich absichtlich

„versteckt“, um sich dem Platzverweis zu entziehen und stellt damit eine

Ausnahme von der grundsätzlich sofortigen Vollziehbarkeit dar.

Kommt es dagegen nach einiger Zeit oder sogar am Folgetag erneut zu

Auseinandersetzungen, kann Gitta selbstverständlich wiederum die Polizei

rufen, die dann gegenüber Bernd einen Platzverweis aussprechen kann.

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 39

Fall 3

Wie verhält es sich, wenn Gitta am 26.02. die Polizei aufsucht, am 01.03.

aber ohnehin in eine eigene Wohnung ziehen will? Als die Polizeibeamten

eintreffen, treffen sie auch Bernd in der Wohnung an.

Hier ist die Frage, ob ein Platzverweis gegenüber Bernd überhaupt ver-

hältnismäßig gewesen wäre.

Die Verhältnismäßigkeit ist ebenfalls ein wichtiger Punkt, den die Polizei

bei der Wahl ihrer Maßnahme zu berücksichtigen hat. Im Rahmen der

Verhältnismäßigkeit müssen die Polizeibeamtinnen und -beamten feststel-

len, ob die beabsichtigte Maßnahme geeignet, erforderlich und ange-

messen ist, um den gewünschten Schutz des Opfers herbei zu führen.

Damit die Maßnahme angemessen ist, darf den Polizeibeamtinnen und -

beamten kein milderes Mittel zur Verfügung stehen, um das Gewaltopfer

zu schützen.

Aufgrund dessen, dass Gitta ohnehin in den nächsten 3 Tagen ausziehen

will, wäre es möglicherweise ausreichend gewesen, wenn die Polizeibe-

amtinnen und -beamten ihr ermöglicht hätten, die ihr gehörenden Gegens-

tände in der Wohnung zusammen zu packen und damit das Haus wieder

zu verlassen. Dies stellt ein milderes Mittel dar als gegenüber Bernd einen

Platzverweis zu verhängen. Durch einen Platzverweis würde nämlich in

die Grundrechte von Bernd eingegriffen (Art. 2 GG: Freiheitsrecht; Art. 11

GG: Freizügigkeit).

Wenn aber die drohende Gefahr anders nicht abzuwenden sind, kann

auch trotz des vorgesehenen Auszugs ein Platzverweis angeordnet wer-

den. Die Dauer ist dann aber auf den 1.3. zu begrenzen.

40 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Fall 4

Kathrin geht zur Polizei und stellt eine Strafanzeige gegen ihren Ehemann

Frank. Den Polizeibeamtinnen teilt sie mit, Frank habe ihr in der Vergan-

genheit mehrfach per SMS einen Selbstmordversuch angekündigt und

auch schon mehrfach versucht, sich das Leben zu nehmen. Infolge des

letzten Selbstmordversuches habe sie einen Schlaganfall erlitten. Nun

habe er erneut mit Selbstmord gedroht. Detaillierte Angaben kann Kathrin

nicht machen. Kann ein Platzverweis ausgesprochen werden?

Grundsätzlich ist neben physischer und sexueller Gewalt auch psychische

Gewalt in Form von psychischem Druck als Variante von häuslicher Ge-

walt anerkannt.

Damit gegen Frank jedoch ein Platzverweis ausgesprochen werden kann,

müsste seine Drohungen, sich umzubringen und auch die bisher tatsäch-

lich unternommenen Selbstmordversuche eine gegenwärtige erhebliche

Gefahr für Kathrin sein.

Hierüber kann man unterschiedlicher Auffassung sein, denn das Verhalten

von Frank richtet sich genau genommen gegen seine eigene Gesundheit,

sein Leben und somit in erster Linie gegen sich selbst.

Andererseits hat Kathrin aufgrund der vorangegangenen Drohungen ge-

sundheitliche Schäden erlitten. Damit könnte die Selbstmorddrohung auch

als Gewalt gegen Kathrin gewertet werden.

Problematisch ist des Weiteren, dass fraglich ist, ob durch einen von der

Polizei ausgesprochenen Platzverweis eine Wiederholung von Franks

Verhalten effektiv verhindert werden kann. Dies ist gerade ein Ziel des

Platzverweises. Da der angedrohte Selbstmord auch bei einem Platzver-

weise vollzogen werden kann, ist dieser nicht geeignet die Gefahr zu be-

seitigen.

Dazu kommt, dass die Polizei immer nur dann einschreiten soll, wenn ge-

richtlicher Schutz nicht rechtzeitig zu erlangen ist und wenn ohne die Hilfe

der Polizei oder anderer Verwaltungsbehörden die Verwirklichung des

Rechts des Betroffenen vereitelt oder wesentlich erschwert würde.

Das Problem ist hier, dass Kathrin die Polizei nicht aufgrund von aktueller

Gewalt ihres Ehemannes ihr gegenüber aufgesucht hat. Auch in der Ver-

gangenheit haben keine anderen Gewalttätigkeiten ihr gegenüber stattge-

funden. Es liegt also keine akute Auseinandersetzung vor, die sofort von

der Polizei entschärft werden müsste. Die Polizeibeamtinnen und -

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 41

beamten müssten Kathrin jetzt vielmehr an das allgemeine Zivilgericht

bzw. an das Familiengericht verweisen, wo sie entsprechende Anträge

nach dem GewSchG bzw. auf Zuweisung der ehelichen Wohnung stellen

kann. Dies ist ihr auch ohne das vorherige Einschreiten der Polizei mög-

lich. Zu einer wesentlichen Erschwerung der Durchsetzung ihrer Rechte

kommt es mangels des Polizeieinsatzes ebenso nicht.

Nur zur Ergänzung sei angemerkt, dass Frank möglicherweise fachkundi-

ger Hilfe bedarf, soweit er ernsthaft an einer psychischen Störung leidet

und hierdurch suizidgefährdet ist. Zu denken ist an eine Hilfe nach dem

PsychKG.

In § 5 Abs. 1 S. 1 PsychKG ist bestimmt, dass die Landkreise oder die

kreisfreien Städte beim Bekanntwerden der Umstände einer hilfebedürfti-

gen Person dieser Hilfe durch den Sozialpsychiatrischen Dienst anzubie-

ten oder zu vermitteln haben. Eine Hilfebedürftigkeit kann sich nach § 6

PsychKG (medizinische, psychologische oder pädagogische Beratung,

Behandlung und Betreuung) oder § 11 Abs. 2 S. 1 PsychKG (Vermittlung,

Förderung und Gewährleistung der Behandlung durch Fachärzte bei inne-

rer oder äußerer Unmöglichkeit) richten.

Die Polizeibeamtinnen könnten demnach den Landkreis bzw. die kreisfreie

Stadt von Franks Zustand unterrichten, sodass diese/r die möglicherweise

erforderlichen Maßnahmen einleiten kann.

42 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Fall 5

Anne zeigt ihren Ehemann Christian bei der Polizei an. Dieser habe ihr

heißen Tee ins Gesicht geschüttet und das Teeglas in ihre Richtung ge-

worfen; er habe ihr dann die Haustürschlüssel weggenommen und ver-

steckt. Außerdem habe Christian auch mit Gewalttätigkeiten gedroht und

die Hand drohend gegen sie erhoben. Eine Verletzung durch den heißen

Tee habe sie aber glücklicherweise nicht davongetragen. Seine Drohung

mit Gewalttätigkeiten gegenüber Anne hat Christian bislang auch nicht

wahr gemacht. Kann die Polizei gegen Christian einen Platzverweis aus-

sprechen?

Auch einmalige gewalttätige Vorkommnisse können zu einem Platz-

verweis durch die Polizei führen. Die Abwesenheit einer „Gewaltspirale“

verhindert dies nicht. In den Fällen einmaliger Vorkommnisse müssen

aber andere Hinweise als bei der „Gewaltspirale“ hinzugezogen werden,

die die Schlussfolgerung zulassen, es werde innerhalb der Dauer, für die

ein Platzverweis ausgesprochen werden soll, zu neuen erheblichen Ge-

walttätigkeiten kommen. Dies bedeutet aber auch, dass Vorfälle ohne vor-

liegende Gewaltspirale ganz erheblich sein müssen, damit ein Platzver-

weis ausgesprochen werden kann.

Entscheidend ist, wie im konkreten Fall die Drohung Christians einzustu-

fen ist. Denn die direkte Gewalt – das Schütten von heißem Tee in das

Gesicht – ist schon beendet. Und auch in der Wegnahme der Haustür-

schlüssel liegt weder eine gegenwärtige erhebliche Gefahr, noch ist ein

bedeutsames Rechtsgut (Bestand des Staates, Leben, Gesundheit, Frei-

heit, nicht unwesentliche Vermögenswerte) betroffen. Wie diese Drohung

Christians, er werde Anne gegenüber gewalttätig verbunden mit der Droh-

geste der erhobenen Hand, zu bewerten ist, darüber kann man unter-

schiedlicher Auffassung sein.

Auf der einen Seite könnte man vertreten, dass er seine Drohung ihr ge-

genüber nicht wahr gemacht habe und es „nur“ bei der Drohung verblie-

ben ist. Vertritt man diese Ansicht, bestünde keine mit an Sicherheit gren-

zende Wahrscheinlichkeit für zukünftige Gewalttätigkeiten.

Auf der anderen Seite könnte man argumentieren, dass Christian zwar

bisher seine Drohung nicht verwirklicht hat, dies jedoch jederzeit passie-

ren könnte und dass für Anne allein aufgrund dieser ständig im Raum

schwebenden Drohung die – gegenwärtige erhebliche – Gefahr besteht,

von Christian geschlagen u.ä. zu werden. Hiernach wäre ein Platzverweis

auszusprechen.

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 43

Unabhängig von einem Platzverweis könnte Anne einen Antrag nach dem

GewSchG beim allgemeinen Zivilgericht bzw. Familiengericht stellen, da

hierfür schon die Androhung von Gewalttätigkeiten ausreicht!

44 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Fall 6

Petra erstattet Anzeige gegen ihren Ehemann Wolfgang bei den herbeige-

rufenen Polizeibeamten nach einer nächtlichen Auseinandersetzung. Sie

stellt hierbei dar, dass sie in der Vergangenheit bereits mehrfach von

Wolfgang geschlagen worden ist. Am Abend sei sie von einer Weihnachts-

feier zurückgekehrt; ihr Ehemann habe bereits auf sie gewartet, habe sie

dann am Nacken gepackt, an den Haaren gezogen und mit den Worten

bedroht, dass sie das nächste Mal nicht mehr aufstehen werde. Wolfgang

sagt dagegen, dass er seine Ehefrau lediglich aus seinem Schlafzimmer

„geschoben“ habe, weil er schlafen wollte. Er teilt den Beamten auch mit,

dass es sich lediglich um eine „Rachehandlung“ seiner Ehefrau handele,

weil es wiederholt zwischen den Eheleuten zu Auseinandersetzungen ge-

kommen sei; derartige „Racheaktionen“ habe Petra aus diesem Grunde

schon häufiger unternommen.

Die Polizeibeamten stellen bei ihrem Eintreffen in der Wohnung von Petra

und Wolfgang fest, dass Petra einen sehr verängstigten Eindruck macht

und sie den Vorfall glaubhaft schildert. Wolfgang dagegen zeigt sich ge-

genüber den Polizeibeamten aggressiv und herausfordernd. Kann ein

Platzverweis ausgesprochen werden?

Die Polizeibeamtinnen und -beamten müssen eine Abwägung vornehmen,

welche der Darstellungen wohl die wahrscheinlichere ist. Dies ist Teil der

von ihnen zu treffenden Ermessensentscheidung bezüglich der zu ergrei-

fenden Maßnahme. Der Platzverweis wird im Zweifelsfall angeordnet,

wenn die überwiegenden Argumente eines Sachverhaltes dafür sprechen.

Hierzu sind in der Praxis selbstverständlich mehr Indikatoren vorhanden,

als im hier vorgegebenen Sachverhalt.

Die Polizeibeamten beurteilen, dass nach der vorliegenden Situation mehr

für die Richtigkeit der Darstellung von Petra spricht und sprechen gegenü-

ber Wolfgang einen Platzverweis aus.

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 45

Fall 7

Gegen Jörg wird ein Platzverweis ausgesprochen, nachdem die Polizei

von seiner Ehefrau Anja aufgrund von häuslicher Gewalt herbeigerufen

worden ist. Jörg beantragt einstweiligen Rechtsschutz beim Verwaltungs-

gericht, damit die sofortige Vollziehung des Bescheides ausgesetzt wird

und er vorzeitig, d.h. vor Ablauf der im Platzverweis angeordneten Frist

(Dauer), in die Wohnung zurückkehren kann. Anja hat den Polizeibeam-

tinnen seinerzeit erklärt, dass sie in der Vergangenheit immer wieder von

ihrem Ehemann körperlich schwer misshandelt worden sei und dass es

auch aktuell immer wieder körperliche Übergriffe gebe. Die Tochter Julia,

die vor zwei Jahren von zuhause ausgezogen ist, kann bestätigen, dass

es in der Zeit bis zu ihrem Auszug immer wieder zu derartigen Übergriffen

und Drohungen gekommen ist. Der noch im Haushalt seiner Eltern leben-

de Sohn Philipp sagt dagegen, dass sein Vater sich ruhig verhalte und

seiner Mutter nichts täte. Aktuell können die Polizeibeamten bei Anja kei-

ne Spuren von Gewaltanwendung oder Verletzungen feststellen. Wird

Jörgs Antrag Erfolg haben?

Damit überhaupt darüber entschieden wird, ob dem Gewalttäter eine auf-

schiebende Wirkung gewährt wird, muss dieser Antrag, den er beim Ver-

waltungsgericht stellen muss, gewisse Bedingungen erfüllen.

Dieser Antrag muss zuerst einmal zulässig sein. Liegen nämlich diese

formalen Voraussetzungen nicht vor, kann dieser Antrag auf aufschieben-

de Wirkung vor Gericht auch keinen Erfolg haben.

Ist der Antrag zulässig, wird die sog. Begründetheit geprüft. In einem Ver-

waltungsgerichtsverfahren wird dabei geprüft, ob die Entscheidung der

Behörde (hier der Polizei) inhaltlich in Ordnung (also rechtmäßig) war. Bei

dem hier vorliegenden Fall ist aber zu beachten, dass es sich um ein Eil-

verfahren handelt, bei dem nur eine vorläufige Entscheidung getroffen

wird. Hier ist für das Gericht die zu prüfende Frage: Spricht mehr für den

Vollzug des Verwaltungsakts (hier: Platzverweis bleibt aufrecht erhalten)

oder gibt es höherwertige Interessen des Belasteten an der Aussetzung

des Verwaltungsakts (hier: bei weiter Bestehen des Platzverweises wer-

den seine Rechte elementar verletzt). Dabei können ggf. auch die bereits

überschaubaren Erfolgsaussichten in der Hauptsache mit berücksichtigt

werden, denn an der Vollziehung einer offensichtlich rechtswidrigen Maß-

nahme kann kein Interesse bestehen.

Aufgrund der sehr unterschiedlichen Aussagen der unmittelbar beteiligten

Personen lässt sich hier nicht eindeutig feststellen, was der Wahrheit ent-

46 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

spricht. Da deshalb die Erfolgsaussichten von Jörg nicht abschließend

beurteilt werden können, muss sich das Gericht hier maßgeblich auf eine

Abwägung der Folgen stützen, die sich im Falle der Gewährung oder Ver-

sagung des einstweiligen Rechtsschutzes und damit der aufschiebenden

Wirkung der sofortigen Vollziehung ergäben. Würde sich bei Versagung

die Unrichtigkeit der polizeilichen Gefahrenprognose herausstellen, so

hätte Jörg zu Unrecht gravierende Beeinträchtigungen seiner persönlichen

Sphäre hinnehmen müssen. Ihm wäre es dann zu Unrecht verwehrt ge-

wesen, die Wohnung, die seinen Lebensmittelpunkt bildet und in der sich

seine persönliche Habe befindet, als Unterkunft zu nutzen. Damit verbun-

den wären auch erhebliche Unannehmlichkeiten für Jörg, da er sich für die

Zeit des Platzverweises vorübergehend eine andere Bleibe suchen müss-

te. Relativiert werden diese Unannehmlichkeiten allerdings dadurch, dass

sich die Wohnungsverweisung nur auf einen begrenzten Zeitraum bezieht.

Würde Jörg dagegen der einstweilige Rechtsschutz gewährt und stellte

sich die polizeiliche Gefahrenprognose dagegen als richtig heraus, so er-

gäben sich erheblich gravierendere Konsequenzen für Anja. Aufgrund der

von ihr geschilderten früheren körperlichen Übergriffe und Bedrohungen

wäre zumindest Anjas körperliche Unversehrtheit gefährdet. Vor diesem

Hintergrund muss das Interesse von Jörg, früher in die Wohnung zurück

zu kehren, hinter das Interesse von Anja, ihre körperliche Unversehrtheit

gewährleistet zu wissen, zurücktreten.

Das Verwaltungsgericht wird den Antrag folglich ablehnen.

Eine Auswertung der Rechtsprechung zeigt, dass die Verwaltungsgerichte

vielfach die Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO ablehnen. Sie begründen

dies in den meisten Fällen damit, dass der Platzverweis eben gerade die

geeignetste und verhältnismäßigste Maßnahme gewesen ist, um das Ge-

waltopfer vor erneuten Übergriffen in der eigenen Wohnung zu schützen.

Liegt ein nur lückenhaft zu ermittelnder oder widersprüchlicher Sachver-

halt vor, sprechen aber genug „Ersatzfaktoren“ (bspw. starke Verängsti-

gung des Opfers, sichtbare Spuren von Gewaltanwendung) dafür, dass

häusliche Gewalt stattgefunden hat, richtet sich die Begründung der Ver-

wehrung des einstweiligen Rechtsschutzes sodann darauf, dass das

Schutzgut „Gesundheit“ und „Leben“ des Opfers höher anzusehen ist als

das Interesse des Täters, in der Wohnung zu verbleiben oder vor Ablauf

der Frist wieder in die Wohnung zurückkehren zu dürfen. Das Interesse

des Täters ist im Zweifelsfall nachrangig zum Interesse des Opfers und

zum öffentlichen Interesse, dessen Schutz die Aufgabe der Polizei ist.

Dass der Täter hierbei Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen muss, weil er

eine andere Unterkunft benötigt, ist vom Gesetzgeber gewollt.

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 47

Ähnlich ist dieser Fall:

Fall 8

Luigi schlägt seine Frau Corinna und droht ihr zusätzlich damit, das ge-

meinsame Kind Mario zu entführen und es mit nach Italien zu nehmen.

Nach Herbeirufen der Polizei wird gegen Luigi ein Platzverweis für die

Dauer von zwei Wochen ausgesprochen, in dem es ihm verboten wird,

das Hausgrundstück, einen Bereich von 50 m um das Haus herum und

auch den Kindergarten von Mario sowie einen Bereich von 200 m um den

Kindergarten herum zu betreten. Luigi beantragt dagegen die aufschie-

bende Wirkung vor dem Verwaltungsgericht. Er begründet sein Begehren

damit, dass er selbstständiger Versicherungsvertreter sei, sich sein Büro

und sämtliche Unterlagen in seinem Haus befänden und er für die Dauer

des Platzverweises nun nicht arbeiten könne. Dies würde für ihn erhebli-

che Verluste bedeuten.

Kann ein Platzverweis in diesem Zusammenhang auch für einen Bereich,

der außerhalb einer Wohnung liegt, ausgesprochen werden? Hier also für

den Kindergarten und dessen umliegender Bereich?

Gem. § 17 Abs. 1 Nds. SOG kann jede Person vorübergehend von einem

Ort verwiesen oder ihr vorübergehend das Betreten verboten werden,

wenn dies der Abwehr einer Gefahr dient.

Luigi kann also verboten werden, den Bereich rund um den Kindergarten

und diesen selbst zu betreten, wenn dies der Abwehr einer Gefahr dient.

Die notwendige Gefahr wird in dem angedrohten Kindesentzug und somit

in der Verletzung des Sorgerechtes von Corinna gesehen.

Denn: Das Sorgerecht steht vom Gesetz her beiden Elternteilen gemein-

sam zu (§ 1626 BGB).

Zu fragen ist allerdings, welche Auswirkungen der Umstand hat, dass Lui-

gi als selbstständiger Versicherungsvertreter darauf angewiesen ist, sein

Büro zu nutzen. Ein Platzverweis greift damit nicht nur in seine Grundrech-

te der Freiheit (Art. 2 GG) und Freizügigkeit (Art. 11 GG) ein, sondern

auch in das Recht der Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 GG) und das Recht

am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (als Ausprägung des

Eigentumsrechtes, Art. 14 GG). Im Vergleich zu den auf Seiten von Corin-

na und Mario bedrohten Rechtsgütern (körperliche Unversehrtheit, Art. 2

GG und ggf. Art. 6 (Schutz der Familie)) lässt es sich durchaus gut be-

gründen, dass für einen kurzfristigen Zeitraum von 14 Tagen ein Eingriff in

die Rechte von Luigi zulässig ist.

48 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Die Interessen von Luigi müssen folglich hinter denen von Corinna zurück-

treten. Luigi hätte ja die benötigten Unterlagen für die Zeit des vorüberge-

henden Platzverweises mitnehmen und so trotzdem arbeiten können. Er

kann diese Unterlagen – unter Begleitung der Polizei – auch jetzt noch

abholen.

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 49

Fall 9

Sandra und Matthias sind verheiratet und haben drei Kinder, Simon, Sa-

rah und Mathilda. Zwischen Sandra und Matthias kommt es immer wieder

zu Gewalttätigkeiten, wobei diese einmal von dem einen und einmal von

dem anderen ausgehen. Als es wieder einmal zwischen den beiden zu

derartigen Auseinandersetzungen kommt, ruft Sandra die Polizei. Bei der

Befragung geben beide jeweils an, dass der andere ihnen gegenüber re-

gelmäßig gewalttätig wird. Bei beiden stellen die Polizeibeamten leichtere

Verletzungen fest. Wird die Polizei einen Platzverweis aussprechen?

Wenn ja, gegen wen?

Wenn in einer Gewaltbeziehung die Gewalttätigkeiten regelmäßig von

beiden Partnern ausgehen, liegen demzufolge auch gegenwärtige erhebli-

che Gefahren für beide Partner gleichermaßen vor, die durch einen Platz-

verweis durchbrochen werden können. Auch in einem solchen Fall müs-

sen die Polizeibeamtinnen und -beamten Ersatzindikatoren finden, um

einen Platzverweis gegen einen der Beziehungspartner aussprechen zu

können. Mögliche Ansatzpunkte sind z.B. die Feststellung, welcher von

den Partnern häufiger oder schneller gewalttätig wird oder aber, ob einer

der Partner dem anderen – körperlich – überlegen ist. Ebenso kann aus-

schlaggebend sein, wer die Kinder regelmäßig versorgt und deswegen in

höherem Maße auf die weitere Nutzung der Wohnung angewiesen ist

Vor dem Hintergrund derartiger Ersatzindikatoren können die Polizeibe-

amten entweder gegen Sandra oder gegen Matthias den Platzverweis

aussprechen.

50 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Fall 10

Erna und Otto sind verheiratet. Nach Gewalttätigkeiten und Drohungen

wird Otto aus der Wohnung, dessen Mieter er allein ist, verwiesen. Otto

begehrt einstweiligen Rechtsschutz, den er allerdings erst beantragt,

nachdem er bereits einige Tage im Männerwohnheim und dann in seinem

Auto übernachtet hat. Er trägt außerdem vor, dass er zu 30% schwer be-

hindert sei. Die hygienischen Verhältnisse im Männerwohnheim seien eine

Zumutung, er habe sich den Schlafraum mit Betrunkenen teilen und be-

fürchten müssen, bestohlen zu werden. Übernachtungen in einem Hotel

oder einer Pension – und seien es auch nur wenige – könne er sich nicht

leisten, da er zurzeit arbeitslos sei. Seit zwei Tagen übernachte er deshalb

in seinem Auto. Wie wird das Gericht entscheiden?

Das Verwaltungsgericht lehnt den Antrag von Otto auf einstweiligen

Rechtsschutz ab.

Zum einen stuft das Gericht das private Interesse auch in diesem Fall

niedriger ein als das öffentliche Interesse, zu dem auch das Schutzinter-

esse des Gewaltopfers zählt. Dass Otto der alleinige Mieter der Wohnung

ist, ändert hieran nichts!

Bezüglich der Übernachtungsmöglichkeiten begründet das Gericht seinen

Entschluss damit, dass Otto nicht vorgetragen hat, dass er keine ander-

weitigen Freunde, Bekannte oder Verwandte habe, bei denen er vorüber-

gehend übernachten könnte. Derartige Bemühungen seien ihm durchaus

zumutbar gewesen. Außerdem kritisiert das Gericht, dass Otto den Antrag

auf einstweiligen Rechtsschutz nicht sofort oder aber spätestens am

nächsten Tag gestellt habe, sondern erst nach Ablauf mehrerer Tage, in

denen er sich bereits anderweitig beholfen hatte. Dieses Verhalten sei ein

Indiz dafür, dass Otto selbst die Maßnahme nicht als völlig unzumutbar

empfunden habe.

Dass aber nicht immer das Interesse des Gewalttäters nachrangig zum

privaten Interesse des Opfers ist und es auch ausnahmsweise einmal an-

ders sein kann, sehen wir jetzt:

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 51

Fall 11

Wie verhält es sich zum Beispiel, wenn in Ergänzung zu Fall 10 Otto allei-

niger Mieter der Wohnung ist, im Rollstuhl sitzt und die Wohnung de-

mentsprechend behindertengerecht umgebaut ist? Wie wird das Verwal-

tungsgericht über Ottos Antrag auf aufschiebende Wirkung des Platzver-

weises entscheiden?

Noch einmal: Grundsätzlich hat der Gewalttäter die Unannehmlichkeiten,

die ein Platzverweis mit sich bringt (vorübergehend eine anderweitige Un-

terkunft suchen zu müssen), hinzunehmen, auch wenn sich die Gefahren-

prognose der Polizei als falsch herausstellt und von dem Gewalttäter kei-

nerlei weitere Gefahr mehr ausgeht. Diese Unannehmlichkeiten werden

als hinnehmbarer eingestuft als die Folgen für das Gewaltopfer, welches

dieses zu erleiden hätte, hätten die Polizeibeamtinnen und -beamten eine

fehlerhafte Gefahrenprognose getroffen. Zu beachten ist aber wiederum

die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme in der Gesamtsituation der Betrof-

fenen!

Bei der obigen Fall-Konstellation wird das Verwaltungsgericht Otto die

aufschiebende Wirkung und somit den einstweiligen Rechtsschutz gewäh-

ren. Dass gegenüber Otto, der im Rollstuhl sitzt und der eine behinderten-

gerecht ausgebaute Wohnung bewohnt, ein Platzverweis ausgesprochen

wird, ist nicht verhältnismäßig. Es gibt in diesem Fall nämlich ein milderes

Mittel (Angemessenheit der Maßnahme!), Erna vor erneuten Gewalttätig-

keiten durch Otto zu schützen. Erna ist hier – ausnahmsweise (!) – zuzu-

muten, sich selbst zu behelfen und sich vorübergehend eine andere Blei-

be zu suchen bzw. ganz auszuziehen.

Ein weiterer Anhaltspunkt, weshalb bei stattgefundener häuslicher Gewalt

ein Platzverweis gegen eine in der Wohnung lebende Person ausgespro-

chen werden kann, können Kinder sein, die mit ihren Eltern in einer Woh-

nung leben.

Ein Fall kann sein, dass das Gewaltopfer wegen der Kinder in höherem

Maße auf die weitere Nutzung der Wohnung angewiesen ist, weil dies

gleichzeitig die Person ist, die die Kinder regelmäßig versorgt.

Was ist aber, wenn nicht ein Partner Opfer der Gewalt des anderen wird,

sondern wenn Gewalt nur gegen die Kinder verübt wird?

52 © Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007

Fall 12

Frau Schmidt ist eine aufmerksame Nachbarin. Sie hört aus der Neben-

wohnung immer wieder ihre Nachbarin Elke rufen: „Nein Peter!“, „Nicht!“,

„Hör auf!“. Wenn Frau Schmidt Elke auf dem Hausflur trifft, sieht diese

nicht aus, als wenn sie von ihrem Ehemann Peter geschlagen würde; die

Kinder von Elke und Peter, Klara und Klausi, sehen allerdings immer sehr

schlecht aus und machen einen verstörten Eindruck. Frau Schmidt be-

fürchtet das Schlimmste und ruft eines Tages die Polizei. Als diese in der

Wohnung von Elke und Peter eintrifft, stellt sich heraus, dass Peter zwar

nicht gegenüber seiner Frau Elke gewalttätig wird, jedoch regelmäßig im-

mer wieder die Kinder schlägt und diese am ganzen Körper blaue Flecken

haben. Auf die Frage, warum Elke sich nicht von sich aus an die Polizei

gewandt habe, sagt sie, dass sie vor Peter Angst habe. Aber bisher sei ihr

persönlich nichts geschehen. Was werden die Polizeibeamten unterneh-

men?

Fällt auch die Gewalt von Elternteilen gegenüber ihren Kindern unter

„Häusliche Gewalt“? Grundsätzlich geht die Definition häuslicher Gewalt

davon aus, dass es sich um Gewalt zwischen Erwachsenen Perso-

nen/Lebenspartnern handelt.

Der Gesetzeswortlaut des § 17 Nds. SOG aber ist – wie alle Normen –

allgemeingültig gefasst. Entscheidend ist nur, dass die in der Norm ge-

nannten Voraussetzungen (Tatbestandsmerkmale) im konkreten Fall auch

vorliegen.

Daher sind hier folgende Überlegungen entscheidend:

Grundsätzlich sollen Kinder nicht von ihren Eltern oder auch nur einem

Elternteil dauerhaft getrennt werden. Gem. § 1666a BGB kann aber eine

Trennung von einem Elternteil angezeigt sein, nämlich wenn die Gefahr

nicht auf andere Weise gebannt werden kann.

Ein Platzverweis dient immer dem Schutz eines Opfers. Folglich können

Polizeibeamtinnen und -beamte nicht nur zum Schutz von erwachsenen

Gewaltopfern sondern auch zum Schutz von Kindern, die Opfer von Ge-

walt eines ihrer Elternteile geworden sind, einen Platzverweis gegenüber

dem gewalttätigen Elternteil aussprechen. Es kommt nur auf die Gefah-

renlage an, in der sich eine Person – also auch ein Kind – befindet. Dass

ein Platzverweis aufgrund von Gewalt eines Elternteils gegenüber dem/n

eigenen Kind/ern möglich ist, wird zusätzlich vom sog. Kinderrechtever-

besserungsgesetz unterstützt.

© Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Stand: Januar 2007 53

In so einem Fall informiert die Polizei anschließend [neben ggf. der Bera-

tungs- und Interventionsstelle (BISS)] vor allem das Jugendamt. Letzteres

kann selbstständig – wenn es zum Schutz und zum Wohl der Kinder drin-

gend erforderlich ist – das Familiengericht einschalten. Dieses trifft dann

geeignete Maßnahmen, um den Schutz und das Wohl der Kinder auch auf

Dauer zu gewährleisten. Aber auch der andere Elternteil kann sich von

sich aus an das Familiengericht wenden; es empfiehlt sich hierbei jedoch

die vorherige Beratung und Vertretung durch eine Rechtsanwältin oder

einen Rechtsanwalt seiner Wahl und seines Vertrauens.

Hier können also die Polizeibeamtinnen und -beamten gegenüber Peter

einen Platzverweis aussprechen, damit Klara und Klausi vor den Gewalt-

tätigkeiten ihres Vaters geschützt werden. Das Jugendamt, das durch die

Polizei von dem Einsatz bei Elke und Peter informiert wird, kann sich im

Anschluss an das Familiengericht wenden, damit dieses entsprechende

Anordnungen zum Schutz und zum Wohl von Klara und Klausi trifft. Aber

auch Elke könnte sich an das Familiengericht wenden und z.B. das allei-

nige Sorgerecht für die Kinder für sich beantragen. Dabei muss Elke aber

klar sein, dass sie sich dann selbst von Peter trennen und möglicherweise

auch mit den Kindern in eine andere Wohnung umziehen muss.