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Unendlichkeit im Schnittpunkt von Mathematik und Theologie Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg vorgelegt von Ludwig Neidhart aus Augsburg 2005

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  • Unendlichkeit im Schnittpunkt von Mathematik

    und Theologie

    Dissertation

    zur Erlangung des Grades eines Doktors der Theologie

    der Katholisch-Theologischen Fakultt

    der Universitt Augsburg

    vorgelegt von

    Ludwig Neidhart

    aus Augsburg

    2005

  • ii

    Tag der mndlichen Prfung: 07.08.2005Erstgutachter: Prof. Dr. Dr. Anton Ziegenaus, Katholische DogmatikZweitgutachter: Prof. Dr. Jost Eschenburg, Differentialgeometrie

  • iii

    In Memoriam Bernd Aulbach

  • iv Vorwort

    Vorwort

    Die vorliegende Arbeit wurde von der Katholisch-Theologischen Fakultt der Universitt Augsburgim Sommersemester 2005 als Dissertation angenommen. Fr den Druck wurde sie noch einmaldurchgesehen und hauptschlich durch weitere Funoten inhaltlich geringfgig erweitert.

    Das Bemhen um ein umfassendes Verstndnis des Unendlichen, dem ich mich seit etwa zwanzigJahren mehr oder weniger intensiv gewidmet habe, erfordert die Einbeziehung mehrerer Wissen-schaften, vor allem der Mathematik und der Theologie, verbunden mit einer wenigstens kursorischenBehandlung der Probleme des harten Kerns der Philosophie, der unter dem Namen Metaphysikbekannt ist. Nach den einleitenden Kapiteln 1 und 2 erfolgt daher in Kap. 34 zunchst ein grundle-gender philosophischer Teil mit vorbereitenden psychologischen und ontologischen Klrungen. Daranschliet sich in Kap. 57 der mathematische Teil an, der als die Vollendung der ontologischen Grund-legung fr Unendlichkeitsfragen angesehen werden kann, weil er eine Definition sowie die Einsichtin die Widerspruchsfreiheit und die wesentlichen Eigenschaften des Unendlichen ermglicht. DieserTeil enthlt nicht nur eine Philosophie der Mathematik mit einer Diskussion der Paradoxien des Un-endlichen, sondern auch eine Einfhrung in die moderne Mengenlehre einschlielich aller bentigtenBeweise. Nach dem darauf folgenden historischen Teil (Kap. 8), in dem die im Laufe der Geschichteeingenommenen Standpunkte der Religion, der Philosophie und zuletzt auch der Physik (Kap. 8.16)zu Unendlichkeitsfragen analysiert werden, werden in Kap. 911 systematisch die drei groen meta-physischen Unendlichkeitsfragen behandelt: ob ein unendlicher Gott existiert, ob der Mensch eineunsterbliche Seele hat und ob Unendlichkeiten im Kosmos auftreten knnen. Der Schwerpunkt liegtdabei auf der Gottesfrage (Kap. 9), in deren Rahmen ich die klassischen Gottesbeweise untersu-che und das ontologische Argument neu zu untermauern versuche. Im Schlusskapitel 12 hebe ichals Ergebnis die affirmative Antwort auf die drei vorgenannten Fragen hervor und weise auf diediese Antwort ermglichende Widerspruchsfreiheit des Unendlichen zurck, die im mathematischenTeil begrndet wurde. So zeigt sich insgesamt die zentrale Rolle des Unendlichen in Metaphysik,Mathematik und Theologie sowie seine vermittelnde Rolle zwischen Mathematik und Theologie.

    Danken mchte ich an erster Stelle meinem Doktorvater, Professor Dr. theol. Dr. phil. Anton Zie-genaus, der die Idee, die vorliegende interdisziplinre Arbeit zu schreiben, von Anfang an untersttztund die Arbeit im weiteren Verlauf sehr gefrdert hat. Sodann gilt mein besonderer Dank den bei-den Mathematikern Professor Dr. Bernd Aulbach und Professor Dr. Jost-Hinrich Eschenburg. Beidehaben mich whrend meiner mathematischen Ausbildung stark geprgt und gefrdert. ProfessorAulbach hat meine mathematische Diplomarbeit betreut. Er war auch am Fortgang meiner theolo-gischen Arbeit sehr interessiert und hatte sich bereit erklrt, das Zweitgutachten fr die vorliegendeArbeit zu schreiben. Nach seinem unerwarteten Tod im Januar 2005 hat Professor Eschenburg dieseAufgabe bernommen, der ebenso wie Professor Aulbach auch fr die philosophisch-theologischenFragen groes Interesse zeigte. Bedanken mchte ich mich auch bei allen anderen, die mir inhaltli-che Anregungen gaben, beim Korrekturlesen halfen oder bei Computerproblemen zur Seite standen.Hier sind zu nennen die Mathematiker Prof. Dr. Gerald van Boogart, Dr. Werner Schabert, Dr. Al-bert Marquardt, Dr. Martin Rasmussen, Dr. Yuri Iliach, Christoph Kawan, Christian Kreuzer undChristian Moeller, der Physiker Dr. German Hammerl, die Theologen Dr. Stefan Nieborak, LeoKropfreiter und Andreas Gnther, der Historiker Dr. Franz Stuhlhofer und nicht zuletzt meine El-tern, meine Frau und mein Sohn. Schlielich mchte ich mich bei der Dizese Augsburg fr dieAuszeichnung der Dissertation mit dem Albertus-Magnus-Preis 2005, bei Herrn Karl Theo Holder-berg fr bernahme der Druckkosten und beim Cuvillier Verlag fr die engagierte verlegerischeBetreuung bedanken.

    Augsburg, den 15. August 2007,Ludwig Neidhart

  • Vorbemerkungen v

    VorbemerkungenEckige Klammern [ ] in Zitaten enthalten stets von mir stammende Hinweise, whrend Hervorhe-bungen stets auf das Original bzw. die benutzte Textausgabe zurckgehen, wenn nicht ausdrcklichdas Gegenteil gesagt wird.Die deutschen Anfhrungsstriche () werden fr gewhnliche Zitate, die franzsischen (!") zurZitation mathematisch-logischer Ausdrcke verwendet.1 Daneben werden noch die griechischen An-fhrungsstriche () zur gewhnlichen Zitation griechischer Texte benutzt.Ist bei einem fremdsprachigen Werk im Literaturverzeichnis keine deutsche Ausgabe angegeben, sohandelt es sich bei deutschen Zitaten stets um eigene bersetzungen. Eine (von der angegebenendeutschen Ausgabe mglicherweise abweichende) eigene bersetzung liegt auerdem berall dortvor, wo ich zustzlich zum deutschen auch den fremdsprachigen Text anfhre.Rechtschreibfehler in deutschen Zitaten wurden stillschweigend korrigiert, und Zitate aus lterendeutschen Werken wurden an die neue deutsche Rechtschreibung angepasst.Wichtige Feststellungen wie Axiome, Theoreme, Definitionen usw. werden in den Abschnitten derKapitel 26 fortlaufend nummeriert. Beispielsweise ist Theorem 5.10.2 auf S. 120 die zweite Fest-stellung dieser Art in Abschnitt 5.10.Auerdem werden einzelne Stze, auf die oft verwiesen wird, kapitelweise nummeriert, wobei dieseNummern am rechten Seitenrand erscheinen. Beispielsweise findet man in Kapitel 5 auf S. 120 diebeiden Stze 5.13 und 5.14 als Bestandteile von Theorem 5.10.2.Beweise bzw. Plausibilittsbetrachtungen beginnen immer mit dem Wort Beweis bzw. Plausibi-littsbetrachtung und enden mit dem Zeichen !.

    1 Diese Zitate sind stets im Sinne der sog. Quasi-Zitation gemeint (vgl. Quine, Mathematical Logic 6 S. 35f):Zitiert wird, was man erhlt, wenn man alle Zeichen, die fr andere Zeichen (oder Zeichenverbnde) stehen, durchihre Denotate ersetzt. Steht z. B. A fr Augsburg und B fr Bamberg, so entspricht die Quasi-Zitation!A und B" nicht A und B, sondern Augsburg und Bamberg.

  • Inhaltsverzeichnis

    Vorwort ivVorbemerkungen v

    1 Unendlichkeit im System der Wissenschaften 1

    2 Das Unendliche im berblick 82.1 Zur Definition des Unendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82.2 Arten des Unendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132.3 Charakteristische Beispiele fr das Unendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

    3 Theorie des Denkens 24

    4 Theorie der Objekte oder Ontologie 284.1 Definition und Klassifikation des Seienden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284.2 Impossibilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304.3 Pure Possibilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

    4.3.1 Possibilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314.3.2 Attribute eines Seienden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324.3.3 Begriffe (oder Ideen) und Fiktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

    4.4 Aktualitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374.4.1 Arten des Wirkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374.4.2 Universen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404.4.3 Sachverhalte und logisches Universum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424.4.4 Wirkliche Attribute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454.4.5 Substanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464.4.6 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

    4.5 Transzendentale Gegebenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494.5.1 Transzendentalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494.5.2 Unterschiede und Identitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504.5.3 Transzendentale Unendlichkeiten in jedem Seienden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534.5.4 Individuen und Teile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544.5.5 Logische Individuen und Vielheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554.5.6 Unendliche Vielheiten von Seienden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

    5 Grundlegung der Mathematik und mathematischer Zugang zur Unendlichkeit 595.1 Grundlagenstandpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615.2 Objekte, Individuen, Klassen, Mengen und Unmengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705.3 Extensionalitts- und Komprehensionsaxiom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805.4 Endgltige Festlegung des Objektbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 875.5 Eine alternative Klassenlehre mit Begriffen als Klassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 895.6 Die Paradoxien der Logik und Mengenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935.7 Elementar-allgemeine und erweiterte Mengentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1005.8 Die logische Ursprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1035.9 Erste Definitionen und Axiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1155.10 Die konstruktiven Mengenaxiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1205.11 Das Auswahlaxiom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1525.12 quivalenzrelationen und Einfhrung der Fregeschen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1645.13 Ordnungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1735.14 Ordinalzahlen und tiefere Stze der Wohlordnungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

  • Inhaltsverzeichnis vii

    5.15 Grenvergleich von Klassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2005.16 Die Grundlegung der Arithmetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2085.17 Mathematische Einfhrung der Unendlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2335.18 Abgeschlossenheit des Endlichen und Vergleich der Potenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2485.19 Das Antizirkularittsaxiom (und Fundierungsaxiom) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2535.20 Unendliche Mengen hherer Stufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2585.21 , , , und die euklidische Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2665.22 Unendlichkeitsstufen und das Kontinuumsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2825.23 Hherdimensionale Rume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2865.24 Unendlich ferne Punkte und transfinite Rume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2895.25 Infinitesimalien und hyperreelle Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2925.26 Das Kontinuum als Unmenge und die surrealen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2955.27 Zenons Paradoxien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2975.28 Die Ordinalzahlreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3005.29 Das kumulative Mengenuniversum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3055.30 Kardinalzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3165.31 Unerreichbare Kardinalzahlen und das Universenaxiom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3275.32 Groe Kardinalzahlen und das Reflexionsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3355.33 Das Wesen der Zahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3405.34 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

    6 Der logische Rahmen 3526.1 Syntaktik der Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3556.2 Semantik der Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3616.3 Exkurs: Modallogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3696.4 Pragmatik der Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373

    7 Anhang: Mathematische Beweise 386

    8 Die Entwicklung des Unendlichkeitsgedankens 4888.1 Die Griechen von den Vorsokratikern bis zur Zeitenwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488

    8.1.1 Die Milesier: das Unendliche als grenzenlos ausgedehnter Urgrund . . . . . . . . . . . 4898.1.2 Die Pythagorer: das Unendliche als negatives Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4908.1.3 Die Eleaten: das unbewegte Seiende als Endliches oder Unendliches . . . . . . . . . . . 4918.1.4 Heraklit: die ewig bewegte, endliche Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4938.1.5 Synthese: das mengenmig Unendliche und die unendliche Teilbarkeit . . . . . . . . . 4948.1.6 Die Sophisten: Auflsung der Logik und mit ihr des Unendlichen . . . . . . . . . . . . 4978.1.7 Sokrates als Wiederhersteller von Logik und Ethik (Theologie) . . . . . . . . . . . . . 4978.1.8 Platon: das in der Einheit zusammengefasste Unendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . 4988.1.9 Aristoteles: die unendliche gttliche Kraft ber der ewig endlichen Welt . . . . . . . . 5008.1.10 Epikur, Lucretius, Stoa und Skeptizismus: diesseitig-endliche Heilswege . . . . . . . . 502

    8.2 Hinduismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5058.2.1 Das Unendliche in der hinduistischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5058.2.2 Das Unendliche in der hinduistischen Kosmologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5098.2.3 Das Unendliche in der hinduistischen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510

    8.3 Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5118.3.1 Das endliche Wesen des unendlichen Kosmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5118.3.2 Das Unendliche in der Buddhistischen NirvanaTheologie . . . . . . . . . . . . . . . 512

    8.4 Chinesische Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5138.4.1 Konfuzianismus und sein demtig-traditionalistischer Agnostizismus . . . . . . . . . . 5138.4.2 Taoismus und sein systematischer Agnostizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5148.4.3 Nichtbeachtung des Unendlichen als Form der Annherung an dasselbe . . . . . . . . 515

    8.5 Parsismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5178.6 Vergleich der stlichen und westlichen Religionen hinsichtlich der Unendlichkeitsfrage . . . . . 5188.7 Theologie des Alten und Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521

    8.7.1 Allgemeines zur Unendlichkeit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5218.7.2 Gottes Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521

  • viii Inhaltsverzeichnis

    8.7.3 Gottes Allgegenwart und Unermesslichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5228.7.4 Gottes Allmacht, Allwissenheit und Allgte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5248.7.5 Die Unendlichkeit des gttlichen Wesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5268.7.6 Endlichkeit und Unendlichkeit der Schpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5288.7.7 Endlichkeit und Unendlichkeit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530

    8.8 Philosophie und Theologie des christlichen Altertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5338.8.1 Die Bezeichnung Gottes als unendlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5338.8.2 Hilarius, Basilius, Gregor von Nazianz: Gott als raum-zeitlich unendlich . . . . . . . . 5388.8.3 Die trinitarische Unendlichkeitslehre des Marius Victorinus . . . . . . . . . . . . . . . 5388.8.4 Gregor von Nyssa und seine Umwertung des Unendlichen . . . . . . . . . . . . . . . 5408.8.5 Augustinus: Gott ist anders unendlich als der Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5418.8.6 Die alt und ostkirchliche Mystik: Unendlichkeit als Unbegreiflichkeit . . . . . . . . . 542

    8.9 Islamische und jdische Scholastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5468.9.1 Unendlichkeit im Koran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5468.9.2 Der Kalam: Verendlichung der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5468.9.3 Die Falsafa: anfangslose Welterschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5488.9.4 Jdische Scholastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550

    8.10 Christliche Scholastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5528.10.1 Frhscholastik: die Unendlichkeitsmystik des Scotus Eriugena . . . . . . . . . . . . . . 5528.10.2 Anselm von Canterbury und sein Gottesbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5528.10.3 Ablehnung und Rehabilitierung der Unendlichkeit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . 5558.10.4 Thomas von Aquin: Systematisierung des Unendlichkeitsbegriffs . . . . . . . . . . . . 5608.10.5 Duns Scotus: Unendlichkeit als Charakteristikum Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . 5658.10.6 Wilhelm v. Ockham: skeptizistische ffnung des Unendlichkeitsbegriffs . . . . . . . . . 5668.10.7 Die Unendlichkeits-Systematik und der Infinitismus der Sptscholastik . . . . . . . . . 5698.10.8 Francisco Surez: Synthese des scholastischen Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575

    8.11 Die Umbruchszeit vom Ausgang der Scholastik bis Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5768.11.1 Cusanus, die Kopernikaner und Bruno: das unendliche Universum . . . . . . . . . . . 5768.11.2 Angelus Silesius und die Theosophie: die Unendlichkeit des Menschen . . . . . . . . . 5798.11.3 Francis Bacon, Hobbes und Hume: finitistische Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . 5828.11.4 Descartes und Malebranche: Unendlichkeit im menschlichen Geist . . . . . . . . . . . 5848.11.5 More, Spinoza, Newton: die rumliche Unendlichkeit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . 5868.11.6 Locke: die Idee des Unendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5908.11.7 Leibniz: vorlufiger Hhepunkt des Infinitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5918.11.8 Lessing: das unendliche Streben in der Vernunftreligion der Aufklrung . . . . . . . . 598

    8.12 Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6008.12.1 Berkeley und Kant: finitistischer Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6008.12.2 Fichte, Novalis, Hegel, Schelling: idealistischer Infinitismus . . . . . . . . . . . . . . . . 605

    8.13 Atheismus des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6148.13.1 Schopenhauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6148.13.2 Der atheistische Materialismus des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6158.13.3 Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616

    8.14 Bolzano, Cantor und die Neuscholastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6188.15 Die finitistisch geprgte Philosophie des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625

    8.15.1 Positivismus und analytische Philosophie; Scholz und Gdel . . . . . . . . . . . . . . . 6258.15.2 Phnomenologie; Brentano, Meinong, Husserl und seine Schler . . . . . . . . . . . . . 6308.15.3 Der Historismus von Dilthey und Spengler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6328.15.4 James Pragmatismus und der neuzeitliche theologische Finitismus . . . . . . . . . . . 6348.15.5 Existenzialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6358.15.6 Kritischer und organistischer Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638

    8.16 Die moderne Kosmologie, Relativitts und Quantentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6418.16.1 Das Olberssche Paradoxon: Beweis fr nur endlich viele Sterne? . . . . . . . . . . . . . 6418.16.2 Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik: Beweis fr den Weltanfang? . . . . . . . . . . 6428.16.3 Das Gravitationsparadoxon: Beweis fr die Endlichkeit der Materie? . . . . . . . . . . 6428.16.4 Die Mglichkeit einer endlichen und doch unbegrenzten Welt . . . . . . . . . . . . . . 6438.16.5 Die spezielle Relativittstheorie und die Grenze fr Geschwindigkeiten . . . . . . . . . 645

  • Inhaltsverzeichnis ix

    8.16.6 Die gekrmmte Raumzeit der allgemeinen Relativittstheorie . . . . . . . . . . . . . . 6518.16.7 Die Gestalt des Universums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6548.16.8 Zum Vergleich: die Hohlwelttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6568.16.9 Die zeitliche Entwicklung des Kosmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6588.16.10 Quantentheorie: die Endlichkeit im Kleinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667

    8.17 Aussagen des kirchlichen Lehramtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6778.18 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683

    9 Gott 6879.1 Einteilung und kirchliche Bewertung der Gottesbeweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6879.2 Teleologischer Gottesbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691

    9.2.1 Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6919.2.2 Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694

    9.3 Kosmologischer Gottesbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7029.3.1 Die Urform des Beweises bei Platon und Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7029.3.2 Der Kalam-Beweis und die Beweise von Craig und Meyer . . . . . . . . . . . . . . . . 7059.3.3 Die Kontingenzbeweise der Falsafa und des Maimonides . . . . . . . . . . . . . . . . . 7089.3.4 Die fnf Wege des Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7109.3.5 Der ontologisch gefrbte kosmologische Beweis von Duns Scotus . . . . . . . . . . . . 7119.3.6 Francisco Surez . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7139.3.7 Descartes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7159.3.8 John Locke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7169.3.9 Samuel Clarke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7179.3.10 Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7189.3.11 Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7199.3.12 Die Kritik von Hume und das Kausalproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7199.3.13 Isenkrahe und Swinburne: Gottesbeweise ohne strenges Kausalprinzip . . . . . . . . . 7219.3.14 Versuche zur Lsung der Probleme, insbesondere des Kausalproblems . . . . . . . . . 722

    9.4 Ontologischer Gottesbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7259.4.1 Grundlegung des Beweisverfahrens bei Anselm von Canterbury . . . . . . . . . . . . . 7259.4.2 Probleme des ontologischen Beweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7279.4.3 Duns Scotus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7399.4.4 Descartes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7409.4.5 Malebranche und der Ontologismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7419.4.6 Henry More . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7449.4.7 Spinoza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7459.4.8 Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7459.4.9 Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7479.4.10 Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7489.4.11 Gdel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7499.4.12 Malcolm, Hartshorne und Plantinga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7579.4.13 Blondel und das reflexive ontologische Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7629.4.14 Seifert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7629.4.15 Systematische Darstellung des ontologischen Arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . 764

    10 Seele 77610.1 Die Existenz einer substantiellen Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77610.2 Die Verbindung von Leib und Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78210.3 Die unendliche Fortdauer der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78410.4 Ontologischer Beweis fr die Unvernichtbarkeit des Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78910.5 Anfangslosigkeit der Seele? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793

    11 Kosmos 79511.1 Die Kantschen Antinomien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79511.2 Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 798

    11.2.1 Der Abschluss einer unendlichen Reihe von Vorgngen (tasks) . . . . . . . . . . . . 79911.2.2 Unendlich viele Substanzen in einem begrenzten Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 802

  • x Inhaltsverzeichnis

    11.2.3 Unendlich viele Substanzen auf unbegrenztem Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80411.2.4 Unendlich groe Intensitt, insbesondere unendliche Geschwindigkeit . . . . . . . . . . 80911.2.5 Abschlieende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811

    12 Zusammenfassung und Ausblick 812

    Symbolverzeichnis 817Abbildungsverzeichnis 820Literaturverzeichnis 821Index 868

  • 1 Unendlichkeit im System der Wissenschaften

    Einleitend soll die Stellung der Unendlichkeitsfrage im System der Wissenschaften errtert wer-den. Unendlichkeit wird nur in solchen Wissenschaften thematisiert, die (wenigstens unter einembestimmten Gesichtspunkt) ein allumfassendes Sachgebiet haben. Wissenschaften bzw. Disziplinendieser Art heien Universalwissenschaften bzw. Universaldisziplinen. Eine wissenschaftliche Dis-ziplin ist entweder deshalb allumfassend, weil sie sehr abstrakte Eigenschaften und Sachverhalteuntersucht, oder deshalb, weil sie auf vielen anderen Disziplinen aufbauend letzte Fragen vonbergeordnetem Interesse stellt. Universaldisziplinen der ersten Art nenne ich Fundamentaldiszipli-nen und solche der letzten Art Gipfeldisziplinen.

    Zu den Universalwissenschaften zhlt man seit jeher Philosophie, Mathematik, Physik und Theo-logie,1 in neuerer Zeit aber auch Psychologie2 und Geschichtswissenschaft.3 Manchmal wurden undwerden auch noch weitere Wissenschaften als universal angesehen, so etwa Logik und Linguistik,4 So-ziologie,5 Kybernetik, Kognitionswissenschaft und Neurowissenschaft,6 Biologie,7 Anthropologie undMedizin8 sowie Astronomie.9 Diese Wissenschaften knnen jedoch den zuerst genannten zugeordnetwerden, namentlich der Mathematik, Physik und Psychologie.10

    Philosophie

    Die Philosophie betrachtet den schlechthin uneingeschrnkten Bereich aller Dinge, und zwar hin-sichtlich der allgemeinsten und fundamentalsten Bestimmungen (wie Sein, Wirken, Erkennen, Wert

    1 Bereits Aristoteles teilte in seiner Metaphysik Buch 4 Kap. 1, 1026a1819, Ausgabe Seidl Band 1 S. 253 undBuch 11 Kap. 7, 1064b15, Ausgabe Seidl Band 2 S. 207 die theoretischen Wissenschaften in Physik, Mathematik,Theologie ein und bezeichnete diese Wissenschaften als Philosophien.

    2 Vom Standpunkt des Idealismus aus sind alle Phnomene psychologischer Natur (siehe Abschnitt 8.12).3 Diese wurde vom sog. Historismus hervorgehoben (siehe Abschnitt 8.15.3).4 Logik und Linguistik haben in der analytischen Philosophie (siehe Abschnitt 8.15.1) die Prioritt, und schon

    Leibniz sprach von einer logischen Universalwissenschaft (siehe Funote 909 auf S. 591).5 Dieser wurde erstmals im lteren Positivismus der Vorrang eingerumt (siehe S. 625).6 Die Kybernetik trat um 1950 als eine interdisziplinre, Natur und Geisteswissenschaften berbrckende Wis-

    senschaft auf, welche die Theorie digitaler Rechenmaschinen ebenso umfasste wie die des Nervensystems undsoziokonomischer Prozesse; Heidegger frchtete, die Kybernetik werde auch die Philosophie ablsen (DenkenS. 622f). Spter wurden die Anliegen der Kybernetik von der sog. Kognitionswissenschaft bernommen, an derenSpitze die Neurowissenschaft (Gehirnforschung) steht (vgl. Roth, Gehirn).

    7 Diese spielte z. B. im Monismus Ernst Haeckels (siehe S. 616) die Hauptrolle.8 Die Anthropologie war in Schelers Phnomenologie zentral. Die Frderung der Medizin war fr Leibniz nchst

    der Tugend das Wichtigste (vgl. Nouveaux essais Buch 4 Kap. 1 12, Schriften Band 3/2 S. 485).9 Die Astronomie nimmt z. B. nach Tycho Brahe, De disciplinis, Ausgabe Dreyer S. 174 Zl. 38f die Stelle des

    Frsten unter den Wissenschaften ein.10 Die Logik und teilweise auch die Linguistik kann als Disziplin einer universell konzipierten Mathematik gelten,

    und soweit die Linguistik nicht zur Logik (und damit zur Mathematik) gehrt, gehrt sie zur Psychologie. Zueiner erweiterten Psychologie kann man auch die Soziologie rechnen, insofern diese nach mile Durkheim dasKollektivbewusstsein analysiert (Rgles, Vorwort zur 2. Auflage S. XVIIf und Kap. 5. II. S. 103, AusgabeKnig S. 94f und 187f). Die brigen hier genannten Wissenschaften kann man als Gipfeldisziplinen der PhysikimSinne einer allgemeinen Naturlehre verstehen, unter Einschluss von psychologischen und logisch-mathematischenAspekten bei der Anthropologie, Kybernetik und Kognitionswissenschaft.

  • 2 Kapitel 1. Unendlichkeit im System der Wissenschaften

    usw.), die sie mittels rational reflektierter Intuition untersucht.11 Besonders hervorzuheben sind diephilosophischen Disziplinen Ontologie, Theologie, Psychologie und Kosmologie, die klassischerwei-se unter dem Namen Metaphysik zusammengefasst wurden,12 denn genau diese sind es, in denenUnendlichkeit innerhalb der Philosophie thematisiert wird. Die Ontologie ist die fundamentalsteDisziplin: sie fragt nach dem Sein und nimmt die oberste Klassifizierung des Seienden vor. Diebrigen drei Disziplinen sind konkreter, haben aber dennoch einen Bezug auf die Gesamtheit allerDinge:

    die Theologie fragt nach der hchsten Form und ersten Grundlage allen Seins, die Psychologie untersucht die menschliche Seele als den innersten Teil des Menschen,

    der sich im Erkennen und Streben auf schlechthin alles beziehen kann, die Kosmologie untersucht den Zusammenhang aller Seienden im Weltganzen.

    Aber diese drei Disziplinen stehen nicht wie die Ontologie auf der fundamentalen Seite des phi-losophischen Wissens, sondern mssen als die philosophischen Gipfeldisziplinen bezeichnet werden,denn das Verstndnis des Weltganzen (Kosmologie), der menschlichen Seele (Psychologie) und Got-tes (Theologie) sind die letzten und eigentlichen Fragen der Philosophie.13

    MathematikDie antike und mittelalterliche Mathematik hatte die von ihr untersuchten Gegenstnde Grengenannt.14 Demgegenber bezeichnet die heutige Mathematik ihre Gegenstnde allgemeiner alsObjekte.15 Hier deutet sich der Anspruch der Mathematik an, eigentlich alles zum Gegenstandder Betrachtung machen zu knnen. Ihre Aufgabe sieht sie darin, notwendige Konsequenzen ausvorausgesetzten Sachverhalten (den sog. Axiomen) zu ermitteln. Diese gibt sich der Mathematikerentweder willkrlich vor, oder er schpft sie aus evidenten Tatsachen, oder er lsst sie sich von an-deren Fragestellern vorgeben. So erweist sich Mathematik als ein universell einsetzbares Hilfsmittelfr andere Wissenschaften. Man knnte nun versucht sein, die Mathematik dadurch herabzustufen,dass man in ihr nur ein Hilfsmittel sieht. Auf der anderen Seite knnte man sie ber alle anderenWissenschaften stellen, weil sie die zentralen Gesetzmigkeiten betrachtet, fr welche die anderen

    11 Zu dieser Methode vgl. Hildebrand, Philosophy S. 196207. Was damit gemeint ist, versteht man am bestendurch Abgrenzung von den Methoden der Mathematik, Mystik und Physik. Whrend man in der mathematischenBetrachtung von der Wirklichkeit abstrahiert, ist fr die Philosophie der geistige Kontakt mit der Wirklichkeit(Intuition) wesentlich. Diese Intuition unterscheidet sich von physikalischer Beobachtung, weil sie nicht aufkrperlichen Wechselwirkungen beruht und daher nicht durch Messinstrumente verfeinert werden kann. Sie un-terscheidet sich aber auch von der mystischen Kontemplation, weil sie so weit als mglich rational begrndetund verarbeitet wird.

    12 Nach Christian Wolff bildet die Ontologie die allgemeine Metaphysik, whrend die drei letztgenannten Dis-ziplinen die spezielle Metaphysik ausmachen.

    13 hnlich Kant, Kritik der reinen Vernunft B 826, Ausgabe Timmermann S. 833: Die Endabsicht, worauf dieSpekulation der Vernunft . . . zuletzt hinausluft, betrifft drei Gegenstnde: die Freiheit des Willens, die Unsterb-lichkeit der Seele und das Dasein Gottes. Unter dem Eindruck der Kantschen Vernunftkritik ist allerdings diePhilosophie faktisch immer mehr von diesen metaphysischen Fragestellungen abgerckt.

    14 Nach Bothius, Arithmetica Buch 1 Kap. 1 (Ausgabe Oosthout/Schilling S. 10 Zl. 3942) beschftigt sich dieArithmetik mit der Vielheit an sich (multitudo, quae per se est) und die Geometrie mit der unbeweglichenGre (inmobilis magnitudo). Nach Gredt, Elementa (Band 1 S. 194, deutsche Ausgabe S. 125f) ist der Gegen-stand der Mathematik das Ausgedehnte unter Absehung nicht blo von der Einzelheit, sondern auch von densinnflligen Beschaffenheiten. Nach Hegel, Phnomenologie Vorrede, Ausgabe Bonsiepen/Heede S. 33, AusgabeWessels/Clairmont S. 33 ist Zweck oder Begriff der Mathematik die Gre, und der Stoff, mit dem sie sichbeschftigt, ist der Raum und das Eins. Engels definierte die Mathematik als die Wissenschaft der Gren(Engels, Dialektik der Natur Nr. 18, MEGA-Ausgabe S. 14).

    15 Vgl. z. B. Potter, Sets S. 19: Auf jedem Gebiet der Mathematik studieren wir Objekte.

  • Kapitel 1. Unendlichkeit im System der Wissenschaften 3

    Wissenschaften nur Fallbeispiele liefern.16 Beide Sichtweisen sind einseitig, beleuchten aber ausverschiedenen Perspektiven den eigentmlichen Sonderstatus der Mathematik, den sie gegenberden anderen Wissenschaften einnimmt. Die Mathematik stellt ihre Ergebnisse aufgrund von forma-len Regeln durch Beweise sicher, welche garantieren, dass die neuen Aussagen wahr sind, falls diegegebenen wahr sind. Die Theorie, welche die entsprechenden Regeln aufstellt und analysiert, istdie Logik.17 Diese kann als Disziplin der Mathematik verstanden werden, und zwar ist sie derjenigeTeil der Mathematik, der ohne speziellere Voraussetzungen auskommt.18 Zusammen mit der Logikgehrt auch die Mengenlehre zu den mathematischen Fundamentaldisziplinen. In der Mengenlehrewird die Elementbeziehung betrachtet, mit deren Hilfe alle anderen mathematischen Beziehungendefiniert werden knnen. So hat die Mengenlehre in der Mathematik den gleichen Stellenwert wiedie Ontologie in der Philosophie. Da die Mengenlehre die Unendlichkeit explizit behandelt, ist siezudem fr unser Thema von grter Wichtigkeit.

    Physik, Psychologie und GeschichtswissenschaftDie Physik betrachtet die allgemeinsten Wechselwirkungen materieller Objekte. Da das Materiellenur einen eingeschrnkten Bereich des Seienden bildet,19 knnte man im Zweifel sein, ob hier eineUniversalwissenschaft vorliegt. Jedenfalls ist es verfehlt, mit Frank Tipler als Geltungsbereichder Physik die Gesamtheit der Realitt zu beanspruchen.20 Andererseits bilden jedoch die vonder Physik betrachteten Objekte tatschlich den Gesamtbereich aller Dinge, die uns in einer be-stimmten Auffassungsart, nmlich durch uere Beobachtung zugnglich sind. Insofern ist die Physiksicher eine Universalwissenschaft, und sie ist auf jeden Fall fr alle weiteren Naturwissenschaftenfundamental.21

    Die Psychologie (in ihrer klassischen, auf Brentano zurckgehenden Form)22 betrachtet dieuns durch Innenerfahrung zugnglichen Sachverhalte. Dieser Sachbereich ist in etwa komplementrzu dem Bereich, den die Physik untersucht. So steht die Psychologie in einem analogen Verhltniszu den Geisteswissenschaften23 wie die Physik zu den Naturwissenschaften.

    Die Geschichtswissenschaft kann unter dem Aspekt der zeitlichen Entwicklung alles betrachten,was das menschliche Denken beschftigt. So gibt es eine Geschichte der Vlker ebenso wie eine Ge-schichte der Mathematik, der Theologie usw. Durch Einbeziehung der Geschichte stellt man auf je-

    16 Vgl. die Ansicht von Gauss, wonach die Mathematik die Knigin der Wissenschaften ist, die sich fter her-ablsst, den anderen Naturwissenschaften einen Dienst zu erweisen (Waltershausen, Gauss S. 79). Die ma-thematische Logik kann auch auf Geisteswissenschaften, Theologie und Religionen angewendet werden (vgl.Bocheski, Religionslogik).

    17 Genauer wird die Logik in Abschnitt 6 betrachtet.18 Vgl. Russell, Mathematische Philosophie S. 217: Mathematik und Logik waren, historisch gesprochen, zwei

    ganz getrennte Arbeitsgebiete. . . . Aber beide haben sich in der modernen Zeit entwickelt. Die Logik wurdemathematischer, die Mathematik logischer. Infolgedessen ist es heute ganz unmglich, einen Trennungsstrichzwischen beiden zu ziehen. Tatschlich sind sie eins.

    19 Zur Klassifikation des Seienden vgl. Kapitel 4. Nicht-materielle Seiende wird auch der Materialist wenigstens alsEpiphnomene der Materie anerkennen mssen (vgl. Abschnitt 10.1).

    20 Tipler, Physics of Immortality S. 32; vgl. S. 26. Diese unter heutigen Physikern weit verbreitete Ansicht (vgl.Davies, Time S. 324) bezeichnet man klassischerweise als Materialismus; modernere Bezeichnungen hierfr (dienicht den schlechten Ruf des Materialismus haben) sind Naturalismus, Szientismus und Physikalismus. TiplersPhysikalismus geht so weit, dass er behauptet, selbst die Theologie msse, wenn sie berleben will, ein Teilbereichder Physik werden (ebd. S. 35). Zu Tipler siehe auch S. 666.

    21 Dies gilt besonders fr die Chemie und Biologie. Die Mathematik dagegen ist eigentlich weder eine Natur nocheine Geisteswissenschaft, sondern besitzt einen Sonderstatus.

    22 Vgl. Brentano, Psychologie.23 Zu diesen gehren z. B. Linguistik, Pdagogik, Soziologie, Literatur und Kunstwissenschaft. Theologie und und

    Philosophie sind dagegen keine reinen Geisteswissenschaften, da sie sich nicht (nur) mit dem menschlichen Geistselbst und seinen Erzeugnissen beschftigen. hnliches gilt m. E. auch fr die Geschichtswissenschaft.

  • 4 Kapitel 1. Unendlichkeit im System der Wissenschaften

    den Fall jede Wissenschaft auf eine breitere Grundlage. Allerdings ist die geschichtliche Entwicklungin Mathematik und Naturwissenschaften (fr diese Wissenschaften selbst) nur von nebenschlichemInteresse wichtiger ist hier der jeweils aktuelle Stand. Dagegen spielt sie in den Geisteswissenschaf-ten und in der Theologie eine kaum zu unterschtzende Bedeutung, denn durch fortgesetzte Synthesedes Gewesenen und des Neuen ergibt sich hier ein immer vollkommenerer Gehalt, wie besonderseindrucksvoll durch Hegel betont wurde. Das gilt in besonderer Weise auch fr die christliche Theo-logie, die einerseits auf ein historisches Offenbarungsgeschehen zurckgreift und andererseits einedurch Zeiten und Kulturen hindurchgehende, stndig anwachsende Auslegungstradition und Re-zeptionsgeschichte verarbeiten muss, die selbst als ein Aspekt der Offenbarung verstanden werdenkann. So ist die Theologie auf einen engen Kontakt mit der Geschichtswissenschaft angewiesen.

    TheologieHier soll nicht von der schon erwhnten philosophischen (oder natrlichen) Theologie die Redesein, die Aristoteles als die vornehmste der drei philosophischen Gipfeldisziplinen ansah,24 son-dern von der Offenbarungs oder Glaubenstheologie. Diese unterscheidet sich von der natrlichenTheologie dadurch, dass sie die gttliche Offenbarung mit einbezieht, deren konkrete Gegebenheitsie nachzuweisen versucht und deren Sinn sie herauszuarbeiten hat. Die Theologie kann wie diePhilosophie schlechthin alles thematisieren, und sie tut dies im Hinblick auf Gott als Grund undZiel des Menschen und des Universums. So findet man in der Theologie hnliche Disziplinen wie inder Philosophie: Der philosophischen Kosmologie entspricht die theologische Schpfungslehre, derphilosophischen Psychologie die theologische Seelenlehre, und die hchste Disziplin der Theologieist schlielich die theologische Gotteslehre, welche die Theologie im eigentlichsten Sinn und zudemdie hauptschliche theologische Disziplin ist, in der Unendlichkeit thematisiert wird.

    Die Glaubenstheologie frherer Jahrhunderte war berzeugt, die Gipfelwissenschaft schlechthinzu sein,25 da sie sich im Besitz eines ber rein menschliches Wissen hinausgehenden und es vonoben integrieren knnenden metaphysischen Offenbarungswissens glaubte. Fr uns Heutige hat einesolche Beschreibung den Beigeschmack von Arroganz.26 Dennoch ist diese Charakterisierung nichtganz falsch, auch wenn die heutige Theologie zu Recht betont, dass die Offenbarung in erster Linieauf das ewige Heil des Menschen hinzielt und deshalb nicht unabhngig von dieser Zielrichtung alsspekulative Erkenntnisquelle angesehen werden kann.27 Das zu verkndigende Heil hngt nmlicheng mit metaphysischen Fragen zusammen, so dass die Glaubenstheologie ein bleibendes Interessean diesen Fragen haben muss.

    24 Vgl. Funote 1 auf S. 1.25 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae pars 1 quaestio 1 articuli 16, Ausgabe Busa S. 184c186a.26 Der Grund hierfr ist die nicht immer ruhmreiche Geschichte der Theologie, die sich in der Neuzeit wiederholt

    zu Unrecht gegen Erkenntnisse anderer Wissenschaften gestellt hat. Einen entgegengesetzten und doch wiederhnlichen Fehler scheinen Theologen auch heute zu begehen, wenn sie ihre Wissenschaft als eine absolut autonomeverstehen, welche die Ergebnisse der brigen Wissenschaften weder kritisiert noch benutzt. Wenn man im Zugedieser Entwicklung den Aussagen der Theologie nur noch eine symbolische Bedeutung gibt, die weder geschichtlichnoch naturwissenschaftlich angreifbar ist, so ist das ein bequemer, aber letztlich unfruchtbarer Rckzug in eineintersubjektiv nicht mehr vermittelbare Gefhlswelt.

    27 Vgl. Denzinger, Enchiridion 4206 (Zweites Vatikanisches Konzil, Konstitution Dei Verbum Kap. 1 Nr. 6):Durch die gttliche Offenbarung wollte Gott sich selbst und die ewigen Beschlsse seines Willens ber dasHeil der Menschen kundtun. Allerdings gilt dieses Heil selbst als bernatrlich, und so erstreckt sich die Of-fenbarung doch auch auf Wirklichkeiten, die dem menschlichen Geist nicht ohne Offenbarung zugnglich sind(vgl. Denzinger, Enchiridion 4206: Gott offenbart seinen Willen, uns Anteil zu geben an Gtern, die das Er-kenntnisvermgen des menschlichen Geistes vllig bersteigen; vgl. ebd. 28502857, 3005, 3015f, 3028, 3032,3041; Ecclesia Catholica, Katechismus 50, Ecclesia Catholica, Kompendium 4; siehe auch Funote511 auf S. 775).

  • Kapitel 1. Unendlichkeit im System der Wissenschaften 5

    Zur Unendlichkeitsfrage und ihrer SystematikUnendlichkeit wird vor allem in der mathematischen Mengenlehre und in der theologischen Got-teslehre behandelt; auerdem wird sie in der Philosophie thematisiert, und zwar einerseits in derOntologie, die wir mit der Mengenlehre zu den Fundamentaldisziplinen rechnen knnen, und an-dererseits in den drei philosophischen Gipfeldisziplinen (Theologie, Psychologie und Kosmologie).28So konzentriert sich die Thematik der Unendlichkeit innerhalb des Systems der Wissenschafteneinerseits im Fundamentalteil, andererseits im Gipfelteil dieses Systems.

    ! "Theologie

    Psychologie Kosmologie

    Ontologie, Mathematik

    Abbildung 1.1: Unendlichkeit im Systemgebude der Wissenschaft

    Dass Unendlichkeitsfragen im Gipfelteil auftauchen, welcher die letzten Fragen des Menschenbehandelt, ist naheliegend. Diese Fragen lauten in etwa:

    Gibt es ein absolut Unendliches jenseits der Welt (Theologie)?

    Ist der Mensch bzw. seine Seele unendlich (Psychologie)?

    Kann die Welt selbst unendlich sein (Kosmologie)?

    Warum aber tauchen Probleme des Unendlichen schon im Fundamentalteil auf? Eine auf die Er-gebnisse dieser Arbeit vorgreifende Antwort wre die, dass das Unendliche so real und wichtig ist,dass ohne dasselbe eine konsequent fundierte Wissenschaft berhaupt nicht denkbar ist. Es ergibtsich nun fr unser Thema eine Zweiteilung:

    1. Unendlichkeit im Fundamentalteil der Wissenschaft (Ontologie, Mathematik),

    2. Unendlichkeit im Gipfelteil der Wissenschaft (Gotteslehre, Psychologie, Kosmologie).

    Wenn der Titel dieser Arbeit die Unendlichkeit in den Schnittpunkt von Mathematik und Theologieverlegt, so ist mit Unendlichkeit in der Mathematik eine Kurzformel fr (1) gemeint und mitUnendlichkeit in der Theologie eine solche fr (2); es ist also mit Mathematik bzw. Theologiejeweils ein pars nobilior pro toto genannt.

    Nach der Definition und Einteilung des Unendlichen in Kapitel 2 soll in den Kapiteln 37 dasUnendlichkeitsproblem zunchst im Fundamentalteil der Wissenschaft betrachtet werden. Hierzugehren Ontologie, Logik und Mengenlehre. Da idealerweise zuerst die Exposition der Methode unddann die eigentliche Theorie erfolgen sollte, msste man die Logik an den Anfang stellen. Doch setzteine anspruchsvolle Logik Grundkenntnisse ber Objekte voraus. So wre zuvor eine Erklrungder involvierten Objektklassen wnschenswert, und hierzu msste man die Ontologie vor die Logiksetzen. Objekte aber knnen sinnvollerweise nur in Bezug zum Denken klassifiziert werden, weshalbzuerst die Grundlagen der philosophischen Psychologie erlutert werden sollten. So ergbe sichfolgende Reihenfolge:

    28 Zu ergnzen wre noch, dass Unendlichkeitsfragen auch in der Physik Erwhnung finden, was nicht verwunder-lich ist, wenn man den offensichtlichen Zusammenhang dieser (inzwischen von der Philosophie emanzipierten)Wissenschaft zu der entsprechenden philosophischen Disziplin der Kosmologie betrachtet.

  • 6 Kapitel 1. Unendlichkeit im System der Wissenschaften

    1. Theorie des Denkens (Anfangsgrnde der philosophischen Psychologie),

    2. Theorie der Objekte (Ontologie),

    3. Logik,

    4. Mengenlehre.

    Man knnte an dieser Reihenfolge kritisieren, dass nun die eigentliche Methoden-Exposition (Logik)erst im dritten Schritt erfolgt. Aber man muss bedenken, dass die vorgeschalteten philosophischenDisziplinen keiner besonderen Methode bedrfen: Die grundlegende philosophische Theorie des Den-kens und der Objekte kann und muss so prsentiert werden, dass die Darstellung intuitiv von selbstberzeugt.Ein anderer Einwand wre, dass eine strikte Einhaltung der Reihenfolge Logik Mengenlehre un-mglich ist. Fr eine anspruchsvollere Exposition der Logik bentigt man eine ausgebaute Theorieder natrlichen Zahlen,29 und zum Beweis von Theoremen der hheren Logik braucht man eineweit ber die Grundlagen hinaus entwickelte Mengenlehre.30 Auf der anderen Seite wre es auchkein Ausweg, die Mengenlehre einfach vor die Logik zu setzen, denn zumindest die Theoreme derhheren Mengenlehre sind ohne Logik nicht formulierbar, geschweige denn beweisbar. Als Auswegbietet sich eine Art hermeneutische Spirale an: Man beginne mit den Grundzgen der Mengen-lehre einschlielich der Arithmetik, behandle dann die formale Logik und komme schlielich zurMengenlehre zurck, indem man diese nun formal aus den Axiomen ableite. Die Grundlegung httedann folgende Struktur:

    1. Theorie des Denkens (Anfangsgrnde der philosophischen Psychologie),

    2. Theorie der Objekte (Ontologie),

    3. Inhaltliche Behandlung der Mengenlehre in Grundzgen,

    4. Formale Logik,

    5. Formale Behandlung der Mengenlehre aus den Axiomen.

    So wre ein zirkelfreier Aufbau der Grundlagen der Mathematik prinzipiell mglich. Bislang istein solcher Aufbau jedoch nirgendwo vollauf befriedigend durchgefhrt worden.31 Die vorliegendeArbeit schliet daher eine gewisse Lcke, indem hier die Schritte (1) bis (3) im Detail durchgefhrtwerden. Dagegen stelle ich die formale Logik in Kapitel 6 nur in ihren Grundzgen vor und verzichteganz auf die formale Ableitung der Mengenlehre. Die wichtigsten fr die Unendlichkeitsproblematik

    29 Konkret braucht man z. B. die Prinzipien der Rekursion und der vollstndigen Induktion, und um diese Prinzipienformulieren und beweisen zu knnen, muss man anscheinend bereits Grundlagen der Mengenlehre voraussetzen.

    30 So bentigt z. B. ein exakter Beweis fr die Vollstndigkeit der Aussage oder Prdikatenlogik anspruchsvolleHilfsmittel aus der Mengenlehre, z. B. das Zornsche Lemma oder die Arithmetik der Ordinalzahlen.

    31 Eine Darstellung der gesamten neuzeitlichen Mathematik einschlielich ihrer Grundlagen ist berhaupt nurzweimal versucht worden. Erstmalig geschah dies in den drei Bnden der Principia Mathematica von Rus-sell und Whitehead (19101913); aber dieses Werk hat aus logischer Sicht gravierende formale Mngel (sieheGdel, Russells Mathematical Logic S. 126, Werke Band 2 S. 120, deutsche Ausgabe S. VI) und entsprichtseinem mathematischen Umfang nach nicht mehr dem heutigen Stand. Der zweite Versuch liegt in den monu-mentalen Werken der Bourbaki-Schule vor. Das unter dem Pseudonym Nicolas Bourbaki erschienene Werkmit dem Titel Elments de Mathmatique ist in Wahrheit Produkt einer in der Geschichte der Mathematikeinzigartigen Kollektivanstrengung einer sich stets wieder verjngenden Gruppe franzsischer Mathematiker;es erschien seit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in mehr als dreiig Bnden, sich, wie ihr Autorenteam, vonAuflage zu Auflage stndig regenerierend, vielleicht bestimmt, so wenig wie die Mathematik jemals fertig zuwerden (Schmidt, Mengenlehre S. 14). Aber Bourbaki verzichtete auf eine philosophische Grundlegung, undzudem ist es bezeichnend, dass gerade das einfhrende Buch dieser Monumentalreihe, die Thorie des ensembles,seit langem nicht mehr neu aufgelegt wird.

  • Kapitel 1. Unendlichkeit im System der Wissenschaften 7

    relevanten Definitionen und Stze knnen nmlich bereits innerhalb der Aufarbeitung der erstendrei Schritte hinreichend entwickelt werden, und fr die Schritte (4) und (5) kann ich auf diezeitgenssische logisch-mathematische Fachliteratur verweisen.32

    Nach der mathematischen Grundlegung sollen die Unendlichkeitsfragen im Bereich der Gipfel-disziplinen betrachtet werden (Kapitel 911). Diesem Teil schicke ich das historische Kapitel 8 berdie Entwicklung des Unendlichkeitsgedankens voraus, welche im Sinne der obigen Bemerkung berden Stellenwert der geschichtlichen Entwicklung (siehe S. 34) auch fr die sachliche Thematikvon Interesse ist. Bei der systematischen Ausfhrung der Gotteslehre (Kapitel 9) steht die Fragenach den Argumenten fr Gottes Existenz im Vordergrund, die mit der Frage nach der konkretenExistenz eines absolut unendlichen Wesens identisch ist. Die anschlieenden Errterungen ber dieUnsterblichkeit der Seele (Kapitel 10) und die Mglichkeit eines unendlichen Kosmos (Kapitel 11)bilden den Abschluss dieser Untersuchungen.

    32 Zu (4) vgl. etwa Glubrecht et al., Klassenlogik; zu (5) Oberschelp, Allgemeine Mengenlehre.

  • 2 Das Unendliche im berblick

    2.1 Zur Definition des UnendlichenNach seiner Wortbedeutung meint das deutsche Wort un-endlich ebenso wie das lateinische in-finitusund das griechische -peiroj das End oder Grenzenlose. Von Grenzen kann man nur in Bezug aufein bestimmtes Sachgebiet reden: dabei kann es sich z. B. um einen Ort, eine Zeit, eine Menge,eine Qualitt oder eine Ttigkeit handeln. Nach Isenkrahe liegt die Urheimat dieses Begriffs aufdem Gebiete des Ausgedehnten, insbesondere auf dem Gebiete des Rumlichen,1 whrend bei An-wendung des Begriffs auf andere Bereiche Sinnbertragungen vorliegen.2 Man sollte jedoch dieSchlsselrolle, die Isenkrahe dem rumlichen Grenzbegriff eingerumt hat, besser dem vorstel-lungsmigen Grenzbegriff zuschreiben. Denn es gibt fr jedes Begrenzte neben einer spezifischenArt, seine Begrenztheit zu beschreiben (das rtlich Begrenzte kann man berqueren, das zeitlich Be-grenzte berleben usw.) auch eine allgemeine Art: Jedes Begrenzte lsst sich berschauen. So lsstsich Begrenztheit oder Endlichkeit im Anschluss an Aristoteles mit klarer Erkennbarkeit oderberschaubarkeit gleichsetzen:3 Mit diesem Ansatz lsst sich die Wortbedeutung des Unendlichenin zwei verschiedene Richtungen hin ausdeuten:

    (1) Entweder man versteht unter Unendlichkeit absolute Unberschaubarkeit: Dann wre das Un-endliche unbestimmt (indefinitum) und chaotisch und daher unvollkommen.

    (2) Oder man versteht unter Unendlichkeit eine nur fr die uns bekannte Art der anschaulichenVorstellung geltende relative Unberschaubarkeit einer an sich klar bestimmten Gre. Wasderart unendlich ist, bersteigt prinzipiell unser anschauliches Vorstellungsvermgen und of-fenbart dadurch seine Vollkommenheit.

    Wie sich im historischen Kapitel dieser Arbeit zeigen wird, hatte das Unendliche in der griechischenPhilosophie die negative Bedeutung (1), wohingegen unter dem Einfluss des Neuplatonismus und desChristentums immer mehr die positive Bedeutung (2) an Bedeutung gewann, die heute bestimmendgeworden ist. Ich setze daher im Folgenden diese zweite Wortbedeutung voraus.

    Die Wortbedeutung gibt uns allerdings nur eine vage Vorstellung, sie ist keine exakte Definitiondes Unendlichen.4 Eine solche bentigen wir nur fr das mengenmig Unendliche oder die unend-liche Menge:5 Ist nmlich geklrt, was unendlich viel bedeutet, so kann man die Unendlichkeitauf anderen Gebieten wie folgt erklren:

    1 Isenkrahe, Das Unendliche S. 14.2 Isenkrahe, Das Unendliche S. 23.3 Vgl. Aristoteles, Physica Buch 1 Kap. 4, 187b78, Ausgabe Zekl Band 1 S. 20f: Das Unendliche ist, insofern

    es unendlich ist, unerkennbar (t m!n peiron peiron gnwston).4 Fr rumliche Gebiete ist sogar ein feiner Unterschied zwischen Unendlichkeit und Unbegrenztheit zu beachten:

    Zum Beispiel handelt es sich bei einer Kreislinie und einer Kugeloberflche um ein unbegrenztes ein bzw.zweidimensionales Gebilde, das aber gewhnlich nicht als unendlich gilt. Damit nmlich eine Linie oder Flcheunendlich ist, muss nach gewhnlicher Auffassung nicht die Linie bzw. Flche selbst, sondern ihre Lnge bzw.ihr Flcheninhalt, d. h. die Zahl der Einheitsstrecken bzw. Einheitsflchen, die darauf Platz haben, grenzenlossein. Analog kann man auch zwischen einem unbegrenzten und einem unendlichen Raum unterscheiden, worauferstmals Riemann aufmerksam gemacht hat (siehe S. 644).

    5 Ich benutze das Wort Menge hier einfach als Synonym fr Vielheit.

  • 2.1. Zur Definition des Unendlichen 9

    Eine unendliche Strecke ist eine Strecke, die sich aus unendlich vielen Einheitsstrecken (Me-tern) zusammensetzt.

    Eine unendliche Zeitdauer ist eine solche, die sich aus unendlich vielen Einheitsdauern (Se-kunden) zusammensetzt.

    Auch andere physikalische Gren (Geschwindigkeiten, Helligkeiten usw.) sind unendlich,wenn sie sich aus unendlich vielen Einheits-Gren zusammensetzen.

    Die Unendlichkeit geistiger Gren (Wissen, Macht, Gte usw.) erklren wir schlielich entwe-der als Maximum oder, wo es sinnvoll erscheint (wie zum Teil bei Wissen und Macht) ebenfallsdurch eine diesbezgliche unendliche Menge (siehe S. 1415).

    Wenn wir gem der obigen Analyse der Wortbedeutung definieren:

    Eine Menge soll unendlich heien, wenn sie (in einer anschaulichen Vorstellung der unsbekannten Art) nicht vollkommen berschaubar ist,

    so mssen wir przisieren, was mit berschaubar gemeint ist. Konkret und unmittelbar wahrnehm-bar? Oder auch mehr oder weniger vermittelt und abstrakt wahrnehmbar? Hier gibt es jedenfallsverschiedene Arten oder Stufen der mangelnden berschaubarkeit und folglich auch Stufen der Un-endlichkeit. Solche Stufen werden in der Mengenlehre genau beschrieben,6 wobei man den Mengen,die auf verschiedenen Unendlichkeitsstufen liegen, verschiedene unendliche Kardinalzahlen oderunendliche Mchtigkeiten zuordnet.7 Dabei ist jede unendliche Vielheit so gro, dass wir die dazu-gehrigen Dinge prinzipiell in der anschaulichen Vorstellung nicht mehr konkret und unmittelbar alsvoneinander verschiedene Einzeldinge zugleich wahrnehmen knnen. Ein Beispiel ist die Gesamtheitder Punkte, die man durch endlos fortgesetzte Halbierung einer Strecke erhlt, indem man als erstenPunkt den Mittelpunkt zwischen zwei Punkten A und nimmt (dieser heie 1), als zweiten Punktden Mittelpunkt zwischen 1 und (dieser heie 2) usw.

    A 1 2 3 4 . . .

    Abbildung 2.1: Fortgesetzte Halbierung einer Strecke

    Die Gesamtheit dieser Punkte 1, 2, 3, 4 . . . ist unendlich, da ihre anschauliche bersichtlichkeit zu-mindest am rechten Ende (bei ) offensichtlich prinzipiell eingeschrnkt ist. Aber diese Gesamtheit(die der Menge der natrlichen Zahlen entspricht) besitzt nur eine Unendlichkeit der kleinstenStufe, denn sie ist noch relativ bersichtlich, weil es sich um Punkte handelt, die alle zwischendem Anfangs und Endpunkt der Strecke eingeschlossen sind, und weil zudem jeder einzelne Punktdieser Gesamtheit durch klar erkennbare Lcken von der Gesamtheit aller brigen abgegrenzt ist.Man spricht hier von abzhlbarer Unendlichkeit.8

    Eine Unendlichkeit von qualitativ hherer Art besitzt offenbar die Gesamtheit aller Punkte einerStrecke, denn wir nehmen diese Punkte nicht direkt alle zugleich als klar voneinander abgegrenzteEinheiten wahr. Trotzdem steht uns auch diese Vielheit vermittelt durch die direkt wahrgenommeneStrecke noch relativ klar und bersichtlich vor Augen. Man spricht von der Unendlichkeitsstufe desKontinuums.9

    6 Siehe S. 244247 und S. 264265.7 Siehe Abschnitt 5.30, besonders Theorem 5.30.6 S. 318.8 Siehe Definition 5.20.4 S. 259. Siehe auch S. 231232.9 Es handelt sich um eine Gesamtheit, welcher die sog. Kontinuumsmchtigkeit c, zukommt (siehe Definition 5.20.24

    S. 264).

  • 10 Kapitel 2. Das Unendliche im berblick

    Auf eine noch hhere Stufe der Unendlichkeit wrden wir stoen, wenn wir eine Vielheit finden,die so gro ist, dass wir die zugehrigen Objekte auch in dieser vermittelten Weise nicht mehrberschauen knnten. Eine solche Vielheit wre mchtiger als das Kontinuum..

    Es wird sich zeigen, dass es sogar unendlich viele Stufen der Unendlichkeit gibt,10 wobei eineextrem hohe Stufe (unterhalb derer bereits unendlich viele andere Stufen liegen) dann erreichtist, wenn die auf ihr liegenden Vielheiten (so genannte Unmengen) so gro sind, dass wir die zuihnen gehrigen Dinge nicht mehr widerspruchsfrei zu einer Einheit zusammenfassen knnen.11Georg Cantor nannte solche Vielheiten inkonsistent unendlich oder absolut unendlich.12 Ob esnur eine oder mehrere Stufen auf diesem inkonsistenten Niveau gibt, werden wir offen lassenmssen.13 Im Hinblick darauf, dass es mehrere sein knnten, sollte man zwischen inkonsistentunendlich und absolut unendlich unterscheiden: inkonsistent unendlich sind Vielheiten, diewir nicht mehr ohne Widerspruch zusammendenken knnen, whrend absolut unendlich eineschlechthin unbertreffbare Unendlichkeit meint.

    Der bisher betrachtete Ansatz fr eine Definition des Unendlichen hngt nun offenbar von relativdunklen psychologischen Begriffen (Vorstellung, Anschaulichkeit usw.) ab. So stellt sich die Frage,ob es keinen exakteren Zugang gibt. Ein naheliegender Vorschlag wre, die unendliche Menge einfachmittels des Zahlenbegriffs zu definieren:

    Eine Menge soll endlich heien, wenn sie eine bestimmte Zahl von Elementen hat, esalso eine Zahl n aus der Menge der natrlichen Zahlen 0, 1, 2, . . . gibt, so dass die Mengegenau n Elemente hat. Andernfalls soll sie unendlich heien.

    Diese Definition setzt jedoch voraus, dass geklrt ist, was natrliche Zahlen sind und was esfr eine Menge bedeutet, n Elemente zu haben. Beides lsst sich zufriedenstellend erklren, aberdazu ist eine nicht-triviale Vorarbeit ntig.14 Nun knnte man, getuscht durch den alltglichenUmgang mit Zahlen, leicht glauben, dass hier berhaupt kein Problem vorliegt. Da nmlich nachnaivem Verstndnis Zahlen auf das Zhlen zurckzufhren sind, pflegt man endlich mit zhlbargleichzusetzen. Man setzt dabei die folgende Definition voraus:

    Eine Menge soll endlich heien, wenn ihre Elemente gezhlt werden knnen, d. h.wenn es einen Zhlvorgang gibt, bei dem smtliche zur Menge gehrigen Dinge erreichtwerden. Andernfalls heie die Menge unendlich oder unzhlbar.

    Dies ist im Wesentlichen die Unendlichkeitsdefinition des Aristoteles, wonach das Unendlichedas ist, bei dem man unmglich ein Ende erreichen kann,15 oder das, was sich im Denken nichtdurchschreiten lsst.16 In diesem Sinn hie es auch in der Scholastik: infinitum transiri non po-test,17 und diese Auffassung ist noch bei Kant zu finden: Der wahre . . . Begriff der Unendlichkeitist: dass die sukzessive Synthesis der Einheit in Durchmessung eines Quantum niemals vollendetsein kann.18 Problematisch ist hier jedoch, dass man in unendlicher Zeit sehr wohl unendlich viele

    10 Vgl. Korollar 5.20.22 S. 264.11 Vgl. Abschnitt 5.2.12 Siehe S. 73.13 Siehe S. 172.14 Siehe Abschnitt 5.16.15 Aristoteles, Physica Buch 1 Kap. 5, 204a3, Ausgabe Zekl Band 1 S. 120: t dnaton dielqen.16 Aristoteles, Analytica posteriora Buch 1 Kap. 22, 83b67, S. 398f: t d'peira ok sti dielqen noonta.17 So heit es z. B. bei Thomas von Aquin, Summa Theologiae pars 1 quaestio 14 articulus 12 ad 2, Ausgabe Busa

    S. 209a: infinitum transiri non potest, neque a finito neque ab infinito.18 Kant, Kritik der reinen Vernunft B460, Ausgabe Timmermann S. 534.

  • 2.1. Zur Definition des Unendlichen 11

    Dinge zhlen kann.19 Und nicht nur das: Auch in begrenzter Zeit kann man unendlich viele Din-ge zhlen, wenn die Zeit zwischen zwei Zhlschritten immer kleiner wird. Um diese beiden Flleauszuschlieen, msste man also sagen:

    Eine Menge von Dingen ist endlich, wenn diese durch einen Zhlvorgang erfasst werdenknnen, der in einer endlich groen Zeitspanne abluft und bei dem die Zeit zwischenzwei aufeinander folgenden Zhlschritten stets gleich gro ist.

    Der entscheidende Begriff ist hier die endlich groe Zeitspanne. Nun wollten wir jedoch die endlicheZeit gerade umgekehrt mittels des Begriffs der endlichen Menge definieren, als eine Zeitspanne, dieendliche viele Zeiteinheiten umfasst. Wir kommen also nicht weiter, es sei denn, es gelnge, eineendliche Zeit zu beschreiben, ohne den Begriff endlich zu verwenden. Eine Zeitspanne einfachdann als endlich anzusehen, wenn sie Anfang und Ende hat, ist keine Lsung, da es logisch nichtauszuschlieen ist, dass eine Zeitspanne Anfang und Ende haben knnte, innerhalb derer dennochunendlich viele Sekunden vergehen, hnlich wie eine begrenzte Strecke dennoch unendlich vielePunkte besitzt. So ist unser Definitionsversuch mittels des Zhlens vorlufig gescheitert.20

    In der Mathematik des spten 19. Jahrhunderts hat man nun wirklich weiterfhrende Anstzezur Definition des mengenmig Unendlichen gefunden: Es wurden eine Reihe von Definitionen auf-gestellt, die zumindest auf den ersten Blick sowohl von psychologischen Begriffen (wie Vorstellungund berschaubarkeit) als auch von den Begriffen der Zeit, des Zhlens und der Zahl vollstndigunabhngig sind.21 Die wichtigste dieser Definitionen geht auf eine Tatsache zurck, auf die schonDuns Scotus, Albert von Sachsen und Galilei gestoen waren,22 die aber erst BernhardBolzano in seiner Schrift ber Paradoxien des Unendlichen (1851) ausfhrlich analysiert hat: dassnmlich eine unendliche Menge A Teil einer anderen unendlichen Menge B sein kann, obgleich sichdie in A und B zusammengefassten Dinge so gegenberstellen lassen, dass jedem Ding aus A genauein Ding aus B gegenbersteht und umgekehrt.23 Indem sich die Bestandteile der Mengen A und Brestlos zu Paaren zusammenstellen lassen, zeigt sich, dass die Mengen (in gewisser Hinsicht) gleichgro sind, obwohl A andererseits blo ein Teil von B ist.24 Laut Bolzano ist dies nur ein scheinba-rer Widerspruch, dessen Anschein dadurch entsteht, dass derartiges fr endliche Mengen unmglichist.25 Er nannte die Art der Gleichheit, die hier trotz des Teilseins bestehen kann, hnlichkeit.Cantor fhrte dafr den Begriff der Gleichmchtigkeit ein; ich werde von relationstheoretischerGleichheit sprechen. Nachdem nun diese von Bolzano analysierte paradoxe Eigenschaft unendli-cher Mengen 1878 von Georg Cantor als fr das Unendliche charakteristisch erkannt worden war,26wurde sie 1887 von Richard Dedekind verwendet, um die Unendlichkeit formal zu definieren:

    Ein System S heit unendlich, wenn es einem echten Teile seiner selbst hnlich ist; imentgegengesetzten Falle heit S ein endliches System.27

    19 Das hat auch Aristoteles gesehen, der die Unmglichkeit, das Unendliche zu durchlaufen an einer Stelle ein-schrnkt, indem er sagt, dass das Unendliche nur in endlicher Zeit nicht durchlaufen werden kann: dnatontn peiron [grammn] dielqen n peperasmn crn. (De caelo Buch 1 Kap. 5, 272a29, Ausgabe Gigon S. 69).

    20 Erst nach der mathematisch exakten Einfhrung der natrlichen Zahlen werden wir sehen, dass und warum mandurch Zhlen mit natrlichen Zahlen in einem przisen Sinn tatschlich die Endlichkeit einer Menge feststellenkann (siehe Erklrung 5.17.8 S. 239 und Theorem 5.17.9 S. 239).

    21 Vgl. die Zusammenstellung solcher Unendlichkeitskriterien auf S. 247.22 Siehe Abschnitt 5.17.23 Vgl. Bolzano, Paradoxien 2022 S. 2833.24 Dieses Phnomen wird ausfhrlich in Abschnitt 5.17 besprochen werden.25 Vgl. Bolzano, Paradoxien 22 S. 32.26 Vgl. Cantor, Beitrag zur Mannigfaltigkeitslehre, Ausgabe Zermelo S. 120: Ein Bestandteil einer endlichen Man-

    nigfaltigkeit hat immer eine kleinere Mchtigkeit als die Mannigfaltigkeit selbst; dieses Verhltnis hrt gnzlichauf bei den unendlichen . . . Mannigfaltigkeiten.

    27 Dedekind, Zahlen 5 Nr. 64 S. 13. Vgl. im mathematischen Teil Definition 5.17.1 S. 233.

  • 12 Kapitel 2. Das Unendliche im berblick

    Die in dieser Definition verwendeten Begriffe scheinen nun sehr przise und rein logischer Natur zusein. Trotzdem sind anschauliche Erklrungen hierdurch nicht berflssig geworden. Denn zum einensollen formale Definitionen die inhaltliche Intuition przisieren, die wir von Unendlichkeit haben;ob eine formale Definition dies tatschlich leistet, knnen wir aber nur beurteilen, wenn wir dieseintuitive Vorstellung auch ohne die formale Definition beschreiben knnen. Zum anderen zeigt sich,dass auch die Dedekindsche Definition, indem sie den Mengenbegriff (hier System genannt) ver-wendet, einen nicht-logischen Begriff gebraucht, dessen genaue Erklrung in einer realistischen (d. h.nicht blo formalen) Mengenlehre, wie wir sehen werden, letztlich doch wieder auf psychologischeBegriffe (Denken, Abstraktion usw.) zurckgreifen muss. Allerdings gewinnt die Mengenlehre um somehr an berzeugungskraft, je weniger an die Anschauung und an damit verbundene psychologischeErfahrungen appelliert werden muss. Im Detail werde ich eine Grundlegung der Mengenlehre nachdiesen Grundstzen in Kapitel 5 durchfhren. Es wird sich dann zeigen, dass die DedekindscheDefinition in einem przisen Sinn die Nichtzhlbarkeit einer Menge beschreibt,28 was wiederum offen-bar eine spezifische Form von Nichtberschaubarkeit impliziert. So ist die Dedekindsche Definitiontatschlich eine gelungene Explikation des mengenmigen Unendlichkeitsbegriffs.

    28 Siehe Theorem 5.17.24 S. 242 im Kontext von Abschnitt 5.17.

  • 2.2. Arten des Unendlichen 13

    2.2 Arten des UnendlichenDie bedeutendsten Unterscheidungen, die in der Philosophiegeschichte hinsichtlich des Unendlichengemacht wurden, sind die folgenden vier: diejenige zwischen extensivquantitativer und intensivqualitativer Unendlichkeit, diejenige zwischen dem aktual und dem potentiell Unendlichen, diejenigezwischen dem unendlich Groen und dem unendlich Kleinen sowie schlielich diejenige zwischen demrelativ und dem absolut Unendlichen.

    Bevor ich auf diese Arten des Unendlichen eingehe, mchte ich der Vollstndigkeit halber noch auf zweiweitere, fr uns weniger bedeutsame Unterscheidungen hinweisen. Zum einen ist zwischen dem Unendlichenim eigentlichen und dem Unendlichen im uneigentlichen Sinn zu unterscheiden. Letzteres ist blo das sehrgro erscheinende Endliche, das in hyperbolischer Redeweise oft als unendlich, zahllos, unermesslichusw. bezeichnet wird.29 Zum anderen spielte in der Scholastik die Unterscheidung zwischen dem privativUnendlichen und dem negativ Unendlichen eine groe Rolle.30 Das privativ Unendliche ist das Mangelhafte,dem eine Grenze fehlt, die es von Natur aus abschlieen und vollenden wrde.31 Standardbeispiel ist die un-gestaltete (durch keine Form begrenzte) Materie. Demgegenber ist beim negativ Unendlichen die Grenzeblo negiert, ohne dass dies ein Mangel wre: Das negativ Unendliche ist eine immaterielle (nicht durch dieMaterie limitierte) Form oder Wirklichkeit.32 Diese Unterscheidung entspricht der oben S. 8 erwhnten Un-terscheidung zwischen dem als negativ bewerteten Unendlichen und dem als positiv bewerteten Unendlichen,wobei das letztere hier allerdings terminologisch mit dem negativ Unendlichen zusammenfllt.33

    Extensiv-quantitative und intensiv-qualitative UnendlichkeitDie eigentliche Unendlichkeit wird immer im Hinblick auf eine sog. Gre ausgesagt, wobei zwischendrei ursprnglichen Arten von Gre zu unterscheiden ist:

    rumliche Ausdehnung,zeitliche Ausdehnung undabstrakt-mengenmige Ausdehnung.

    Unter diesen drei Grundgren, auf denen alle in der Physik untersuchten Gren basieren,34 istdie mengenmige Ausdehnung die fundamentalste, denn wir sprechen einem Raum oder einerZeit genau dann Unendlichkeit zu, wenn die Menge der Einheitsrume oder Einheitsdauern, mitdenen wir Raum bzw. Zeit ausmessen, unendlich ist. Auerdem kann die zeitliche und rumliche

    29 Zahlreiche instruktive Beispiele hierfr sind bei Antweiler, Unendlich, S. 2429 zu finden. Vgl. auch Apokalypse7,9 (die geretteten Menschen im Himmel bilden eine groe Schar, die niemand zhlen kann) und Genesis 15,5(Unzhlbarkeit der Sterne und der Nachkommenschaft Abrahams).

    30 Vgl. Gredt, Elementa Band 1 S. 286f, deutsche Ausgabe S. 227.31 Thomas von Aquin, Summa Theologiae pars 3 quaestio 10 articulus 3 ad 1, Ausgabe Busa S. 787b: non habet

    formam quam natum est habere.32 Thomas von Aquin, Summa Theologiae pars 3 quaestio 10 articulus 3 ad 1, Ausgabe Busa S. 787b: forma vel

    actus non limitatus per materiam.33 Der Scholastiker Heinrich von Gent hat freilich klar gesehen, dass das Unendliche nur dem Namen nach

    privativ oder negativ ist, der Sache nach aber etwas Positives: infinitum etsi secundum impositionem et modumnominis privative aut negative dicitur, secundum rem tamen positive dicitur: quia illa negatio nobis dat intelligereverissimam affirmationem (Heinrich von Gent, Summa Theologiae articulus 44 quaestio 2, Ausgabe BadiusBand 2 folio 14 verso). Siehe auch Funote 609 auf S. 554 sowie S. 558559.

    34 So ist etwa die Geschwindigkeit definiert als das Zahlenverhltnis einer rumlichen Gre zu einer zeitlichenGre. Aber nicht nur die offiziell als abgeleitet geltenden Gren, sondern auch schon die sieben Basisgrender heutigen Physik (Lnge, Zeit, Masse, Stromstrke, Temperatur, Stoffmenge, und Lichtstrke), mit denen manalle anderen physikalischen Gren beschreiben kann, sind durch Wirkungen definiert, die man letztlich alleindurch Zhlung von zeitlichen Prozessen und Einheitsstrecken beschreiben kann.

  • 14 Kapitel 2. Das Unendliche im berblick

    Ausdehnung nur in einem Teilbereich des Seienden auftreten, whrend die mengenmige berall,auch im Bereich des rein geistigen oder des abstrakten Seins auftritt.35Man spricht nun bei den drei Grundgren, wenn diese unendlich sind, von extensiver oder quanti-tativer Unendlichkeit. Das extensiv Unendliche ist daher einzuteilen in das rumliche, das zeitlicheund das mengenmige (= die unendliche Menge):

    Beispiel eines rumlich Unendlichen ist eine beidseitig unbegrenzte gerade Linie,Beispiel eines zeitlich Unendlichen ist ein anfangs- und endloser Zeitraum,Beispiel eines mengenmig Unendlichen ist die Gesamtheit aller mglichen Gedanken.

    Dem extensiv Unendlichen steht das intensiv oder qualitativ Unendliche gegenber.36 Hierzu gehrtjegliches Unendliche, was nicht rumlich, zeitlich oder mengenmig unendlich ist, z. B. unendlichgroe Helligkeit, Weisheit, Kraft, Gte usw. Beim intensiv Unendlichen bezieht sich das Unendlich-keitsprdikat nicht direkt auf eine Gre, sondern auf eine Qualitt oder Ttigkeit. Doch ist auchhier ein Grenbezug festzustellen. Sehr deutlich ist dies zunchst bei den physikalischen Qualittenerkennbar: Eine solche ist unendlich, wenn die Anzahl der bertroffenen physikalischen Einheitender betreffenden Qualitt unendlich ist. Z. B. ist ein unendlich heller Gegenstand ein solcher, dessenHelligkeit eine unendliche Menge von quidistanten Helligkeitsstufen bertrifft, und unendlich groeKraft knnte man als die Fhigkeit definieren, zugleich eine unendliche Menge von gleich schwerenendlichen Gewichten zu heben.

    Fraglich ist, ob ein analoger Grenbezug auch bei Unendlichkeiten geistiger Natur vorliegt. Soist etwa unendliches Wissen zwar sicher auch, aber nicht allein durch den Umfang des Gewussten(etwa die Anzahl der gewussten Sachverhalte) beschreibbar, denn es kann noch so etwas wie un-endliche Tiefe (etwa Klarheit und Deutlichkeit) des Verstndnisses jedes einzelnen Sachverhalteshinzukommen. Noch viel weniger als beim Wissen schiene es angemessen, unendliche Liebe oderunendliches Glck allein auf eine unendliche Anzahl (etwa die Anzahl der geliebten Gegenstndebzw. die Anzahl der befriedigten Wnsche) zurckzufhren. Doch gleichwohl scheint auch hier dieUnendlichkeit letztlich auf eine Gre zurckfhrbar zu sein. Man kann nmlich geistige Gter wieGlck, Gte und Wissen steigern und vermindern und insofern grenmig vergleichen.37 Nur istdie Natur dieser Gre im geistigen Bereich anderer Art als im physikalisch-materiellen. Der wesent-liche Unterschied ist der, dass bei den physikalischen Qualitten die Gre durch eine Messungim Sinne einer Addition oder Aneinanderreihung von Exemplaren einer Einheitsgre festgestelltwerden kann, whrend es bei den Intensitten geistiger Gter gar keine Einheiten gibt, die mananeinander fgen knnte: sonst msste man diese auch portionsweise wieder wegnehmen und dasgeistige Gut dadurch zerteilen knnen. Wie aber Henry Deku im Anschluss an sptantike Philoso-phen zu Recht betont hat, scheinen geistige Gter durch Teilung anstatt weniger mehr zu werden:Der Professor wird nicht rmer an Wissen, wenn er doziert, und Gte nimmt nicht ab, sondern zu,

    35 Vgl. Abschnitt 5.33.36 Nach Ziegenaus, Marius Victorinus S. 231 sind die intensive und extensive Unendlichkeit die beiden Oberbe-

    griffe, unter die man die in der griechischen Philosophie sowie bei den Kirchenvtern bis einschlielich MariusVictorinus (siehe Abschnitt 8.8.3) entwickelten Unendlichkeitskonzeptionen zunchst subsumieren kann, wobeiallerdings nur der extensiven Unendlichkeit die Bezeichnung unendlich beigelegt wurde. Die Tradition der inten-siven Unendlichkeitsvorstellung, in der das Unendliche als geistiges Kraft-Zentrum gesehen wird (ebd. S. 233),fhrt Ziegenaus bis auf Parmenides zurck. Die Einteilung in das intensiv und extensiv Unendliche findet manauch bei Pohle, Unendlich S. 239. Pohle setzt das extensiv Unendliche explizit gleich mit der Unendlichkeitder Gre, die er von der Unendlichkeit des Geistes als einer intensiven, inneren Unendlichkeit abgrenzt.

    37 Vgl. Scheeben, Dogmatik Band 1 74 S. 531: Unendlich ist der Gegensatz zu endlich. Das Ende (finis) ist an sichnur denkbar an einer Gre, zunchst der mathematischen, . . . dann aber auch der realen oder metaphysischenGre, d. h. . . . der inneren Vollkommenheit der Dinge; denn auch diese Vollkommenheit gilt als Gre, inwiefernsie nach der Menge und dem Gewichte, dem Grade und Umfang ihres Inhaltes bemessen werden kann.

  • 2.2. Arten des Unendlichen 15

    wenn man versucht, sie anderen zuzuwenden.38 So setzt sich die unendliche Gre hier nicht auseiner unendlichen Anzahl von Einheits-Intensitten zusammen. Wenn daher nicht wenigstens teil-weise ein Mengenbegriff mit der geistigen Intensitt verbunden ist (wie beim Wissen die Menge desGewussten, bei der Macht die Gre des Einflussbereichs usw.), kann die unendliche Intensitt nurals Maximum aufgefasst werden. So ist unendliche Gerechtigkeit eine Gerechtigkeit ohne Abstriche,unendliche Liebe eine Liebe ohne jeden Vorbehalt, unendliche Gte die totale bereinstimmung mitder Idee des Guten usw.Wir knnen also zusammenfassend sagen, dass abgesehen von Fllen, in denen wir das Unendlicheals Maximum definieren mssen, letztlich immer das mengenmig Unendliche, also die unendli-che Menge, die Grundlage fr jegliches Verstndnis des Unendlichen bildet. Diese entscheidendeRolle des Quantitativen hat auch Aristoteles gesehen, wenn er sagt: Die Begriffserklrung vonunendlich benutzt den Begriff von Quantitt, nicht von Substanz oder Qualitt.39

    Potentielle und aktuale UnendlichkeitEtwas, dessen Gre stets vermehrt werden kann, das aber dennoch immer endlich bleibt, heitpotentiell unendlich, whrend das aktual Unendliche die Unendlichkeit tatschlich erreicht hat.40Es ergibt sich also insgesamt eine Dreiteilung: etwas kann aktual unendlich, oder nur potentiellunendlich, oder aber noch nicht einmal potentiell unendlich sein. Man betrachte zu diesen Unter-scheidungen folgendes Beispiel:

    1. Angenommen, ein heute geborener Mensch htte ein Mittel, das Altern seiner Zellen zu stop-pen, so htte er ein potentiell unendliches Lebensalter, d. h. die Zahl seiner Lebensjahre wreunendlich vermehrbar, bliebe aber zu jedem Zeitpunkt endlich.

    2. Dagegen wre das Lebensalter eines Wesens, das schon immer gelebt hat, aktual unendlich,und es wre auch schon immer aktual unendlich gewesen.

    3. Schlielich ist das Lebensalter eines heute geborenen Wesens, das notwendigerweise einmalsterben muss, weder aktual noch potentiell unendlich.

    Aristoteles fhrt in seiner Physik aus, dass sowohl die Annahme der Existenz von etwas Unend-lichem wie auch die Annahme, es gebe schlechthin nichts Unendliches, auf unberwindliche Schwie-rigkeiten stoe, und so sei ein Schlichter ntig, dessen Spruch so aussehen msse: in bestimmtemSinne gibt es das wohl, in einem bestimmten anderen aber nicht.41 Die Lsung bestehe darin, dass

    38 Vgl. Deku, Infinitum S. 272. Mathematisch gesprochen besteht zwischen den mglichen Intensitten eines stei-gerbaren geistigen Gutes eine Ordnungsrelation wie zwischen den Punkten einer von einem Punkt 0 ausgehendenund sich ins Unendliche erstreckenden Halbgeraden, und diesbezglich kann man sich diese Intensitten durch-aus als Punkte auf dieser geistigen Halbgeraden vorstellen. Nur ist im Gegensatz zu einer echten Halbgeradenzwischen ihren Teilstrecken keine additive Kongruenzrelation definierbar.

    39 Aristoteles, Physica Buch 1 Kap. 2, 185b23, Ausgabe Zekl Band 1, S. 6f: gr to perou lgoj t posproscrtai, ll' ok osv od! t poi.

    40 Die Begriffe des potentiell (nergev, der Mglichkeit nach) und aktual (dunmei, wirklich) Unendlichen gehen aufAristoteles zurck (vgl. Aristoteles, Physica Buch 3 Kap. 6, 206a16-18, Ausgabe Zekl Band 1, S. 134f). Aris-toteles selbst weist darauf hin, dass potentiell hier nicht die gewhnliche Bedeutung hat: Gemeint ist nicht dieMglichkeit oder Fhigkeit, tatschlich unendlich zu werden. Bei den Scholastikern hie das potentiell Unendlicheauch synkategorematisch unendlich oder unendlich in fieri oder sensu diviso, whrend das aktual Unendliche als ka-tegorematisch unendlich oder unendlich in facto esse oder in sensu composito hie (vgl. Maier, Vorlufer GalileisS. 157 mit Funote 2). Die Bezeichnungen kategorematisch und synkategorematisch gehen auf den LogikerPetrus Hispanus (Papst Johannes XXI., 12261277) zurck (vgl. Duhem, Les deux infinis S. 21f). Hegel nanntedas potentiell Unendliche das schlechte Unendliche und das aktual Unendliche das wahrhaft Unendliche (vgl.Hegel, Enzyklopdie (1830) 94f, Ausgabe Bonsiepen/Lucas S. 130f, Ausgabe Nicolin/Pggeler S. 112f).

    41 Aristoteles, Physica Buch 3 Kap. 6, 206a13-14, Ausgabe Zekl Band 1, S. 135.

  • 16 Kapitel 2. Das Unendliche im berblick

    es kein aktual Unendliches, sondern nur ein potentiell Unendliches gibt.42 Gegen Aristoteles lsstsich einwenden, dass das potentiell Unendliche das aktual Unendliche voraussetzt, denn da das po-tentiell Unendliche das unendlich Vermehrbare ist, hat es eine aktual unendliche Eigenschaft: seineVermehrbarkeit.43 Die These, dass es nur potentiell Unendliches gibt, kann also jedenfalls nicht imabsoluten Sinn festgehalten werden. Gbe es nmlich das aktual Unendliche in keiner Weise, so auchkeine unendliche Vermehrbarkeit, und folglich keine potentielle Unendlichkeit.44

    Das unendlich Kleine und das unendlich GroeNach Aristoteles erhlt man das Unendliche durch Addition oder durch Teilung.45 Dementspre-chend nennt man eine Gre unendlich gro, wenn sie durch eine unendlich oft wiederholte Additiongleicher endlicher Gren hervorgeht, und unendlich klein, wenn sie durch eine Teilung einer endli-chen Gre in gleichartige Teile hervorgeht, die dann wieder in gleichartige Teile geteilt werden usw.,wobei dieser Prozess unendlich oft wiederholt wird.46 Sofern der betrachtete Prozess der Additionoder Teilung nur potentiell unendlich ist, ist auch die betreffende Gre nur potentiell unendlich grobzw. unendlich klein, whrend eine Gre, die man nach Abschluss von unendlich vielen Schritteneines solchen Prozesses erhalten wrde, aktual unendlich gro bzw. klein heit.

    Zum Beispiel wre, falls die Zeit keinen Anfang hatte, die bis heute vergangene Zeit eine aktualunendliche Gre, weil dann der Prozess des Aufaddierens unendlich vieler Zeiteinheiten schonzum Abschluss gekommen wre. Interessanter sind die aktual unendlich kleinen Gren, die manauch Infinitesimalien nennt. Als Beispiel fr aktual unendlich kleine Strecken knnte man Punkteansehen, da sich eine endliche Strecke in unendlich viele Punkte einteilen lsst. Jedoch schreibt mangewhnlich den Punkten gar keine Gre zu, also auch keine unendlich kleine.47 Unter aktualunendlich kleinen Strecken versteht man statt dessen unendlich kleine Teile von Strecken, die selbstwieder teilbar sind. Auf diese geheimnisvollen Gren werden wir in Abschnitt 5.25 zurckkommen.

    In einem ganz anderen Sinn pflegt man von unendlich klein und unendlich gro bei vermehr-baren Eigenschaften zu reden, die ein kontrres Gegenteil haben. Hier bedeutet die Vermehrung eineVerminderung des Gegenteils und umgekehrt. Wenn z. B. die Helligkeit zunimmt, nimmt die Dun-kelheit ab und umgekehrt. Liegt eine solche Eigenschaft in unendlicher Gre vor, spricht man ihremGegenteil unendliche Kleinheit zu. Sowohl unendliche Gre als auch unendliche Kleinheit entstehendann also durch Addition: nur entsteht das unendlich Kleine durch Vermehrung der gegenteiligenEigenschaft. Ein Beispiel sind die beiden unendlich weit links bzw. unendlich weit rechts gele-genen Punkte + (plus unendlich) und (minus unendlich) auf der Zahlengeraden (sieheDefinition 2.3.4 S. 21), die man unendlich gro bzw. unendlich klein nennt.48

    42 Aristoteles, Physica Buch 3 Kap. 6, 206a18, Ausgabe Zekl Band 1, S. 134: lepetai on dunmei e&nai topeiron. Auch die Zahlenreihe ist fr Aristoteles blo potentiell unendlich (vgl. Aristoteles, Physica Buch3 Kap. 7, 207b11-12, Ausgabe Zekl Band 1, S. 142: dunmei m!n stin, nergev d' o.)

    43 Hierauf hat unter anderem Constantin Gutberlet hingewiesen (Gutberlet, Das Unendliche, S. 22f).44 Versteht man allerdings unter einer aktual unendlichen Vielheit nicht blo eine unendliche Vielheit von zugleich

    daseienden, sondern eine solche von gleichzeitig zusammenwirkenden Dingen, so hat die Annahme, dass eine solcheVielheit existieren kann, mit ernstzunehmenden Schwierigkeiten zu kmpfen (siehe Abschnitt 11.2).

    45 Aristoteles, Physica Buch 3 Kap. 4, 204a67, Ausgabe Zekl Band 1, S. 120f.46 Man beachte, dass diese Erklrung nur fr rumliche oder zeitliche Gren sowie davon abgeleitete physikalische

    Gren sinnvoll ist, denn geistige Intensitten knnen nicht in dieser Weise addiert oder geteilt werden.47 Wir werden jedoch in Abschnitt 5.25 (auf S. 292) sehen, dass die auf Euklid zurckgehende Auffassung eines

    Punktes als ausdehnungslos nicht die einzige mgliche darstellt.48 Meist benutzt man + bzw. nur als Symbole fr den potentiell unendlichen Prozess, bei dem man ber

    jeden Punkt hinaus immer noch weiter nach links bzw. nach rechts auf der Zahlengeraden fortschreitet. Mankann aber + und auch als aktual unendlich weit vom Nullpunkt entfernte Punkte auffassen: Vgl. einerseitsden kontextbezogenen Gebrauch der Symbole + und in der Ordnungstheorie (Definition 5.13.17 auf S. 178)und andererseits die Deutung von + und als uneigentliche surreale Zahlen in Abschnitt 5.26.

  • 2.2. Arten des Unendlichen 17

    Das relativ Unendliche und das absolut UnendlicheNach einem viel zitierten Satz Thomas von Aquins kann etwas, was in einer bestimmten Beziehungunendlich ist, in anderer Beziehung endlich sein.49 Ist dies der Fall, spricht man in der scholastischenTradition von einem relativ Unendlichen (infinitum secundum quid), dem die absolute UnendlichkeitGottes gegenbersteht (infinitum simpliciter).50 Hierzu betrachte man folgende Beispiele:

    1. Eine begrenzte Linie ist hinsichtlich ihrer rumlichen Erstreckung endlich, aber hinsichtlichder Menge ihrer Punkte unendlich.

    2. Eine Linie mit nur einem Randpunkt erstreckt sich in der einen Richtung ins Unendliche, inder anderen ist ihre rumliche Erstreckung endlich.

    3. Eine Linie ohne Randpunkt erstreckt sich zwar in beiden Richtungen ins Unendliche, nimmtaber nicht den ganzen Raum ein und ist daher als Teil des Raumes endlich.

    4. Der allseitig unbegrenzte Raum ist in jeder Richtung unendlich, aber er kann in vielen anderenHinsichten endlich sein, z. B. hinsichtlich seiner Dimensionszahl.

    Versteht man nun unter dem absolut Unendlichen ein solches, das in schlechthin jeder Beziehungunendlich ist, so erhlt man allerdings einen widersprchlichen Begriff, der fr die Theologie nichtbrauchbar zu sein scheint. Dass ein solches Unendliches zugleich unendlich gro und unendlich klein,unendlich hell und unendlich dunkel usw. genannt werden msste, kann zwar aus mystischer Sichtnoch als dem Gottesbegriff durchaus angemessen erscheinen,51 aber dass ein solches Unendlichesauch mengenmig in jeder Beziehung unendlich wre, ist fr einen Theisten, fr den ein Unterschiedzwischen Gott und dem Universum besteht, nicht mehr akzeptabel. Denn nur die Gesamtheit allerObjekte schlechthin kann mengenmig in jeder Beziehung unendlich genannt werden.

    So sollte man beides, sowohl das relativ Unendliche wie auch das absolut Unendliche, von vorn-herein auf einen bestimmten Bereich beziehen: z. B. auf den Bereich der Menge, der rumlichenErstreckung, der Kraft usw. Auch wenn wir von der Unendlichkeit Gottes reden, gibt es hier einenganz bestimmten Bereich, nmlich den der Seinsmchtigkeit.52 Unter dem absolut Unendlichenist dann in jedem Bereich das prinzipiell nicht berschreitbare Maximum zu verstehen, unter einemrelativ Unendlichen dagegen etwas, das (im Sinne der in Abschnitt 2.1 entwickelten Vorstellung)unendlich ist, ohne maximal zu sein.

    49 Thomas von Aquin, Summa Theologiae pars 3 quaestio 10 articulus 3 ad 2, Ausgabe Busa S. 787b: Nihilprohibet aliquid esse infinitum uno modo