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Zentrum für Medizinische Ethik MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN Heft 173 Apokalyptik im biomedizinethischen Diskurs Eine theologische Analyse der aktuellen Debatte “Für Hans G. Ulrich zum 65. Geburtstag in Dankbarkeit” Marco Hofheinz Mai 2007

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Zentrum für Medizinische Ethik

MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN

Heft 173

Apokalyptik im biomedizinethischen Diskurs

Eine theologische Analyse der aktuellen Debatte

“Für Hans G. Ulrich zum 65. Geburtstag in Dankbarkeit”

Marco Hofheinz

Mai 2007

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Marco Hofheinz, Dr. theol., geb. 1973, 1993-2000 Studium der Ev. Theologie in Wuppertal, Bonn, Tübingen, Lexington (Kentucky), Durham (Duke University), Göttingen, 2000 Erstes Kirchliches Examen, 2001-2003 Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes, 2003-2005 Vikar der Ev.-Ref. Kirchengemeinde Eiserfeld, 2006 Zweites Kirchliches Examen, seit Sommersemester 2006 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Systematische Theologie (Abteilung Ethik, Lehrstuhl Prof. Dr. W. Lienemann) der Universität Bern (CH).

1. Die Renaissance der Apokalyptik in der biomedizinethischen Debatte 1.1 Einleitung: Der „bioapokalyptische“ Argumentationstyp……….………………………………….1 1.2 Schöne neue Menschenwelt? Der „neue Mensch“ im Spannungsfeld von positiver und negativer Utopie…………………………………………………………………………………….4 1.3 Der südkoreanische „Klon-Erfolg“. Zur bioapokalyptischen Beschreibung einer manipulierten biomedizinischen Innovation……………………………………………………...……..7 1.4 Dammbruch, Rubikon, schiefe Ebene. Die „bioapokalyptische“ Metaphorik…….………………10 1.5 Die Sloterdijk-Debatte…….……………………………………………………………………….13 1.6 Die Apokalypse des „neuen Menschen“. Das implizite Menschenbild biomedizini- scher Forschung und die Leitbildfunktion der Rede vom „neuen Menschen“………………………...16 2. Die Apokalypse der neuen Schöpfung. Zur paulinischen Rede vom „neuen Menschen“ 2.1 Die paulinische Modifikation der Zwei-Äonen-Lehre als apokalyptischer Referenzrahmen der Rede vom „neuen Menschen“…………………………………………………..19 2.2 Der „neue Mensch“ als Gottes Ebenbild……….………………………………………………….21 2.3 Ecce Homo – Das Kreuz Christi als Apokalypse des „neuen Menschen“………………………...25 3. Konturen einer apokalyptischen Ethik des „neuen Menschen“ im Blick auf die aktuelle biomedizinethische Debatte 3.1 Der Gegenstand einer apokalyptischen Ethik: Der „neue Mensch“ als Subjekt ethischen Handelns……………………………………………………………………………31 3.2 Biomedizinethische Konsequenzen….…………………………………………………………….33 3.3 Eine Klarstellung zu den kreuzestheologischen Implikationen einer apokalyptischen Ethik des „neuen Menschen“…………………………………………………………………………..37 3.4 Ethik des „neuen Menschen“ als kirchliche Ethik.………………………………………………...40 3.5 Schlussbemerkung…….……………………………………………………………………..…43-44 Herausgeber: Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Prof. Dr. med. Michael Zenz Zentrum für Medizinische Ethik Bochum, Ruhr-Universität Bochum, Gebäude GA 3/53,44780 Bochum, TEL +49 234 32-22749/50, FAX +49 234 3214-598 Email: [email protected] Internet: http://www.medizinethik-bochum.de

Der Inhalt der veröffentlichten Beiträge deckt sich nicht immer mit der Auffassung des ZENTRUMS FÜR MEDIZINISCHE ETHIK BOCHUM. Er wird allein von den Autoren verantwortet. Das Copyright liegt beim Autor.

© Marco Hofheinz 1. Auflage Juni 2007

Schutzgebühr: € 6,00 Bankverbindung: Sparkasse Bochum Kto.-Nr. 133 189 035 BLZ: 430 500 00 ISBN: 978-3-931993-54-2

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Apokalyptik im biomedizinethischen Diskurs.

Eine theologische Analyse der aktuellen Debatte

Marco Hofheinz

1. DIE RENAISSANCE DER APOKALYPTIK IN DER BIOMEDIZINETHISCHEN

DEBATTE

1.1 Einleitung: Der „bioapokalyptische“ Argumentationstyp

Zu Beginn der 90er Jahre stellte U.H.J. Körtner fest: „Es zeichnet die zeitgenössische

Diskussion um die ökologische Krise und die Gefahr eines atomaren Weltkrieges aus, daß sie

in abgewandelter Form von apokalyptischen Deutungsmustern Gebrauch macht, die von den

angesprochenen Gefahren unabhängig bestehende Bewußtseinsphänomene sind.“1 Diese

Beobachtung dürfte gegenwärtig auch auf die biomedizinethische Debatte zutreffen. Die

Wiederkehr apokalyptischer Deutungsmuster lässt sich – wie im Folgenden gezeigt werden

soll – in dem ca. 30 Jahre alten, mit dem Schlagwort „Biomedizinethik“ bezeichneten Diskurs

unschwer nachweisen2. Was seine Reichweite betrifft, so ist er keineswegs an die engen

Grenzen der akademischen Disziplin „Biomedizinethik“ gebunden, vielmehr sind an ihm –

wie die folgende Darstellung der Renaissance der Apokalyptik in der biomedizinethischen

Debatte zeigt – Journalisten und Politiker, Mediziner und Philosophen, Biologen und

Theologen, Bischöfe und Verfassungsrichter beteiligt.

Wenn von der Renaissance der Apokalyptik in der biomedizinethischen Debatte im

Weiteren die Rede ist, so bezeichnet der Begriff „Apokalyptik“ das, was der französische

Soziologe J. Baudrillard den „Subtext“ oder den „Geist“ genannt hat, den bestimmte

biotechnische Praktiken wie etwa das Klonen widerspiegeln bzw. induzieren3. Dieser findet

seinen Niederschlag in den Argumentationsgängen des biomedizinethischen Diskurses. Was

den konkreten Be-griffsgebrauch betrifft, so wird ein bestimmter, vielfach wiederkehrender

Argumentationstyp, der im Folgenden herausgearbeitet werden soll, als „apokalyptisch“

rubriziert.

1 U.H.J. KÖRTNER, Weltende. Zur theologischen Herausforderung apokalyptischen Denkens im Zeichen globaler Bedrohung, EvErz 45 (1993), (286-300) 295. 2 Zur Geschichte der „Bioethik“ und der Darstellung ihrer grundlegenden Theorieansätze vgl. J.S. ACH / CHR. RUNTENBERG, Bioethik. Disziplin und Diskurs. Zur Selbstaufklärung angewandter Ethik, Kultur der Medizin. Geschichte – Theorie – Ethik Bd. 4, hg. v. A. Frewer, Frankfurt a.M. 2002; M. DÜWELL / K. STEIGLEDER (Hg.), Bioethik. Eine Einführung, stw 1597, Frankfurt a.M. 2003; CHR. REHMANN-SUTTER, Art. Bioethik, Handbuch Ethik, hg. v. M. Düwell u.a., Stuttgart / Weimar 2002, 247-252. 3 Vgl. z.B. J. BAUDRILLARD, Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene, Berlin 1992, 131-142; ders., Vom zeremoniellen zum geklonten Körper: Der Einbruch des Obszönen, in: D. Kamper / Chr. Wulf (Hg.), Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt a.M. 1982, (350-362) bes. 354-359.

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Der Begriff „Apokalyptik“ wird also hier in einem weiten Sinne zur Bezeichnung jenes

Gesamtphänomens einer geistigen Strömung gebraucht, das verschiedene

Erscheinungsweisen zeitigt – von der frühjüdischen und urchristlichen Apokalyptik

angefangen, bis hin zu den beschnittenen, „kupierten“4 oder „nackten Apokalypsen“5 der

Gegenwart, die im biomedizinethischen Diskurs neue Urstände feiern. Eine „harte“

Ausgangsdefinition mit einem strengen Kriterienkatalog wird damit bewusst nicht geliefert.

Gleichwohl kehren bestimmte Merkmale wieder, die bis zu einem gewissen Grad eine

Gegenprüfung erlauben. Dieser vage anmutende Definitionsversuch hat den Vorteil, dass er es

erlaubt, bestimmte Erscheinungsweisen der „Apokalyptik“, wie sie etwa im

biomedizinethischen Diskurs unserer Tage ansichtig werden, auf die Ursprünge des

Phänomens zurückzubeziehen, um inhaltliche Verschiebungen innerhalb der Tradition

kenntlich zu machen.

Indem der biomedizinethische Diskurs in einem apokalyptischen Deutungsrahmen

erscheint, ist es möglich, die Renaissance der Apokalyptik in der biomedizinethischen Debatte

im Lichte des kritischen Potentials der urchristlichen, insbesondere der paulinischen

Apokalyptik zu sehen. Insofern wird dem Desiderat von Chr. Frey und M. Wolter Folge

geleistet, welche fordern:

„Wenn apokalyptische Stimmungen und Visionen Konjunktur haben, muß zumindest im kirchlichen

Binnenraum sowie im Religionsunterricht die Frage gestellt werden, ob sie durch diejenigen biblischen (und

außerbiblischen) Traditionen zu legitimieren sind, auf die sich der im 19. Jahrhundert geprägte Begriff der

Apokalyptik im strengen Sinn bezieht.“6

Mir kommt es darauf an, die verschiedenen „bioapokalyptischen“ Argumentationstypen

bzw. Denkmuster zu beschreiben und fernerhin zu zeigen, inwiefern sie inhaltlich gerade

4 Den Begriff der „kupierten Apokalypse“ hat K. VONDUNG, Inversion der Geschichte. Zur Struktur des apokalyptischen Geschichtsdenkens, in: D. Kamper / Chr. Wulf (Hg.), Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt a.M. 1987, (600-624) 615, geprägt. Nach O. BRIESE, Einstimmung auf den Untergang. Zum Stellenwert „kupierter“ Apokalypsen im gegenwärtigen geschichtsphilosophischen Diskurs, AZP 20 (1995), (145-156) 145, dominieren „kupierte“ Apokalypsen den gegenwärtigen geschichtsphilosophischen Diskurs und zeugen vom Zerbrechen des einstigen Grundschemas der Dialektik von Untergang und Erneuerung: „Die Umkehrstruktur von Apokalypsen – Katastrophe und Rettung wird um den zweiten Teil beschnitten: Die Katastrophe ist die Katastrophe. Sie stellt sich nicht um möglicher Errettung willen ein – ein Motiv jeder Theodizee oder Anthropodizee –, sondern sie zeitigt unwiderruflich das Ende. Apokalypse ist Finale. Sie ist aber nicht Höhepunkt, sondern Schlußpunkt.“ 5 G. ANDERS, Die atomare Drohung (= 4. Aufl. von „Endzeit und Zeitende“ (1959)), München 1983, 207, identifizierte in den 50er Jahren angesichts der atomaren Bedrohung die „nukleare Apokalypse“, die den Weltuntergang als von Menschen verursachte und gemachte Vernichtung erwarte und als gottlose Apokalypse weder Gericht noch Gnade kenne, als „eine nackte Apokalypse, d.h. die Apokalypse ohne Reich“. Nach Anders ist der im teleologisch orientierten Fortschrittsglauben vorhandene Gedanke des „Reiches ohne Apokalypse“ gegen den Gedanken von der „Apokalypse ohne Reich“ einzutauschen. 6 CHR. FREY / M. WOLTER, Kennwort „Apokalyptik“, GlLern 14 (1999), (11-22) 13.

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nicht mit der urchristlichen Apokalyptik kompatibel sind. Meine These besagt, dass die

profanen, neuzeitlich-säkularisierten Apokalypsen kupierte Apokalypsen sind, deren

entscheidendes Defizit darin besteht, dass sie die biblische Rede von der „neuen Kreatur“

ausblenden und so die Pointe biblischer Apokalyptik umgehen. Gerade darin besteht, aus

binnenkirchlicher Perspektive geurteilt, ihre theologische Illegitimität. Dabei ist allerdings aus

einer solchen Perspektive heraus selbstkritisch der indirekte Beitrag zu beachten, den die

Theologie dazu lieferte, indem sie nämlich besagte Pointe vielfach kaum oder gar nicht

artikulierte und dadurch jenes Vakuum entstehen ließ, das anderweitig gefüllt werden

konnte7.

Die einzelnen Themen und Probleme der Biomedizinethik wie etwa die Frage nach dem

moralischen Status menschlicher Embryonen, nach Präimplantationsdiagnostik (PID),

Reproduktionsmedizin, Klonen, Transplantationsmedizin, Hirntod, Sterbehilfe und

Euthanasie, Humanexperimenten, Gesundheitsökonomie etc. sind emotional stark besetzt8.

Angesichts der Tatsache, dass sie mit zunehmender Dynamik in die verschiedensten

Lebensbereiche unserer Gesellschaft und auch das Leben des Einzelnen eingreifen und dabei

die Frage nach dem Selbstverständnis der Gattung aufwerfen, verwundert dies nicht.

Befürworter und Gegner stehen sich häufig unversöhnt gegenüber, diffamieren einander als

„religiöse Fundamentalisten“, „Technikfeinde“ oder „Erfüllungsgehilfen der Großindustrie“,

die den Körper dank innovativer Methoden als Handelsgut auf dem Markt der Möglichkeiten

anbieten9.

Die biomedizinethischen Debatten, die einst in Fachkreisen begannen, sind längst

„biopolitisch“ in den Parlamenten eskaliert und justitiabel geworden10. Dass die

Kombattanten in naher Zukunft die Liebe zum Kammerton entdecken, steht nicht zu erwarten.

Es macht sich bemerkbar, dass es hierzulande kein dominantes konsensorientiertes Paradigma

gibt, an dem sich die Theoriebildung abarbeitet. Die intensive Debatte ist immer noch stark

vom prinzipienethischen Widerstreit zwischen deontologischen und teleologischen bzw.

konsequentialistischen Ansätzen geprägt11, an denen entlang die Argumentationslinien

verlaufen. Mitunter gerät der Biomedizinethikbegriff selbst unter die sich fundamentalkritisch 7 Darauf macht D.L. MIGLIORE, Faith Seeking Understanding. An Introduction to Christian Theology, Grand Rapids 1991, 235, zu Recht aufmerksam. 8 Vgl. R. ANSELM / U.H.J. KÖRTNER (Hg.), Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung, Göttingen 2003, und dazu: W. SCHOBERTH, Pluralismus und die Freiheit evangelischer Ethik, in: ders. / I. Schoberth (Hg.), Kirche – Ethik – Öffentlichkeit. Christliche Ethik in der Herausforderung. FS H.G. Ulrich, EThD 5, Münster 2002, 249-264. 9 Vgl. P. GEHRING, Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt a.M. 2006. 10 Vgl. CHR. GEYER (Hg.), Biopolitik. Die Positionen, Frankfurt a.M. 2001. 11 Vgl. CHR. FREY, Argumentieren angesichts der Gentechnik. Die Aufgabe der evangelischen Ethik in der gegenwärtigen genethischen Debatte, WzM 54 (2002), 453-468; O. HÖFFE, Medizin ohne Ethik, Frankfurt a.M. 2002, 41ff.

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gerierende Verdächtigung: Als utilitaristisch-biologistisches Theoriedesign diene er allein der

Akzeptanzbeschaffung für moderne Technologien und unterminiere zu diesem Zweck die

geltenden Wertfundamente humanen Zusammenlebens.

Wie pluralistisch und selbstreflexiv ist der biomedizinethische Diskurs tatsächlich

angelegt? Und welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die „Apokalyptik“? Bestätigt

sich etwa hinsichtlich der biomedizinethischen Debatte das ironische Diktum H.M.

Enzensbergers: „Die Apokalypse gehört zu unsrem ideologischen Handgepäck“12?

1.2 Schöne neue Menschenwelt? Der „neue Mensch“ im Spannungsfeld von positiver

und negativer Utopie

Die dynamische Entwicklung der Biotechniken wird bereits seit Jahrzehnten von

Befürwortern wie Gegnern mit Szenarien einer künftigen Gesellschaft „apokalyptisch“

begleitet. Ein Blick in die Kultur- und Literaturgeschichte genügt, um festzustellen, dass die

Geschichte der Utopie vom apokalyptischen Motiv des „neuen Menschen“ durchdrungen ist.

Visionen vom „künstlichen Menschen“ reichen vom Pygmalion-Mythos über die

Homunkulusschilderung in Goethes „Faust II“ bis hinzu zu A. Huxleys zukunftskritischem

Roman „Brave New World“13 (1932). Mit zunehmender technischer Entwicklung werden, so

hat es den Anschein, die Szenarien düsterer. Aus utopischen Paradiesvorstellungen werden

Gegenutopien14.

An die Stelle von F. Bacons unvollendeter, positiver Utopie „Nova Atlantis“, einem

romanhaften Reisebericht, der die Utopie eines vollkommenen Staatswesens entwickelt, das

seine Stabilität den ständig wachsenden Ergebnissen der empirischen Wissenschaften

verdankt, tritt die negative Utopie15. F. Bacon verkündigte vor mehr als 350 Jahren die

Devisen: „Wissen ist Macht“ und „tantum possumus quantum scimus“ („wir können so viel,

wie wir wissen“). Er verknüpfte mit ihnen die Forderung, „die Ursachen und Bewegungen

12 H.M. ENZENSBERGER, Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang, in: ders., Politische Brosamen, Frankfurt a.M. 1985, (225-236) 225. 13 Der Titel enthält eine Anspielung auf W. Shakespeares Theaterstück „The Tempest / Der Sturm“, in welchem die weibliche Hauptfigur Miranda, Tochter des rechtmäßigen Herzogs von Mailand, beim ersten Anblick eines Mannes, der sich später als schlimmster Feind der Familie herausstellen wird, entzückt ausruft: „O schöne neue Welt, die solchen Menschen Wohnung gibt!“ W. SHAKESPEARE, The Tempest / Der Sturm. English / Deutsch, übers. und hg. v. G. Stratmann, Stuttgart 1982, 143 (Akt V, Szene 1). 14 K. MANNHEIM, Ideologie und Utopie, Frankfurt a.M. 1969, 169, kennzeichnet die Utopie als ein über die gegenwärtige Realität hinausstrebendes Denken: „Utopisch ist ein Bewußtsein, das sich mit dem umgebenden ‚Sein’ nicht in Deckung befindet“. 15 M. WINTER, Don Quijote und Frankenstein. Utopie als Utopiekritik: Zur Genese der negativen Utopie, in: W. Voßkamp (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie Bd. 3, Stuttgart 1982, (86-112) 105, unterteilt die utopische Literatur in positive, negative und libertine Utopien: „Die positive Utopie (Typ Morus) zielt auf den Fortschritt der Humanität [...]. Die negative Utopie (Typ Huxley, Orwell) zielt neben ihrer Kritik an der Utopie auf dasselbe [...]. Die libertine Utopie kehrt das humane Telos der positiven und negativen Utopie in ein antihumanes um“.

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sowie die verborgenen Kräfte in der Natur zu ergründen und die Grenzen der menschlichen

Macht soweit wie möglich zu erweitern“16. Seine positive Utopie wich in dem Moment, in

dem seine Utopie der Herstellung von Pflanzen und Tierarten durch „künstliche Mittel“, d.h.

synthetische Biologie, dank der heutigen Molekulargenetik tatsächlich Wirklichkeit wurde,

jenen literarischen Antiutopien des 20. Jahrhunderts, die die Vorstellung von jener „schönen

neuen Welt“ parodierten bzw. zur Satire werden ließen.

Huxleys gleichnamiger Roman entfaltet das Gegenmodell einer „negativen Utopie“ oder

„Antiutopie“ zu Bacons Wunschtraum17: Menschliche Wesen werden nicht mehr geboren,

sondern in Reagenzgläsern – in Huxleys Roman mittels des auf dem Prinzip der Knospung

basierenden „Bokanowsky-Verfahrens“18 – gezüchtet. Wissenschaft und Technik,

repräsentiert durch den BUND („Brut- und Normenzentralen-Direktor“) und seine Studenten,

sorgen dafür, dass die Embryonen genau jene körperlichen und geistigen Eigenschaften

erhalten, die ihre vorherbestimmte Rolle im späteren Leben verlangt. Missbildungen können

lediglich durch Fehler oder Irrtümer der Labortechniker entstehen. Krankheiten gibt es nicht

mehr. Männer und Frauen behalten ihre Jugendlichkeit; das Gefühl von Glück und

Zufriedenheit ist ihnen angezüchtet.

Ähnlich verhält sich „Der synthetische Mensch“19 in dem bekannten Gedicht Erich

Kästners, das ebenfalls als negative Utopie gelten kann. Der synthetische Mensch wird als

Fertigartikel aus der Menschenfabrik des Professor Bumke beschrieben. Das „Gute“ an ihm

ist nach Auskunft desselben, dass der synthetische Mensch fix und fertig zur Welt komme,

immer konstant sei und sich nicht erst entwickeln müsse. Phantasie und Kreativität sind nach

Kästners ironisch-satirischer Zukunftsvision ebenso wenig wie nach derjenigen Huxleys

gefragt. Die Ideologie des Bumke’schen Geburtsinstituts wie der „Brut- und Normzentrale

Berlin-Dahlem“ pointiert der Wahlspruch des „neuen Weltstaates“, der im Befruchtungsraum

des BUND im Entstehen begriffen ist: „Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit“.

Rezeptionsästhetisch geurteilt, rücken Huxleys und Kästners Negativ-Utopien die

modernen biomedizinischen Techniken in eine kritische Perspektive. Sie bilden gleichsam

den apokalyptischen Deutungsrahmen um die Fragen herum, die durch die zeitgenössische

Lektüre bei Leserinnen und Lesern evoziert werden: Haben die Zukunftsvisionen Huxleys

und Kästners nicht schon längst konkrete Gestalt angenommen? Geschah nicht genau dies auf

16 F. BACON, Neu-Atlantis. Ins Deutsche übertr. v. G. Gerber und mit Anm. versehen v. F.A. Kogan-Bernstein, Berlin 1959, 89. 17 Vgl. U.H.J. KÖRTNER, Weltangst und Weltende. Eine theologische Interpretation der Apokalyptik, Göttingen 1988, 280; B. BENDER-JUNKER, Art. Utopie, 3EKL 4 (1996), (1086-1090) 1088. 18 Vgl. A. HUXLEY, Schöne Neue Welt, Frankfurt a.M. 1974, 17-21. 19 E. KÄSTNER, Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke, Stuttgart / München 2000, 59-61.

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dem Feld der neuen biomedizinischen Technologien, wenn man beispielsweise an

Genmanipulation oder das Klonen von Duplikaten denkt? Entsprechen nicht die aktuellen

biomedizinischen Entwicklungen, von denen die Tageszeitungen berichten, exakt den

Schilderungen Kästners und Huxleys? Müssen ihre bissigen Beschreibungen der technischen

Neuschaffung des zur Massenproduktion verkommenden und in Serie gehenden Menschen

nicht geradezu als „prophetisch“ erachtet werden?

Der Roman Huxleys und das Gedicht Kästners verfolgen zweifelsohne die Absicht, eine

Welt zu kritisieren, in der der Mensch zum „Experimentierfeld“ wird. In beiden Werken tritt

paradigmatisch die Funktion der negativen Utopie in Erscheinung: Mit dem visionären Blick

in die Zukunft soll nicht etwa wie im Fall der sog. positiven Utopien das „Utopia“ des

Thomas Morus ein Traum bzw. ein erdachtes Land, wo ein gesellschaftlicher Idealzustand

herrscht, prospektiv in den Blick gefasst werden, um die Richtung gesellschaftlicher

Veränderungen anzugeben und Aufbruchsstimmung motivational zu erzeugen. Die negative

Utopie20 entwirft ein Horrorszenario, um gesellschaftliche Tendenzen zu kritisieren und vor

Gefährdungen zu warnen21.

Genau dies findet sich in den beiden negativen Utopien Huxleys und Kästners wieder, die

auf die Potentialität und Aktualität der mit der (bio-)technischen Machbarkeit und Planbarkeit

des Menschen einhergehenden Gefahren hinweisen. Sie zielen dabei auf Umkehr ab und

lassen sich intentional insofern als Negativ-Teleologie verstehen. Anders als die positive

Utopie besagt die negative Utopie nämlich nicht: „Da wollen wir hin. Lasst uns dahin

aufbrechen!“, sondern: „Da wollen und dürfen wir auf keinen Fall hinkommen. Deshalb lasst

uns umkehren!“ Nicht „eine Antizipation des durch das Handeln zu verwirklichenden

Zustandes“22 wird intendiert, sondern die Antizipation des durch das Handeln zu

vermeidenden Zustandes. Denn die negative Utopie entfaltet nicht den „Traum von der

‚wahren’ und gerechten Lebensordnung“23, sondern vielmehr einen Alptraum. Dieser

Alptraum hat apokalyptische Züge. Als apokalyptisch sind diese Züge freilich im Sinne eines

säkularen Gebrauchs des Begriffs „Apokalyptik“ zu qualifizieren, der dazu tendiert, den

Begriff der „Apokalyptik“ zum Synonym und zu einer Art „Passepartout“ für alles

Katastrophische werden zu lassen. 20 U.H.J. KÖRTNER, Weltangst, 279f., konstatiert: „Die negative oder Anti-Utopie meint [...] nicht einen fortschrittsgläubigen naiven Utopismus, der Gegenstand konservativer Utopiekritik sein könnte, vielmehr eine Literaturform, die mit den Spielregeln der Utopie deren Intentionen und Hoffnungen in ihr Gegenteil verkehrt. Eher schon ließe sich umgekehrt sagen, daß die Anti-Utopie eine Utopiekritik mit Mitteln der Utopie darstellt, formal betrachtet aber eine ‚Unterart der Utopie’ bildet.“ 21 Vgl. F. KUSTER, Art. Utopie / Utopisten I. Philosophisch, TRE 34 (2002), (464-473) 471. 22 G. PICHT, Zukunft und Utopie. Vorlesungen und Schriften, hg. v. C. Eisenbart, Stuttgart 1992, 10. 23 M. HORKHEIMER, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie (1930), in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 2: Philosophische Frühschriften 1922-1932, hg. v. G. Schmid Noerr, Frankfurt a.M. 1987, (177-268) 179f.

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1.3 Der südkoreanische „Klon-Erfolg“. Zur bioapokalyptischen Beschreibung einer

manipulierten biomedizinischen Innovation

Im Sinne dieses Gebrauchs wird der Begriff Apokalyptik im gegenwärtigen

biomedizinethischen Diskurs von manchem Diskursteilnehmer sogar explizit verwandt. Der

Journalist C. Amery (1922-2005) beispielsweise bezeichnete sich selbst als einen „Warner“,

der „das undankbare Kassandrageschäft, die Beschwörung der Apokalypse“24 betreibe. Der

Molekularbiologe E. Chargaff (1905-2002), der im Jahr 1951 die „Komplementarität“ der

Nukleotidbasen entdeckte und damit die Grundlage für die „Grammatik der Biologie“ legte,

welche J. Watson und F. Crick im Jahr 1953 die Präsentation des Strukturmodells der DNS

ermöglichte, etikettiert sich in ähnlicher Weise als einen „ungehörten Propheten“. Nach

seinem „prophetischen“ Urteil handelt es sich bei den Eingriffen in Grundsteine des Lebens,

nämlich die Erbanlagen – insbesondere ins Genom der Keimzellen –, um einen zweiten

Sündenfall der Naturwissenschaft. Seine suggestive Frage: „Bin ich wirklich der einzige

Naturwissenschaftler, der ein Beben unter dem Boden spürt?“, verrät unzweifelhaft ein

apokalyptisches Pathos spätprophetischer Provenienz. Die Beispiele apokalyptischer

Selbststilisierung ließen sich leicht vermehren.

Daneben manifestiert sich das Bemühen apokalyptischen Gedankenguts in den

verschiedensten Beschreibungen biomedizinischer Innovationen. Als etwa „Der Spiegel“ im

Frühjahr 2004 über den „Klon-Erfolg“ südkoreanischer Wissenschaftler berichtete, der sich

einige Monate später, im Dezember 2005, als Fälschung erweisen sollte, titelte das

Hamburger Nachrichtenmagazin mit einem Zitat des Physiologen und Kölner Forschers an

embryonalen Stammzellen J. Hescheler, der den „Durchbruch“ beim therapeutischen Klonen

mit der Bemerkung kommentierte: „Da explodiert gerade etwas.“25

Während J. Hescheler als vehementer Befürworter der verbrauchenden

Embryonenforschung, bei der im Unterschied zur Forschung an adulten Stammzellen sog.

„überzählige“ Embryonen für die Stammzellengewinnung getötet werden müssen, diese

Explosion als „Durchbruch“ feierte, wiegelten andere, etwa der Hirnforscher O. Wiestler, der

ebenfalls mit importierten embryonalen Stammzellen arbeitet, ab: „Eine Dramatik oder gar

einen Durchbruch kann ich da überhaupt nicht erkennen. Mit dieser Entwicklung musste man

rechnen.“26 O. Wiestler wies darauf hin, dass durch die koreanische Gewinnung von

24 C. AMERY, Vom Ende der Natur: Aktuelle apokalyptische Visionen, in: G. Fuchs (Hg.), Mensch und Natur. Auf der Suche nach der verlorenen Einheit, Frankfurt a.M. 1989, (31-50) 39. 25 Der Spiegel 8/2004, 120f. 26 Interview „Teure Irrwege. Otmar Wiestler zur Bedeutung der Klon-Embryos für die Forschung“, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 37 vom 14./15.02.2004, 11.

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Spenderzellen für die Zellverpflanzung, d.h. die Züchtung embryonaler Stammzellen, die den

geklonten Embryonen entnommen wurden, kein wesentliches Ergebnis erzielt worden sei, da

die Steuerung des genetischen Programms der so gewonnenen Zellen defekt sei. Dies stelle

auch die Ursache dafür dar, warum von den koreanischen Forschern 242 Ausgangszellen und

30 erhaltene Blastozyten zur Gewinnung von lediglich einer einzigen Zell-Linie verbraucht

worden seien: „Medizinisch ist es völlig inakzeptabel, eine Zelle mit gestörtem Erbprogramm

zu verpflanzen.“27

Wiederum andere Zeitgenossen konnten sich zwar der apokalyptischen Qualifikation J.

Heschelers anschließen, beurteilten die vermeintliche „Explosion“ aber keineswegs im

positiven Sinne als Durchbruch, sondern – wie etwa der Mediziner und Sprecher der SPD in

der parlamentarischen Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ W.

Wodarg – negativ als einen historisch analogielosen Tabubruch: „Erstmals in der Geschichte

der Menschheit wird damit menschliches Leben bewusst zum Zweck des Verbrauchs und der

Vernutzung erzeugt. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass diese Ergebnisse

ausgerechnet am 200. Todestag Immanuel Kants publiziert wurden, der durch seine praktische

Philosophie den Grundstein des modernen Menschenwürde-Gedankens gelegt hat.“28

W. Wodarg konnte dem Hinweis, dass es sich bei dem koreanischen „Klon-Erfolg“ um

therapeutisches und nicht reproduktives Klonen handle, hinsichtlich der Legitimation

besagten Verfahrens keine ethische Plausibilität abgewinnen:

„Die Idee zwischen Klonen und Klonen zu unterscheiden, erweist sich aber gerade mit den

Forschungsergebnissen aus dem Fernen Osten einmal mehr als trügerisch. Die südkoreanischen Wissenschaftler

haben die präzise Anleitung dafür geliefert, wie man menschliche Embryonen klont. Sie einer Frau zu

implantieren und heranwachsen zu lassen, ist nun die leichteste Übung. Ein Bann, der nur das ‚reproduktive’,

nicht aber das ‚therapeutische’ Klonen trifft, ist kein Verbot, einen geklonten Embryo zu implantieren und

heranwachsen zu lassen. Da die Implantation für den Embryo die einzige Überlebenschance ist, wäre ein

halbiertes Klonverbot nichts anderes als die Anweisung, geklonte Embryonen zu vernichten.“29

Die Forderung einer einseitigen internationalen Ächtung des reproduktiven Klonens

überzeugte W. Wodarg ebenso wenig wie der Hinweis der südkoreanischen Forscher, ihr Ziel

sei es nie gewesen, Babys zu klonen30, sondern die Ursachen von Krankheiten zu verstehen,

27 Ebd. 28 W. WODARG, Die koreanische Lüge. Was die Klon-Forscher verschweigen, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 37 vom 14./15.02.2004, 11. 29 Ebd. 30 Vgl. H. WORMER, „Unser Ziel ist es nicht, Babys zu klonen“, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 37 vom 14./15.02.2004, 5.

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da auch beim „Forschungsklonen“ von Embryonen zu therapeutischen Anwendungszwecken

de facto genetisch identische Menschen hergestellt würden:

„Ohnehin ist die Abgrenzung des ‚reproduktiven’ gegen das ‚therapeutische Klonen’ ideologisch schon

höchst aufgeladen. Denn was geschieht beim sogenannten ‚therapeutischen Klonen’? Da wird ein Embryo – ein

Mensch in der frühsten Phase seiner Existenz – geschaffen, um ihn zu Forschungs- oder Therapiezwecken sofort

wieder zu vernichten. Wird dabei etwa kein Mensch ‚reproduziert’?“31

In dem dargestellten Argumentationsgang wird der „bioapokalyptische“ Argumentationstyp

der Gegner bestimmter biomedizinischer Praktiken m.E. hinreichend transparent: Weil de

facto beim Versuch therapeutischen Klonens verbrauchende Stammzellenforschung und

damit die Vernichtung menschlichen Lebens – nämlich der geklonten Embryonen nach

Entnahme der Stammzellen – vollzogen werde, könne die Artikulation der Inakzeptanz bzw.

strikten Ablehnung eines solchen moralisch verwerflichen Verfahrens nur zum äußersten

Ausdrucksmittel greifen. Denn wo es, wie beim therapeutischen Klonen, um die Freigabe von

Tausenden von Embryonen zur Tötung gehe, da sei sprachlich zwar nicht jedes, aber doch

zumindest das Mittel des Rekurses auf die Äonenwende recht.

Kennzeichnend für die Apokalyptik im Sinne einer weltanschaulich-theologischen

Geistesströmung ist u.a. die Botschaft vom Ende des jetzigen Äons. Genau auf dieses Ende

rekurrieren vielfach verschiedene Gegner bestimmter biotechnischer Anwendungen und

Verfahren wie beispielsweise des therapeutischen Klonens und/oder der verbrauchenden

Stammzellforschung. Befürchtet wird, dass sich durch die Vernichtung menschlichen Lebens

jene kosmische Katastrophe ereignet, die den Zeitpunkt des Weltendes bedeutet. Das

Weltende in Ge-stalt der Vernichtung menschlichen Lebens beschreibt gleichsam den

moralischen Tod der Spezies bzw. des Gattungswesens „Mensch“, also gleichsam den ethisch

eindeutigen Supergau.

Die für die Apokalyptik typische Kontrastierung von gegenwärtigem und neuem Äon

schlägt sich auch in der bewussten Stilisierung des schroffen Gegensatzes von „natürlichem“

und „biotechnischem“ Zeitalter nieder: Die jetzige Zeit sei die „Wendezeit“, in welcher sich

der endgültige „Verlust“ von Humanität bzw. ihrer disparaten Relikte ereigne oder eben nicht.

Die Alternative zwischen positiver und negativer Eugenik32, biologischer Selektion und

natürlicher Auslese, Zeugung in vivo und in vitro etc. stehe für die Menschheit am 31 W. WODARG, a.a.O., 11. 32 Vgl. zur Differenz zwischen positiver und negativer Eugenik H. JONAS, Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a.M. 1985, 175ff.

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Scheideweg mit der Einführung besagter Biotechnologien auf dem Spiel. Denn mit dem alles

entscheidenden nächsten Schritt könne der Weg in die irreversible Katastrophe angetreten und

diese somit real werden, wenn man sie nicht durch gegenläufige rechtliche Regelungen wie

etwa ein sofortiges weltweites Klonverbot verhindere.

1.4 Dammbruch, Rubikon, schiefe Ebene. Die „bioapokalyptische“ Metaphorik

Immer wieder tauchen in diesem apokalyptischen Argumentationszusammenhang die

Metaphern vom „Dammbruch“, vom „Überschreiten des Rubikons“ oder auch das Argument

der schiefen Ebene („slippery slope“33) auf. Diesbezüglich kann als Beleg auf ein prominentes

Beispiel verwiesen werden, nämlich die sog. Berliner Rede des verstorbenen

Bundespräsidenten Johannes Rau (1931-2006) vom 18.05.2001. Im letzten Abschnitt seiner

Rede „Wird alles gut? – Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß“ formuliert J. Rau sein

vielbeachtetes Plädoyer für „Aufklärung“ in der gegenwärtigen biomedizinethischen Debatte:

„Wir brauchen Aufklärung im besten Sinn des Wortes. Aufklärung richtet sich gleichermaßen

gegen irrationale Ängste und apokalyptische Vorstellungen wie gegen pure technische

Machbarkeits-phantasien“34.

Obwohl J. Rau sich hier zweifelsfrei apokalyptik-kritisch äußert, schlägt sich in seinem

Plädoyer für einen durch das „menschliche Maß“ begrenzten Fortschritt, der die als Ergebnis

aufgeklärten Denkens und Handelns installierten Tabus anerkennt, interessanterweise ein

auffälliger Gebrauch apokalyptischer Metaphorik nieder. So bemerkt J. Rau mit Blick auf das

den Raum des wissenschaftlichen Fortschritts markierende Tabu: „Es gibt viel Raum diesseits

des Rubikon“35. Mehrfach gebraucht er auch das Argument der schiefen Ebene: „Wer einmal

anfängt, menschliches Leben zu instrumentalisieren, wer anfängt zwischen lebenswert und

lebensunwert zu unterscheiden, der ist in Wirklichkeit auf einer Bahn ohne Halt.“36

Auch hinsichtlich der umstrittenen Frage nach aktiver Sterbehilfe macht J. Rau gegenüber

dem Argument, „man dürfe etwas nicht allein deshalb verbieten, weil es zu ungewollten

schlimmen Konsequenzen oder auf eine schiefe Bahn führen könne“37, die Notwendigkeit

einer Fehlentwicklungsprävention durch entsprechende Regelungen geltend. Und mit Blick

auf die wachsende Zahl der Befürworter eines reglementierten Einsatzes der 33 Vgl. zum Slippery-Slope-Argument, wonach auf die Praxis oder die Entscheidung A zwangsläufig das fragwürdige B folgt, M. ZIMMERMANN-ACKLIN, Euthanasie. Eine theologisch-ethische Untersuchung, SThE 79, Freiburg i.Br. u.a. 1997, 351-417; G. DEN HARTOGH, The Slippery Slope Argument, in: H. Kuhse / P. Singer (Hg.), A Companion to Bioethics, Oxford / Malden 1998, 280-292. 34 J. RAU, Wird alles gut? – Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß, in: S. Graumann (Hg.), Die Genkontroverse. Grundpositionen, Herder spektrum 5224, Freiburg i.Br. u.a. 2001, (14-29) 29. 35 A.a.O., 18. 36 A.a.O., 26. 37 A.a.O., 24.

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Präimplantationsdiagnostik (PID), d.h. der genetischen Untersuchung künstlich befruchteter

Embryonen vor Einpflanzung in den Mutterleib, fragt J. Rau kritisch an:

„Wäre eine solche Beschränkung einzuhalten, wenn die Erlaubnis einmal grundsätzlich gegeben ist?

Widerspricht das nicht aller Lebenserfahrung? Und muss man deshalb nicht die Befürchtungen jener verstehen,

die glauben, dass mit dieser neuen Form der Diagnostik die Tür geöffnet wird oder geöffnet werden soll zu ganz

anderen Zielen?“38

Bereits zu Beginn der Rede eingeführt39, steht J.W. Goethes „Zauberlehrling“ im Duktus

des Argumentationsgangs Pate für die „apokalyptische“ Denkungsart. Das Beispiel der

Berliner Rede J. Raus veranschaulicht somit: Wenn vom „Dammbruch“ oder vom

„Überschreiten des Rubikons“ gesprochen oder auch das Argument der schiefen Ebene

bemüht wird, dann geht es um mehr als lediglich jene Kritik, die sich auf die langfristigen

negativen Folgen eines bestimmten Handelns beruft und etwa auf der Grundlage einer

kulturpessimistischen Epochendiagnose eine gleichsam schleichende Unterminierung des

Respekts vor menschlichem Leben zu bedenken gibt. Der Einwand gegen bestimmte

biomedizinische Praktiken, der sich in diesem Metapherngebrauch manifestiert, rekurriert

vielmehr auf ein apokalyptisches Paradigma, um jenes apokalyptische Finalbewusstsein zu

wecken, das als Widerstandsgeist gegenüber besagten Innovationen moralisch Front macht.

Wenn man etwa in Bezug auf das therapeutische Klonen apokalyptische Qualifikationen

gebraucht, dann wird dieser Schritt als der alles entscheidende Schritt in die

Unkalkulierbarkeit von Folgehandlungen charakterisiert40.

Um nicht missverstanden zu werden: Mir geht es hier weder um eine despektierliche

Beurteilung der aufgeführten Positionen unter dem Kennzeichen „Apokalyptik“, noch um

eine Abwürdigung des gesamten Phänomens „profane Apokalyptik“, so als wäre mit dieser

Kennzeichnung bereits ein qualifiziertes Urteil über diesen Argumentationstyp gefällt bzw.

eine ernste inhaltliche Auseinandersetzung hinsichtlich der Wertigkeit seiner Argumente

38 A.a.O., 22. 39 Vgl. a.a.O., 14. 40 Für diese Argumentationsstrategie ist kennzeichnend, „dass sie aus einer einmal getroffenen Entscheidung eine unausweichliche Konsequenz weiteren Verhaltens ableite[t]. Die ethischen Deichwärter argumentieren auf die Zukunft bezogen. Aus einer ‚Heuristik der Furcht’ entwickeln sie ihren syllogismus practicus, der vom Überschreiten einer bestimmten Grenze auf eine nicht mehr aufzuhaltende Entwicklung hin zu moralisch fragwürdigen Praktiken schließt. Man unterstellt dabei, dass sich ein technisches Verfahren oder eine rechtliche Regelung in einer Weise verselbständigt, dass die Unterscheidungs- und Wahlmöglichkeiten zwischen legitimer und illegitimer Anwendung nicht mehr gegeben ist.“ P. DABROCK / L. KLINNERT, Würde für verwaiste Embryonen? Ein Beitrag zur ethischen Debatte um embryonale Stammzellen, Medizinethische Materialien 130, Bochum 2001, 6f.

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erfolgt. Wenn hier der ethisch signifikante Begriff der „Apokalyptik“ als Deutungsrahmen für

die biomedizinethische Debatte gebraucht wird, so handelt es sich zunächst um eine „rein“

deskriptive Erörterung eines bestimmten Argumentationstypus, der in der aktuellen

biomedizinethischen Debatte häufig wiederkehrt. Im Zuge der Sichtung bzw. Erfassung des

profanapokalyptischen Phänomens innerhalb der biomedizinethischen Debatte zeichnet sich

dabei folgender Befund ab: Der bioapokalyptische Argumentationstyp wird interessanter

Weise nicht nur von den Gegnern umstrittener Biotechniken (wie etwa der PID, des

therapeutischen Klonens oder der Entwicklung von Heilverfahren mittels Zellkulturen aus

embryonalen Stammzellen) bemüht, sondern cum grano salis auch und gerade von

entschiedenen Befürwortern.

So hat der ehemalige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, der Biologe H. Markl, am

Ende seiner Ansprache „Freiheit, Verantwortung, Menschenwürde: Warum

Lebenswissenschaften mehr sind als Biologie“ auf der Hauptversammlung besagter

Gesellschaft am 22. Juni 2002 auf J. Raus Berliner Rede und dessen Rekurs auf die

apokalyptische Metapher vom „Überschreiten des Rubikons“ repliziert:

„Der Rubikon ist kein Fluß, jenseits dessen das Böse lauert; denn das Böse ist, wenn schon, dann längst

immer mitten unter uns. Der Rubikon ist vielmehr ein Fluß, dem der Mensch selbst ein neues Flußbett bahnt,

weil er das Vertraute vom Unverschlossenen trennt, und den wir deshalb nur wohlbedacht und mit

Verantwortung für unser Handeln überschreiten sollten. Aber wir sollten auch nicht vergessen: Rom liegt auch

künftig jenseits des Rubikon, und Cäsar hat ihn erfolgreich überschritten. Denn der Mensch ist seit jeher ein

Wesen, das seine Grenzen überschreiten muß, um ganz Mensch zu sein, und das sich dabei dennoch immer neue

Grenzen setzen muß.“41

Wenn Befürworter umstrittener Biotechnologien wie H. Markl unter Berufung auf die

Gewissensfreiheit des Einzelnen (als Signatur der Menschenwürde) und die

Forschungsfreiheit der Wissenschaft ihr individualethisches Plädoyer formulieren und dabei

auf apokalyptische Motivik bzw. Metaphorik zurückgreifen, so vollzieht sich dabei eine

entscheidende Modifikation des dargestellten apokalyptischen Argumentationstyps: Aus der

kupierten Apokalyptik der Befürworter wird gleichsam eine positive Utopie. Das Land

jenseits des Rubikons ist nun nicht mehr im Sinne einer negativen Utopie der Ort der

Katastrophe und des selbstverhängten Endgerichts, sondern der Ort der messianischen

Erfüllung, sprich: der Ankunft des Erlösers.

41 H. MARKL, Schöner neuer Mensch?, München / Zürich 2002, 59f.

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Auch die Befürworter arbeiten dabei zweifelsohne als „Apokalyptiker“ mit dem Dualismus

von altem und neuem Äon. Gleichwohl vollzieht sich die Schilderung des schroffen

Gegensatzes unter umgekehrten Vorzeichen. Idealtypisch dargestellt: Während die jetzige

Zeit die Zeit der biotechnischen Entbehrungen, des Leidens, der Drangsal und des Wartens

auf die Therapiemöglichkeiten für Alzheimer, Diabetes, Parkinson etc. ist, stellt sich der

kommende Äon als Zeit der Überwindung dar. Mit Blick auf den progressiven Impetus dieser

positiven Utopie fungiert anders als in der biblischen Apokalyptik nicht Gott, sondern der

Mensch oder genauer der Biotechniker als Agens der Zeitenwende.

Wie bereits in den expressionistischen Schilderungen des beginnenden 20. Jahrhunderts,

während der „Krisenjahre der klassischen Moderne“ (D. Peukert), so schlägt sich auch hier

die Neigung zur Selbstapotheose des Menschen nieder: „Sein ist die Kraft, das Regiment der

Sterne. / Er hält die Welt, wie eine Nuß in Fäusten“42. Bis ins Titanische gesteigert, erhielt

damals bereits die Idee des „neuen Menschen“ in appellativer Form ihre plakative

Zuspitzung: „Zerbricht das Ungerechte aller Schöpfung, / Und alle Dinge werden Gott und

eins“43. Oder mit dem jungen E. Bloch gesprochen: „Ich selbst bin aber, um zu schaffen.“44 In

die Gegenwart übertragen, können so die Biotechniker als Avantgard der fundamentalen

Erneuerung von Menschheit und Gesellschaft erscheinen.

1.5 Die Sloterdijk-Debatte

Dass es sich bei dem apokalyptischen Pathos nicht um „oratorischen Leerlauf“ handelt,

sondern zumindest partiell um intensives Engagement, wird an bestimmten Konstellationen

des philosophischen Diskurses deutlich. Während etwa der jüdische Philosoph H. Jonas

(1903-1993) von einer „Heuristik der Furcht“45 zum Gegenschlag eines neuen kategorischen

Imperativs für die Menschheit angetrieben wurde46, bemüht der Karlsruher Philosoph P.

42 So F. WERFEL in seinem Gedicht „Der gute Mensch“. Zit. nach K. Pinthus (Hg.), Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus, Hamburg 1959, 275. 43 Ebd. Vgl. auch G. LANDAUER, Aufruf zum Sozialismus, hg. v. H.-J. Heydorn, Frankfurt a.M. 1967, 66f.: Die „Menschheit“ „will sich schaffen“, in einer geschichtlichen Situation, „wo gewaltige Erneuerung über das Menschentum kommen muß, wenn nicht der Beginn der Menschheit ihr Ende sein soll“. 44 E. BLOCH, Geist der Utopie (1923), Frankfurt a.M. 1973, 210. 45 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M. 1979, 63. 46 H. JONAS, Prinzip, 36, entwirft einen neuen kategorischen Imperativ gesamtmenschheitlicher Verantwortung: „‚Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden’; oder negativ ausgedrückt: ‚Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens’; oder einfach: ‚Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit auf Erden’; oder, wieder positiv gewendet: ‚Schließe in deine gegenwärtige Wahl die zukünftige Integrität des Menschen als Mit-Gegenstand deines Wollens ein’.“ Den Hintergrund von H. Jonas’ neuem kategorischen Imperativ bildet die apokalyptische Überzeugung, dass „[d]ie moderne Technik [...] Handlungen von so neuer Größenordnung, mit so neuartigen Objekten und so neuartigen Folgen eingeführt [hat], daß der Rahmen früherer Ethik sie nicht fassen kann.“ A.a.O., 26.

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Sloterdijk jenen anderen säkularapokalyptischen Argumentationstyp, der statt der Warnung

vor dem das Weltende bedeutenden neuen Äon die Grenzüberschreitung propagiert. In seiner

umstrittenen Elmauer Rede „Regeln für den Menschenpark“, die den Ausgangspunkt für die

sog. „Sloterdijk-Debatte“47 bildete, wird dies anschaulich.

Da der abendländische Humanismus als vergeblicher Versuch der Selbstzähmung des

„nicht festgestellten Tieres Mensch“ gescheitert sei, plädiert Sloterdijk – M. Heidegger, F.

Nietzsche und Platon bemühend – angesichts der neuen Biotechnologie für Selbstzüchtung

statt Selbstzähmung. An die Stelle des alten Menschenbildes soll ein neuer „Codex der

Anthropotechniken“48, an die Stelle des alten Menschen ein neuer Übermensch, ein „Über-

Humanist“49, treten: „Da bloße Weigerungen oder Demissionen an ihrer Sterilität zu scheitern

pflegen, wird es in Zukunft wohl darauf ankommen, das Spiel aktiv aufzugreifen und einen

Codex der Anthropotechniken zu formulieren.“50 Der neue Äon wird unter Aufnahme

Heideggerscher Terminologie als die „Lichtung“ des evolutionären Horizontes beschrieben:

„Ob [...] die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der Gattungseigenschaften führen

wird – ob eine künftige Anthropotechnologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung vordringt; ob die

Menschheit gattungsweit eine Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen

Selektion wird vollziehen können – dies sind Fragen, in denen sich, wie auch immer verschwommen und nicht

geheuer, der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt.“51

P. Sloterdijk versteht den neuen Äon der Lichtung des evolutionären Horizontes allerdings

insofern nicht als ein kontingentes Geschehen, als dass er sie als logische Fortsetzung unserer

Zivilisationsgeschichte auffasst52. Im anthropotechnischen Zeitalter werde der Mensch

47 Vgl. H.-U. NENNEN, Philosophie in Echtzeit. Die Sloterdijk-Debatte: Chronologie einer Inszenierung. Über Metaphernabschätzung, die Kunst des Zuschauers und die Pathologie der Diskurse, Würzburg 2003. 48 P. SLOTERDIJK, Das Menschentreibhaus. Stichworte zur historischen und prophetischen Anthropologie. Vier große Vorlesungen, Medien 5, hg. v. C. Pias u.a., Weimar 2001, 12f., bemerkt retrospektiv zum Ausdruck „Anthropotechnik“: „Dieser Terminus wurde jüngst in einer umfangreichen Debatte als Synonym für das Konzept einer zentralisierten, strategisch planenden Humanbiotechnik mißverstanden und mit den Erregungen aufgeladen, die sich in einer quasi religiös motivierten Schlacht um den Menschen melden können. Hingegen steht der Ausdruck Anthropotechnik für ein klar umrissenes Theorem der historischen Anthropologie: nach ihm ist der Mensch von Grund auf ein Produkt und kann daher in den engen Grenzen bisherigen Wissens nur verstanden werden, wenn man seinem Produktionsverfahren analytisch nachgeht [...]. Die menschliche Kondition ist durchwegs Produkt und Resultat“. 49 Vgl. ders., Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt a.M. 1999, 54. 50 A.a.O., 45. 51 A.a.O., 46f. 52 In puncto „Kontinuität“ wird eine Differenz zur Apokalyptik des Judentums ansichtig, zumal nach deren Vorstellung „die alte Welt [...] erst vergehen [muß], bevor die neue Welt Gottes in Erscheinung tritt. Es gibt zwischen beiden keine Kontinuität [...]. In diesem und aus diesem Äon [ist] das Heil nicht zu erwarten“. P. VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter, Berlin / New York 1975, 491.

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unabweislich in die Rolle des Selektors gedrängt53. Eine gentechnische Veränderung des

Menschen sei in Zukunft unumgänglich.

Der neue Äon trägt nach Sloterdijk die Signatur der aktiven und subjektiven Selektion

durch den Menschen54. Sloterdijks Blick streift den neuen Äon, in dem Humanismus

endgültig passé sei und Unrecht und Ungerechtigkeit keinen Skandal mehr darstellten. Seine

Vorausschau in den neuen Äon des „biotechnische[n] Zeitalters“ fördert zu Tage, dass vor uns

ein Weltalter liege, „in dem der Unterschied zwischen Siegern und Verlierern“ wieder mit

„antiker Härte und vorchristlicher Unbarmherzigkeit an den Tag tritt.“55

Am vermeintlichen Ende der Ära des neuzeitlichen Humanismus angelangt, misst

Sloterdijk der Jetztzeit besondere Bedeutung bei, insofern „die nächsten langen Zeitspannen

für die Menschheit Perioden der gattungspolitischen Entscheidungen sein werden.“56 So wie

es für die urchristliche Apokalyptik „trotz aller erfahrbaren und noch bevorstehenden

Katastrophen bereits einen Heilsanbruch in der Gegenwart gibt“57, so fällt auch für Sloterdijk

das Ende (der humanistischen Ära) mit dem Heilsanbruch des biotechnischen Zeitalters

zusammen: „Endgültiges Heil gibt es nicht erst in einer noch fernen oder schon nahen

Zukunft, sondern es bricht bereits in der Gegenwart und mitten in der noch bestehenden Welt

an.“58

Die apokalyptisch qualifizierte Einschätzung der Jetztzeit teilt P. Sloterdijk mit seinem

Antipoden J. Habermas, wenngleich dieser sie – im Unterschied zu Sloterdijk – nicht unter

positivem, sondern unter negativem Vorzeichen sieht59. Habermas urteilt, dass mit der

gentechnischen Manipulation menschlichen Erbgutes das ethische Selbstverständnis der

Gattung auf dem Spiele stehe. Dies veranlasst den bekannten Sozialphilosophen und

Diskurstheoretiker dazu, seine selbstauferlegte „postmetaphysische Enthaltsamkeit“ zu

überwinden, zumal dieselbe dort an ihre Grenzen stoße, wo es um Fragen der Gattungsethik

gehe: „Sobald das ethische Selbstverständnis sprach- und handlungsfähiger Subjekte im

53 Vgl. P. SLOTERDIJK, Regeln, 44. 54 Vgl. a.a.O., 37: „Die Lichtung ist zugleich ein Kampfplatz und ein Ort der Entscheidung und der Selektion.“ 55 P. SLOTERDIJK in den „Tagesthemen” der ARD, zit. nach T. ASSHEUER, Was ist deutsch? Sloterdijk und die geistigen Grundlagen der Republik, „Die Zeit“ vom 30.09.1999. 56 P. SLOTERDIJK, Regeln, 45f. 57 F. HAHN, Frühjüdische und urchristliche Apokalyptik. Eine Einführung, BThSt 36, Neukirchen-Vluyn 1998, 4. 58 A.a.O., 6. 59 H. KRESS, Medizinische Ethik. Kulturelle Grundlagen und ethische Wertkonflikte heutiger Medizin, Stuttgart 2003, 12, kennzeichnet J. Habermas’ Rede von der „liberalen Eugenik“ als Drohgebärde bzw. seine biomedizinethischen Entwurf als „negative Vision“.

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Ganzen auf dem Spiel steht, kann sich die Philosophie inhaltlichen Stellungnahmen nicht

entziehen.“60

Durch die Möglichkeiten der Gentechnik sieht Habermas diese Situation gegeben, in der

ein Mensch für einen anderen irreversible Entscheidungen treffen könne, die dessen

organische Anlagen fundamental betreffen und „die unter freien und gleichen Personen

bestehende Symmetrie der Verantwortung“61 einschränken würden. Anders als Sloterdijk, der

nicht ethisch argumentiert, sondern den Unterschied zwischen gen-technisch Machbarem und

gen-ethisch Gewünschten assoziativ überspielt und damit das „Bedingungsverhältnis

zwischen Moral und Züchtung auf den Kopf stellt“62, urteilt Habermas aus diskursethischer

Perspektive im Blick auf die verbrauchende Embryonenforschung:

„[M]it der Instrumentalisierung des vorpersonalen Lebens [steht] ein gattungsethisches Selbstverständnis auf

dem Spiel, das darüber entscheidet, ob wir uns auch weiterhin als moralisch urteilende und handelnde Wesen

verstehen können. Wo uns zwingende moralische Gründe fehlen, müssen wir uns an den gattungsethischen

Wegweiser halten“63.

1.6 Die Apokalypse des „neuen Menschen“. Das implizite Menschenbild

biomedizinischer Forschung und die Leitbildfunktion der Rede vom „neuen Menschen“

Sloterdijk spielt mit seinen postethischen und posthumanen Gedanken zum

„Menschenpark“ auf ein neues, verbindliches Weltbild an. In ihm kommt – wie Sloterdijks

ungehemmt visionäre Apologetik der Menschenzüchtung verrät – dem Übermenschen

entscheidende Bedeutung zu. Bei aller berechtigten Kritik an Sloterdijks Ausführungen wird

man ihm zugestehen müssen, dass es ihm bis in die Platon extemporierenden, die Aura antiker

und elitärer Erhabenheit verbreitenden Schlusspassagen seiner Elmauer Rede hinein gelingt,

dasjenige kenntlich zu machen, worum es so manchem – wenngleich vielfach auch nur nolens

volens – in der biomedizinethischen Debatte der Gegenwart geht. Es geht, wie Sloterdijk

explizit bemerkt, um „eine Anthropodizee – das heißt eine Bestimmung des Menschen

angesichts seiner biologischen Offenheit und seiner moralischen Ambivalenz.“64

60 J. HABERMAS, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a.M. 42002, 27. 61 A.a.O., 31. 62 So E. TUGENDHAT, Es gibt keine Gene für die Moral. Sloterdijk stellt das Verhältnis von Ethik und Gentechnik schlicht auf den Kopf, „Die Zeit“ vom 23.09.1999. Vgl. R. SPAEMANN, Wozu der Aufwand? Sloterdijk fehlt das Rüstzeug, in: ders., Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001, 406-410. 63 J. HABERMAS, a.a.O., 121. 64 P. SLOTERDIJK, Regeln, 19.

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Hinsichtlich dieser Benennung des mehr oder weniger latenten Gegenstandes der ethischen

Auseinandersetzung mit den modernen Lebenswissenschaften stimmt Sloterdijk mit der

Einschätzung des Berliner Bischofs und EKD-Ratsvorsitzenden W. Huber überein, der die

Frage nach dem Menschenbild, an dem wir uns biomedizinethisch orientieren wollen, als die

Zentralfrage bezeichnet: „Auf ihre Weise wird die Frage nach unserem Bild vom Menschen

die entscheidende Frage des 21. Jahrhunderts sein.“65 Wenn es um konkrete biopolitische

Entscheidungen, etwa die Zulassung der PID, geht, dann steht in der Tat das humane

Selbstbild bzw. Selbstverständnis zur Debatte.

So wirft die PID die Frage auf, an welchem Selbstbild und welchen Kriterien sich

Menschen orientieren, wenn bei einem im Reagenzglas befindlichen Embryo eine nicht

therapierbare Krankheit diagnostiziert wird und eine Entscheidung über dessen „Schicksal“

ansteht66. Mit derartigen biopolitischen Entscheidungen erhält das gesellschaftliche

Menschenbild nolens volens neue Kontur. Wir werden so mit Problemen konfrontiert, die eine

metaphysische Situation bedingen. Sie resultiert nach H. Jonas aus dem apokalyptischen

Potential der Technik, das die metaphysische Frage aufwirft, „mit der die Ethik nie zuvor

konfrontiert war, nämlich, ob und warum es eine Menschheit geben soll; warum daher der

Mensch, so wie ihn die Evolution hervorgebracht hat, erhalten bleiben, sein genetisches Erbe

respektiert werden soll.“67

Mit den aktuellen biopolitischen Entscheidungen stolpern wir, so Jonas, „in weit offene und

gänzlich metatechnische Fragen, sobald wir uns erkühnen, ‚schöpferische’ Hand an die

physische Konstitution des Menschen selbst zu legen. Sie alle kulminieren in der einen Frage:

nach welchem Leitbild?“68 Alle biotechnische Forschung operiert mit Anwendungszielen, auf

die die Wahl der zur Erreichung dieses Ziels brauchbaren Methoden abgestimmt wird. Diese

Anwendungsziele sind nicht einfach nur von der operationalisierenden Vernunft exakt

vorgezeichnet, sondern sie basieren auf einem impliziten Menschenbild. Dieses gilt es explizit

zu machen. Denn es bedarf der Verständigung darüber, welches Leitbild vom gelingenden

Leben und von einer lebenswerten Welt im Blick auf die Zukunft des Menschen für

wünschenswert erachtet wird. Wird eine Welt imaginiert und projektiert, in der es Raum gibt

für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache, und in der es vielleicht mehr noch als Raum für

sie gibt, nämlich Liebe für die, die unter ökonomischen Gesichtspunkten nutzlos, als

65 W. HUBER, Der gemachte Mensch. Christlicher Glaube und Biotechnik, Berlin 2002, 79. 66 Vgl. zur PID W. HÄRLE, Gefährliche Schritte. Warum man auf die Legalisierung der Präimplantationsdiagnostik verzichten sollte, Zeitzeichen 6/2004, 12-14; H.G. ULRICH, Leben als Humanum oder Leben aus dem Humanpool?, in: V. Hörner / K. Patzer (Hg.), Optionen für eine Medizin der Zukunft? Präimplantationsdiagnostik und Stammzellforschung, Speyrer Texte 6/2001, 66-87. 67 H. JONAS, Technik, 48. So auch a.a.O., 10.12.15.61.103.153.157 u.ö. 68 A.a.O., 170.

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„finanzielle Belastung für den Sozialstaat“ erscheinen? Oder eine Welt, die von „unnötigen“

Behinderungen dadurch befreit wird, dass man pränatale Selektion walten lässt?

Zur Klärung dieser grundlegenden Fragen bedarf es nach H. Jonas der „Bedrohung des

Menschenbildes – und durchaus spezifische[r] Arten der Bedrohung – um uns im Erschrecken

davor eines wahren Menschenbildes zu versichern. Solange die Gefahr unbekannt ist, weiß

man nicht, was es zu schützen gibt und warum“69. Deshalb gilt es – so H. Jonas – das

apokalyptische Potential der Biotechnik kenntlich zu machen, wobei seine an den

vorhandenen Gefahren und Ängsten orientierte Ethik die Maxime ausgibt, „dass der

Unheilsprophezeiung mehr Gehör zu geben ist als der Heilsprophezeiung.“70

Der frühere Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft W. Frühwald hat die aktuelle

biomedizinethische Kontroverse dahingehend charakterisiert, dass sie „zu einer

Auseinandersetzung um ein christliches, zumindest kantianisches Menschenbild auf der einen

und ein szientistisch-sozialdarwinistisches Menschenbild auf der anderen Seite geworden“71

sei. Ob diese bipolare Zuordnung im Blick auf die aktuelle Diskurskonstellation eine

unzulässige Simplifikation darstellt oder nicht, ist umstritten und mag hier dahingestellt

sein72. Dass sie jedoch in Bezug auf die Beschreibung der vermeintlichen Frontlinie mit

einem Dualismus arbeitet, der in formaler Hinsicht für apokalyptische Vorstellungen typisch

ist, dies dürfte ebenso unumstritten sein, wie das „Dass“ des Herausgefordertseins von

(Christen- und sog. „Welt“-)Menschen hinsichtlich ihres Menschenbildes73.

Virulent ist – mit anderen Worten – die Frage: Wie sieht der wahre Mensch aus? Entspricht

die Figur des „neuen Menschen“, wie sie implizit so mancher biotechnischen Anwendungen

zugrunde liegt und wie sie bisweilen unverhohlen als Zielpunkt einer „neuen Zeit“ mit „neuen

Werten“ anvisiert wird, der biblischen Vorstellung vom „neuen Menschen“? Wie verhält sich

die christliche Erlösungshoffnung, die sich auf einen neuen oder erneuerten Menschen stützt,

zu jenen entscheidenden Veränderungen, die in der Moderne einsetzten und bis in die spät-

69 Ders., Prinzip, 63. Dort z.T. kursiv. 70 A.a.O., 70. Dort z.T. kursiv. 71 Zit. nach W. HUBER, a.a.O., 27. 72 U.H.J. KÖRTNER, Der gerechtfertigte Mensch. Die reformatorische Anthropologie aus heutiger Sicht, in: ders., Freiheit und Verantwortung. Studien zur Grundlegung theologischer Ethik, SThE 90, Freiburg u.a. 2001, (57-68) 57, weist darauf hin, „dass die Rede von dem christlichen Menschenbild eine Vereinfachung darstellt. Es gibt gewiss grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen den christlichen Konfessionen, was die Sicht des Menschen, seiner Größe und seines Elends, seiner Bestimmung, seiner Not und Verheißung betrifft. Doch zwischen den Sichtweisen der großen christlichen Traditionen bestehen durchaus signifikante Unterschiede. Damit hängt zusammen, dass die Antworten der Kirchen und der einzelnen Christen in ethischen Fragen durchaus unterschiedlich ausfallen können. Die christliche Sicht des Menschen weist also eine gewisse Pluralität auf, die z.T. sogar quer zu den Konfessionen besteht. Insofern ist es sachgemäßer, statt von dem christlichen Menschenbild von christlichen Menschenbildern im Plural zu sprechen.“ 73 H. BEDFORD-STROHM, Biotechnologie und christliches Menschenbild, DtPfrBl 100 (12/2000), (669-672), 670, formuliert zugespitzt: „Es geht in den Debatten um die neuen Möglichkeiten der Biotechnologie tatsächlich um den Versuch einer grundlegenden Verschiebung in dem bisher in unserer Kultur geltenden Bild des Menschen.“

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oder postmoderne Gegenwart anhalten?74 Ist ihr „neuer Mensch“ der säkularisierte „neue

Adam“ der christlichen Heilsbotschaft? Oder repräsentiert der biblische „neue Mensch“ den

segregierten „alten Adam“ eines neuen Zeitalters? Stehen die säkular-apokalyptischen

Hoffnungen auf einen neuen Menschentyp in Kontinuität und Kompatibilität zur biblischen

Rede vom „neuen Menschen“? Bilden sie dessen profanmessianische Prolongatur? Gibt es

vielleicht theologisch qualifizierte Gründe dafür, im Blick auf die biblische Rede vom „neuen

Menschen“ dem Streben nach einer „anthropologischen Revolution“ (E. Gentile) zu

entsprechen?

Zur Beantwortung dieser Fragen, die hier mit P. Sloterdijk zur Frage zusammengefasst

werden, „wie der Mensch zu einem wahren oder wirklichen Menschen werden könne“75,

bedarf es der Sichtung der urchristlichen Apokalyptik und ihrer Rede vom „neuen

Menschen“.

2. DIE APOKALYPSE DER NEUEN SCHÖPFUNG. ZUR PAULINISCHEN REDE

VOM „NEUEN MENSCHEN“

2.1 Die paulinische Modifikation der Zwei-Äonen-Lehre als apokalyptischer

Referenzrahmen der Rede vom „neuen Menschen“

Nicht nur die Reich-Gottes-Predigt Jesu trägt apokalyptische Züge. Apokalyptische

Vorstellungen finden sich ebenso wenig ausschließlich in der Johannesapokalypse, sondern

schon in den synoptischen Evangelien und bei Paulus, wobei das Denken der zeitgenössischen

jüdischen Apokalyptik dort wohlgemerkt entscheidend modifiziert wird76. Die Modifikation,

die keineswegs gleichzusetzen ist mit einer „Entapokalyptisierung“, resultiert aus der

Zuordnung des traditionellen apokalyptischen Gedankenguts zum Christusgeschehen, wonach

Kreuz und Auferweckung Jesu Christi ein die Welt grundlegend und endgültig umwandelndes

74 Nach G. KÜENZLEN, Der neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, Frankfurt a.M. 1997, 20, besagen diese Veränderungen: „Der Mensch wird [...] als durch die gesellschaftlichen Kräfte herstellbar, planbar und in der Vorstellungswelt einiger Strömungen auch biologisch züchtbar gedacht.“ 75 P. SLOTERDIJK, Regeln, 19. 76 Vgl. M. HENGEL, Paulus und die frühchristliche Apokalyptik, in: ders., Paulus und Jakobus. Kleine Schriften III, WUNT 141, Tübingen 2002, 302-417, der die apokalyptischen Voraussetzungen des paulinischen Denkens und deren Bedeutung für die futurische Eschatologie des Paulus rekonstruiert. Hengel sieht die paulinischen Parusietexte (1Thess 4,13-5,11; 1Kor 15; 2Kor 4,16-5,10; Phil 3,20f.; Röm 8,18-25) traditionsgeschichtlich in den synoptischen Evangelien bzw. beim „historischen Jesus“ (vgl. Mk 13,28-32; Lk 17,22-24.26-30.34-37 = Mt 24,23.26-28.40f.) verankert. Anders U.B. MÜLLER, Apokalyptische Strömungen, in: ders., Christologie und Apokalyptik (GAufs), ABG 12, Leipzig 2003, 223-267, bes. 232ff. Auch J. BAUMGARTEN, Paulus und die Apokalyptik. Die Auslegung apokalyptischer Überlieferung in den echten Paulusbriefen, WMANT 44, Neukirchen-Vluyn 1975, 234, mit dem sich M. Hengel auseinandersetzt, spricht im Blick auf die paulinische Eschatologie von einem „Bruch mit der Apokalyptik“.

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Heilsgeschehen sind. Die paulinische Ethik ist apokalyptisch grundiert. Der Neutestamentler

R.B. Hays bemerkt treffend:

„According to Paul, the death and resurrection of Jesus was an apocalyptic event that signaled the end of the

old age and portended the beginning of the new. Paul’s moral vision is intelligible only when his apocalyptic

perspective is kept clearly in mind: the church is to find its identity and vocation by recognizing its role within

the cosmic drama of God’s reconciliation of the world himself. […] The image of ‘new creation’ belongs to the

thought-world of Jewish apocalypticism.”77

Was die paulinische Rezeption jüdischer Apokalyptik angeht, so rekurriert Hays auf die

gängige These, wonach Paulus die apokalyptische Zwei-Äonen-Lehre78 kritisch

aufgenommen hat. Der Dualismus der zwei Äonen ist der „wesentlichste Grundzug“79 der

jüdischen Apokalyptik. Für Paulus gehört – wie Hays betont – das apokalyptische Motiv der

neuen Schöpfung (2Kor 5,17; Gal 6,15) genau in den Zusammenhang der Rezeption dieser

zentralen Vorstellung. Dass Paulus apokalyptische Vorstellungen benutzt, um der

christologisch begründeten Hoffnung von Christenmenschen Ausdruck zu verleihen, wird

nach Hays im Kontext der Erwartung von Christi Parusie (vgl. 1Thess 4f.; 2Kor 5; Röm 8)

evident.

Paulus kann den Gedanken der zwei Weltzeiten aufnehmen (2Kor 5,17; Gal 1,4) und von

der Vollendung der Zeiten reden (Gal 4,4), wobei ihm zufolge die erwartete „Äonenwende“

nicht erst am Ende aller Tage geschieht, sondern im Geschehen von Kreuz und Auferweckung

bereits geschehen ist und infolgedessen jetzt schon gilt. Mitten in dieser unerlösten, ihrem

Ende entgegeneilenden Welt gibt es gemäß der überlappenden Gleichzeitigkeit von altem,

sukzessive absterbendem Äon und neuem, bereits begonnenem Äon, welche für die Dialektik

des „schon jetzt“ und „noch nicht“ konstitutiv ist, „die neue Schöpfung“: „Ist jemand in

Christus – neue Schöpfung“ (2Kor 5,17; vgl. Jes 65,17-19)80.

Hays, der die paulinische Eschatologie in einem apokalyptischen Referenzrahmen entfaltet

sieht81 und diesbezüglich von „Paul’s vision of Christian existence between the times”82

77 R.B. HAYS, The Moral Vision of the New Testament. A Contemporary Introduction to New Testament Ethics, New York / San Francisco 1996, 19f. 78 Vgl. 4Esr 1,50; 7,50; 8,1; grHen 66,6; syrBar 15,7f.; 44,8-15. 79 So P. VIELHAUER, Einleitung, in: E. Hennecke, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, hg. v. W. Schneemelcher, Bd. 2: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 31964, (407-422) 412. 80 Dass Paulus in 2Kor 5,17 auf die jüdisch-apokalyptische Zwei-Äonen-Lehre rekurriert und sich hier in einem genuin apokalyptischen Deutungsrahmen bewegt, betonen u.a. V.P. FURNISH, II Corinthians, AncB 32A, Garden City (NY) 1984, 332; E. GRÄSSER, Der zweite Brief an die Korinther Kapitel 1,1-7,16, ÖTK 8/1, Gütersloh / Würzburg 2002, 223; CHR. WOLFF, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 8, Berlin 1989, 127. 81 So R.B. HAYS, a.a.O., 27. 82 A.a.O., 25.

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sprechen kann, kommentiert diesen Vers wie folgt: „[T]he new creation is not just a future

hope, as in most forms of Jewish apocalyptic thought; rather, the redemptive power of God

has already broken into the present time, and the form of this world is already passing

away.”83 Paulus sieht in der „neuen Schöpfung“ eine gegenwärtige Realität84, die er freudig

jubelnd begrüßt85. Der an der neuen Schöpfung teilhabende Mensch, der „im Geist“86 bereits

präsentisch der „neue Mensch“ ist – er ist der wahre Mensch.

2.2 Der neue Mensch als Gottes Ebenbild

Wie aber sieht die „neue Schöpfung” nach Paulus aus, an der der in bestimmter Weise

qualifizierte Mensch partizipiert und insofern als „neuer Mensch“ identifiziert werden kann?

Der „neue Mensch“ staunt mit Paulus über das unbegreifliche Neuschöpfungswunder: „Nicht

ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Der „neue Mensch“ hat demnach sein

wahres Sein außerhalb seiner selbst, extra se in Christo87. Das „Ich“ des „neuen Menschen“

kann in seiner geschichtlichen Daseinsstruktur nur „christologisch“ erfasst werden, da

Christus selbst die Person des „neuen Menschen“ ist88. Die Menschwerdung des Menschen

gehört somit in die Christologie hinein. Eine die Geschöpflichkeit des Menschen

fokussierende theologisch-ethische Grundlagenreflexion wäre unter Absehung von Christus

(remoto Christo) eine konzeptionelle Verfehlung, die geradezu zwangsläufig eine defizitäre

Anthropologie und Schöpfungstheologie evozierte. Die Wirklichkeit des „neuen Menschen“

würde anders als in christologischer Rede verfehlt. Denn der „neue Mensch“ lebt „in

Christus“ bzw. in dessen Geist.

Luther kann etwa „die christologischen Aussagen von Phil 2,5ff. unmittelbar auf das Sein (nicht auf die

‚Ethik’, wie man im Neuprotestantismus gemeint hat) des Christenmenschen anwende[n] und ihn selbst um der

lebendigen Präsenz Christi in ihm willen, die ihn ganz umfaßt und erfüllt, als einen ‚Christus’ für seinen

‚Nächsten’ anspr[echen]. ‚Christus in uns’ heißt zugleich: ‚wir außer uns, d.i. in Christus’. Das reformatorische

‚in nobis’ sichert sich gegen das Mißverständnis, als ob wir da etwas in besitzende Verfügung bekommen hätten,

durch den Hinweis auf das ‚extra nos’.“89

83 A.a.O., 21. 84 CHR. WOLFF, a.a.O., 127, identifiziert in 2Kor 5,17 einen „Realis der Gegenwart“. Vgl. V.P. FURNISH, a.a.O., 333: „Paul can affirm that the new age has already broken in […], that the new creation is already a reality.” 85 V.P. FURNISH, a.a.O., 333, spricht von einem „exultant cry“. R.B. HAYS, a.a.O., 20, von „an exclamatory interjection”. 86 So O. WISCHMEYER, Physis und Ktisis bei Paulus. Die paulinische Rede von Schöpfung und Natur, ZThK 93 (1996), (352-375) 360. 87 Zum „in-Christo“-Motiv vgl. T.K. HECKEL, Die Identität des Christen bei Paulus, in: A. Deeg u.a. (Hg.), Identität. Biblische und theologische Erkundungen, BThS 30, Göttingen 2007, 41-65. 88 Vgl. E. WOLF, Politia Christi. Das Problem der Sozialethik im Luthertum, in: ders., Peregrinatio. Studien zur reformatorischen Theologie und zum Kirchenproblem, München 1954, (214-242) 229.241. 89 Ders., Sola Gratia? Erwägungen zu einer kontroverstheologischen Formel, in: ders., a.a.O., (113-134) 127.

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Wenn vom „neuen Menschen“ in einem theologisch qualifizierten Sinne die Rede sein soll,

gilt es das „extra nos“ der christlichen Identität in seiner inklusiven, die Identität des „neuen

Menschen“ garantierenden Bedeutung zur Geltung zu bringen:

„Das wirkliche und wahre Wesen des Menschen, das wir in den Augen und vor dem Angesicht Gottes sind –

das ist in ihm in einem einzigartigen Augenblick Geschichte geworden, der Mensch ist erschienen. Seine

Geschichte mit Gott und Gottes Geschichte mit ihm ist Ereignis geworden, und wir alle hängen von dort ab. Wir

haben keine Geschichte mit Gott, abgesehen von dieser Mitte, von diesem Einen.“90

Deshalb ist „zuletzt und entscheidend im Spiegel des Christusgeschehens zu begreifen, was

der Mensch ist.“91 In diesem Zusammenhang sei auf 2Kor 3,18 verwiesen92, wo von der

„Herrlichkeits-Metamorphisierung“ der Gläubigen gemäß dem Spiegelbild Jesu Christi die

Rede ist. Diese geschieht durch die Wirksamkeit des Geistes93: „Durch die unverhüllte Schau

der doxa Jesu Christi aber werden die Schauenden – d.h.: die Jesus Christus als den Herrn

Erkennenden – ‚in dasselbe Bild’ verwandelt’, so daß sie eine bleibende und unerschöpfliche

Herrlichkeit empfangen. Gemeint ist: Sie werden ‚in Christus’ eine kainē ktisis – Menschen,

die von ihrer alten, der Sünde verfallenen Existenz befreit und mit einer neuen, heilvollen

Existenz beschenkt sind. Diese ‚Verwandlung’ aber ist das Werk des im Evangelium

präsenten schöpferischen Geistes Gottes, der die Toten lebendig macht (3,6b).“94

Wenige Verse später greift Paulus im vierten Kapitel des zweiten Korintherbriefes die

Wendung von „der Herrlichkeit des Herrn“ auf und bezeichnet Christus als das „Ebenbild

Gottes“ (2 Kor 4,4). Daneben findet sich eine christologische Verortung des Imagogedankens

auch in Kol 1,15 und – leicht terminologisch variiert, aber gleichwohl in synonymem

Gebrauch – in Phil 2,6 und Hebr 1,395. Mit der Prädizierung Jesu Christi als Ebenbild Gottes

90 H.J. IWAND, Christologie. Die Umkehrung des Menschen zur Menschlichkeit, Iwand Nachgelassene Werke N.F. Bd. 2, Gütersloh 1999, 377. 91 G. EICHHOLZ, Die Theologie des Paulus im Umriß, Neukirchen-Vluyn 71991, 14. 92 Vgl. R.B. HAYS, a.a.O., 24. 93 Vgl. E. WOLF, Sola Gratia, 126f. 94 O. HOFIUS, Gesetz und Evangelium nach 2. Korinther 3, in: ders., Paulusstudien, Tübingen 21994, (75-120) 116. 95 In Bezug auf die neutestamentliche Rede vom Bild Gottes unterscheidet J. JERVELL, Art. Bild Gottes 1. Biblische, frühjüdische und gnostische Auffassungen, TRE 6 (1980), (491-498) 494, zwischen drei Texttypen: „1. christologische Aussagen innerhalb von Hymnen und hymnenähnlichen Bekenntnisaussagen über Christus als Bild Gottes (II Kor 4,4; Kol 1,15; Hebr 1,3; auch Phil 2,6); 2. anthropologische Aussagen über den christlichen Menschen als Gottes oder Christi Abbild, teils in paränetischen Texten, die wahrscheinlich dem Taufunterricht zuzurechnen sind (Kol 3,9; Eph 4,9), teils in belehrendem und verkündigendem Zusammenhang (II Kor 3,18; Röm 8,29; I Kor 15,49; vgl. Röm 1,23); 3. vereinzelt stehenden Aussagen in Texten paränetischen Charakters über den ‚natürlichen’ Menschen als Gottes Ebenbild (I Kor 11,7; Jak 3,9).“ So auch ders., Imago Dei. Genesis 1,26f. im Spätjudentum, in der Gnosis und in den paulinischen Briefen, FRLANT 58, Göttingen 1960, 8f.

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bewegt sich Paulus im Raum der apokalyptischen Zwei-Äonen-Vorstellung, wie der

Ausdruck „dieser Äon“ bzw. „Gott dieses Äons“ (= Satan) in demselben Vers (2 Kor 4,4)

indiziert96. Das Evangelium, das den Gekreuzigten und Auferstandenen proklamiert, bringt

die wahre Offenbarung Gottes in der Herrlichkeit Jesu Christi zur Sprache. Die Wendung

„Ebenbild Gott“, die auf Jesus Christus referiert, unterstreicht in diesem Vers, dass Jesus

Christus sowohl „Repräsentant Gottes“97 als auch „Repräsentant der erneuerten

Menschheit“98 ist. Die altkirchlich ausgeprägte Zwei-Naturen-Lehre wird hier, wenn man so

will, präformiert. Sie erweist sich als theologisch sachnotwendige Explikation im

Begründungszusammenhang paulinischer Christologie99.

Nach der Zwei-Naturen-Lehre hat Gott innertrinitarisch in sich selbst das Bild seiner selbst

im Sohn. Der ewige Sohn des Vaters ist „Abglanz seiner Herrlichkeit und Abdruck seines

Wesens“ (Hebr 1,3). Neben dieser innertrinitarischen Verhältnisbestimmung, die mit der

Prädikation Christi als Bild des Vaters die Gottheit Christi betont, tritt gemäß der Zwei-

Naturen-Lehre ein zweites Moment, nämlich die Menschheit Christi: Die neutestamentlichen

Aussagen, die Christus das Ebenbild Gottes nennen, verkünden uns, „dass der Sohn gerade als

der Menschgewordene Bild Gottes ist. Mit der Inkarnation wird das Bild Gottes im Bereich

der Kreatur aufgerichtet. Der Mensch Jesus, der der ewige Sohn ist, ist auch als Mensch Bild

Gottes.“100 Selbst wenn man in der Prädizierung Jesu Christi als Gottes Ebenbild im

Unterschied zu diesen Ausführungen (etwa bezüglich Kol 1,15) eine Referenz auf den

Erhöhten101 oder gar Präexistenten102 sehen wollte, so wäre doch festzuhalten:

„Der Ermöglichungsgrund für die kühne Prädizierung Jesu Christi als Ebenbild Gottes ist in der

Menschengestalt Jesu, im irdischen Weg Jesu zu suchen. Wenn Jesus Christus zum Spiegel göttlicher

Herrlichkeit wird, dann hat die Aussage von seiner exklusiven Gottebenbildlichkeit tiefgreifende Auswirkungen

auf das Verständnis der Doxa Gottes. Es ist der irdische Weg Jesu, der Gottes Herrlichkeit auf Erden abbildet. So

stellt für Paulus der gekreuzigte Jesus als Träger von Gottes Herrlichkeit das christologische Fundament des

Evangeliums dar.“103

96 So auch V.P. FURNISH, a.a.O., 247; E. GRÄSSER, a.a.O., 152; CHR. WOLFF, a.a.O., 85. 97 So Chr. WOLFF, a.a.O., 86. 98 So H. WINDISCH, Der zweite Korintherbrief, KEK 6, hg. v. G. Strecker, Göttingen 91970, 137. 99 Treffend W. SCHOBERTH, Einführung in die theologische Anthropologie, Darmstadt 2006, 129: „Die christologische Formel von Chalzedon, nach der Jesus Christus als wahrer Gott und wahrer Mensch bekannt ist, hat demnach auch einen anthropologischen Sinn: Was der Mensch in Wahrheit ist, entscheidet sich theologisch an dem Christus, nicht schon in der Betrachtung und Analyse empirischen Menschseins.“ 100 So P. BRUNNER, Der Erstgeschaffene als Gottes Ebenbild, in: ders., Pro Ecclesia. GAufs zur dogmatischen Theologie, Berlin / Hamburg 1962, (85-95) 86. Dort z.T. kursiv. 101 So etwa E. LOHSE, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon, KEK IX/2, Göttingen 1968, 84. 102 So etwa A. LINDEMANN, Der Kolosserbrief, ZBK.NT 10, Zürich 1983, 26. 103 So S. VOLLENWEIDER, Der Menschgewordene als Ebenbild Gottes. Zum frühchristlichen Verständnis der Imago Dei, in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie. Studien zu Paulus und zur frühchristlichen Theologie, WUNT 144, Tübingen 2002, (53-70) 62.

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So gewiss das Bild Gottes in Jesus Christus infolge der unio hypostatica das Bild Gottes in

Adam überragt, so gewiss hebt „diese einmalige, unaufhebbare Besonderheit [...] die Tatsache

nicht auf, daß in dem Menschen Jesus das Geschöpf vor uns steht, das Bild Gottes ist und

daher unbeschadet seiner bleibenden Kreatürlichkeit in den Grenzen der Kreatürlichkeit die

Wirklichkeit göttlichen Wesens vollgültig repräsentiert.“104 Der Topos der

Gottebenbildlichkeit verweist damit auf die von E. Käsemann identifizierte

Fundamentalaussage neutestamentlicher Apokalyptik: „Weil Christus den Schöpfer und das

Geschöpf wiederzusammenführt, ist er unser Herr, meint sein Regiment Gnade für die,

welche es annehmen, Gericht für die, welche sich ihm wiedersetzen.“105

Die Aussage, dass Paulus Jesus Christus als das Ebenbild Gottes bezeichnet und damit die

Sichtbarkeit des unsichtbaren Gottes im Angesicht Jesu Christi benennt, identifiziert A.

Schlatter als „den zentralsten Satz seiner [sc. Paulus’; M.H.] Theologie“106. Die Leben

schenkende Erkenntnis Gottes ist nämlich für Paulus „die Erkenntnis Christi und seiner

göttlichen doxa, – d.h. die Erkenntnis, daß er in einzigartiger Weise die eikōn Gottes ist, dass

er – der Gekreuzigte und Auferstandene – der Kyrios ist und dass in ihm die Versöhnung der

Welt mit Gott und also das Heil der verlorenen Menschen beschlossen liegt.“107

Wenn die beiden Verse Gen 1,26f. LXX Adam hinsichtlich seiner Funktion als die „Eikon

Gottes“ bezeichnen, 2Kor 4,4 und Kol 1,15 hingegen Jesus Christus als dieselbe, so wird

evident, dass die Prädikation Christi als Ebenbild Gottes das entscheidende Interpretament des

Theologumenons von der Gottebenbildlichkeit ist108. Eine theologische Anthropologie kommt

demzufolge nicht ohne christologische Bezüge aus. Darauf verweist die neutestamentliche

Rede von der Gottebenbildlichkeit Christi:

„Meine Geschöpflichkeit – wir können auch mit der traditionellen Formel sagen – die Gottebenbildlichkeit

des Menschen, kann ich nur von dem Menschen her bestimmen, der in einzigartiger Weise das Ebenbild des

unsichtbaren Gottes genannt wird: Jesus Christus. Er ist der vere homo. An ihm geht mir erst auf, wer ich als

Geschöpf sein sollte.“109

104 P. BRUNNER, a.a.O., 87. 105 Nach E. KÄSEMANN, Der Ruf der Freiheit, Tübingen 51972, 240, führt Christus „Gott und Mensch als der Gekreuzigte zusammen“, nach P. Brunner tut er dies bereits als der Inkarnierte. Inkarnationschristologie und Kreuzestheologie müssen gleichwohl nicht miteinander konkurrieren, wie im Folgenden gezeigt wird. 106 A. SCHLATTER, Paulus, der Bote Jesu. Eine Deutung seiner Briefe an die Korinther, Stuttgart 51985, 528. 107 O. HOFIUS, Wort Gottes und Glaube bei Paulus, in: ders., Paulusstudien, Tübingen 21994, (148-174) 161. 108 Den engen traditionsgeschichtlichen Zusammenhang mit Gen 1,26f. hat für 2Kor 3f. J. JERVELL, Imago Dei, 173ff., geltend gemacht. 109 W. KRECK, Grundfragen christlicher Ethik, KT 80, München 41990, 115. So auch W. SCHOBERTH, Einführung, 29.114.

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Von Christus als dem Ebenbild Gottes her erweist sich die theologische Unabweisbarkeit

des christologischen Reflexionsmotivs in Bezug auf die Anthropologie. Das wahre, Gottes

Willen entsprechende Geschöpfsein, des Menschen Gottebenbildlichkeit, bliebe ansonsten

unterbestimmt.

Bereits J. Calvin weist auf diesen christologischen Erschließungszusammenhang hin:

„Christus ist das vollkommenste Ebenbild Gottes, ihm sollen wir gleichgestaltet und dadurch

derart erneuert werden, daß wir in wahrer Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Reinheit und

Erkenntnis das Ebenbild Gottes tragen.“110 W. Niesel kommentiert diese Aussage Calvins

treffend: „Er lenkt unsern Blick auf den zweiten Adam, auf Christus, der das vollkommenste

Ebenbild Gottes ist. In Christus, dem Fleisch gewordenen Worte Gottes, erkennen wir, worin

die Gottesebenbildlichkeit des Menschen besteht. Das wahre Wesen des Menschen wird uns

allein in ihm erschlossen.“111 Die Rede von der imago Dei ist für Calvin in noetischer

Hinsicht exklusiv christologische Rede, weil die Bestimmung des Menschen zum Ebenbild

Gottes nur dem zu entnehmen ist, was die Schrift von seiner Erneuerung durch Christus sagt.

Das Theologumenon von der Gottebenbildlichkeit Jesu Christi besagt in anthropologischer

bzw. schöpfungstheologischer Hinsicht, dass von einer Geschöpflichkeit des Menschen nicht

im Sinne ontologischer Spekulation geredet werden soll, die die Relationalität des Menschen

zum dreieinigen Gott ausblendet. Weil der Gott, den die alttestamentlichen

Schöpfungsberichte preisen, kein anderer als der Gott des Paulus ist, deshalb ist die imago

Dei-Qualifikation aus der Isolation einer letztendlich untrinitarisch ontologisierenden

Wesensbestimmung zu befreien, in welche sie unter Ausblendung der pneumatologischen und

christologischen Konstituenten der Gottebenbildlichkeit gelangt.

2.3 Ecce Homo – Das Kreuz Christi als Apokalypse des „neuen Menschen“

Das paulinische Denken hat nicht nur apokalyptische Voraussetzungen. Der verstorbene

holländische, ehemals am Princeton Theological Seminary unterrichtende Theologe J.Chr.

Beker112 (1924-1999) lehrte die paulinische Theologie insgesamt als christologische

110 J. CALVIN, Institutio (1559) I,15,4. 111 W. NIESEL, Die Theologie Calvins, München 21957, 68. Vgl. A.I.C. HERON, Homo Peccator and the Imago Dei according to Calvin, in: C.D. Kettler / T.H. Speidell (Hg.), Incarnational Ministry. The Presence of Christ in Church, Society and Family. Essays in Honor of R.S. Anderson, Colorado Springs 1990, 32-57. 112 Vgl. J.CHR. BEKER, Der Sieg Gottes. Eine Untersuchung zur Struktur des paulinischen Denkens, SBS 132, Stuttgart 1988; ders., Paul’s Apocalyptic Gospel. The Coming Triumph of God, Philadelphia 1984; ders., Paul the Apostle. The Triumph of God in Life and Thought, Edinburgh / Philadelphia 1980. Beker hat in methodologischer Hinsicht die linguistische „Transformationsgrammatik“ von N. CHOMSKY (vgl. ders., Aspekte der Syntax-Theorie, Frankfurt a.M. 1972, 165-187) für das Verständnis des Corpus Paulinum durch die Unterscheidung zwischen Kontingenz und Kohärenz der paulinischen Theologie fruchtbar gemacht: „His

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Reinterpretation der Apokalyptik zu begreifen113, in deren Zentrum die Auferweckung des

Gekreuzigten stehe. Beker zufolge ist das apokalyptische Geschichtsdenken für Paulus nicht

von akzidentieller, sondern struktureller Bedeutung114.

Wie Beker gezeigt hat, avanciert die Apokalyptik bei Paulus zu einem Interpretament der

Beschreibung des Triumphes Gottes im Christusgeschehen. Paulus unternimmt demzufolge

eine apokalyptische Deutung des Christusgeschehens. Beker kann die apokalyptische

Weltanschauung als das Kohärenz-Zentrum der paulinischen Theologie identifizieren115. Das

Geschehen von Kreuz und Auferweckung lässt sich ohne „Substanzverlust“ bzw.

Verfälschung in der Tat nicht durch einen hermeneutischen „Trick“ von seinen

apokalyptischen Koordinaten befreien116. Freilich wird durch das Christusereignis die

Struktur der jüdischen Apokalyptik verändert117. Christi Kreuzestod bezeichnet die

apokalyptische Krisis über alle Menschen, die auf das Ende der alten Weltzeit verweist, und

seine Auferweckung wird von Paulus verkündigt als das sola gratia des neuen Lebens, als

Anfang der neuen Schöpfung118.

Für solche, die sich dem apostolischen Christuszeugnis des Apostels Paulus verpflichtet

wissen, bildet das Christusereignis das theologische Gravitationszentrum119, ja „Kern und

Stern“ biblischer Apokalyptik. Für die urchristliche Apokalyptik ist charakteristisch, dass in

die Mitte aller die Wende von der alten Weltzeit zur neuen Schöpfung bekundenden Zeichen

und Bilder der gekreuzigte und auferweckte Christus tritt: „In seinem Tod und in seiner

Auferweckung ist die letzte (eschatologische) Wende geschehen – in Verborgenheit und

Verkennung.“120 Dabei gilt es zu beachten, dass für die Apokalyptik, wie sie im Neuen

Testament rezipiert wird, der auferweckte und erhöhte Jesus Christus zugleich immer auch

der gekreuzigte Jesus Christus ist: „The Jesus of apocalyptic thought is crucified.“121 Die

[Paul’s] hermeneutic consists in the constant interaction between the coherent center of the gospel and its contingent interpretation“. Ders., Paul, 11. So auch ders., Sieg, 21. Nach eigener Aussage folgt J.CHR. BEKER, Sieg, 62, in der Charakterisierung der Apokalyptik den Definitionen von P. Vielhauer und K. Koch und ihren Beschreibung der drei Wesensmerkmale der Apokalyptik: historischer Dualismus, Universalität und Naherwartung. Bei Paulus entdeckt Beker vier zentrale Motive der jüdischen Apokalyptik: „1. die Treue und Rechtfertigung Gottes, 2. die universale Erlösung der Welt, 3. die dualistische Struktur der Welt und 4. das bevorstehende Kommen Gottes in Herrlichkeit.“ A.a.O., 26. 113 Vgl. ders., Paul, 16f. 114 M. HENGEL, Paulus, 387f., fasst das paulinische Denken gar als „eine letzte himmelsstürmende Steigerung“ der Apokalyptik auf, die die Grenzen des bleibenden jüdischen Hintergrundes unverkennbar sprenge. 115 Vgl. J.CHR. BEKER, Paul, 135. 116 So a.a.O., 171. 117 Vgl. a.a.O., 192ff. 118 Vgl. a.a.O., 193. 119 Dass die Mitte der paulinischen Theologie die Christologie ist, die „entscheidend Gottes Handeln in Jesus Christus“ aussagt, akzentuiert G. EICHHOLZ, a.a.O., 155. So auch a.a.O., 33.111. 120 H.-J. KRAUS, Systematische Theologie im Kontext biblischer Geschichte und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 1983, 26. 121 L.P. JONES / J.L. SUMNEY, Preaching Apocalyptic Texts, St. Louis 1999, 35.

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theologische Signifikanz dieses Satzes kann in anthropologischer wie ethischer Hinsicht kaum

überschätzt werden. Ein Blick auf den bereits angesprochenen exegetischen

Textzusammenhang aus dem 2. Korintherbrief oder auch den kreuzestheologisch orientierten

Diskurs über die Weisheit in 1Kor 1-4 veranschaulicht dies, wie folgende Beobachtungen

demonstrieren:

Die paulinische Argumentation bewegt sich in 1Kor1-4 unzweifelhaft im Horizont einer

apokalyptischer Theologie122, für die das Christusereignis die eschatologische Wende in

Abkehr von „diesem Äon“ (1Kor 1,20; 2,6-8; 3,18) markiert. Anthropologisch und ethisch

signifikant ist in Bezug auf die „Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu Christi“ die

Beobachtung, dass „der Gekreuzigte der auferweckte Heilsbringer ist, der als solcher die

Doxa Gottes besitzt und offenbart“123. Die Doxa, die den alten Menschen verwandelt (2 Kor

3,18), ihn zu einem Teil der neuen Schöpfung erschafft (2Kor 5,17), ist im Evangelium

präsent, „weil in ihm der gekreuzigte und auferstandene Herr selbst präsent ist“124.

Das Evangelium von der Herrlichkeit Christi, „der als die eikōn Gottes die Erscheinung der

göttlichen doxa selbst ist“125 (2 Kor 4.4.6), meint präzise das „Wort vom Kreuz“ (1Kor

1,17f.), die Proklamation des gekreuzigten Jesus Christus (1Kor 2,2)126. Das heißt: „Für

Paulus bleibt Jesus auch nach der Auferstehung der Gekreuzigte (Partizip Perfekt: 1Kor 1,23;

2,2; Gal 3,1; vgl. Mk 16,6 par. Mt).“127 Weder die Auferstehung noch das Kreuz bilden den

isolierten oder isolierbaren Ansatzpunkt paulinischer Theologie. Deshalb sollte man nicht eine

theologia resurrectionis gegen eine theologia crucis ausspielen und umgekehrt128.

Ebenso wie bei Paulus wird Jesus auch am Schluss des Markusevangeliums mit dem

Partizip Perfekt to estauromenos (Mk 16,6) als der bleibend Gekreuzigte bezeichnet. Für die

Kreuzestheologie des Evangelisten Markus ist besonders signifikant, dass die christologischen

Hoheitstitel („König der Juden“, „Christus“, „König in Israel“, „Gottes Sohn“) ausgerechnet

in der Schilderung der Kreuzigung gebraucht werden129. Auch Paulus kann den Kyriostitel im

122 S. VOLLENWEIDER, Weisheit am Kreuzweg. Zum theologischen Programm von 1Kor 1 und 2, in: A. Dettwiler / J. Zumstein (Hg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament, WUNT 151, Tübingen 2002, (43-58) 56. 123 CHR. WOLFF, a.a.O., 87. 124 O. HOFIUS, Gesetz, 109. 125 A.a.O., 116. 126 V.P. FURNISH, a.a.O., 248. 127 H.-W. KUHN, Art. Kreuz II. Neues Testament und frühe Kirche (bis vor Justin), TRE 19 (1990), (713-725) 720. So auch W. SCHRAGE, Der gekreuzigte und auferweckte Herr. Zur theologia crucis und theologia resurrectionis bei Paulus, ZThK 94 (1997), (25-38) 33. 128 So W. KRECK, Die Zukunft des Gekommenen. Grundprobleme der Eschatologie, München 21966, 164. So auch J.CHR. BEKER, Paul, 196, der in Bezug auf Kreuz und Auferstehung von zwei verschiedenen Ereignissen („two distinct historical events“) spricht, die weder vermischt noch getrennt werden sollen. 129 Diesen Hinweis verdanke ich U. BACH, Getrenntes wird versöhnt. Wider den Sozialrassismus in Theologie und Kirche, Neukirchen-Vluyn 1991, 184.

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Zusammenhang mit Todesaussagen verwenden (z.B. 1Kor 11,23). Für Markus gilt daher

ebenso wie für Paulus: Als der Gekreuzigte ist Jesus Christus der „Herr der Herrlichkeit“

(1Kor 2,8). Mit dieser Sentenz wird geradezu der Prototyp des Paradoxon umschrieben. Denn

nach dem Urteil der „Welt“ ist diese Aussage eine falsche Aussage.

Dass „just dem Geschändeten, dem Gekreuzigten, Ehre und Ansehen zu[kommt]“130, wie

der Kyriostitel für den Gekreuzigten signalisiert, sprengt menschliches Denk- bzw.

Vorstellungsvermögen. Der Kreuzestod Jesu erscheint nach weltlicher Kriteriologie nicht als

„herrlich“, sondern als etwas Skandalöses und Törichtes (1Kor 1,18.23). Das Kreuz lässt sich

in die Orientierungsmuster der nach Machterweisen fragenden Juden sowie der nach Weisheit

trachtenden Griechen nicht integrieren. Der mit Schande besetzte Ort des Kreuzes131, der nach

herkömmlichem Urteil nichts als die Schändlichkeit des Todes enthüllt, steht quer zu den

weltlichen Bewertungsparametern.

Wenn die christliche Gemeinde („wir aber“) Christus als den Gekreuzigten verkündigt

(1Kor 1,23), so geschieht dies im paradoxen Modus sub contrario. Sie handelt somit para-

dox, wider den Schein des Angesehenen. Die christliche Gemeinde kann nicht anders von der

Herrlichkeit Christi reden, weil Christi Herrlichkeit selbst sub contrario verborgen erscheint:

„In der Theologie des Kreuzes (theologia crucis) heißt Glauben: in diesem Gekreuzigten den Herrn sehen, in

dem Verworfenen den Erwählten, in dem zu den Toten Gerechneten den ewig Lebenden; in der Schmach die

Ehre, in der Ausgestoßenheit das Heil finden, überhaupt in diesen Gegensätzen die Wirklichkeit Gottes

erfassen“132.

Die Wirklichkeit aus der Perspektive des Kreuzes zu sehen – das ist der

Wahrnehmungsblickwinkel des „neuen Menschen“, der sich auch in seinem Glaubensurteil

entsprechend niederschlägt. Die Wahrnehmungsperspektive des „neuen Menschen“ ist die

Perspektive des Kreuzes. Der „alte Mensch“ hingegen „hat sein Werturteil verloren, er wertet

falsch. Er wertet Leiden und Schmach als etwas Schlimmes, als etwas Böses. Er sucht das

Gute dort, wo es nicht ist. Darum lebt er verkehrt.“133 Er erkennt nicht das dem Menschen

zugewandte und sichtbare Wesen Gottes im Leiden und Kreuz Christi: „Das (dem Menschen)

130 CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive, FRLANT 185, Göttingen 1999, 291. 131 Zur Schande als Konnotation des Kreuzes vgl. M. HENGEL, Mors turpissima crucis. Die Kreuzigung in der antiken Welt und die „Torheit“ des „Wortes vom Kreuz“, in: J. Friedrich u.a. (Hg.), Rechtfertigung. FS E. Käsemann, Tübingen / Göttingen 1976, 126-184; M. WOLTER, „Dumm und skandalös“. Die paulinische Kreuzestheologie und das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens, in: R. Weth (Hg.), Das Kreuz Jesu. Gewalt – Opfer – Sühne, Neukirchen-Vluyn 2001, 44-63, 46f. 132 H.J. IWAND, Christologie, 409. 133 Ders., Theologia crucis, in: ders., Nachgelassene Werke Bd. 2: Vorträge und Aufsätze, hg. v. D. Schellong und K.G. Steck, München 1966, (381-398) 388.

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zugewandte und sichtbare Wesen Gottes ist das Gegenteil des Unsichtbaren, nämlich seine

Menschheit, Schwachheit, Torheit, wie 1. Kor 1,25 von der göttlichen Schwachheit und

Torheit spricht“134 – so pointiert Luther in der 20. These der Heidelberger Disputation (1518).

Indem die Gemeinde die Perspektive des Kreuzes einnimmt und die Christusverkündigung

vollzieht, illustriert sie zugleich die Irrelevanz der üblichen Statusindikatoren, ja, die

Abrogation bzw. Inversion der weltlichen Werteskala: „Die hochgeschätzte, ‚weltliches’

Ansehen bietende Weisheit wird zur Torheit vor Gott, das vor der ‚Welt’ Törichte, wie es in

der Torheit des Kreuzes [1Kor 2,8.12] seinen dichten Ausdruck findet, aber zur Weisheit.“135

In der Schwachheit kommt die Kraft Gottes zur Entfaltung (1Kor 2,1-5). Weil Christus seine

Herrlichkeit am Kreuz und das heißt in der Schwachheit, Schändlichkeit und Hässlichkeit des

Kreuzes verborgen hat, deshalb kann Paulus sein Auftreten „in Schwachheit und in Furcht

und mit großem Zittern“ (1Kor 2,3) als positives Merkmal seiner eigenen

Verkündigungspraxis darstellen (vgl. z.B. 1Kor 4,6-13; 2Kor 11f.). Der Apostel, der sich

nicht in den Vordergrund stellt und von sich aus mit Eloquenz zu glänzen versucht, ist in

seiner Verkündigungspraxis transparent für den Glanz und hellen Schein, der vom Kreuz her

in die Herzen von Menschen fällt (vgl. 2Kor 4,6).

Das Kreuz destruiert demnach die übliche Matrix sozialer Anerkennung. Es „konstruiert“

eine veränderte Weltwahrnehmung, die in einer Neustrukturierung sozialer Wertigkeiten

resultiert. Das Kreuz hat apokalyptische Dignität: Es enthüllt den falschen Schein. Deshalb

verwundert es auch nicht, dass sich Paulus in diesem Zusammenhang eines traditionell

apokalyptischen Motivs bzw. apokalyptisch kolorierten Gedankens bedient136: der

Offenbarung des Geheimnisses Gottes für die Auserwählten. Das Kreuz enthüllt das

„Geheimnis Gottes“ (1Kor 2,1), die verborgene Weisheit des urzeitlichen Heilsratschlusses

Gottes (1Kor 2,7). Dieses Geheimnis Gottes bezieht sich auf sein Erwählungshandeln: „Was

der Welt als töricht gilt, das hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen, und was

der Welt als schwach gilt, das hat Gott erwählt. Um das, was stark ist, zuschanden zu machen,

und was der Welt als unedel und verächtlich gilt, das hat Gott erwählt, das, was nichts gilt, um

das, was etwas gilt, zunichte zu machen, – damit sich kein Fleisch vor Gott rühme“ (1Kor

1,27f.).

134 WA 1, 362,4f.: „Posteriora et visibilia Dei sunt opposita invisibilium, id est, humanitas, infirmitas, stulticia, Sicut 1. Cor. 1. vocat infirmum et stultum Dei.“ 135 M. KONRADT, Die korinthische Weisheit und das Wort vom Kreuz. Erwägungen zur korinthischen Problem-konstellation und paulinischen Intention in 1Kor 1-4, ZNW 94 (2003), (181-214) 198. 136 So ders., a.a.O., 204. Vgl. äthHen 61,13; 106,19; 4Esr 10,38; 12,36.38; syrBar 48,3.

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Die Realisierung des Heilsratschlusses Gottes im Kreuz Christi137 impliziert nicht nur eine

ontische, sondern auch noetische Valenz. „Crux probat omnia“138 – so formuliert M. Luther.

Der paulinische Argumentationsduktus verdeutlicht, dass dieser Satz selbst die „Tiefen der

Gottheit“ (1Kor 2,10) einschließt.

Mit der Rede von deren Erforschung wird von Paulus „gut apokalyptisch, ‚tiefgreifende’ theologische

Erkenntnis im Sinne der dem menschlichen Erkennen an sich verborgenen Erkenntnis der Geheimnisse Gottes

angesprochen [...], und diese wird als zentral, ja exklusiv durch das Kreuz besetzt ausgegeben, so dass das Kreuz

nicht nur als unbedeutender Bestandteil der theologischen Erkenntnis – im Unterschied zum fortgeschrittenen

Erkennen – erscheint. Die theologische Weisheit ist vielmehr voll und ganz mit dem logos tou staurou zur

Deckung gebracht – wie Paulus ‚beschlossen’ hatte, unter den Korinthern nichts anderes zu wissen als allein

‚Jesus Christus, und diesen als Gekreuzigten’ (2,2).“139

Mit Luther gesprochen, liegt in „Christus dem Gekreuzigten die wahre Theologie und

Erkenntnis Gottes.“140 In Christi Leiden und Kreuz ist Gott zu finden141. So genügt und nützt

es nach Luther keinem schon, „Gott in seiner Herrlichkeit und Majestät zu erkennen, wenn er

ihn nicht zugleich in der Niedrigkeit und Schande des Kreuzes erkennt.“142

Zusammenfassend lässt sich im Blick auf die (unter 3.) dargestellte paulinische Rede vom

„neuen Menschen“ feststellen: Der Apokalyptiker Paulus beantwortet die anthropologische

Frage, was es um den Menschen, sein wahres Wesen und die Offenbarung desselben in der

Zukunft sei, mit Verweis auf den Gekreuzigten als den wahren Menschen. Hier enthüllt sich,

wer und was der Mensch ist:

„Die Antwort auf die Frage des Menschen nach seinem Wesen enthüllt sich im ecce homo, am Kreuz. Hier,

und nur hier, wird dem Menschen gesagt, was es um ihn ist und was er nach dem Willen Gottes sein soll, wie er

durch Gottes Kondeszendenz in Jesus Christus ‚zurechtgebracht’ wird.“143

Das Kreuz Christi bedeutet mithin die Apokalypse des „neuen Menschen“144. Er, Jesus

Christus, ist der wahre, neue Mensch145. Und weil Jesus Christus der wahre Mensch ist,

137 Vgl. H.-CHR. KAMMLER, Kreuz und Weisheit. Eine exegetische Untersuchung zu 1Kor 1,10-3,4, WUNT 159, Tübingen 2003, 246. 138 WA 5, 179,31. 139 M. KONRADT, a.a.O., 211. Als Belege verweist er auf Dan 2,22; äthHen 63,3; syrBar 14,8; [54,12]; 1QS 11,18-20. 140 WA 1, 362,18f.: „Ergo in Christo crucifixo est vera Theologia et cognitio Dei.” 141 Vgl. WA 1, 362,28f.: „At Deum non inveniri nisi in passionibus et cruce“. 142 WA 1, 362,11ff.: „Ita ut nulli iam satis sit ac prosit, qui cognoscit Deum in gloria et maiestate, nisi cognoscat eundem in humilitate et ignominia crucis.“ 143 E. WOLF, Sozialethik. Theologische Grundfragen, hg. v. T. Strohm, Göttingen 31988, 13. 144 Vgl. G. EICHHOLZ, a.a.O., 58.161.

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scheitern alle anthropologischen Versuche, das Wesen des Menschseins extra Christum zu

bestimmen: „Das ist das eigentliche Thema der Menschwerdung, daß die Gnade Gottes

gleichwertig, ja identisch ist mit dem Menschen Jesus.“146 Das Kreuz ist der Spiegel, in dem

Gotteserkenntnis und Menschenerkenntnis zusammenfallen. Die Offenbarung des wahren

Menschen am Kreuz ist somit Konstituens „für den sinnvollen Vollzug menschlicher

Daseinsanalyse“147.

3. KONTUREN EINER APOKALYPTISCHEN ETHIK DES “NEUEN MENSCHEN”

IM BLICK AUF DIE AKTUELLE BIOMEDIZINETHISCHE DEBATTE

3.1 Der Gegenstand einer apokalyptischen Ethik: Der „neue Mensch“ als Subjekt

ethischen Handelns

Wenn die mit seiner apokalyptischen Perspektive verbundene Hoffnung auf Jesus Christus

Paulus keineswegs „to ethical passivity, but to active participation in God’s redemptive

will”148 gereicht, dann stellt sich die Frage, welche Konsequenzen diese Hoffnung etwa im

Blick auf die biomedizinethische Debatte der Gegenwart zeitigen kann. Wie können die

Konturen einer apokalyptisch orientierten Ethik aussehen?

Nach allem bislang ausgeführten dürfte klar sein, dass sich die gesuchten Konturen nur im

Lichte der apokalyptischen Grundüberzeugung der urchristlichen Gemeinde gewinnen lassen,

die „den Tod und die Auferstehung des Christus Jesus verkündigt und geglaubt [hat] als die

sub contrario crucis vollzogene Wende von der alten Weltenzeit zur neuen Schöpfung.“149

Eine solche theologische Ethik muss folglich eine Ethik sein, in der der „neue Mensch“ die

entscheidende Rolle spielt und die sich darin als apokalyptisch konturiert erweist, dass sie

gegenüber den grassierenden Vorstellungen vom „neuen Menschen“ den gekreuzigten

Christus als den wahren Menschen vor Augen stellt. Im Zusammenhang der neuen Existenz

des Menschen spielt zumindest bei Paulus die Kreuzestheologie die entscheidende Rolle150.

Für Paulus gilt:

145 Vgl. B. PASCAL, Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), hg. v. E. Wachsmuth, Heidelberg 1946, Nr. 527, 238: „Das Wissen von Gott ohne Kenntnis unseres Elends zeugt den Dünkel. Das Wissen unseres Elends ohne Kenntnis von Gott zeugt die Verzweiflung. Das Wissen von Jesus Christus schafft die Mitte, weil wir in ihm sowohl Gott als unser Elend finden.“ 146 H.J. IWAND, Christologie, 283. 147 E. WOLF, Sozialethik, 16. 148 J.C. BEKER, Apocalyptic Gospel, 16. 149 H.-J. KRAUS, a.a.O., 26. 150 So J.CHR. BEKER, Sieg, 81-85.

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„Der Weg Jesu zum Kreuz begründet die christliche Existenz und ist zugleich das wesentliche Kriterium

dieser Existenz. Das ethische proprium christianum ist somit Christus selbst, und die Ethik umfasst bei Paulus

die Handlungsdimensionen der Christusteilhabe. So ergibt sich: Das leitende Thema der paulinischen Ethik ist

die Entsprechung der Existenz zum neuen Sein in Christus.“151

Die Wirklichkeit der nova creatura umschreibt den Gegenstand christlich-theologischer

Ethik. Sie thematisiert die Handlungsaspekte des neuen Seins in Christus: „Ist der Ethik [...]

die Frage aufgegeben, wer die Menschen sein können, wollen und sollen, dann wird das

Thema des neuen Menschen zum Schlüssel, dann wird die Christologie den theologischen

Ansatzpunkt bilden und von sich aus erst den Blick auf ein wahres Schöpfungsverständnis

freilegen.“152 Insofern die Ethik beim „neuen Menschen“, beim „geschöpflichen Wesen des

Menschen“153 ansetzt, setzt sie beim extra nos der Begründung und Enthüllung (Apokalypse)

der Wirklichkeit im Christusereignis an.

Mit der von Paulus in apokalyptischem Deutungsrahmen interpretierten Realität der nova

creatura ist also eine bestimmte Ethik verbunden. Insofern dieses paulinische

Theologumenon der nova creatura als apokalyptisches Theologumenon zu verstehen ist, ist

auch die mit diesem Theologumenon verbundene Ethik als eine genuin apokalyptische Ethik

zu verstehen. Bei dieser apokalyptischen Ethik handelt es sich mit anderen Worten um eine

Ethik der Geschöpflichkeit154. Diese Bestimmung resultiert aus dem Subjektstatus des „neuen

Menschen“ als Teil der neuen Schöpfung Gottes. Nur der „neue Mensch“, d.h. derjenige, der

in Christus Teil der neuen Schöpfung Gottes ist, „erkennt die Schöpfung als Schöpfung“155.

Nur er erkennt sich „durch den Dienst aus Glaubensgehorsam in ihr, als ‚Mitarbeiter’“156. Er

allein weiß: „[E]s gibt für das Geschöpf keinen echten Lebensraum außer beim Schöpfer.“157

Der in Christus „neue Mensch“ ist als solcher das „Subjekt des ethischen Handelns“158. Er

und nicht etwa der allgemein sittliche Mensch ist das Subjekt der Ethik.

151 U. SCHNELLE, Die Begründung und die Gestalt der Ethik bei Paulus, in: R. Gebauer / M. Meiser (Hg.), Die bleibende Gegenwart des Evangeliums. FS O. Merk, MThSt 76, Marburg 2003, (109-131) 119f. 152 CHR. FREY, Theologische Ethik, Neukirchen-Vluyn 1990, 52. Dort z.T. kursiv. 153 E. WOLF, Sozialethik, 16. 154 Den ausgeführten Entwurf einer „Ethik der Geschöpflichkeit“ hat H.G. ULRICH, Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, EThD 2, Münster 2005, vorgelegt. Zur Apokalyptik vgl. a.a.O., 199f., und zur biomedizinischen Ethik a.a.O., 624-678. Vgl. auch ders., Katastrophenstimmung und Schöpfungsethik, in: Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Hg.), Klima. Vorträge des Studium Generale im Wintersemester 1992/93, Heidelberg 1993, 165-177. Um die Anwendung einer christologisch konturierten „Ethik der Geschöpflichkeit“ im Blick auf die Reproduktionsmedizin habe ich mich in meiner Dissertation bemüht. Vgl. M. HOFHEINZ, Gezeugt, nicht gemacht. In-vitro-Fertilisation in theologischer Perspektive, EThD 15, Münster 2007 (im Druck). 155 E. WOLF, Politia Christi, 236. 156 A.a.O., 237. 157 E. KÄSEMANN, Ruf, 240. 158 E. WOLF, Sozialethik, 16.

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Eine wahrhaft subjektgebundene Ethik denkt der externen Konstitution des zum Handeln

befreiten und in seiner Wahrnehmung erneuerten Subjektes (Röm 12,1f.) durch die

Begegnung mit Christus im schöpferischen und neuschöpferischen Wort nach159. Die

Konstituierung der nova creatura gründet dabei im geistgewirkten Glauben. Die fides Christi

ist zugleich creatio nova.

Dieser angezeigte theologische Erkenntniszusammenhang ist ein eminent christologischer

Verstehenszusammenhang. Im Rahmen der apokalyptischen Rede vom „neuen Menschen“

erweisen sich „Christologie und Ethik [als] engstens miteinander verklammert“160. Der

Einsatz der Ethik beim „neuen Menschen“ verdeutlicht, dass ihr Ansatz in der Christologie zu

suchen ist. Weil Jesus Christus der neue, der wahre Mensch ist, wird eine Ethik, deren Gegen-

stand die Wirklichkeit des „neuen Menschen“ darstellt und die sich deshalb vor die Aufgabe

der theologischen Explikation seiner Existenz gestellt sieht, in der Christologie und nicht etwa

einer allgemeinen Anthropologie ihren Ausgangspunkt sehen.

Erst vom „neuen Menschen“ her werden die Strukturen menschlichen Seins erkennbar und

die ethische Explikation theologischer Anthropologie somit möglich. Weil die Wirklichkeit

des handelnden Menschen durch die Wirklichkeit des den Mensch neuschöpfenden Gottes in

Jesus Christus bestimmt ist, deshalb hat auch der im Bezugsrahmen der Ethik erfolgende

Vollzug menschlicher Daseins- und Gegenwartsanalyse von der Wirklichkeit der Bestimmung

des Menschen durch Gott auszugehen. Diese für das theologische Wirklichkeitsverständnis

schlechthin konstitutive Bestimmung besagt nichts anderes als: nova creatura in Christo! Der

Neutestamentler U. Schnelle stellt deshalb treffend die Entsprechung zum neuen Sein in

Christus, sprich: die Christuskonformität der neuen Existenzweise des ethischen Subjektes als

Grundgedanken der paulinischen Ethik dar:

„Ausgangspunkt und Begründung der Ethik ist bei Paulus die Lebens- und Handlungseinheit des neuen Seins

als Teilhabe am Christusgeschehen. Jesus Christus begründet und prägt zugleich das Leben der Christen, die

ihrerseits in der Kraft des Geistes im Raum des Christus leben und dem neuen Sein in ihren Handlungen

entsprechen.“161

3.2 Biomedizinethische Konsequenzen

Eine apokalyptische Ethik der Geschöpflichkeit ist – wie soeben ausgeführt – eine Ethik,

deren Gegenstand die Wirklichkeit des „neue Mensch“ als explicandum darstellt und die sich

darin als apokalyptisch konturiert erweist, dass sie im Kontrast zu den grassierenden 159 Vgl. ders., Menschwerdung, 138. 160 G. EICHHOLZ, a.a.O., 104. 161 U. SCHNELLE, a.a.O., 122. Dort z.T. kursiv.

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Vorstellungen vom „neuen Menschen“ den gekreuzigten Christus als den wahren Menschen

vor Augen führt.

Die Identifikation des Gekreuzigten als „Herrn der Herrlichkeit“ (1Kor 2,8), dieses

paulinische Paradoxon, besagt162: Der Gekreuzigte – in der christlichen Auslegungsgeschichte

vielfach interpretiert als der Gottesknecht nach Jes 53, der „keine Gestalt und Schöne“ hatte, –

ist in Person die rettende Macht und Herrlichkeit Gottes. Bei ihm kann und soll die

theologische Ethik in der aktuellen biomedizinischen Debatte, die ebenfalls den „neuen

Menschen“ anvisiert, ansetzen. Mit der christlichen Apokalyptik hat die theologische

Anthropologie und mit ihr die Ethik nämlich „nicht an einer allgemeinen Idee des Menschen

und seiner Idealgestalt, sondern am leidenden und gekreuzigten Christus Maß [zu nehmen],

der ‚keine Gestalt’ hatte, ‚die uns gefallen hätte’ (Jes 53,2). Von hier aus ist die

Gottebenbildlichkeit des Menschen, die im Rahmen der christlichen Schöpfungslehre

ausgesagt wird, näher zu bestimmen.“163

Der „wahre Mensch“, als den etwa die paulinische Theologie in ihrem apokalyptischen

Deutungsrahmen niemand anderen als Jesus Christus darstellt, ist die „Krisis des Schönen“164,

die Krisis des „neuen Menschen“, wie er uns als das Leitbild der Leidensfreiheit und des

Nichtbehindert-Seins vor Augen tritt. Es stellt sich die Frage, ob nicht genau dieses Leitbild

den Hintergrund vieler biomedizinischer Techniken bildet. Im Gekreuzigten wird

demgegenüber ein ganz anderes Leitbild ansichtig: Er ist der „neue Mensch“, der in all seiner

Anstößigkeit und Abstößigkeit von Gott bereits ins Bild gesetzt wurde. Indem uns die

biblische Apokalyptik, wie Paulus es ausdrückt, den Gekreuzigten „vor Augen malt“ (Gal

3,1), tritt ein kon-trastives Bild in Erscheinung, das sich abhebt von jenem „neuen Menschen“

im Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und Freiseins

von Krankheit und Gebrechen. Es kritisiert die Utopie des perfekten Körpers und der

„alterlosen Gesellschaft“, jene Ideologie, die sich gegen jede Infragestellung, auch gegen die

ethische, immunisiert und der nach H. Haker die Biomedizin zu erliegen droht:

„Der Körper eines schwer behinderten Kindes, der nicht nur den Gesundheitsvorstellungen, sondern ebenso

(oder sogar noch mehr?) den normalen Schönheitsvorstellungen widerspricht, stellt eine Bedrohung dar,

während der genetisch, hormonell oder biochemisch verbesserte ewig junge, dadurch scheinbar unsterbliche

162 Vgl. z.B. 1Kor 4,7ff.; 12,9f.; 13,4. 163 U.H.J. KÖRTNER, Mensch, 67. 164 H. VOGEL, Die Krisis des Schönen. Ein Umweg zur Grundfrage der menschlichen Existenz, Berlin 1931. Ähnlich E. JÜNGEL, „Auch das Schöne muß sterben“ – Schönheit im Licht der Wahrheit. Theologische Bemerkungen zum ästhetischen Verhältnis, ZThK 81 (1984), (106-126) 124: „Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus tilgt allen schönen Schein. Sie muß ihn tilgen, weil sie nicht Vorschein der Wahrheit, sondern die Wahrheit selbst ist. Diese Wahrheit ereignet sich aber nach neutestamentlichem Verständnis grundlegend als Krisis. [...] Sie tut das, indem sie, wie Paulus sich ausdrückt, uns den Gekreuzigten ‚vor Augen malt’ (Gal 3,1).“

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Körper als Verlockung erscheint. Der kranke oder gealterte Körper widerspricht dem sozialen Fetisch, das heißt

dem Jugendideal einer Körperkultur, die den Körper nicht als Erscheinungsform der Individualität und

Geschichte eines Menschen wahrnimmt, sondern als Machtinstrument mit dem gehandelt wird.“165

Das Bild des Gekreuzigten visualisiert das kritische Potential einer apokalyptischen Ethik

des „neuen Menschen“ gegenüber einem sich verselbständigenden biomedizinischen

Fortschritt, hinter dem ein utopischer bzw. säkular-apokalyptischer Gesundheitsbegriff steht.

Eine Biomedizin, welche diesem säkular-apokalyptischen Gesundheitsbegriff und dem damit

transportierten Bild vom neuen, gesunden Menschen verpflichtet wäre, würde von der

Heilkunst zur Heilslehre avancieren. Die eschatologische Dimension menschlichen Lebens,

dessen Vollendung die endzeitliche Hoffnung des christlichen Glaubens ist, würde damit –

wie für kupierte säkulare Apokalyptik typisch – ins Diesseits verlagert. Das Heil würde dann

in Form vollkommener Gesundheit im Diesseits als dem „neuen Äon“ nicht von Gott, sondern

der Biomedizin als menschlicher Leistung erwartet. Mit der Biomedizin als apokalyptischer

Wende bräche dieser Äon gleichsam in die Welt ein, um mit dem Ende des alten, kranken

Menschen zugleich den Beginn der Neuschöpfung von gesunden Menschen zu markieren. Die

Diagnose eines journalistischen Zeitgenossen lautet:

„Auch wenn wissenschaftlich noch gewaltige, manchmal sogar unüberwindlich scheinende Probleme zu lösen

sind und Experten sich in ethischen Kommissionen noch jahrelang die Köpfe heiß reden werden – das Ziel wird

immer deutlicher: eine Zukunft, in der Menschen gesund und intelligent geboren werden und erst nach 150 oder

200 Jahren ein erfülltes und rundum glückliches Leben schmerzfrei beenden.“166

Eine Gesellschaft, die einem solchen Gesundheitsideal folgt, wird „auf das Ziel hin geplant

und organisiert, den Schmerz zu beseitigen, die Krankheit auszutilgen und den Tod zu

bekämpfen.“167 Das Kreuz hingegen als der Ort, an dem sich die Versöhnung und das Heil im

Geschehen der den alten Menschen inkludierenden Stellvertretung ereignet hat, entlastet nicht

nur von solchen soteriologischen Ansprüchen an biomedizinisches Handeln, es deckt diese

auch auf. Es deckt auf, dass mit einem solchen Bild vom „neuen Menschen“ der Gekreuzigte

faktisch als Ärgernis und Torheit, ja als Perversion abgelehnt wird. Im Kreuz selbst wird

hingegen der „Wahn, in der Teilhabe am Schönen [und Gesunden; M.H.] der andere, neue

165 H. HAKER, Der Perfekte Körper: Utopien der Biomedizin, Conc 38 (2002), (115-123) 115f. 166 F. OCHMANN, Der Griff nach den Genen, Stern 27/2000, 60. 167 I. ILLICH, Die Enteignung der Gesundheit – Medical Nemesis, Reinbek bei Hamburg 1975, 95.

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Mensch werden zu können, als der Wahn der Selbsterlösung und Selbstvergottung

offenbar“168. Das Kreuz hat somit auch genuin apokalyptische Funktion.

Wenn das Kreuz Christi den Willen Gottes offenbart, wenn es sozusagen die

Selbstdefinition Gottes ist, die den Weg exklusiver Gotteserkenntnis auf dasselbe festlegt,

dann entlastet dies den Menschen auch von dem Versuch, Gott in seiner eigenen

gesundheitlichen und körperlichen Vollkommenheit zu suchen bzw. die Gesundheit als

„höchstes Gut“ zum neuen Gott zu stilisieren. Die Medizin wird so von den an sie gerichteten

soteriologischen Erwartungen, von der Zielprojektion der Herstellung eines Zustandes des

Glücks und der Vollkommenheit befreit. Wer Gott im Körperkult und im Gesundheitswahn

sucht, verliert das Kreuz Christi aus den Augen. Insofern dieses Kreuz die „Aufhebung des

Dahinter Gottes, seiner Hinterweltlichkeit und seines ‚unheimlichen’, ‚Heidnischen’, man

kann auch sagen, Metaphysischen“169 meint, bedeutet die Gottessuche in der Leidfreiheit und

Leidensunmöglichkeit das Dahinter Gottes in einer ganz und gar antiapokalyptischen

Bewegung neu zu postulieren. Doch dieses Dahinter ist im Kreuz Christi ein für allemal in

den Bereich des Kontrafaktischen verwiesen worden, weshalb seine erneute Postulierung ein

aus theologischer Sicht illegitimes Bemühen darstellt.

Auch wenn die Gestalt des Gekreuzigten in einer Welt, in der Gesundheit das Maß aller

Dinge zu sein scheint, „fremd und im besten Fall bemitleidenswert“170 bleibt, so ist der

Gekreuzigte im Geschehen der Auferweckung von den Toten bereits ins Recht gesetzt

worden. Die Auferweckung erweist gleichsam ex post den göttlichen Erfolg und Triumph am

Kreuz, der das weltlich ausgerichtete Erfolgsdenken außer Kraft setzt:

„Dem Erfolgreichen gegenüber erweist Gott im Kreuz Christi die Heiligung des Schmerzes, der Niedrigkeit,

des Scheiterns, der Armut, der Einsamkeit, der Verzweiflung. Nicht als hätte das alles Wert in sich selbst. Aber

es empfängt seine Heiligung durch die Liebe Gottes, die das alles als Gericht auf sich nimmt.“171

Indem Paulus das Kreuzesgeschehen in seiner die menschlichen Wertvorstellungen

invertierenden Relevanz zur Geltung bringt, entzieht er jenem biomedizinischen

Statusgebaren den Boden, welches den „neuen Menschen“ per Anthropotechnologie ins

Dasein rufen möchte. Mit dem am Kreuz orientierten Ethos ist dieses Bestreben nicht

vereinbar.

168 H. VOGEL, Der Christ und das Schöne, Berlin 1955, 37. 169 H.J. IWAND, Glauben und Wissen, Nachgelassene Werke Bd. 1, hg. v. H. Gollwitzer, München 1962, 306. 170 D. BONHOEFFER, Ethik, hg. v. E. Bethge, München 1981, 80. 171 A.a.O., 82.

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3.3 Eine Klarstellung zu den kreuzestheologischen Implikationen einer apokalyptischen

Ethik des „neuen Menschen“

Die obigen kreuzestheologischen Ausführungen mögen bisweilen als polemisch erscheinen.

Wenn jedoch das Stichwort Kreuzestheologie, wie E. Käsemann konstatiert, „in

unpolemischem Gebrauch seinen ursprünglichen Sinn verliert“172, dann dürfte die

Charakterisierung „Polemik“ auf dem Hintergrund der paulinischen Polemik keinen

hinreichenden Grund für eine Disqualifizierung darstellen. Um hingegen einigen nahe

liegenden Missverständnissen inhaltlich vorzubeugen, sei klargestellt: Nicht jedes Leiden

firmiert in der projektierten apokalyptischen Ethik des „neuen Menschen“ unter dem

Kyriosprädikat. Eine „Theologie der Schmerzen“ oder eine ihr korrespondierende „Ethik der

Schmerzen“ wird mit einer apokalyptischen Ethik des „neuen Menschen“ nicht intendiert.

Es geht vielmehr um eine Theologie, „in der das Leiden neben dem Nichtleiden seinen gleichberechtigten

Platz hat, in der also das Leiden kein Sonderthema sein muss, in der allerdings auch Glück, Freude und Stärke

vorkommen müssen, ohne sich zu schämen, ohne sich als Ausnahmegrößen empfinden zu müssen.“173

Leiden und Schmerzen sind nämlich kein Wert an sich und auch kein Selbstzweck, so dass

daraus eine ethica crucis im Sinne einer rein negativen Ethik abgeleitet werden könnte.

Sadomasochistische Schmerzverherrlichung ist „die Sache Christi“ Paulus zufolge jedenfalls

nicht. „Jeder Verherrlichung und Eigenwertigkeit des Leides“ – so der Bonner

Neutestamentler W. Schrage – „wird, und zwar allen Einwänden zum Trotz, das sei dann nur

eine christliche Variation des per aspera ad astra, vor allem durch das hina in den

Peristasenkatalogen unverrückbar ein Riegel vorgeschoben“174: „Wir tragen das Sterben

Christi an unserem Leibe herum, damit (hina) auch das Leben Christi an unserem christlichen

Leib offenbar werde“ (2Kor 4,10). Präzise darum geht es im Leben der nova creatura, dass

sie selbst zur Apokalypse Christi (Genitivus obiectivus!) wird, wie Christus selbst in Person

und Werk die Apokalypse des wahren Menschen ist.

Eine rein negative Ethik der Schmerzen und der Niedrigkeit würde verkennen: „Es gibt ja

keine Niedrigkeit, die an sich und als solche auch göttlich wäre, kein allgemeines Prinzip des

Kreuzes also, in welchem wir es (ebenfalls prinzipiell) mit Gott zu tun hätten. Das Kreuz ist

im Neuen Testament nicht so etwas wie das Symbol einer negativ orientierten, à la baisse

spekulierenden Weltanschauung.“175 Eine solche Ethik stünde außerdem in der quietistischen

172 E. KÄSEMANN, Paulinische Perspektiven, Tübingen 21972, 67.69. 173 U. BACH, a.a.O., 27. 174 W. SCHRAGE, a.a.O., 32. 175 K. BARTH, KD IV/1, 209.

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Gefahr, Formen menschlichen Leidens religiös zu überhöhen und damit zu legitimieren, „die

in Wirklichkeit entschiedenen Widerspruch verdient gehabt hätten.“176 Eine apokalyptische

Ethik des „neuen Menschen“ darf dies nicht verkennen oder verdrängen. Ebenso wenig darf

sie allerdings auch umgekehrt die Prinzipialisierung bzw. „Baalisierung Gottes“ (U. Bach)

verkennen und verdrängen, in der im biotechnischen Zeitalter die wohl weitaus größere

Gefahr liegen dürfte. Gemeint ist mit dieser Prinzipialisierung das „Dogma“: „Wo Stärke und

Sieg ist, da ist Gott, und im Leiden und im Schmerzen ist Gott nicht.“177

Das Kreuz Christi hat mit diesem entsetzlichen „Dogma“ Schluss gemacht und die

Menschheit davon befreit. Und genau dieses sich im Kreuz vollziehende Befreiungsgeschehen

betont eine apokalyptische Ethik des „neuen Menschen“: Gottes Herrlichkeit offenbart sich in

seiner Erniedrigung bis hin zum Tode am Kreuz (vgl. Phil 2,8). Und des Menschen Hoheit

zeigt sich in seinem Gehorsam gegenüber Gott kraft des Angenommenseins durch

denselben178. Das Kreuz ist bereits Christi bzw. Gottes Königsthron und die Auferstehung die

Offenbarung des gnädigen Urteils Gottes. Mit K. Barth gesprochen: In Gestalt des „Weges

des Sohnes Gottes in die Fremde“179, in die Erniedrigung, vollzieht sich Jesu göttliches

Handeln; in diesem seinem Kreuzesgehorsam widerfährt ihm die Erhöhung als Wahrwerden

des Menschseins. Ebenso wie sich in der Versöhnung am Kreuz als Geschichte der Erhöhung

des Menschensohns wahres Menschsein ereignet, erweist sich in der Versöhnung als

Geschichte der Selbsterniedrigung Gottes in Jesus Christus das wahre Gottsein. Der

versöhnte, „neue Mensch“ tritt in Jesus Christus als der wahre, erhöhte Mensch in

Erscheinung; der versöhnende Gott kommt in Jesus Christus als der sich selbst erniedrigende

Gott.

Das Kreuz bedeutet demnach mitnichten die Selbstbeschränkung der Gottheit und den

Verzicht auf ihre Doxa (etwa im Sinne der lutherischen Kenotiker), sondern Jesu

Erniedrigung meint die Betätigung dieser Doxa. Gott kann niedrig sein! Er kann sich im

Schmerz und im Leid offenbaren. Er kann die Schwachheit, die forma servi annehmen, ohne

seine Gottheit aufzugeben: „Er muß offenbar nicht nur hoch, er kann auch niedrig [...] sein. Er

176 H. BEDFORD-STROHM, a.a.O., 670f. 177 U. BACH, a.a.O., 185. 178 Dies ist die Pointe der beiden ersten Bände von K. BARTHs Versöhnungslehre (KD IV/1 und IV/2), welche die Erniedrigung und Erhöhung Jesu Christi thematisieren und dabei – in den Formeln der altprotestantischen Dogmatik gesprochen – die Zwei-Stände-Lehre als Interpretament der Zwei-Naturen-Lehre gebrauchen. Die theologia crucis bildet bei K. Barth den Ort und den Rahmen der Modifikation und Aktualisierung traditioneller Christologie. Wie B. KLAPPERT (Die Auferweckung des Gekreuzigten. Der Ansatz der Christologie Karl Barths im Zusammenhang der Christologie der Gegenwart, Neukirchen-Vluyn 31981, 386ff.; Versöhnung und Befreiung. Versuche, Karl Barth kontextuell zu verstehen, NBST 14, Neukirchen-Vluyn 1994, bes. 143) in mehreren Untersuchungen gezeigt hat, bildet die theologia crucis bei K. Barth den Ort und den Rahmen der Modifikation und Aktualisierung traditioneller Christologie. 179 K. BARTH, KD IV/1, (§ 59.1) 171ff.

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muß nicht nur richten, er kann auch vergeben. Und gerade indem er niedrig ist, ist er hoch“180.

Die forma Dei besteht gerade in der Gnade „in der Gott selbst die forma servi annimmt“181.

Wenn dies aber gilt, dann hat Gott selbst im Versöhnungsgeschehen jenen Prinzipialismus

ein für alle mal beseitigt, der besagt, „Gott wolle nur Stärke, Leiden und Schwäche dagegen

seien das Böse.“182 Gott enthüllt am Kreuz diese Aussage als Lüge, indem er im gefolterten,

verachteten, ganz und gar unschönen Menschen Jesus an die Stelle der Menschen tritt. In

seiner Stellvertretung identifiziert sich Gott mit den Schwachen und Verachteten, indem er

sich als einer der ihren kreuzigen lässt und auferweckt wird. In ihnen, den geringsten Brüdern,

will er erkannt werden: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das

habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Als einer der ihren gibt sich Jesus Christus am Kreuz zu

erkennen. Nicht überall und nirgends will Gott erkannt werden – sondern hier, in Jesus

Christus, dem wahren Menschen, der am Kreuz hängt und verachtet wird183. Und indem er

hier erkannt wird, wird er in einem Verachteten erkannt. Das Stellvertretungsgeschehen hat

eine noetische Dimension von ethischer Valenz.

Es hat Gott gefallen, als Verachteter das Werk der Versöhnung als Geschehen der alle

Menschen einschließenden Stellvertretung zu vollbringen. Damit lenkt Gott das Augenmerk

seiner Kirche auf die Verachteten dieser Welt. In Knechtsgestalt will Gott als der Versöhner

der Welt erkannt werden. Gerade sie ist transparent für das Stellvertretungsgeschehen.

Deshalb nimmt Jesus Christus die Knechtsgestalt an und geht den Weg der Erniedrigung bis

zum Tode am Kreuz und führt so jedem sichtbar vor Augen, dass sein Versöhnungswerk

niemanden, auch und besonders nicht die Verachteten ausschließt, sondern auch ihnen gilt.

Sollte der Mensch die Verachteten, ausschließen, wo Gott sie doch in einzigartiger Weise in

sein Heilswerk einschließt?

An der Enthüllung der fatalen ontischen und noetischen Fixierung Gottes auf das Starke,

Gesunde und Leidfreie ist einer apokalyptischen Ethik des „neuen Menschen“ gelegen. Sie ist

mit anderen Worten ihrem Charakter nach darin genuin apokalyptisch, dass sie dieses falsche

Gottesbild, welches mit der Identifikation von Gott und Stärke, Gott und Gesundheit, Gott

und Heilung vorliegt, unter Verweis auf das Kreuz Christi als falschen Schein enthüllt.

Insofern erweist sie sich als para-dox, als kritisch wider den (falschen) Schein gerichtet. Sie

180 A.a.O., 208. 181 A.a.O., 205. 182 U. BACH, a.a.O., 28. 183 Zum gesamten Absatz vgl. die in Anlehnung an H.J. Iwands Christologie erfolgten Ausführungen von G. PLASGER, Wer ist der Mensch? Zur Argumentation in der gegenwärtigen evangelisch-theologischen Bioethik, in: M. Freudenberg u.a. (Hg.), Beiträge zur Ethik, Reformierte Akzente 7, Wuppertal 2003, (63-81) es. 78.

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folgt damit der biblischen Apokalyptik, die das Bild des gekreuzigten Christus vor Augen

stellt und sich damit als „Kontra“ gegenüber der Tendenz zu verstehen gibt, alles Sieghafte als

göttlich zu begreifen und alles Niedrige als nur-menschlich184. Eine der biblischen

Apokalyptik folgende Ethik des „neuen Menschen“ kommt – wie dargestellt – konzeptionell

nicht ohne Versöhnungslehre und Stellvertretungstheologie aus. Wie könnte sie dies, wo sich

doch nach biblischem Zeugnis im Versöhnungsgeschehen die Neukonstituierung des

ethischen Subjektes und die Apokalypse des „neuen Menschen“ ereignet hat?

3.4 Ethik des „neuen Menschen“ als kirchliche Ethik

Der gesamte Weg einer apokalyptischen Ethik kann an dieser Stelle auch in Bezug auf das

sozialethische Themenfeld der Biomedizin nicht ausgeschritten werden. So mag es hier bei

den erfolgten Andeutungen sein Bewänden haben. Zur Konkretion der projektierten Ethik sei

jedoch abschließend noch auf den Programmbegriff einer kirchlichen Ethik verwiesen, der im

Folgenden als Interpretament der zu konturierenden apokalyptischen Ethik des „neuen

Menschen“ dienen mag.

Wenn die Ethik des „neuen Menschen“ als kirchliche Ethik bestimmt wird, so besagt dies,

dass der „neue Mensch“ im formativen Kontext der Kirche verortet ist. Der „neue Mensch“

existiert nicht als Individuum in „splendid isolation“, sondern als Glied der christlichen

Gemeinde. In ihr gewinnt die Teilhabe am neuen Sein in Christo Gestalt. Die Kirche ist der

Ort, wo die neuen Geschöpfe leben. Ihre innere und äußere Ausrichtung wird von Christus her

präfiguriert. Er ermöglicht die Einheit der Gemeinde (vgl. Röm 15,5). Die

Christuskonformität prägt ihr Sein und Handeln.

Dies ist auch für die Konstitution des ethischen Subjekts als Glied der Gemeinde von kaum

zu überschätzender Bedeutung. Die Wirklichkeit des „neuen Menschen“ kann als Gegenstand

der Ethik nicht von der Wirklichkeit der Gemeinde getrennt werden, so dass sich besagte

Verortung auch in der Explikation der ethischen Existenz vor Gott niederschlagen muss, die

der Ethik als Aufgabe aufgetragen ist. Anders gesagt: Die sozialethische Explikation

theologischer Anthropologie vollzieht sich im Interpretationsrahmen der Ekklesiologie185.

Die kreuzestheologischen Grundlagen einer Ethik des „neuen Menschen“ beinhalten

demnach ekklesiologische Implikationen. Was die Gestalt der Kirche angeht, so weist etwa

184 Vgl. U. BACH, a.a.O., 184. 185 Vgl. programmatisch R. HÜTTER, Evangelische Ethik als kirchliches Zeugnis. Interpretationen zu Schlüssel-fragen theologischer Ethik in der Gegenwart, Evangelium und Ethik Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 1993; A. RASMUSSON, The Church as Polis. From Political Theology to Theological Ethics as Exemplified by Jürgen Moltmann and Stanley Hauerwas, Notre Dame 1995; B. WANNENWETSCH, Gottesdienst als Lebensform – Ethik für Christenbürger, Stuttgart u.a. 1997.

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Paulus darauf hin, dass die soziologische Zusammensetzung einer Gemeinde von

Habenichtsen und Randexistenzen („nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele

Mächtige, nicht viele Vornehme“; 1Kor 1,26) „ein Reflex des Kreuzes Christi“186 ist. Gerade

das Kreuz dient nicht nur „primär kritisch zur theologischen bzw. christologischen Standort-

und Grenzbestimmung“187. Es ist für Paulus „zugleich und konstitutiv die Ortsanweisung für

die Christen und die Gemeinde“188. Ist die wahre Herrlichkeit in Christus, dem Gekreuzigten,

zu finden, dann stellt das Verhalten der christlichen Gemeinde in Bezug auf die Schwachen,

Behinderten und Leidenden in der Gesellschaft einen Testfall für ihre Kreuzesnachfolge dar.

Der im Kreuz sub contraria specie Erschienene verweist seine Kirche mit seinem Kreuz auf

das, was ihr ebenfalls nur sub contraria specie als schön und anziehend erscheint. Er verweist

sie darauf mit seiner Liebe, die sich gerade nicht (wie der amor hominis) „am Schönen

entzündet, sondern den hässlichen, nämlich sich selbst entstellten homo peccator dadurch

schön macht, dass sie ihn liebt.“189 Für den „neuen Menschen“ im Raum der Kirche gilt:

„In dieser neugewonnenen Entsprechung zum Willen Gottes wird das Sein und Handeln der Kirche nun in der

Tat von Niedrigkeit geprägt, erhält es – in Analogie zum Handeln Gottes in Christus – einen ‚durchgehende[n]

Zug nach unten“190.

Aus dem Kreuz als „sinnstiftendem Zentrum der christlichen Identitätsmatrix“191 folgt ein

Existenzentwurf, der die kulturell etablierten Statuszuteilungen unterläuft und das soziale

Miteinander neu, d.h. diakonisch strukturiert. Die Kirche ist dieser diakonisch neu

strukturierte Raum innerhalb der Gesellschaft. Sie findet „die wahre Quelle der Macht im

Dienen statt im Herrschen“192. Für die Glieder der Kirche gilt: „Wir sind als Glieder das

Patientenkollektiv, in dem jeder auf die Hilfe anderer angewiesen ist (auch der Stärkste hat

Unsinn geredet, wenn er sagt: Ich bedarf eurer nicht, 1Kor 12,21) und in dem jedem von uns

das Helfen zugetraut und zugemutet wird.“193 Dieses diakonische Miteinander, diese

Wechselseitigkeit, dieses verlässliche Miteinander von Verschiedenen kennzeichnet die

Kirche als einen Raum der „Solidarität zwischen Gesunden und Kranken“194.

186 W. SCHRAGE, a.a.O., 31. 187 Ebd. 188 Ebd. 189 E. JÜNGEL, a.a.O., 124. 190 So M. ZEINDLER, Gott und das Schöne. Studien zur Theologie der Schönheit, FSÖTh 68, Göttingen 1993, 395, K. BARTH (KD IV/1, 207) zitierend. 191 M. KONRADT, a.a.O., 214. 192 S. HAUERWAS, Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christlicher Ethik, Evangelium und Ethik Bd. 4, Neukirchen-Vluyn 1995, 162. 193 U. BACH, a.a.O., 185. 194 A.a.O., 194.

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Kirche hat sich in Folge dessen jedem Trend zur Entsolidarisierung zu widersetzen. Dies

gelingt am effektivsten, wenn die Kirche selbst Modelle des gelingenden Miteinanders von

Gesunden und Behinderten vorlebt und dabei einladend195 wirkt196:

„The Christian’s care for the weak embodies no grand humanistic vision, but only the idea that regardless of

its accomplishments, no society that fails to care for retarded will be worthy or humane. It is just this kind of

vision that exposes the sinful and power-hungry pretensions we hide behind our claims to serve others in the

name of humanity.”197

Die wahre Kirche wird sich durch das in ihr herrschende Klima der Annahme, Solidarität

und Nächstenliebe sichtbar und erlebbar von jenem gesellschaftlichen Druck

unterscheiden198, dem sich etwa Eltern vielfach ausgesetzt sehen, wenn sie trotz des

humangenetischen Befundes einer Abweichung im Erbgut ihr behindertes Kind wissentlich

austragen199. Eine Kirche, die sich ihrer Fremdlingschaft in der Welt nicht schämt200,

unterminiert jenes sich nur allzu leicht einschleichende kollektive Bewusstsein: Behinderte

müssen nicht sein. Behinderte können aussortiert, selektiert werden. Es lohnt sich nicht zu

lernen, mit Behinderten zu leben. Wir müssen sie nicht integrieren, wir müssen sie nicht

teilhaben lassen, wir müssen sie nicht begleiten, wenn sie leiden.

Eine Kirche, die durch ihren alternativen Lebensstil im Umgang mit Behinderten

gesellschaftlich hervorsticht, bildet das beste Präventiv gegenüber jener eugenischen

Mentalität, der das Verlangen nach Menschenzüchtung erwächst. Sie verdeutlicht, dass

gesellschaftlich nicht eine Anthropotechnologie, sondern eine Kultur der Solidarität benötigt

wird. „Deshalb ist das Ziel einer kirchlichen Ethik, die nicht nur den Staat in rechtlicher

Hinsicht als Adressaten vor Augen hat, Alternativen in die Gesellschaft hineinzutragen und

195 Vgl. G. PLASGER, Einladende Ethik. Zu einem neuen evangelischen Paradigma in einer pluralen Gesellschaft, KuD 52 (2005), 126-156. 196 Vgl. H.S. REINDERS, The Future of the Disabled in Liberal Society. An Ethical Analysis, Notre Dame 2000. 197 S. HAUERWAS, Vision and Virtue. Essays in Christian Ethical Reflection, Notre Dame 1974, 193. 198 Im Blick auf die Sterbehilfe-Debatte hat P.D. BROWNING, Community Care of the Dying: Beyond the Euthanasia Debate, Encounter 66 (1/2005), 23-44, diese Dimensionen einer kirchlichen Ethik stark gemacht. Auf diesem Theoriehintergrund zur Biomedizin im Allgemeinen vgl. J.J. SHUMAN, The Body of Compassion. Ethics, Medicine, and the Church, Boulder 1999. 199 Vgl. G. PLASGER, Mensch, 79: „Immer wieder hören Eltern von Kindern beispielsweise mit der Trisomie 21, dem Down-Syndrom, dass das doch in der heutigen Zeit nicht mehr nötig sei, ein solches Kind auf die Welt zu bringen. Die hinter diesen und anderen Auffassungen stehenden Wertmaßstäbe sind nicht mit der Botschaft vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus vereinbar.“ 200 Zur Rede von der „Fremdlingschaft der Kirche in der Welt“ vgl. E. BUSCH, Verbindlich von Gott reden. Gemeindevorträge, Neukirchen-Vluyn / Wuppertal 2002, 183-192; R. FELDMEIER, Die Christen als Fremde. Die Metapher der Fremde in der antiken Welt, im Urchristentum und im 1. Petrusbrief, WUNT 64, Tübingen 1992; W. KRECK, Grundfragen der Ekklesiologie, München 1981, 283-288. Vgl. 1Kor 4,11; 2Kor 5,6-9; Hebr 11,13-16; 13,14; 1Petr 2,11.

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auch selber danach zu leben. Es gelingt vielen Christen durchaus, modellhaft beispielsweise

mit behinderten Menschen zu leben. Das ist keine sozialromantische Argumentation. Aber es

sind gerade gelingende Modelle des Zusammenlebens, des Ernstnehmens aller Menschen,

verbunden auch mit der Erwartung und Erfahrung, dass Begegnungen nicht nur belasten,

sondern vor allem auch bereichern.“201

3.5 Schlussbemerkung

Anhand der umrissenen Konturen einer apokalyptischen Ethik des „neuen Menschen“

dürfte deutlich geworden sein, dass die urchristliche Apokalyptik kein erledigtes Weltbild,

keine veraltete Weltanschauung ist, sondern die unaufgebbare Kategorialität des Evangeliums

vom gekreuzigten und auferweckten Christus selbst bezeichnet. Wie dargestellt, besteht die

genuin apokalyptische Bedeutung der urchristlichen Rede vom „neuen Menschen“ in der

Aussage: „In dieser Christusebenbildlichkeit, die als solche Gottesebenbildlichkeit ist, ist

gleichzeitig enthüllt, was die Gottesebenbildlichkeit des Erstgeschaffenen ist.“202

Dies gilt es allzumal angesichts der Eigenart neuzeitlicher Anthropologie zu akzentuieren,

die nach O. Marquard darin besteht, dass der Mensch sich kaum noch unmittelbar theologisch

als Ebenbild Gottes verstehen kann203. Das Phänomen der Kupiertheit moderner Apokalypsen

korrespondiert dieser Vergessenheit. Man wird sogar als Hypothese die Frage aufwerfen

dürfen, ob die Vergessenheit in Bezug auf die Gottebenbildlichkeit nicht in einer

Beschneidung der Apokalypse resultieren musste. Wurde die säkularisierte Apokalyptik nicht

gerade so zu jener recht diffusen Stimmung, die man auf immer neue Phänomene des „Endes“

angewandt hat?

Als kupierte Apokalyptik tut sie exakt das, was urchristliche Apokalyptik verweigert: Sie

weckt entweder mit mehr oder weniger tiefsinnigen Zeitansagen einen allgemeinen

Katastrophismus bzw. Alarmismus, der im Erschrecken vor dem Ende eher lähmt und

Unentschlossenheit fördert, als dass er motivierend wirkt. Oder sie propagieren den neuen

Äon der Welterneuerung und Humanisierung des Menschen in Gestalt jener Forderungen

nach Züchtung, die den anvisierten „Menschenpark“ im Lichte der biblischen Rede vom

201 G. PLASGER, Mensch, 80. Das Programm einer kirchlichen Ethik unter besonderer Berücksichtigung der Behindertenthematik hat der amerikanische Ethiker S. HAUERWAS (vgl. Truthfullness and Tragedy. Further Investigations into Christian Ethics, Notre Dame 1977, 147-183; Suffering Presence. Theological Reflections on Medicine, the Mentally Handicapped, and the Church, Notre Dame 1986, 159-217; Dispatches from the Front. Theological Engagements with the Secular, Durham / London 1994, 177-86; Sanctify Them in the Truth: Holiness Exemplified, Nashville 1998, 143-156) ausgeführt. 202 P. BRUNNER, a.a.O., 88. 203 Vgl. O. MARQUARD, Art. Anthropologie, HWP 1 (1971), 362-374.

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„neuen Menschen“ als inhuman erweisen. Ein solcher Äon wäre, biblisch-theologisch

geurteilt, kein künftiger Äon des Heils, sondern des Unheils.

So machen es die vermeintlichen Apokalyptiker ihren Gegnern letztlich leicht, die

„Apokalyptik“ unten den Generalverdacht einer subtil perhorreszierenden

Argumentationsstrategie zu stellen und als simplifizierende „Schwarzmalerei“ oder schlicht

als „Allmachtswahn“ abzuweisen. Die Schriften biblischer Apokalyptik hingegen sind keine

Schauermärchen, sondern zu einem großen Teil Märtyrerzeugnisse. Sie „verbreiten Hoffnung

in den Gefahren, weil sie im menschlichen und kosmischen Ende den neuen Anfang Gottes

verkünden.“204 Der moralische Appell der säkularen Apokalyptiker hingegen kennt entweder

keine Hoffnung auf Erlösung oder aber er stellt einen Zusammenhang zwischen Ende und

Heil, zwischen Endlichkeit und Vollendung her, der auf der Apotheose des Menschen basiert.

Die Hoffnung des Glaubens aber richtet sich nicht auf einen vergöttlichten Menschen,

sondern den Menschen, der in seiner Person „wahrer Gott“ und „wahrer Mensch“ ist. Und

weil sie sich auf ihn richtet und an ihm ausrichtet, ist sie kritisch gegenüber inhumanen

Menschenbildern eingestellt.

204 J. MOLTMANN, Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh 1995, 228. Vgl. a.a.O., 159.

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Zentrum für Medizinische Ethik

Medizinethische Materialien Eine vollständige Hefteliste senden wir Ihnen auf Anfrage zu.

Heft 89: Sass, Hans-Martin: Die Würde des Gewissens und die Diskussion um

Schwangerschaftsabbruch und Hirntodkriterien. 3. Aufl. Juni 1994. Heft 90: Jakobs, Günther: Geschriebenes Recht und wirkliches Recht beim

Schwangerschaftsabbruch. März 1994. Heft 91: Sass, Hans-Martin: Ethische und bioethische Herausforderungen

molekulargenetischer Prädiktion und Manipulation. 2. Aufl. Juni 1994. Heft 92: Sass, Hans-Martin: Hippokratisches Ethos und Nachhippokratische Ethik. Juni

1994. Heft 93: Koch, Hans-Georg; Sass, Hans-Martin; Meran, Johannes Gobertus:

Patientenverfügung und Stellvertretende Entscheidung in rechtlicher, medizinischer und ethischer Sicht. 3. Auflage April 1996.

Heft 94: Fuchs, Christoph: Allokation der Mittel im Gesundheitswesen - Rationalisierung versus Rationierung. Juni 1994. Heft 95: Schroeder-Kurth, Traute: Das "Slippery Slope"- Argument in der Medizin und

Medizinethik. Dezember 1994. Heft 96: Pohlmeier, Hermann: Selbstmordverhütung - Zur Ethik von Selbstbestimmung und

Fremdbestimmung. Dezember 1994. Heft 97: Epplen, Jörg T.; Rieß, Angelika; Rieß, Olaf: DNA-Diagnostik in der

Humangenetik: Voraussetzungen und Tendenzen. März 1995. Heft 98: Stotz, Gabriele: Theoretische und ethische Probleme der psychiatrischen Diagnose. März 1995. Heft 99: Vollmann, Jochen: Fürsorgen und Anteilnehmen: Ethics of Care. April 1995. Heft 100: Hinrichsen, Klaus V.; Sass, Hans-Martin: 10 Jahre Zentrum für Medizinische Ethik.

Juni 1996. Heft 101: Schreiber, Hans-Ludwig: Die Todesgrenze als juristisches Problem - Wann darf ein

Organ entnommen werden? Juli 1995. Heft 102: Hartmann, Fritz: Lebens- und Hilfeleistungen im Sterben. 2. Aufl. Februar 1996. Heft 103: Kielstein, Rita (Hg.): Ethische Aspekte in der Nephrologie. 2. Aufl. Februar 1995. Heft 104: Bernat, Erwin: Antizipierte Erklärungen und das Recht auf einen selbstbestimmten Tod. Januar 1996. Heft 105: Richter, Gerd; Schmid, Roland M.: Ethische Perspektiven der Gentherapie 1995.

Januar 1996. Heft 106: Bauer, Axel: Braucht die Medizin Werte? Gedanken über die methodologischen

Probleme einer „Bioethik“. März 1996. Heft 107: Tausch, Reinhard: Empirische Untersuchungen zu Sinn-Erfahrungen und

Wertauffassungen. Juli 1996. Heft 108: Sass, Hans-Martin: Ethik-Unterricht im Medizinstudium; Methoden, Modelle und

Ziele der Integration von Medizinethik in die medizinische Aus- und Fortbildung. August 1996.

Heft 109: Meyer, Frank P.: Salus aegroti suprema lex; Probleme klinischer Studien aus der Sicht eines Mitgliedes einer Ethikkommission - Schwerpunkt Onkologie. August 1996. Heft 110: Sass, Hans-Martin: Reform von Gesundheitswesen und Krankenhäusern in

verantwortungsethischer Perspektive. August 1996.

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Heft 111: Sass, Hans-Martin, Kielstein, Rita: Die medizinische Betreuungsverfügung in der Praxis. Vorbereitungsmaterial, Modell einer Betreuungsverfügung, Hinweise für Ärzte, Bevollmächtigte, Geistliche und Anwälte. 7. Auflage Dezember 2000.

Heft 112: Spittler, Johann F.: Sterbeprozess und Todeszeitpunkt - Die biologischen Phänomene und ihre Beurteilung aus medizinischer Sicht. August 1996.

Heft 113: May, Arnd; Gawrich, Stefan; Stiegel, Katja: Empirische Erfahrungen mit wertanamnestischen Betreuungsverfügungen. 2. Auflage Juli 1997.

Heft 114: Biller, Nikola: Der Personbegriff in der Reproduktionsmedizin. September 1997. Heft 115: Kaminsky, Carmen: Gesagt, gemeint, verstanden? Zur Problematik der Validität vorsorglicher Patientenverfügungen. Oktober 1997. Heft 116: Baumann, Eva: Gesellschaftliche Konsensfindung und Humangenetik. Oktober

1997. Heft 117: May, Arnd: Betreuungsrecht und Selbstbestimmung am Lebensende. September

1998. Heft 118: Zülicke, Freddy: Chancen und Risiken von Gentechnik und Reproduktionsmedizin.

September 1998. Heft 119: Meyer, Frank P.; Sass, Hans-Martin: Klinische Forschung 2000. Oktober 1998. Heft 120: Grossmann, Wilfried; Maio, Giovanni, Weiberg, Anja: Ethik im Krankenhausalltag

- Theorie und Praxis. Oktober 1998. Heft 121: Sponholz, Gerlinde; Allert, Gebhard; Keller, Frieder; Meier-Allmendinger, Diana;

Baitsch, Helmut: Das Ulmer Modell medizinethischer Lehre. Sequenzierte Falldiskussion für die praxisnahe Vermittlung von medizinethischer Kompetenz (Ethikfähigkeit); Uhl, Andreas; Lensing; Claudia: Perspektiven und Gedanken zur medizinethischen Ausbildung. August 1999.

Heft 122: Schmitz, Dagmar; Bauer, Axel W.: Evolutionäre Ethik und ihre Rolle bei der Begründung einer zukünftigen Medizin- und Bioethik. März 2000.

Heft 123: Hartmann, Fritz: Chronisch Kranksein als Grenzlage für Kranke und ihre Ärzte. März 2000.

Heft 124: Baberg, Henning T.; Kielstein, Rita; Sass, Hans-Martin (Hg.): Der Behandlungsverzicht im Blick des Bochumer Inventars zur medizinischen Ethik (BIME). April 2000.

Heft 125: Spittler, Johann F.: Locked-in-Syndrom und Bewusstsein – in dubio pro vita. August 2000.

Heft 126: Ilkiliç, Ilhan: Das muslimische Glaubensverständnis von Tod, Gericht, Gottesgnaden und deren Bedeutung für die Medizinethik. September 2000.

Heft 127: Maio, Giovanni: Ethik und die Theorie des "minimalen Risikos" in der medizinischen Forschung. September 2000.

Heft 128: Zenz, Michael; Illhardt, Franz Josef: Ethik in der Schmerztherapie. November 2000.

Heft 129: Godel-Ehrhardt, Petra; May, Arnd T.: Kommunikation und Qualitätssicherung im Betreuungsrecht – Ergebnisse einer Befragung zur Mailingliste [email protected]. März 2001.

Heft 130: Dabrock, Peter; Klinnert, Lars: Würde für verwaiste Embryonen? Ein Beitrag zur ethischen Debatte um embryonale Stammzellen. Juli 2001.

Heft 131: Meyer, Frank P.: Ethik der Verantwortung. Verkommt »Evidence Based Medicine« zu »Money Based Medicine«? März 2002.

Heft 132: Sass, Hans-Martin: Menschliche Ethik im Streit der Kulturen. März 2002. Heft 133: Knoepffler, Nikolaus: Menschenwürde als Konsensprinzip für bioethische

Konfliktfälle in einer pluralistischen Gesellschaft. März 2002.

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Heft 134: Quante, Michael: Präimplantationsdiagnostik, Stammzellforschung und Menschenwürde. März 2002.

Heft 135: Köchy, Kristian: Philosophische Grundlagenreflexion in der Bioethik. März 2002. Heft 136: Hengelbrock, Jürgen: Ideengeschichtliche Anmerkungen zu einer Ethik des

Sterbens. Juli 2002. Heft 137: Schröder, Peter: Vom Sprechzimmer ins Internetcafé: Medizinische Informationen

und ärztliche Beratung im 21. Jahrhundert. Juli 2002. Heft 138: Zühlsdorf, Michael T.; Kuhlmann, Jochen: Klinische und ethische Aspekte der

Pharmakogenetik. August 2002. Heft 139: Frey, Christofer; Dabrock, Peter: Tun und Unterlassen beim klinischen

Entscheidungskonfliktfall. Perspektiven einer (nicht nur) theologischen Identitätsethik. August 2002.

Heft 140: Meyer, Frank P.: Placeboanwendung – die ethischen Perspektiven. März 2003. Heft 141: Putz, Wolfgang; Geißendörfer, Sylke; May, Arnd: Therapieentscheidung am

Lebensende - Ein "Fall" für das Vormundschaftsgericht? 2. Auflage August 2003. Heft 142: Neumann, Herbert A.; Hellwig, Andreas: Ethische und praktische Überlegungen

zur Einführung der Diagnosis Related Groups für die Finanzierung der Krankenhäuser. Januar 2003.

Heft 143: Hartmann, Fritz: Der Beitrag erfahrungsgesicherter Therapie (EBM) zu einer ärztlichen Indikationen-Lehre. August 2003.

Heft 144: Strätling, Meinolfus; Sedemund-Adib, Beate; Bax, Sönke; Scharf, Volker Edwin; Fieber, Ulrich; Schmucker, Peter: Entscheidungen am Lebensende in Deutschland. Zivilrechtliche Rahmenbedingungen, disziplinübergreifende Operationalisierung und transparente Umsetzung. August 2003.

Heft 145: Hartmann, Fritz: Kranke als Gehilfen ihrer Ärzte. 2. Auflage Dezember 2003. Heft 146: Sass, Hans-Martin: Angewandte Ethik in der Pharmaforschung. Januar 2004. Heft 147: Joung, Phillan: Ethische Probleme der selektiven Abtreibung: Die Diskussion in

Südkorea. Januar 2004. Heft 148: May, Arnd T; Brandenburg, Birgitta: Einstellungen medizinischer Laien zu

Behandlungsverfügungen. Januar 2004. Heft 149: Hartmann, Fritz: Sterbens-Kunde als ärztliche Menschen-Kunde. Was heißt: In

Würde sterben und Sterben-Lassen? Januar 2004. Heft 150: Reiter-Theil, Stella: Ethische Probleme der Beihilfe zum Suizid. Die Situation in

der Schweiz im Lichte internationaler Perspektiven. Februar 2004. Heft 151: Sass, Hans-Martin: Ambiguities in Biopolitics of Stem Cell Resarch for Therapy.

März 2004. Heft 152: Ilkilic, Ilhan: Gesundheitsverständnis und Gesundheitsmündigkeit in islamischen

Traditionen. 3. Auflage März 2005. Heft 153: Omonzejele, Peter F.: African Concepts of Health, Disease and Treatment [A

Future for Traditional Medicines and Spiritual Healings? A Postscript on Peter F Omonzeleje by Hans-Martin Sass]. April 2004.

Heft 154: Lohmann, Ulrich: Die neuere standesethische und medizinrechtliche Entwicklung in Deutschland – Wandel des Menschenbildes? Mai 2004.

Heft 155: Friebel, Henning; Krause, Dieter; Lohmann, Georg und Meyer, Frank P.: Verantwortungsethik. Interessenkonflikte um das Medikament - Wo steht das Medikament? Juni 2004.

Heft 156: Kreß, Hartmut: Sterbehilfe - Geltung und Reichweite des Selbstbestimmungsrechts in ethischer und rechtspolitischer Sicht.1. Auflage September 2004, 3. Auflage März 2005.

Heft 157: Fröhlich, Günter und Rogler, Gerhard: Das Regensburger Modell zur Ausbildung in klinischer Ethik. Dezember 2004.

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Heft 158: Ilkilic, Ilhan; Ince, Irfan und Pourgholam-Ernst, Azra: E-Health in muslimischen Kulturen. Dezember 2004.

Heft 159: Lenk, Christian; Jakovljevic, Anna-Karina: Ethik und optimierende Eingriffe am Menschen. 2.Auflage Februar 2005.

Heft 160: Ilkilic, Ilhan: Begegnung und Umgang mit muslimischen Patienten. Eine Handreichung für die Gesundheitsberufe. 1. Auflage Juli 2003 (Tübingen), 5. Auflage April 2005.

Heft 161: Hartmann, Fritz: Vom Diktat der Menschenverachtung 1946 zur "Medizin ohne Menschlichkeit" 1960; Zur frühen Wirkungsgeschichte des Nürnberger Ärzteprozesses. 1. Auflage Februar 2005, 2. Auflage März 2005.

Heft 162: Strätling, Meinolfus u.a.: Die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung in Deutschland. Juni 2005.

Heft 163: Sass, Hans- Martin: Abwägungsprinzipien zum Cloning menschlicher Zellen. Januar 2006.

Heft 164: Vollmann, Jochen: Klinische Ethikkomitees und klinische Ethikberatung im Krankenhaus. Ein Praxisleitfaden über Strukturen, Aufgaben, Modellen und Implementierungsschritte. Januar 2006.

Heft 165: Sass, Hans- Martin: Medizinische Ethik bei Notstand, Krieg und Terror. Verantwortungskulturen bei Triage, Endemien und Terror. Februar 2006.

Heft 166: Sass, Hans-Martin: Gesundheitskulturen im Internet. E-Health-Möglichkeiten, Leistungen und Risiken. 1. Auflage Februar 2006, 2. Auflage März 2006. Heft 167: May, Arnd T.; Kohnen, Tanja: Körpermodifikation durch Piercing: Normalität,

Subkultur oder Modetrend? Mai 2006 Heft 168: Anderweit, Sabine; Ilkilic, Ilhan; Meier-Allmendinger, Diana; Sass, Hans-Martin;

Cheng-tek Tai, Michael: Checklisten in der klinisch-ethischen Konsultation. Mai 2006

Heft 169: Kielstein, Rita; Kutzer, Klaus; May, Arnd; Sass, Hans-Martin: Die Patientenver-fügung in der ärztlichen Praxis. April 2006

Heft 170: Brenscheidt, Juliane; May, Arnd T.; May, Burkard; Kohnen, Tanja; Roovers, Anna; Sass, Hans-Martin: Zentrum für Medizinische Ethik Bochum 1986 – 2006.

Heft 171: Dabrock, Peter; Schröder, Peter: Public Health Gen-Ethik. 1. Auflage August 2006. Heft 172: Berg, Michael: Lebensbeendende Behandlungsbegrenzung bei Wachkomapatienten

– „passiver Suizid“ im Spannungsfeld von pflegerischem Berufsethos und Selbstbestimmungsrecht des Patienten am Beispiel des „Kiefersfeldener-Falles“ 1. Auflage Oktober 2006

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Bestellschein An das Zentrum für Medizinische Ethik Ruhr-Universität Bochum Gebäude GA 3/53 44780 Bochum Tel: (0234) 32 22749 FAX: (0234) 3214 598 Email: [email protected] Homepage: http://www.medizinethik-bochum.de Bankverbindung: Konto Nr. 133 189 035, BLZ 430 500 01 Sparkasse Bochum Name oder Institut: Adresse:

( ) Hiermit abonniere(n) wir/ich die Reihe MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN zum Sonderpreis von € 4,00 pro Stück ab Heft Nr.____. Dieser Preis schließt die Portokosten mit ein. ( ) Hiermit bestelle(n) wir/ich die folgenden Einzelhefte der Reihe MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN zum Preis von € 6,00 (bei Abnahme von 10 und mehr Exemplaren € 4,00 pro Stück).

Hefte Nummer: _____________________________________________

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Zusammenfassung Apokalyptische Stimmungen und Visionen haben Konjunktur. Auch im gegenwärtigen

biomedizinethischen Diskurs lässt sich etwa im Blick auf den gefakten südkoreanischen

„Klon-Erfolg“ oder die sog. „Sloterdijk-Debatte“ die Wiederkehr apokalyptischer

Deutungsmuster beobachten. Die vorliegende Untersuchung beschreibt die verschiedenen

vorfindlichen „bioapokalyptischen“ Argumentationstypen bzw. Denkmuster und versucht

fernerhin zu zeigen, inwiefern diese inhaltlich mit der urchristlichen Apokalyptik

inkompatibel sind. Es wird die These vertreten, dass die nachweisbaren „Bioapokalypsen“

den profanen, neuzeitlich-säkularisierten Apokalypsen zuzurechnen sind, die sich bei näherem

Hinsehen als kupierte Apokalypsen erweisen: Sie blenden die biblische, genauer:

apokalyptisch-paulinische Rede von der „neuen Kreatur“ aus und umgehen so die Pointe

biblischer Apokalyptik. Gerade darin besteht, aus binnenkirchlicher Perspektive geurteilt, ihre

theologische Illegitimität. Dabei ist allerdings aus einer solchen Perspektive heraus

selbstkritisch der indirekte Beitrag zu beachten, den die Theologie dazu lieferte, indem sie

nämlich besagte Pointe vielfach kaum oder gar nicht artikulierte und dadurch jenes Vakuum

entstehen ließ, das anderweitig gefüllt wurde.

Summary Millennial fever and apocalyptic visions are widespread and wide-ranging phenomena. For

example, the alleged Korean cloning success and the so called „Sloterdijk-debate“ reveal a

renaissance of apocalyptic interpretations in contemporary bioethical discourse. This

investigation explores the role of apocalyptic argumentation in medical ethics from a

Christian perspective. It demonstrates the incompatibility of the „bio-apocalypses“ frequently

envisioned in bioethics from the authentic hope of early Christianity. These secularized „bio-

apocalypses“ are a manifestation of neo-apocalypticism. They belong to the „cropped

apocalypses“ of the modern project. From a Christian perspective, they are inadequate

because they lack the Pauline message of the „new creation in Christ“ and therefore miss the

point of Paul's apocalyptic gospel. The failure of the dominant theologies to take seriously the

apocalyptic themes of the Bible has helped to create a theological vacuum that has been filled

by neo-apocalypticism.

ISBN: 978-3-931993-54-2